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Kaum hatte Kendira mit ihrem Team ihre Sim-Kabine betreten, vergaß sie von einer Sekunde auf die andere die Flachserei mit Carson und alles, was sich dahinter an Gefühlen verbarg.
Was sich Sim-Kabine nannte, war in Wirklichkeit ein fensterloser Raum von beachtlichen Ausmaßen. Seine Breite betrug nämlich zwölf Meter. In der Länge wies er fünfzehn Meter auf und vom Boden bis zur Decke waren es immerhin noch zehn Meter.
An der hinteren, zwölf Meter breiten und zehn Meter hohen Wand nahm ein riesiger 3-D-Bildschirm fast die gesamte Fläche ein. Er war fugenlos in die Wand aus mattgrauen Stahlelementen eingelassen und maß zehn mal acht Meter.
Das Cockpit mit den fünf Schalensitzen und den dazugehörigen Konsolen befand sich im vorderen Drittel des Raums. Das weit zurückgesetzte Schaltpult mit seinen Joysticks und Schiebereglern gewährte einen optimalen Blick auf den gewaltigen Bildschirm.
Die Platte des Schaltpults umschloss in eckigen Abstufungen die fünf Sitzplätze. Vorn in der Mitte befand sich der Schalensitz des Drivers, in dem Kendira nun Platz nahm. In bequemer Reichweite hatte sie vor sich rechts und links je einen Joystick mit ergonomischen Ausbuchtungen für die Finger der zugreifenden Hand. Jeder Joystick verfügte auf der zum Bildschirm weisenden Griffseite über drei Tasten, die mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger zu bedienen waren. Sie trugen die Bezeichnungen Grip, Pusher und Lock und der rot unterleuchtete Auslöser für den Daumen oben auf den Sticks nannte sich Shooter.
Neben jedem Joystick waren zwei Schieberegel in die schwarze Platte der Konsole eingelassen. Sie ließen sich über eine Skala mit einer von unten beleuchteten Digitalanzeige schieben. Über die Regler wurden magnetische Kraftfelder in ihrer Stärke und Polung kontrolliert. Während jeder in der Sim-Kabine zwei Joysticks vor sich hatte, verfügte jedoch nur der Driver über diese Magnetfeldregler.
Seitlich hinter Kendira nahmen Nekia und Colinda in den Schalensitzen der Receiver und Bouncer Platz. Ihre Konsolen waren jeweils einen guten Meter nach rechts und links versetzt, sodass auch sie einen ungehinderten Blick auf die Bildschirmwand hatten. Und hinter ihnen wiederum auf beiden Seiten um einen Meter nach außen verlegt, nahmen Fling und Flake ihre Positionen als Catcher ein.
Sie saßen zwar ganz hinten, aber sobald der Bildschirm zum Leben erwachte, waren sie es, die zuerst reagieren und blitzschnell die richtigen Entscheidungen treffen mussten. Und weil die 3-D-Wand dann wie ein Ausblick in die Unermesslichkeit des Universums wirkte, verwendeten die Electoren unter sich statt des schlichten Begriffs Catcher manchmal die klangvollere Bezeichnung Deep Space Hunter.
»Da müssen wir uns heute ja mächtig ins Zeug legen, wenn wir Carson und sein Team schlagen wollen.« Flakes dünne Stimme kam von hinten.
Kendira ging nicht darauf ein, denn im nächsten Augenblick fuhr Master Chapman im Kontrollraum die versenkten Lichter an den Seitenwänden der Sim-Kabinen bis auf ein schwaches Hintergrundglimmen herunter. Und dann kam auch schon seine Stimme aus den Deckenlautsprechern: »Team 1, Team 2, haltet euch bereit! Das Programm startet in genau zehn Sekunden, wenn der Computer den Countdown übernimmt.«
Wie angekündigt wurde Chapman von einer leblosen Automatenstimme abgelöst, die unverzüglich mit dem Countdown begann. »Zehn … neun … acht … sieben …«
Kendira rückte sich noch einmal im Schalensitz zurecht, hielt mit ausgestreckten Armen die Hände waagerecht über den Joysticks und machte mit den Fingern eine letzte Lockerungsübung.
»… sechs … fünf … vier …«
Kendira leckte sich über die Lippen und legte die Hände um die Joysticks. Angespannt starrte sie auf den Bildschirm.
»drei … zwei … eins«, zählte die Computerstimme emotionslos rückwärts, um dann ebenso unbeteiligt »Run!« zu verkünden.
Ein kurzes Flickern flimmerte über den Bildschirm, dann bot sich ihnen das vertraute dreidimensionale Bild einer scheinbar endlosen kosmischen Schwärze. Inmitten dieser Illusion eines sternenlosen Universums drehte sich träge und nur vage erkennbar ein quadratisches Gitterfeld um seine eigene Achse. Kleine Pfeile aus weiß pulsierenden Punkten mit unterschiedlichen Markierungen an den Pfeilenden zeigten die zehn verschiedenen Cursor-Positionen der Joysticks an.
Plötzlich tauchten im Hintergrund fünf farbige Punkte aus der Finsternis auf. Wie ein Schwarm winziger Asteroiden trieben sie heran, strebten dann jedoch, statt näher zu kommen, dem rechten Bildrand entgegen.
»Hier kommt der erste Schwarm!«, rief Fling. »Er dreht in deinen Sektor ab, Flake. Mann, da sind zwei verdammt schnelle Burschen darunter! Da, die beiden Roten!«
»Lass sie nur kommen«, antwortete Flake gelassen. »Ich fang sie schon noch früh genug ein.«
Zwei rote Punkte, die sich rasch zu schmalen Strichen entwickelten, lösten sich auf einmal von den drei anderen Punkten, die von gelber und blauer Farbe waren. Sie schienen mit wachsender Geschwindigkeit wieder aus dem Sichtfeld verschwinden zu wollen.
Flake bewegte seine Curser in diesen Bereich und fing die beiden roten Punkte routiniert ab, lange bevor sie ihm am Bildschirmrand entwischen konnten. Mit einer leichten Bewegung seines Joysticks lenkte er sie in sichere Bahnen, und zwar in den Sektor zwischen Hintergrund und Vordergrund, den Nekia und Colinda überwachten.
»Hier kommt dein erstes Pärchen!«, rief er Nekia zu. Sie hatte das Ausscheren und das Abfangmanöver aufmerksam verfolgt und war bereit, die beiden Roten zu übernehmen. Mittlerweile hatten sich die Punkte in leuchtende Stäbe verwandelt.
Nekia blockte den Flug der beiden roten Stäbe ab und schickte sie mit einem kurzen Bouncen zu Kendira hoch in den zentralen Sektor.
Kendira übernahm sie. Mit dem Zeigefinger drückte sie die Grip-Taste, worauf sich ihre Cursor in rechteckige Zangensymbole verwandelten. Sie griffen nach den Stäben. Es folgte ein Druck auf die Pusher-Taste, begleitet von einer genau dosierten seitlichen Bewegung mit dem Joystick, und die beiden roten Stäbe glitten in ein schwach schraffiertes Feld an der rechten unteren Außenkante des quadratischen Gitters. Schnell drückte sie die Lock-Taste, und die ersten beiden Stäbe saßen an ihrem vorherbestimmten Platz fest verankert.
Indessen trieben die gelben und blauen Stäbe aus der Tiefe des virtuellen Raums heran. Sie einzufangen und an der richtigen Stelle in das Gitternetz des Kubus einzufügen, erforderte von Kendira nach all den Jahren der Übung anfangs keine besondere Anstrengung. Aber sie wusste, wie trügerisch die ersten Minuten waren und dass die wirkliche Herausforderung noch auf sie wartete.
Denn das Programm änderte das Tempo und die jeweilige Zahl der aus der virtuellen kosmischen Tiefe aufsteigenden Farbstäbe in unvorhersehbaren Intervallen. Mal schossen die farbigen Stäbe in rasanter Folge wie Leuchtspurgeschosse oder wie in bunten Schwärmen aus dem schwarzen Rachen, sodass jedes ihrer Teammitgleider alle Hände voll zu tun hatte und mit höchster Konzentration seine Joysticks bedienen musste, um unter dem Ansturm nicht die Übersicht und Kontrolle zu verlieren. Dann wiederum schien der Strom der Spektralstäbe urplötzlich zu versiegen, und es trudelte gerade mal eine Handvoll von ihnen heran, ganz gemächlich durch die tiefe Schwärze floatend. Und je länger der Run dauerte, desto mehr wusste jeder von ihnen diese kurzen Atempausen zu schätzen. Nur dauerten diese immer viel zu kurz, während dagegen die eruptiven Schübe immer mehr an Stärke gewannen.
Anspannung und Belastungen wuchsen, und es wurde in der Sim-Kabine auch kaum noch gesprochen. Gelegentlich gab es einen knappen Zuruf, und dann und wann entfuhr einem von ihnen auch mal ein verärgertes »Mist!« oder »Verdammt!«, aber das war auch alles. Jedes Quäntchen Energie und Aufmerksamkeit wurde für die Arbeit an der Bildschirmwand benötigt.
Die heranfliegenden Stäbe unter Kontrolle zu halten und Kendira zuzuführen, kostete von den Catchern Fling und Flake sowie ihren Receivern und Bouncern Nekia und Colinda eine Menge Kraft und Konzentration. Aber wer wie Kendira im Sitz des Drivers saß, der hatte eine noch viel komplexere und nervenaufreibendere Aufgabe zu erfüllen.
Die Stäbe waren nämlich zusätzlich magnetisch aufgeladen, und das Programm schickte sie, nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, mal mit positivem Magnetfeld und mal mit negativem Magnetfeld auf den Bildschirm. Das führte dazu, dass sich die Stäbe einer Farbe gewissermaßen »weigerten«, sich im Gitternetz an ihresgleichen oder an die Stäbe jener Farbe anzufügen, die auf der Skala der Spektralfarben folgte und somit im Kubus ihre natürliche Nachbarin war. Andererseits zogen sich immer wieder Stäbe fast unwiderstehlich an, die nicht zusammengehörten.
Sowie ein Driver diese verkehrten Anziehungskräfte oder Widerstände spürte, die sich erst bei der Annäherung offenbarten, musste er blitzschnell zu den Schiebereglern greifen, die Stärke der Veränderung des magnetische Kraftfelds einstellen und die Umpolung per Daumendruck auf den Shooter aktivieren. All das jagte den Herzschlag hoch und trieb den Schweiß aus den Poren, und nicht wenige, die sich als Driver versucht hatten, waren unter dem enormen Druck mitten im Run zusammengebrochen und hatten aufgegeben.
Kendira besaß die Nervenstärke und die physische Ausdauer, um stundenlang mit höchster Konzentration den Ansturm der heranjagenden Stäbe zu bestehen. Was jedoch nicht hieß, dass ihr dabei nicht immer wieder einige von ihnen entkamen. Kein Driver konnte das vermeiden. Noch nie hatte jemand bei einem Run 100 Prozent erreicht, weder im Team noch bei einem Solo. Die Frage war nur, wie viele man als Driver entkommen ließ.
Das Ende des Runs kam wie immer unerwartet. Der Strom der Spektralstäbe brach ab, ein melodischer Dreiklang drang aus den in der Wand versenkten Lautsprechern – und der Würfel, dessen Spektralfarben fließend ineinander überzugehen schienen, begann von innen heraus zu leuchten. Er bot in dem dreidimensionalen schwarzen Raum einen spektakulären Anblick.
»Perfekt!«, rief Flake begeistert und atmete laut durch. »Was für ein Run! Das gibt ein paar fette Token.«
»Lief wie am Schnürchen«, pflichtete Fling ihm bei. »Tippe auf zwei Blaue.«
Auch von den anderen kam lautes Durchatmen. Jeder streckte und reckte sich und wischte sich Schweiß von Stirn und Händen.
»Ja, aber eben doch nur fast perfekt«, gab Kendira zurück, nahm die Hände von den Joysticks und fiel erschöpft in den Schalensitz zurück.
Dass der Farbwürfel auf dem Bildschirm nicht makellos war, sah jeder von ihnen. Die einzelnen Stäbe hatten zwar ihre eigenständige Form verloren und waren in herrliche, ineinanderfließende Farbfelder aufgegangen. Aber an einigen Stellen, wo gleich mehrere Stäbe fehlten, zeigten sich farbstumpfe Flecken. Sie waren zwar winzig und leicht zu übersehen, aber für die trainierten Augen von Alpha-Electoren doch klar erkennbar. Jedenfalls glaubte Kendira nicht, dass es für einen roten Token am Armband reichte. Aber ein blauer war bestimmt drin.
Der Würfel begann sich um seine innere Achse zu drehen, wuchs in seiner Größe, wurde dabei in seiner Drehgeschwindigkeit immer schneller – und flog plötzlich, wie von einer gewaltigen inneren Explosion zerrissen, nach allen Seiten auseinander.
Es war eine atemberaubende Eruption von Spektralfarben. Gleichzeitig fuhr das Programm die Beleuchtung in der Sim-Kabine wieder hoch, und als die normale Helligkeit erreicht war, schaltete sich die Bildschirmwand ab.
Langsam wich die enorme Anspannung von ihnen. Der Run hatte zwei Stunden und neun Minuten gedauert, aber erst jetzt spürten sie die körperliche Anstrengung, die der Tanz der Tausend Stäbe ihnen abverlangt hatte.
Als Kendira sich aus ihrem Schalensitz hochstemmte und sich zu ihrem Team umdrehte, blickte sie in verschwitzte, aber zufriedene Gesichter. Sie lächelte ihnen zu, hatte sie doch trotz der verschiedenen farbstumpfen Flecken am Kubus ein gutes Gefühl. »Ich denke, wir haben einen ordentlichen Run hingelegt. Was meint ihr?«
»Ordentlich?« Colindas Augen funkelten. »Von wegen! Das war ein Super-Run! Das gibt blaue Token für alle!«
Flake nickte. »Und jede Wette, dass wir Carson und sein Team geschlagen haben.«
»Abwarten«, kam es trocken von Nekia. »Man soll den Abend nicht vor dem Morgen loben – oder so ähnlich.«
»Dann schauen wir doch mal, was in der Lounge auf der Tafel steht!«, rief Fling.