28

Niedergeschlagen kehrte Kendira in die Lichtburg zurück und begab sich in den Dorm. Was sie mit dem Rest der mittäglichen Rekreation anfangen sollte, wusste sie noch nicht. Vielleicht sich einfach mit ihrem Tablet aufs Bett schmeißen und sich von irgendeinem Spiel ablenken lassen.

Es war still im Alpha-Dorm, so wie es die Vorschriften verlangten. Nur Fay und drei andere Mädchen hielten sich im kühlen Schlafsaal auf. Sie lagen auf ihren Betten und dösten.

Als Kendira jedoch durch den Mittelgang zwischen den Säulen ging und sich nach rechts wandte, wo sich ihr Spind und ihr Bett nahe der westlichen Fensterfront befanden, bemerkte sie, dass sich noch jemand hierher zurückgezogen hatte.

Ihre Freundin Nekia saß im Schneidersitz auf der breiten und gut metertiefen Fensterbank vor dem hohen Rundbogenfenster. Gedankenverloren schaute sie hinaus. Dabei spielte sie mit einer kurzen Locke ihres rabenschwarzen Haars.

Kendira ging zu ihr. »Was dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?«

Nekia schüttelte den Kopf.

Mit einer kraftvollen Bewegung zog sich Kendira zu ihr hinauf auf die Fensterbank und gab einen schweren Stoßseufzer von sich. Die in ihr angestaute Frustration drängte danach, sich Luft zu machen. »Was für ein beschissener Tag! Und das ausgerechnet heute, wo wir Lichtmesse haben!«

»Was ist denn passiert?«

Kendira verzog das Gesicht. »Die Tube ist ausgefallen.«

Nekia machte ein verblüfftes Gesicht. »Wie, die Tube ist ausgefallen? Welche Röhre meinst du denn? Die ganz oben, wo du deine Token meistens einlöst?«

»Nein, alle zwölf sind betroffen. In der Tube geht vorläufig nichts mehr. Völliger Systemzusammenbruch.«

»Das ganze System ist zusammengebrochen?«, wiederholte Nekia ungläubig.

»Ja, Crash auf ganzer Linie.«

»Aber das hat es doch noch nie gegeben!«

»Ja, noch nie, bis heute.« Kendira verzog das Gesicht. »Und wieso musste das ausgerechnet mitten in meinem liebsten Ride passieren, der mich über den beschissenen Vormittag hinwegtrösten sollte?«

Nekia sah sie mit gefurchter Stirn an. »Über was musstest du dich denn hinwegtrösten?«

»Na, über meine miesen Ergebnisse heute Vormittag bei meinen beiden Solo Runs«, sagte Kendira und sah etwas verlegen drein. »Wie ein blutiger Anfänger habe ich ersten Solo Run verhauen und mit dem zweiten habe ich mir wahrlich auch keine Lorbeeren verdient. Es war eine echte Katastrophe. Ich kann von Glück reden, dass es in der Lounge keine Anzeigetafel für die miesesten Ergebnisse gibt!« Sie schüttelte den Kopf. »Heute ist wirklich nicht mein bester Tag.«

»Ist das denn ein Wunder?«, fragte Nekia und warf ihr einen merkwürdigen Blick zu.

»Wie meinst du das?«

Unwillkürlich blickte Nekia in den Schlafsaal, als wollte sie sich vergewissern, dass niemand etwas von ihrem Geflüster mitbekommen konnte. Dabei waren die beiden Bettreihen auf ihrer Seite völlig leer, und die dösenden Mädchen in den Betten auf der anderen Seite des Mittelgangs hätten selbst dann nichts von ihrem Gespräch aufschnappen können, wenn sie sich ganz normal unterhalten hätten, statt zu flüstern.

Dann beugte Nekia sich noch etwas vor und raunte: »Also, nach dem, was wir gestern unten im Keller erlebt haben, kann man ja wohl heute etwas durcheinander sein, oder etwa nicht?«

Kendira atmete tief durch und nickte.

Sie schwiegen eine Weile, und jeder wusste, woran der andere dachte. An Seyward und seine Botschaft.

»Ich kriege das einfach nicht aus dem Kopf, Kendira«, sagte Nekia schließlich. »Es ist alles so verwirrend … und so erschreckend. Allein die Vorstellung, es könnte wirklich alles Lug und Trug sein … also, das kann einen schon aus der Bahn werfen …«

Nekia zögerte sichtlich, ob sie weitersprechen sollte.

Gespannt sah Kendira sie an. »Was denn? Komm, sag schon. Du willst doch etwas loswerden. Und wir haben uns versprochen, keine Geheimnisse mehr voreinander zu haben.«

»Also gut«, sagte Nekia endlich. »Früher gingen mir manchmal so komische Gedanken durch den Sinn und jetzt plötzlich, nach Jahren, sind diese dummen Fragen wieder da und spuken mir im Kopf herum. Und dabei dachte ich, ich wäre längst darüber hinweg.«

Verwundert sah Kendira sie an. »Welche dummen Fragen sind wieder da und spuken dir im Kopf herum?«

Ihre Freundin zuckte verlegen die Achseln. »Zum Beispiel die Frage, woher wir eigentlich kommen«, sagte sie unter leichtem Zögern, um dann hastig fortzufahren: »Ich weiß natürlich, dass wir alle aus dem Embrolab in Eden kommen. Aber das ist es nicht, was ich damit meine.«

»Ich kann mir schon denken, was du meinst«, sagte Kendira. »Du fragst dich, von wem wir abstammen, wer unsere Eltern sind, richtig?« Es gab wohl keinen Elector, der diese und ähnliche Fragen nicht irgendwann einmal gestellt hatte, zumindest insgeheim.

Nekia nickte. »Ja, und warum dürfen wir nichts von ihnen wissen?«

Kendira gab darauf die Antwort, mit der sie von Kindesbeinen an aufgezogen worden waren. Eine Antwort, an deren Richtigkeit sie all die Jahre nicht gezweifelt hatte, die ihr jedoch mit jedem Tag fraglicher erschien. »Weil wir auserwählt, der Erhabenen Macht geweiht und für den hochwürdigen Dienst im Lichttempel berufen sind.«

»Ja, ich weiß. Aber könnten wir nicht auch auserwählt und berufen sein, wenn wir wüssten, wer unsere Eltern sind? Warum muss alles ein Mysterium sein? Und warum haben wir Electoren alle nur einen Vornamen und unsere Master, Prinzipalen und der Primas nur einen Nachnamen? Dabei wissen wir doch aus den Geschichten und Romanen, die wir in der Mediathek herunterladen und lesen können, dass seit vielen Jahrhunderten alle Menschen immer einen Vornamen und einen Nachnamen, einen Familiennamen haben, der ihre Herkunft angibt.«

Kendira lachte trocken auf. »Jetzt stellst du schon Fragen wie Dante«, spottete sie, ohne jedoch wirklich zum Spotten aufgelegt zu sein. »Aber du hast schon recht, das habe ich mich früher auch mal gefragt. Allerdings weißt du ja auch, was man uns dazu beigebracht hat …«

Nekia nickte. »Dass wir als Electoren frei von allen schädlichen Einflüssen der Vergangenheit sein müssen. Und dass ein einfacher Name, vom Namensgeberprogramm im Embrolab nach dem Zufallsprinzip gewählt, ein Symbole für die Ausschließlichkeit unserer hohen Berufung ist.«

Kendira grinste, doch es war ein gequältes Grinsen. »Besser hätte ich es auch nicht zitieren können.«

Nekia seufzte. »Weißt du, ich habe schon seit Jahren nicht mehr über diese Dinge nachgedacht. Weil diese Dinge nun mal zum Mysterium unseres hochwürdigen Dienstes gehören. Aber seit der Auslöschung von Master Seyward und seiner erschreckenden Botschaft kommt das alles wieder in mir hoch.«

»Da bist du nicht allein«, sagte Kendira leise.

»Aber das Schlimme ist, dass diese alten Fragen plötzlich ganz neue in mir auslösen. Fragen, die noch viel grundsätzlicher sind …« Nekia machte eine Geste zum Fenster hinaus.

Kendira sagte nichts und wartete. Sie ahnte, was ihrer Freundin auf der Seele drückte.

»Noch nie habe ich darüber nachgedacht«, vertraute Nekia ihr nun an, »warum wir fern der drei sicheren Hisecis, wo die Nightraider der Dunkelwelt doch nichts gegen Hyperions Macht ausrichten können, ausgerechnet hier in dieser doch immer wieder gefährdeten Sicherheitszone aufwachsen. »Und warum erfahren wir nicht wenigstens ein bisschen über das, was bald unseren hochwürdigen Dienst ausmachen wird? Warum wird uns dieses Mysterium erst im Lichttempel offenbart?«

»Eine Frage, die Dante mir auch schon gestellt hat …«

»Und was hast du ihm darauf geantwortet?«

Kendira lachte trocken auf. »Was denn wohl? Natürlich nur das, was wir alle zu akzeptieren gelernt haben, nämlich dass es einen tiefen Grund gibt, warum uns das Mysterium erst im Lichttempel offenbart wird.«

Nekia winkte ab. »Außerdem frage ich mich, warum wir so viel über Mechanik und Schweißen, über Kühltechnik und Pumpensysteme, Elektrik und Materialwissenschaft lernen und endlose Stunden in den Sim-Kabinen die Formierung trainieren, aber kaum über etwas anderes unterrichtet werden.«

»Vermutlich hat unser Dienst im Lichttempel eben viel mit Technik zu tun«, vermutete Kendira. »Aber selbst das wäre keine vernünftige Begründung, warum wir über so viele andere Wissensgebiete nur so wenig erfahren.«

Nekia nickte. »Genau! Und dann ist da noch die Sache mit den Flugblättern«, fuhr sie fort. »Ich habe bis gestern noch nie einen Gedanken daran verschwendet, ob diese entsetzlichen Strafen wirklich sein müssen. Aber jetzt frage ich mich, was es denn an diesem Seelengift bloß zu fürchten gibt. Kann es unseren Oberen denn nicht völlig gleichgültig sein, was diese verfluchten Nightraider auf ihre Flugblätter drucken und über der Sicherheitszone abwerfen? Wir wissen doch alle, dass diese Mordbande nur versucht, unsere Moral zu untergraben und irgendwie eine Möglichkeit zu finden, um in Liberty 9 einzudringen und hier zu morden und zu plündern. Deshalb würde doch niemand dem, was auf diesen Flugblättern steht, Glauben schenken. Und was kann schon so Gefährliches an dem Seelengift sein, das man Bücher nennt?«

Kendira verzog das Gesicht. »Manches, was hier in Liberty 9 geschieht, ergibt einfach keinen Sinn. Zumindest nicht mit unserem beschränkten Wissen.« Die Frage, ob ihre Oberen sie absichtlich im Zustand der Unwissenheit hielten, wagte sie jedoch nicht auszusprechen.

Plötzlich schüttelte Nekia übertrieben energisch den Kopf, als wollte sie alles bisher Gesagte weit von sich wegschleudern. »Das kommt davon, wenn man die Nacht kaum geschlafen hat! Vermutlich gibt es für alles eine völlig harmlose Erklärung, auf die wir einfach noch nicht gekommen sind, weil wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen!« Sie klang, als spreche sie nicht zu Kendira, sondern zu jemand anderem.

»Ja, vielleicht«, murmelte Kendira, und da bemerkte auch sie Leota, die eben zwischen den Säulen aufgetaucht war und nun mit eiligen Schritten auf sie zuhielt.

Und schon von Weitem rief Leota, das Gebot der Stille schnöde missachtend, mit vor Glück strahlendem Gesicht: »Ich stehe heute auf der Liste der Lichtträger! Und du stehst auch drauf, Kendira!«