16

Ein öffentliches Cleansing schlug erfahrungsgemäß vielen Electoren auf den Magen, insbesondere denen, die zum ersten Mal Zeuge einer derartigen Bestrafung wurden. Deshalb fand es am frühen Nachmittag statt, mehrere Stunden nach dem Mittagessen und lange vor dem Abendessen.

Unter beklommenem Schweigen versammelten sich alle Electoren, Servanten und Guardians sowie Master und Prinzipalen vor der Lichtburg. Doch im Gegensatz zum Morgenappell reihten sich die Master und Prinzipalen nicht oben auf der Treppe aneinander, sondern begaben sich hinunter auf den Platz und stellten sich vor den beiden Alpha-Blöcken auf – bis auf Prinzipal Whitelock. Als Stellvertreter und rechte Hand des Primas blieb er oben an der Seite von Templeton.

Reglos stand der Primas in seiner weißen, mit der schillernden Schärpe gebundenen Kutte auf der geschwungenen Plattform vor dem hohen Portal. Wie üblich hatte Templeton die Arme auf dem Rücken verschränkt und die Beine leicht gespreizt. Seine asketisch hagere Gestalt wirkte in dieser reglosen Haltung wie aus Stein gemeißelt. Kein einziger Muskel regte sich in seinem knochigen, scharf geschnittenen Gesicht und ähnlich starr und ausdruckslos ging sein Blick über die Köpfe der unter ihm Versammelten hinweg. Hinter ihm hatten zwei bewaffnete Guardians vor dem Eingang Posten bezogen.

Auf halber Höhe der Treppe stand auf einer Aluminiumplatte, deren Unterbau die beiden darunter befindlichen Stufen durch passgenaue Ausbuchtungen ausglich, eine schwarze Eisenschale. Sie war leicht nach innen gewölbt, hatte einen Durchmesser von etwa einem Meter und ruhte auf einem schwarzen Dreibein. Die Schale war mit einem schwarzen Tuch abgedeckt. Eckige Gegenstände zeichneten sich unter dem Stoff ab.

»Wenn es doch nur schon vorbei wäre!«, raunte Nekia.

Kendira nickte. »Am besten schließen wir die Augen!«, flüsterte sie zurück.

»Das nützt doch nichts! Ich weiß ja, was da oben gleich geschieht, und deshalb habe ich das Bild genau so deutlich vor Augen, wie wenn ich hinschauen würde! Und sich die Ohren zuzuhalten, ist nicht erlaubt.«

Kendira schluckte. »Ja, wenn dieses entsetzliche Geräusch nicht wäre!«

»Irgendwie tut mir Seyward leid«, kam es hinter ihnen leise von Colinda. »Wenn die dritte Rakete nicht ausgerechnet in seinem Zimmer explodiert wäre, hätte vermutlich niemand erfahren, dass er …«

»Haltet doch endlich den Mund!«, zischte Hailey neben Colinda. »Mir macht das hier auch keinen Spaß! Aber das ist doch kein Grund, sich so anzustellen. Ihr führt euch wie verschreckte, zimperliche Delta-Küken auf. Wir sind Alpha-Electoren! Und überhaupt hat Seyward sich sein elendes Schicksal selber zuzuschreiben. Er hat doch ganz genau gewusst, was ihm blüht, wenn er Seelengift in die Sicherheitszone bringt und dabei erwischt wird!«

»Na, ich weiß nicht«, flüsterte Nekia, doch so leise, dass nur Kendira neben ihr es hören konnte.

Das Geraune erstarb.

Es war Prinzipal Whitelock, der vor der Vollstreckung der Strafe die Ansprache an die Versammlung hielt.

»Libertianer!«, begann er und seine kraftvolle Stimme donnerte aus den Lautsprechern mit weit größerer Lautstärke als bei gewöhnlichen Ansprachen. Der ranghöchste Prinzipal ließ den aufrüttelnden Zuruf im Tal verhallen, um dann ein zweites »Libertianer!« folgen zu lassen, diesmal mit noch mehr beschwörender Eindringlichkeit in der Stimme.

Kendira zuckte jedes Mal kaum merklich zusammen.

»Wir haben uns hier zu dieser Stunde vor der Lichtburg aus einem abscheulichen Anlass eingefunden«, verkündete er. »Abscheu und Erschrecken muss jeden von uns bis auf den Grund seines Inneren erfüllen, weil einer aus unseren eigenen Reihen, ein auserwählter Master, zum Handlanger der Nightraider geworden ist und schändlichen Verrat an allem begangen hat, woran wir Libertianer glauben und was wir mit all unseren Kräften und sogar mit unserem Leben zu verteidigen geschworen haben!«

Wieder ließ er eine Pause verstreichen, während er seinen Blick langsam über die Reihen der Versammelten schweifen ließ, als wollte er jeden Einzelnen in den Blick nehmen.

»Master Seyward hat Seelengift, jene entarteten Druckschriften mit der verheerenden Wirkung, aus der Dunkelwelt in die Sicherheitszone eingeschleppt! Seelengift! Ebenso gut hätte er unseren Todfeinden eines der Tore zu Liberty 9 öffnen können.« Erneut legte er eine kurze Pause ein, um die Ungeheuerlichkeit seiner Anklage wirken zu lassen.

»Aber so bestürzend der Verrat von Master Seyward auch ist, so sind wir doch zu dieser Stunde hier auch zusammengekommen, um im Angesicht seiner ungeheuren Verfehlung einmal mehr Zeugnis abzulegen«, fuhr Whitelock mit beschwörender Stimme fort. »Zeugnis für unsere bedingungslose Hingabe an die Erhabene Macht, die uns, jeder auf seinem Platz, in ihren hochwürdigen Dienst berufen hat. Wir wissen, dass uns jenseits der Sicherheitszone das personifizierte Böse umgibt. Wir sind umzingelt von plündernden und mordenden Gesetzlosen. Jahr um Jahr bedrängt von den Nightraidern aus der Dunkelwelt, nichts so sehr fürchten und verabscheuen wie unser Bekenntnis und unsere felsenfeste Standhaftigkeit.«

Wieder ließ er eine Pause von zwei, drei Sekunden verstreichen, damit seine beschwörenden Worte auch jedem nachdrücklich ins Bewusstsein drangen.

Dann schallte seine Stimme wieder über den Platz. »Es mag Zeiten der Ruhe geben, aber lassen wir uns von diesen ereignislosen Perioden nicht täuschen! Die Nightraider werden nicht aufhören, uns nach dem Leben zu trachten, unsere Wachsamkeit und unsere Widerstandskraft von außen wie von innen zu schwächen und unbeirrt nach einem Weg zu suchen, um in die Sicherheitszone einzudringen und uns niederzumetzeln. Niemals! Denn ihr Ziel ist unsere Auslöschung, mit allen Mitteln und um jeden Preis! Liberty 9 soll fallen! Und Tod allen treuen Dienern der Erhabenen Macht, das haben sie sich geschworen und auf ihre blutgetränkten Fahnen geschrieben.« Erneut unterbrach er seine leidenschaftliche Rede für eine wirkungsvolle Pause.

»Wir aber weichen nicht! Niemals! Wir bleiben standhaft und wehrhaft!«, donnerte er dann mit aller Kraft seiner Lungen und riss den Arm zum Ehrengruß vor die Brust. »Wir sind Libertianer – und wir gehen vor den Kräften der Finsternis nicht in die Knie! Niemals! Denn wir sind das Licht der Welt.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Die allgemeine Beklemmung begann sich zögerlich in Stolz und wachsende Begeisterung zu verwandeln.

»Wir sind Libertianer – und wir erfüllen unseren hochwürdigen Dienst in unerschütterlicher Treue und unbestechlicher Wachsamkeit!«, peitschte Whitelock die Versammlung immer mehr auf.

Das Gemurmel wurde lauter, griff nach allen Seiten um sich und schon hoben die ersten Electoren und auch einige der Master und Prinzipalen nun ihrerseits den Arm vor die Brust.

»Wir sind Libertianer – und wir verteidigen Liberty 9 gegen die Gesetzlosen von außen wie von innen! Wir weichen nicht und wir zeigen keine Schwäche! Wir sind Libertianer – und wir dienen der Erhabenen Macht! Libertianer, lasst uns das gemeinsam bekennen!«, rief Whitelock, streckte die Arme aus und betonte mit ihnen den einhämmernden Rhythmus seiner Worte. »Wir sind Libertianer, wir dienen der Erhabenen Macht und wir weichen nicht! Niemals!«

Die Bedrückung der ersten Minuten war wie hinweggefegt, als die aufgeputschte Menge nun begeistert zurückrief: »Wir sind Libertianer, wir dienen der Erhabenen Macht und wir weichen nicht! Niemals! … Wir sind Libertianer, wir dienen der Erhabenen Macht und wir weichen nicht! Niemals! … Wir sind Libertianer, wir dienen der Erhabenen Macht und wir weichen nicht! Niemals!«

Kendira ertappte sich dabei, dass auch sie den Arm zur Brust hochriss und in den Chor einfiel. Aus einem unerfindlichen Grund schämte sie sich sogleich dafür und verstummte, während sich der Sprechchor um sie herum zu einer fast fanatischen Inbrunst steigerte. Die flache Hand ließ sie jedoch vor der Brust stehen.

Whitelock animierte die Menge per Handzeichen, dieses Treuegelöbnis immer wieder aufs Neue zu skandieren. Immer lauter schallte das Gelöbnis aus Hunderten von Kehlen durch das Tal.

Indessen löste sich Primas Templeton aus seiner Starre. Er wandte den Kopf und nickte den beiden Guardians zu, die vor dem Portal Posten bezogen hatten.

Sie öffneten die beiden Flügel des Portals.

Augenblicke später schoben zwei Guardians den Cleansing-Stuhl, der auf vier Reihen von Hartgummirollen lief, aus der Eingangshalle der Lichtburg heraus und platzierten ihn in die Mitte der Plattform.

Der Stuhl war weiß lackiert und hatte die Form eines kantigen und absolut schnörkellosen Lehnstuhls mit einem hohen Rückenteil und breiten Armlehnen. Ein dreifaches daumendickes Metallgestänge ragte über das Ende des Rückenteils hinaus. Es wurde auf halber Länge von einem Kugelgelenk unterbrochen, lief von dort eine halbe Armlänge waagerecht weiter und endete in einer stählernen Haube. Sie glich einer halbierten Blechkugel, deren offene Seite nach unten zeigte. Sechs stachelähnliche Stahlnadeln ragten aus dem Inneren der Metallschale hervor.

An der Rückseite des Cleansing-Stuhls war ein Stahlkasten angebracht. Er nahm die gesamte Breite ein und war etwa hüfthoch. In die obere, schräg nach hinten abfallende Platte war eine Reihe von Schaltern und Leuchtanzeigen eingebaut. Ein dickes Stromkabel trat in Bodennähe aus dem Schrank hervor, lief über die Plattform und verschwand zwischen den Flügeln des Portals.

Auf dem Stuhl saß Master Seyward.

Die rote Kutte, Zeichen seines Rangs, hatte man ihm genommen und ihn in einen verschlissenen braunen Arbeitsoverall gesteckt. Breite, mit Leder ausgeschlagene Stahlklammern umschlossen Arme und Beine und verhinderten, dass er sich auf dem Sitz bewegen konnte. Auch der Kopf war fixiert. Ein zwei Finger breiter Stahlreifen lag um seine Stirn und hielt seinen Kopf aufrecht und unverrückbar gegen das Rückenteil gepresst. Zwischen die Zähne hatte man ihm einen daumenbreiten Knebelstab aus Hartgummi geschoben.

Seywards Schädel war kahl rasiert. Und wenn man ihm auch wie üblich ein Beruhigungsmittel gegeben hatte, so war er sich seiner Lage und dem, was ihm gleich widerfahren würde, doch ohne jeden Zweifel bewusst. Das verrieten das Entsetzen, das aus seinen Augen sprang, und die Tränen ohnmächtiger Verzweiflung, die ihm über das Gesicht liefen.

Bei seinem Anblick brach der frenetische Chor so abrupt ab, als hätte man ihnen mit einem Rasiermesser die Stimmbänder durchtrennt.

»Wir alle wissen, dass Master Seyward für seine Schandtat den Tod verdient hätte, und in jeder anderen Gemeinschaft würde sie wohl auch vollstreckt werden«, verkündete Whitelock der Versammlung. »Aber wir Libertianer werden ihn gnädigerweise nicht hinrichten, sondern ihn von seinen Verirrungen heilen, indem wir sein Gehirn durch das Cleansing von allem krankhaften und zersetzenden Gedankengut reinigen. Wie ein bösartiges Geschwür, das herausgeschnitten werden muss, bevor es immer weiter wuchern und schließlich den ganzen Organismus zerstören kann, muss es beherzt und entschlossen zum Wohl aller in Master Seyward ausgelöscht werden. Weniger gnädig wollen wir dagegen mit dem Seelengift vorgehen, das er eingeschleppt hat! Diese entarteten Schriften müssen restlos vernichtet werden!«

Auf seinen knappen Wink hin erschien aus der Halle hinter ihm ein Guardian mit einem Flammenwerfer in den Händen und einem entsprechenden silbrigen Treibstofftank auf dem Rücken. Sein Gesicht verbarg sich hinter dem verspiegelten Visier.

Er schritt die Stufen zur schwarzen Metallschale auf der Aluminiumplatte hinunter, zog das schwarze Tuch weg und betätigte den Zündmechanismus seines Flammenwerfers. Fauchend schoss ein faustdicker Flammenstrahl aus der Rohröffnung und richtete sich auf das in der Schale aufgehäufte Seelengift.

Kendira reckte den Hals. Sie stand in vorderster Reihe, gleich hinter den Mastern und Prinzipalen. Und sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen Stapel von Gegenständen, die »Bücher« oder »entartete Druckschriften« genannt wurden. Diese hatten, wie man es sie schon als Kinder gelehrt hatte wesentlich zum Untergang der alten Gesellschaften beigetragen. Seit Beginn des Phönix-Zeitrechnung existierten diese Bücher nur noch in der Dunkelwelt der Nightraider. Nur die Texte, die sich im Speicher der Mediothek befanden und die sie auf ihr Tablet herunterladen konnten, galten als zum Lesen erlaubte und für den Geist gesunde Texte.

Einige dieser Bücher in der Eisenschale sahen abgegriffen aus und trugen auf dem Rücken großformatige Aufschriften. Kendira war, als lautete einer davon Schöne neue Welt und der darunter schien die Worte Heiliger Gral im Titel zu haben. Aber ganz sicher war sie sich dessen nicht. Nur den goldenen Titel des dicken Seelengiftes, das ganz oben lag, konnte sie ohne Schwierigkeiten lesen, weil die Buchstaben auf dem Rücken ganz besonders groß waren. Bibel las sie, konnte damit jedoch nichts anfangen.

Und bevor sie noch genauer hinschauen konnte, hatte der Feuerstrahl des Flammenwerfers den Stapel Seelengifte auch schon in Brand gesetzt. Um den Prozess der Vernichtung noch zu beschleunigen, hielt der Guardian das Flammen spuckende Rohr weiterhin auf die Bücher gerichtet. Diese schienen sich unter der verzehrenden Glut zu krümmen und aufzubäumen, um dann in sich zusammenzufallen und sich in einen kümmerlichen Haufen Asche zu verwandeln.

Während die Feuersbrunst in der Metallschale aufloderte, sich durch die Seelengifte fraß und die Aufmerksamkeit auf sich zog, gab Primas Templeton seinem Stellvertreter ein Zeichen. Daraufhin trat Whitelock hinter den Cleansing-Stuhl und betätigte mehrere Schalter.

Kendira bemerkte es und wollte gleich wieder wegschauen, weil sie wusste, was nun kam. Aber aus einem unerfindlichen Impuls heraus hatte sie plötzlich das Gefühl, es Master Seyward schuldig zu sein, nicht wegzublicken, sondern Zeuge von seinem Cleansing zu sein.

Die glänzende Metallhaube senkte sich auf seinen kahl rasierten Kopf. Und noch bevor die sechs stählernen Hohlnadeln seine Kopfhaut berührten, setzten sie sich in Bewegung.

Kendira meinte, trotz der laut prasselnden Flammen den abscheulich hohen, sirrenden Ton der sechs Feinbohrer hören zu können, die sich nun durch Master Seywards Schädeldecke fraßen, damit gleich aus dem Kanal der Hohlnadeln die noch viel dünneren Elektronadeln herausfahren und in die vorbestimmten Regionen seines Gehirns vordringen konnten.

Der Rand der Haube schloss nun mit der Oberkante des metallenen Stirnreifs ab.

Whitelock legte einen weiteren Schalter um.

In Erwartung dessen, was gleich geschehen würde, biss sich Kendira auf die Unterlippe und spannte die Bauchmuskeln an.

Nun ging es sehr schnell. Doch die wenigen Sekunden, die das reinigende Cleansing von Master Seywards Gehirn in Anspruch nahm, waren Sekunden von fast unerträglich langer Dauer.

Kendira musste mehrmals heftig schlucken, als sie sah, wie Master Seywards Gliedmaßen unter den Stahlklammern zuckten, sich seine Hände verkrampften und seine Gesichtszüge sich verzerrten.

Und dann, von einer Sekunde auf die andere, erschlafften all seine Muskeln. Sein Körper schien in sich zusammenzusacken. Gleichzeitig erlosch der grauenvolle, stumme Schrei in seinen Augen. An dessen Stelle trat ein benommener, irgendwie stumpfer Ausdruck, als flackerte hinter ihnen nur noch ein Rest von Leben, sozusagen ein Leben auf Sparflamme.

Weiterleben würde Seyward und man würde ihn schon in einigen Tagen in einer alten grauen Arbeitskutte über das Gelände schlurfen sehen. Aber es würde von nun an ein Leben als stammelnder und geistig behinderter Mendikant sein, wie jene Libertianer offiziell hießen, die das Cleansing hinter sich hatten.

Seinen Schlafplatz hatte er von nun an in einem Betonschuppen nahe der Kaserne, und tagsüber würde er sich jeden Bissen an der Hintertür des Refectoriums und bei den Servanten erbetteln müssen, was hart und bitter war. Denn viele Electoren hatten für Mendikanten, die ihre Berufung verraten und durch ihr Verhalten die Sicherheit von Liberty 9 in Gefahr gebracht hatten, nur Verachtung übrig. Und selbst die meisten Servanten zeigten kein weiches Herz, wenn sie von einem Mendikanten angebettelt wurden. Kein Wunder, dass der Letzte, ein Elector namens Coram aus dem Beta-Level, nicht einmal ein Jahr ausgehalten hatte. Er hatte den harten Winter nicht überstanden und war schließlich an einer schweren Lungenentzündung gestorben. Es kam jedoch auch vor, dass das Cleansing so schwere Hirnschäden verursachte, dass der Betreffende überhaupt nicht mehr zu sich kam und in ein Koma fiel. Dann bekam er die Spritze und wurde in Eden verscharrt.

Von hinten aus dem Block der Delta-Electoren kam ein gedämpftes, aber unverkennbares Würgen. Dort kämpfte jemand, die Hand auf den Mund gepresst, gegen den Brechreiz an. Und wie man hörte, verlor er nicht nur den Kampf gegen die hervorbrechende Übelkeit, sondern steckte auch noch einen anderen in seiner Nähe damit an.

»Lasst uns das Treuegelöbnis sprechen!«, rief Prinzipal Whitelock und übertönte die Würgegeräusche, während man Seyward oben in die Lichtburg zurückrollte und die letzten Flammen in der Brandschale in sich zusammenfielen.

Auch Kendira fiel in den Sprechchor ein. Doch zum ersten Mal in ihrem Leben kamen ihr die Worte schal und seltsam hohl vor. Dantes misstrauische Fragen kamen ihr wieder in den Sinn, was sie zusätzlich verstörte. Und plötzlich war ihr, als wäre an diesem Nachmittag nicht nur etwas in Master Seywards Kopf ausgelöscht worden, sondern auch irgendetwas in ihr. Und das machte ihr Angst.

Nach einer Hinrichtung oder einem Cleansing war der Rest des Nachmittags frei, weil sich ja doch keiner auf den Unterricht hätte konzentrieren können. Für Kendira war deshalb die Versuchung groß, sich auf der Stelle in die Tube zu begeben und sich in eine der versunkenen Welten zu stürzen, am besten in einen langen Ride aus der Kategorie der Sieben Expeditionen. Für diese Rides musste man mit zwei blauen Token oder einem roten Supertoken bezahlen, und sie waren es wert. Etwas Besseres und Spektakuläreres gab es in der Tube nicht, auch wenn viele der Jungen anderer Meinung waren und auf so irrwitzige Rides wie Space Battle, Urban Warfare, Darkworld Revenge, Alien Invasion und ähnliche Ballerspektakel schworen.

Aber so stark das Verlangen auch war, sich in eine dieser Wunderwelten zu flüchten, so fürchtete sie zugleich doch auch, die grässlichen Eindrücke des Cleansing trotzdem nicht abschütteln zu können.

Nein, dafür war ein Supertoken zu hart errungen und zu wertvoll, als dass sie ihn für ein halbherziges Erlebnis hergeben wollte! So dumm würde sie nicht sein. Selbst ein blauer Token für einen nicht ganz so spektakulären Ride, den der Zufallsgenerator ausgewählt hatte, war dafür zu schade.

Nach kurzem Ringen mit sich selbst beschloss Kendira, anderswo Abstand von den erschütternden Bildern des Cleansing zu suchen, und zwar im Kreuzgang der Lichtwelten. Der Aufenthalt kostete nichts, und vielleicht fand sie ja dort bei einem langen Rundgang zu ihrem inneren Gleichgewicht zurück.