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So schwer es ihm auch fiel, er ließ es sich nicht anmerken, wie angeekelt und erschüttert er war. Die Angst, seine Gefühle und Gedanken zu verraten und sich damit womöglich noch selbst auf den Cleansing-Stuhl zu bringen, gab ihm die nötige Kraft, nach außen hin eine scheinbar gleichmütige Haltung zu bewahren.
Doch kaum war er in seinem Zimmer und hatte die Tür hinter sich geschlossen, als diese Maske schlagartig von ihm abfiel. Wie kraftlos wankte er durch den Raum, stützte sich an der Kante seines Schreibtischs ab und sank auf den Stuhl. Dort fiel er förmlich in sich zusammen.
Für einen langen Moment saß er reglos auf dem harten Stuhl. Dann fuhr seine Hand nach links zur mittleren der drei Schubladen. Er zog sie auf, schob einen Stoß Papiere zur Seite und holte darunter eine Flasche Tequila hervor. Er machte sich erst gar nicht die Mühe, ein Glas zu holen, sondern zog den Korken heraus und setzte die Flasche an die Lippen. Er trank gierig, und es kostete ihn große Willenskraft, die Flasche nach drei kräftigen Schlucken wieder abzusetzen.
Der scharfe Agaveschnaps half gegen den sauren Geschmack im Mund, nicht jedoch gegen sein inneres Elend. Es saß wie ein Geschwür in ihm. Ein mit Eiter gefülltes Geschwür, das langsam in ihm gewachsen und vor einigen Tagen dann plötzlich aufgeplatzt war.
Das öffentliche Cleansing hatte ihn mit Abscheu erfüllt. Vor allem mit Abscheu vor sich selbst. Er fühlte sich erbärmlich, weil er nicht einmal den Versuch unternommen hatte, für Seyward ein Wort einzulegen und nach irgendeinem Ausweg zu suchen, um seine Auslöschung zu verhindern. Vielleicht hätte es doch eine Möglichkeit gegeben, Seyward vor dieser Bestrafung zu bewahren.
Aber er hatte nicht den Mut gehabt. Zu groß war die Angst, dadurch Misstrauen an seiner bedingungslosen Hingabe zu wecken und selbst ins Visier der Fanatiker unter den Oberen des Konvents zu geraten.
Dieser Whitelock war ein von Ehrgeiz zerfressener Mann ohne Gnade. Und wenn er sich auch hütete, es auszusprechen, so kannte er nur ein Ziel, nämlich eines Tages zum Primas ernannt zu werden und uneingeschränkt über Liberty 9 zu herrschen. Um das zu erreichen, war er zu allem bereit. Whitelock hätte sogar seine eigene Mutter, ohne mit der Wimper zu zucken, auf den Stuhl binden und cleansen lassen!
Und Whitelock war nicht der Einzige, der die drakonischen Vorschriften für rechtens hielt. Unter den Prinzipalen und Mastern gab es viele, die so dachten wie Whitelock. Sherwood, der Neue, gehörte ganz sicher dazu und auch Brewster. Diese Rotkutten kannten nicht den Schimmer eines Zweifels, ob das, was sie taten, auch wirklich notwendig zu verantworten war. Und wer sich ihnen gegenüber eine Blöße gab, indem er auch nur leise Bedenken an dem System anmeldete oder auf die immer knapper werdenden Ressourcen und die Systemausfälle hinzuweisen wagte, brachte sich damit in höchste Lebensgefahr.
Eine einzige gedankenlose Bemerkung reichte schon, um eine Durchsuchung seiner Privaträume heraufzubeschwören. Er mochte das Versteck, wo er seine Tagebücher und so manch anderes verbotenes Gut aufbewahrte, für noch so sicher halten. Dennoch konnte er nicht ausschließen, dass es entdeckt würde. Und dann würde ihn nichts vor der totalen Auslöschung retten!
Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter und schnell nahm er einen weiteren Schluck aus der Flasche. Warum sollte er sich auch zurückhalten? In wenigen Tagen traf mit dem Lichtschiff der Nachschub an all jenen Gütern ein, die sie hier in der Sicherheitszone von Liberty 9 nicht selbst produzieren konnten. Vorausgesetzt, die Mechaniker wurden mit der Reparatur an dem schweren Fluggerät auch wirklich rechtzeitig fertig. Er hoffte es inständig. Denn mit den Versorgungscontainern würde auch eine Kiste mit Flaschen seiner Lieblingsmarke eintreffen. Die Piloten ließen sich diese heimlichen Gefälligkeiten gut bezahlen.
Der Alkohol tat seine Wirkung und seine Gedanken bewegten sich allmählich in eine andere Richtung.
Hatte er nicht die riesigen Trümmerstädte mit eigenen Augen gesehen und sich als junger Mann sogar einmal selbst dort hineingewagt? Und hatte er nicht auch mit eigenen Augen gesehen, wie die Menschen in dieser Dunkelwelt lebten? Nämlich wie die Tiere. Dort ging einer dem anderen an die Gurgel, wann immer er glaubte, den Vorteil auf seiner Seite zu haben! Da gab es kein Gesetz und keine Ordnung. Es sei denn, man hielt die Tyrannei der Stärkeren über die Schwächeren für eine Form von Gesetz und Ordnung.
War es angesichts dieser Zustände, die in der Dunkelwelt außerhalb der drei stark befestigten Hisecis Presidio, Pacifica und Panamera und ihrer angeschlossenen Hisecos herrschten, nicht vertretbar, dass der weise Wächterrat von Hyperion vor Jahrzehnten das Liberty-System ins Leben gerufen hatte? Es war eine Notwendigkeit gewesen. Es hatte damals gar keine Alternative gegeben und es gab sie auch heute noch nicht. Irgendwer musste doch die Aufgabe zum Wohle aller erfüllen. Und war dies nicht bei aller Grausamkeit der humanste Weg?
Die Jungen und Mädchen lebten doch in einem seligen Zustand der Ahnungslosigkeit und opferbereiten Gläubigkeit. Was sie nicht kannten, konnten sie auch nicht vermissen – und schon gar nicht fürchten. Deshalb würden sie ihre große Aufgabe auch ohne jede Angst erfüllen, bis der Tag gekommen war, an dem auch sie ersetzt werden mussten.
Gewiss, es war ein hohes Opfer an jungem Leben. Aber wenn es um die Bewahrung und Zukunft des Allgemeinwohls ging, waren solche Opfer nun mal unvermeidlich. War denn nicht die Geschichte der Menschheit voll von derartig heroischen Beispielen? Und zwar nicht nur in Zeiten von Kriegen. Zu allen Zeiten hatte es die bittere Notwendigkeit gegeben, dass einige wenige ihr Leben für die Allgemeinheit hingaben und die Zivilisation retteten.
Bei den Electoren geschah dies zudem auf die denkbar humanste Art und Weise. Denn wenn sie begriffen, was mit ihnen geschah, war ihr Schicksal schon längst entschieden – und ihre Zeit abgelaufen.