Feuerregen

 

Sadik zeigte nicht die geringsten Anzeichen von Beunruhigung, geschweige denn Angst. Er ging ganz gemächlich über die Wiese und auf den Pavillon zu. Den Gebetsteppich trug er unter dem linken Arm. Dass zwei Wurfmesser in der Rolle steckten, konnte man bei dem Licht noch nicht einmal auf zwei Schritt Entfernung bemerken.

»Ich muss zugeben, dass mich Ihre geheimnisvolle Nachricht wirklich gespannt gemacht hat, Sihdi Rupert!«, rief er zum Pavillon hinüber. »Was steckt denn nun hinter dem See der …«

»Das ist eine Falle, Sadik! Zeppenfeld ist hier!«, drang in diesem Moment Rupert Burlingtons Stimme aus dem Innern des Bambushauses. »Er und drei …«

Ein Schlag, ein unterdrückter Schrei, und Rupert Burlington verstummte.

Sadik schien erschrocken zusammenzufahren und presste den Teppich halb vor seine Brust, während sich seine rechte Hand vor die Öffnung der Rolle legte. Dann schien er an Flucht zu denken und sich nach rechts zu wenden, in Richtung Dickicht. Fast gleichzeitig gab Zeppenfeld sich zu erkennen.

»Keine Bewegung, Sadik! Ein Schritt zurück, und du stirbst! Valdek und Stenz haben dich genau im Visier!«, drang die herrische Stimme des ehemaligen Offiziers aus dem Pavillon. Er hatte eine forsche und eigentümlich abgehackte Redeweise, mit der er jeden Satz förmlich verstümmelte.

»Soll sich nur rühren, der Kameltreiber!«, meldete sich Stenz von oben mit galliger, hasserfüllter Stimme.

Ein großer, hagerer Mann mit einem fettigen Haarzopf trat aus dem Pavillon in den Lichtschein und nahm rechts vom Eingang Aufstellung. Er war als Samurai verkleidet und hatte seine Gesichtszüge mit Hilfe von Schminke so stark verändert, dass sie aus der Entfernung tatsächlich asiatisch wirkten. Es war Valdek, ein Söldner wie Stenz und Tillmann, die ähnlich verkleidet waren. Seine Bewaffnung passte jedoch nicht zu dem Kostüm eines japanischen Kriegers. Denn er hielt kein Schwert in der Hand, sondern eine Pistole – und zwar in jeder Hand eine. Sie waren auf Sadik gerichtet.

»Manchmal hat sogar Stenz Recht«, sagte Valdek mit dem ihm eigenen, teilnahmslosen Tonfall. Dem Leben eines anderen Menschen ein Ende zu bereiten war für ihn zum Beruf geworden, den er ohne die Emotionen ausübte, von denen Stenz und Tillmann oft befallen wurden. »Du lässt besser noch nicht einmal einen Furz, wenn du nicht versessen darauf bist, dass ich dich von hier geradewegs in die Hölle der Muselmanen blase!«

Sadik rührte sich nicht von der Stelle. Stumm stand er da, den Teppich an sich gepresst. Er schien total überrumpelt und ratlos.

Armin Graf von Zeppenfeld kam nun aus dem Bambushaus. Er war ein großer, stattlicher Mann von vierzig Jahren mit vollem, schwarzem Haar. Sein Kostüm war das eines venezianischen Dogen. Eine Maske, die mit Silber bestreut schien und dementsprechend glitzerte, verbarg sein Gesicht, ließ den Mund jedoch frei.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Tobias wieder das Bild vor Augen, wie Zeppenfeld von der feurigen Explosion des Schießpulvers zu Boden geworfen wurde, die Hände schreiend vors Gesicht schlug und in den Fluss stürzte.

Zeppenfeld ging zu einer der Lampen.

»Überraschung scheint gelungen, Sadik!«, stieß er höhnisch hervor, während das Licht dem Silberstaub auf seiner Maske ein kaltes Funkeln entlockte.

»Dachte, müsste mich revanchieren, Sadik. Für deine teuflische Überraschung in Paris. Hast mir mit dem Schießpulver das Gesicht zerstört!« Seine Stimme zitterte leicht und war von einem nur mühsam beherrschten, tödlichen Hass gekennzeichnet.

»Sie haben uns keine andere Wahl gelassen. Hätten Sie Jana nicht entführt …«, begann Sadik.

»Schweig!«, schrie Zeppenfeld schrill. »War mein Recht! Hättet mir nicht in die Quere kommen sollen! Wattendorf hat Karten an mich verkauft. Stehen nur mir zu!«

»Also gut, Zeppenfeld«, gab Sadik sich scheinbar geschlagen. »Diesmal ist das Glück zweifellos auf Ihrer Seite. Ich werde Ihnen den Teppich überlassen. Aber nur im Austausch für Sihdi Rupert.«

»Werde nicht nur Teppich, sondern auch Karte bekommen!«, verlangte Zeppenfeld.

Aus dem Dunkel des Pavillons ertönten plötzlich merkwürdige Geräusche, zu denen ein Fluch und das Poltern eines umstürzenden Stuhls gehörten.

»Fliehen Sie, Sadik!«, schrie Rupert Burlington. »Er will Sie hier erschießen, wenn Chang gleich um Mitternacht mit dem Feuerwerk …«

Er brachte den Satz nicht mehr zu Ende, denn Tillmann zog ihm den Knauf seiner Pistole über den Hinterkopf, sodass er betäubt in sich zusammensackte.

Ein Feuerwerk um Mitternacht als Überraschung und Höhepunkt des Kostümfestes! Jetzt wusste Tobias, warum sie Chang nicht in den Kellergewölben angetroffen hatten. Er war draußen im Park mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt gewesen. Und er wusste plötzlich auch, dass Sadiks ursprünglicher Plan nicht funktionieren würde, weil Zeppenfeld seinen Tod schon beschlossen hatte. Niemand würde die Schüsse seiner gedungenen Mörder hören, wenn in den Parkanlagen das Feuerwerk begann!

Um Mitternacht.

Es war Mitternacht!

Heulend stiegen die ersten Feuerwerkskörper in den Himmel und explodierten über Mulberry Hall zu buntem Feuerregen. Kanonenschläge krachten, während weitere Raketen zu den Sternen aufstiegen, unter lautem Donner und begeisterten Rufen der Gäste hoch oben zerbarsten und Kaskaden von feurigen Sternschnuppen über die Schwärze der Nacht gossen.

»Ja, wirst sterben, Sadik! Sollst vorher aber noch sehen, wofür du stirbst! … Hierfür!«, schrie Zeppenfeld und riss sich die Maske vom Gesicht. Von den ehemals klassischen Zügen des einst attraktiven Mannes war nichts mehr geblieben. Die rechte Gesichtshälfte war von feuerrotem Narbengewebe völlig entstellt. Auch auf der linken Seite zeigten sich hässliche Brandnarben.

»Schick ihn zur Hölle, Valdek!«

Am Himmel über dem Glasdach des Gewächshauses zerplatzten drei Raketen zu einem strahlend hellen Goldregen, der voller Anmut zur Erde fiel und dabei verglühte – genau über dem Dach des Gewächshauses.

»Neeeiin!«

Tobias konnte sich hinterher gar nicht mehr daran erinnern, dass er geschrien hatte. Er hörte nur Zeppenfelds Mordbefehl, sah, wie Valdek den rechten Arm streckte, und konnte doch nicht aus dem Hinterhalt schießen, ohne sich zu erkennen zu geben.

Valdeks Kopf fuhr verstört zu den Farnen hinüber. Er zögerte einen winzigen Moment, doch er riss seine Pistole nicht herum, sondern schoss auf Sadik.

Dieser schleuderte Valdek mit links den Gebetsteppich entgegen, während er in der rechten Hand plötzlich eines seiner Wurfmesser hielt. Die Klinge blitzte im zuckenden Licht explodierender Feuerwerkskörper. Doch es gelang ihm nicht mehr, das Messer auf seine tödliche Reise zu schicken.

Valdeks Kugel traf ihn unterhalb der rechten Schulter. Er schrie auf, wurde herumgerissen, stürzte zu Boden und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. In diesem Moment feuerte Valdek seine zweite Pistole auf ihn ab. Sie traf ihn in den Rücken und streckte ihn endgültig nieder.

Tobias schoss, ohne den Schuss zu hören, was nichts mit dem unablässigen Bersten und Krachen der Feuerwerkskörper zu tun hatte. Er hörte für einige Sekunden überhaupt nichts. Er sah, wie Valdek von seiner Kugel getroffen wurde, die Arme in die Luft warf, dass die Pistolen davonflogen, wie er gegen die Wand des Pavillons taumelte, die Hände vor die Brust presste und vornüberfiel.

Er hörte nur das Rauschen seines Blutes in den Ohren und in sich einen Schrei. Sie hatten Sadik getötet! Er war wie gelähmt. Was ihm wie eine Ewigkeit erschien, dauerte in Wirklichkeit jedoch nicht mehr als ein, zwei Sekunden. Dann brach der Lärm wieder wie eine mächtige Woge über ihn herein.

Zeppenfeld stürzte sich auf die verschnürte Teppichrolle, riss sie an sich und schrie etwas in den Pavillon. Dann rannte er ins Dunkel.

Tobias sprang auf, riss den Degen aus der Scheide und stürmte aus seinem Versteck. Er sah das Mündungsfeuer einer Schusswaffe aus der oberen Etage des Bambushauses aufblitzen. Es blendete ihn und im selben Moment traf ihn das Geschoss am rechten Oberschenkel. Ihm war, als schnitte ein scharfes Messer tief in sein Fleisch.

Er schrie gellend auf und knickte ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte er den Schuss, den Jana aus dem Zuckerrohr abgab. Dem folgten ein Schmerzensschrei von Stenz und Tillmanns entsetzter Ruf: »Es hat Valdek erwischt! Der Mistkerl ist nicht allein gekommen! Die nehmen uns ins Kreuzfeuer! Nichts wie weg!«

Tobias wollte den Flüchtenden nach, doch schon nach drei Schritten überwältigte ihn der stechende Schmerz in seinem Bein und beraubte ihn jeglicher Hoffnung, die Verfolgung aufnehmen zu können.

Rupert Burlington taumelte aus dem Pavillon ins Freie, während Jana zu ihnen über die Wiese rannte, von panischem Entsetzen getrieben. »Tobias! … Tobias!«, schrie sie voller Angst um ihn. »Um Gottes willen! Nicht auch noch du! O Herr, lass es nicht zu! …«

Tobias ignorierte den scharfen Schmerz und richtete sich wieder auf. Er winkte in Janas Richtung, um ihr zu verstehen zu geben, dass er nicht schlimm verletzt war. Sie blieb stehen, zögerte kurz und lief dann zu Sadik hinüber.

Im nächsten Moment war Rupert Burlington schon bei Tobias und stützte ihn.

»Diese Verbrecher!«, stieß er verstört hervor. »Und ich dachte schon, Sie hätten meine Warnung nicht bemerkt. Ich werde es mir nie verzeihen …«

Tobias deutete mit seinem Degen auf die am Boden liegende Gestalt ihres Freundes. »Sadik! … Erst er! … Einen Arzt! Und alarmieren Sie den Wachdienst! … Vielleicht gelingt es Ihren Leuten noch, Zeppenfeld, Stenz und Tillmann zu fassen!«

Rupert Burlington zögerte. »Ja, aber ich kann Sie doch nicht …«

»Sadik! … Er ist getroffen! … Also holen Sie einen Arzt! Schnell! Es muss unter Ihren Gästen doch wenigstens einen Arzt geben!« Tobias schrie ihn fast an.

Rupert Burlington nickte stumm und eilte davon.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte er zu Jana hinüber, die an Sadiks Seite kniete. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Valdek hatte zwei Schüsse auf ihn abgegeben, davon einen genau in den Rücken. Sein Verstand sagte ihm, dass Sadik tot sein musste, und sollte er noch leben, hatte er nicht die geringsten Aussichten, diese schweren Schussverletzungen zu überleben. Doch er weigerte sich, das zu akzeptieren. Es durfte nicht sein. Sadik durfte nicht sterben! Er war sein Freund, sein Bruder, sein bàdawi, und sie wollten doch zusammen nach Ägypten und ins Verschollene Tal. Es konnte nicht sein, dass Sadik hier auf Mulberry Hall in einem verfluchten Gewächshaus starb!

»Lebt … lebt er noch?«, fragte er ängstlich, als er neben Sadik ins Gras sank.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jana mit zitternder Stimme, und im Licht eines explodierenden Feuerwerkskörpers sah ihr Gesicht kreideweiß aus. »Komm, hilf mir, ihn auf die Seite zu drehen. Er ist so schwer.«

Sadik gab ein Stöhnen von sich und bewegte sich.

»Er lebt! Er lebt! Er wird es schaffen!«, rief Tobias überglücklich, dass ihm die Tränen in die Augen traten, und fasste Sadik an der Schulter.

»Natürlich lebe ich, aber mir brummt der Schädel, als wäre eine ganze Karawane über mich hinweggetrampelt«, murmelte der Beduine benommen.

Tobias konnte nicht glauben, was er sah: Sadik richtete sich auf, als hätten ihn nicht eben zwei Kugeln getroffen und zu Boden geworfen! Und er blutete auch gar nicht. Es war so unfassbar, was da vor seinen Augen geschah, dass er für einen Moment den Schmerz in seinem Bein vergaß.

Auch Jana war fassungslos.

Sadik setzte sich in ihrer Mitte auf, sah ihre sprachlosen Gesichter und sagte dann trocken: »Ich würde euch ja gern den Gefallen tun und an ein Wunder glauben lassen. Aber diesmal hat mich nicht die Vorsehung gerettet, sondern gesunde Vorsicht und ein alter Ritterharnisch, den ich im Waffenzimmer entdeckt und mir vorsorglich umgeschnallt habe. Ich schätze, er hat mir das Leben gerettet.« Er löste den Gürtel, zog die weite Kutte über den Kopf und brachte darunter einen gewölbten Harnisch für Brust und Rücken zum Vorschein, der innen noch mit Leder ausgeschlagen war. Die Pistolenkugeln hatten das Metall durchschlagen, waren dann aber im Lederfutter stecken geblieben.

»Himmel, hast du uns einen Schreck eingejagt!«, stöhnte Tobias auf und wusste nicht, ob er vor Erleichterung über Sadiks wundersame Rettung lachen oder vor zunehmendem Schmerz weinen sollte.

»Wo ist der Teppich?«, wollte Sadik wissen.

»Zeppenfeld hat ihn«, sagte Tobias. »Aber den verschmerze ich gerne. Hauptsache, du lebst.«

Sadik verzog das Gesicht. »Du hast gut reden. Das war mein Gebetsteppich!«

»Deiner? Es war gar nicht der von Wattendorf?«, fragte Tobias ungläubig, dass Sadik diesen Bluff gewagt hatte und Zeppenfeld mit leeren Händen hatte fliehen müssen.

»Natürlich habe ich ihnen nicht den von Wattendorf vor die Füße geworfen. Wie könnte ich auch, zumal wir das Rätsel doch noch nicht gelöst haben? Nein, dieses gewissenlose Scheusal ist mit meinem guten Stück geflohen, das ist ja das Schlimme!«, klagte Sadik, als wäre er nicht gerade nur knapp dem Tod entronnen. »Jetzt muss ich tagtäglich bei meinen Gebeten den hässlichen Anblick von Wattendorfs besserem Fußabtreter ertragen. Allah allein mag wissen, wofür ich diese Strafe verdient habe.«

Tobias lachte schallend, und in diesem ein wenig schrillen Lachen, in das Jana mit einstimmte, entluden sich die ungeheure Anspannung und Angst. Dann ging seine Hand zu seinem verletzten Bein. Er spürte blutgetränkten Hosenstoff unter seinen Fingern und musste an Valdek denken, den er mit seinem Schuss getötet hatte. Gut, er hatte keine andere Wahl gehabt, und Valdek war ein skrupelloser Verbrecher gewesen, doch das änderte nichts daran, dass es das Gebot Du sollst nicht töten! gab und er soeben einen Menschen erschossen hatte. Plötzlich wurde ihm ganz schwindelig und übel zu Mute.

»Tobias! … Was hast du?«, rief Sadik.

»Eine Kugel hat ihn getroffen. Am rechten Bein. Ich glaube, es war Stenz«, teilte Jana ihm mit.

»Es brennt wie die Hölle, die Zeppenfeld verdient hat, ist aber bestimmt nur halb so wild«, murmelte Tobias und streckte sich im Gras aus, damit Sadik seine Wunde untersuchen konnte. Jana holte vom Pavillon eine Lampe.

Wenig später bestätigte Sadik seine Vermutung. Die Kugel hatte eine tiefe Wunde gerissen, war jedoch nicht stecken geblieben und hatte auch weder Sehnen noch Knochen verletzt.

Tobias schloss die Augen und überließ sich Sadiks heilkundigen Händen. Er war gern auf Mulberry Hall gewesen. Doch nun konnte er es nicht erwarten, dass der Morgen heraufdämmerte und sie nach Portsmouth aufbrachen, um sich dort auf der Arcadia einzuschiffen und Kurs auf Alexandria zu nehmen. In ein paar Wochen würden sie dann endlich in Ägypten sein.

Ägypten!

Wo alles begonnen hatte.

Und wo das Verschollene Tal darauf wartete, von ihnen entdeckt zu werden!