21
Zu Tode erschrocken fuhren Kendira und Dante herum – und blickten in das triumphierende Gesicht von Nekia. Die Arme in aufreizender Geste in die Hüften gestützt, stand sie im Türrahmen und blickte von einem zum anderen.
»Schau an, schau an! Es ist tatsächlich der Servant Dante, zu dem du hier hinuntergeschlichen bist!«
Kendira starrte sie ungläubig an und wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte.
Nekia schaute sich flüchtig um und verzog das Gesicht. »Nicht gerade der romantischste Ort, den ich mir für ein heimliches Date aussuchen würde. Oder schaut ihr euch schon mal um, wo ihr vor eurem Gang auf den Stuhl landen werdet, wenn ihr weniger Glück habt als jetzt und euch jemand erwischt, der euch auf der Stelle den Oberen meldet?«
»Es ist nicht so, wie du denkst, Nekia!«, stieß Kendira nun hastig hervor.
»Hey, jetzt verkauf mich bitte nicht für dumm! Ich habe ja wohl noch Augen im Kopf! Mir ist doch nicht entgangen, dass der Servant in dich verknallt ist. Und erzähl mir nicht, dass ihr euch heute zum ersten Mal heimlich trefft.«
Kendira griff nach der Hand ihrer Freundin. »Ich belüge dich doch nicht. Bestimmt nicht! Und du hast recht, es ist nicht das erste Mal, dass ich heimlich mit Dante rede«, gestand sie ein. »Aber es ist nicht so, wie du vermutest. Darauf hast du mein Wort.«
Von Dante kam dazu weder ein stummes Nicken noch sonst eine Reaktion. Er schwieg und wartete auf den Ausgang des Wortwechsels.
»So? Und was zieht euch immer wieder zueinander?«, fragte Nekia. »Bewundert ihr hier vielleicht die sehenswerte Architektur dieses Zellentrakts?«
Fieberhaft überlegte Kendira, was sie darauf antworten sollte. Nekia war ihr immer eine treue Freundin gewesen, und sie hatten alles miteinander geteilt, all ihre Gedanken und kleinen Geheimnisse. Aber Nekia hatte auch ihren Stolz. Den galt es besser nicht zu verletzen. »Dante hat mich in den Keller gebeten, weil er mir hier in der Arrestzelle etwas zeigen wollte, das für uns alle sehr wichtig sein kann«, teilte Kendira ihr mit. »Master Seyward hat nämlich da unten an der Tür eine Nachricht hinterlassen.«
Nekia machte ein verblüfftes Gesicht. »Er hat eine Nachricht hinterlassen?«
»Komm her und lies selber!« Kendira zog ihre Freundin in die Hocke und wies auf die in das Metall geritzten Wörter.
»Unglaublich!«, stieß Nekia hervor, schüttelte den Kopf und las die Botschaft ein zweites Mal. Dabei sprach sie das Gelesene leise mit.
Kendira blickte über ihre Schulter hoch zu Dante und tauschte mit ihm einen erleichterten Blick. Sein Gesicht verlor die starke Anspannung. Er imitierte die Geste eines Mannes, der sich erlöst Angstschweiß von der Stirn wischt und danach die Hand ausschüttelte. Dabei brachte er sogar ein Lächeln zustande.
Sie lächelte zurück.
»Das ist wirklich unglaublich!«, wiederholte Nekia und richtete sich dann wieder auf. »Also, wenn ich das nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, ich hätte es euch nicht abgenommen! Der arme Master Seyward! Er muss wohl halb wahnsinnig vor Angst gewesen sein, als …«
Diesmal war es Nekia, die nicht mehr dazu kam, ihren Satz zu beenden. Denn in dem Moment klirrte draußen im Gang etwas Metallisches und gleichzeitig flammten mehrere Deckenleuchten auf.
Ihnen allen fuhr der Schreck in die Glieder.
»Verdammt, wer hat denn bloß die Zellentür offen stehen und das Licht brennen lassen!«, tönte eine Stimme durch den Kellergang, die jedem Servanten und jedem Elector nur zu gut bekannt war, gefolgt von dem Ruf: »Ist da jemand in der Zelle?« Gleich darauf waren energische Schritte zu hören, die sich rasch näherten.
»Es ist Sherwood, die Bulldogge!«, stieß Kendira entsetzt hervor und wurde bleich. »Um Himmels willen, was machen wir jetzt bloß?«
Auch Nekia wich das Blut aus dem Gesicht. Sie saßen in der Falle!
»Los, in die Ecke hinter der Tür! Das ist unsere einzige Chance!«, zischte Dante ihnen zu und deutete auf den schmalen Spalt zwischen der Kloschüssel und der Wand, der von der aufstehenden Tür verdeckt wurde. Und dann rief er laut über die Schulter in den Gang hinaus: »Ich, Servant Dante, bin hier in der Zelle, Prinzipal Sherwood!«
»Aber was soll das bringen?«, flüsterte Nekia im selben Moment und panische Angst flackerte in ihren Augen. »Wir können doch unmöglich …«
»Nun macht schon! Das ist unsere einzige Chance, mit heiler Haut davonzukommen«, beschwor Dante sie. »Beeilt euch! Er ist gleich hier! Und bloß keinen Laut! Ich hole euch schon wieder heraus.«
Kendira verstand. Wenn Prinzipal Sherwood sie beide mit Dante in der Zelle erwischte, würde er Argwohn schöpfen. Unterzog er dann den Raum einer genauen Prüfung, würde er dabei aller Wahrscheinlichkeit nach Seywards Botschaft entdecken. Dann wäre ihr Schicksal besiegelt.
Und noch während ihr diese Gedanken durch den Kopf blitzten, packte sie ihre Freundin und zog sie mit sich in den spitzen Winkel hinter die Tür. Zitternd presste sich Nekia an sie, die Augen vor Angst weit aufgerissen und eine Hand vor den Mund gepresst, als fürchtete sie, gleich schreien zu müssen.
»Hier, nimm das! Lass es bloß nicht fallen!«, flüsterte Dante Kendira zu und drückte ihr etwas Hartes, Rundliches in die Hand. Es fühlte sich kalt und glatt wie ein rund gewaschener Stein aus dem Rabbit Creek an und hatte für seinen kleinen Umfang ein überraschendes Gewicht. »Und haltet euch absolut still!« Schon im nächsten Moment sprang er zurück und verschwand auf der anderen Seite der Tür, die er nun weit nach innen bis an die Metallschüssel aufdrückte.
Kendiras Herz raste und das Blut rauschte und pochte im selben Rhythmus in ihren Ohren. Ihre Hand krampfte sich mit aller Kraft um den rundlichen Gegenstand, damit er ihr ja nicht aus den Fingern glitt, zu Boden polterte und ihr Versteck hinter der Tür verriet.
Im nächsten Augenblick stand Prinzipal Sherwood auch schon vor der Zelle.
Kendira und Nekia erstarrten in ihrer Umklammerung und hielten den Atem an.
»Was treibst du dich denn hier noch herum, Dante?«, fragte der Obere. »Ich denke, du hast die Zelle schon vor Stunden gründlich gereinigt?«
Kendira war, als schwang Misstrauen in Sherwoods Stimme mit. Würde er in die Zelle treten, sich umsehen und sie dabei hinter der Tür entdecken?
»Das habe ich auch, und so sauber war es hier bestimmt noch nie, Prinzipal Sherwood«, versicherte Dante. »Sehen Sie doch selbst, alles blitzblank und so sauber, dass man glatt vom Fußboden essen könnte.«
»Das will ich dir auch geraten haben!«, knurrte Sherwood. »Aber damit hast du mir noch nicht meine Frage beantwortet, was hast du hier noch zu suchen hast!«
»Entschuldigen Sie! Ich habe tatsächlich was gesucht. Ich konnte nämlich meine Armbanduhr nicht finden. Und da dachte ich, ich hätte sie vielleicht vor dem Putzen hier abgenommen und dann vergessen«, sprudelte Dante eilfertig hervor, während er dabei schon die Tür zuzog. »Aber das stimmt nicht, wie mir gerade eingefallen ist. Ich habe sie nämlich in die Seitentasche meines Arbeitsoveralls gesteckt. Da kann ich sie hier natürlich lange suchen.«
»Das nächste Mal fragst du gefälligst erst um Erlaubnis, hast du verstanden?«
»Ja, Prinzipal! Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich bei meiner Servantenehre.«
Der Prinzipal schnaubte, als hielte er nicht viel von dem, was Dante als Servantenehre bezeichnet hatte. »Außerdem hättest du den Kellerschlüssel schon längst wieder bei Prinzipal Caulfield abgeben müssen.«
»Ich weiß, aber ich war den ganzen Nachmittag so beschäftigt, dass ich …«
»Spar dir deine Ausflüchte!«, fuhr ihm der Prinzipal über den Mund. »Gib ihn her. Ich bringe ihn selbst zurück. Auf euch Servanten ist wirklich immer weniger Verlass! Vermutlich werde ich mit deinem Senior ein ernstes Wort reden müssen, damit wieder mehr Disziplin in seine Truppe kommt. So, und jetzt mach, dass du nach oben kommst!«
Bitte nicht den Riegel vorschieben!, flehte Kendira in Gedanken inständig.
Vergeblich.
Im nächsten Augenblick schabte Metall über Metall, und mit einem harten und unerbittlichen klack! rastete der Riegel außen in die Sicherungsschiene ein, die ein Öffnen von innen unmöglich machte.
Gleichzeitig zuckten Kendira und Nekia bei dem Geräusch zusammen. Es klang in ihren Ohren wie eine Verurteilung. Ein Laut kam ihnen jedoch nicht über die Lippen.
Und dann erlosch auch noch die Deckenleuchte. Pechschwarze Dunkelheit stürzte von allen Seiten auf sie ein und legte sich wie eine unsichtbare Bleiplatte auf ihre Brust, während sich draußen auf dem Gang die Stimmen und Schritte von Sherwood und Dante entfernten.