Warten auf Pembroke
Am Abend ihrer Ankunft hatte Tobias insgeheim befürchtet, die Tage des Wartens bis zu Lord Pembrokes Rückkehr aus Irland würden von quälender Ungeduld und entnervender Langeweile geprägt sein. Doch nach seinem erlebnisreichen morgendlichen Streifzug verflüchtigte sich diese geheime Sorge so spurlos, als hätte es sie nie gegeben.
Von Langeweile auf Mulberry Hall konnte wahrlich nicht die Rede sein. Es gab im Herrenhaus und in der Orangerie so unendlich viel zu sehen, zu entdecken und zu tun, dass Tobias die Tage viel zu kurz erschienen. Jana erging es nicht anders. Der Dschungel, der auch Sadik in staunende Bewunderung versetzte, hatte es ihr ganz besonders angetan. Sie konnte sich nicht oft genug in dieser künstlich angelegten Wildnis aufhalten, die Unsinn, das Äffchen, von seinem ersten Besuch an zu seiner neuen Heimat erkoren hatte. Von Tag zu Tag hatte Jana mehr Mühe, ihn abends zu bewegen, die Nacht nicht auf einer Palme oder einem der Kalebassen-Bäume zu verbringen, sondern bei ihr im Zimmer.
»Wie kann ich ihn je wieder von hier wegbringen, ohne ihm das Herz zu brechen?«, fragte sie sich einmal bedrückt und zugleich doch mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Sie saß mit Tobias zwischen Farnen auf einem schweren Felsbrocken und beobachtete, wie Unsinn über die Äste eines Eukalyptusbaumes turnte. »So glücklich und ausgelassen habe ich ihn noch nie erlebt.«
»Ja, er hat wohl sein Paradies gefunden, und ihn hieraus zu vertreiben, wäre …« Er stockte, weil er Jana nicht verletzen wollte.
»… herzlos«, beendete sie den Satz jedoch für ihn mit leiser Stimme, und in diesem Moment wussten sie schon, dass Unsinn Mulberry Hall nicht mehr verlassen würde, denn Rupert Burlington und Mungo hatten an ihm einen Narren gefressen – und umgekehrt.
Wenn sie im Bambuspavillon saßen, was oft der Fall war, und Rupert Burlington von seinen Reisen erzählte, dann fand sich früher oder später auch Unsinn ein. War Mungo bei ihnen, sprang er ihm auf die Schulter oder in den Schoß, ansonsten begab er sich zu Rupert Burlington, dessen unglaubliche Geschichten auch ihn zu faszinieren schienen. Zu Jana kam er auch noch, doch nur noch gelegentlich und wie auf Höflichkeitsbesuch.
Einmal sah Tobias nach einem langen Nachmittag im Pavillon einen verräterisch feuchten Schimmer in Janas Augen. Auch Sadik blieb der Schmerz in ihren Augen nicht verborgen. Mitfühlend legte er ihr einen Arm um die Schulter, als sie in den Park hinausgingen. »Er ist hier glücklich, Jana«, sagte er. »Und da dir doch viel an ihm liegt, solltest auch du es sein. Man muss auch loslassen können … gerade wenn man liebt.«
»Ja, ich weiß«, murmelte sie und hielt die Tränen tapfer zurück.
»Eine Mutter darf ihre Kinder auch nicht festhalten, wenn ihr an ihrem Glück etwas liegt. So musst du es auch mit Unsinn sehen.«
Jana sah es ein. Dennoch schmerzte es sie zu wissen, dass Unsinn, der in der einsamen Zeit ihrer Überlandfahrten ihr einziger, treuer Begleiter gewesen war, hier zurückbleiben würde.
Tobias tat alles, was in seiner Macht stand, um sie abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen. Möglichkeiten dazu boten sich auf Mulberry Hall glücklicherweise in Hülle und Fülle. Fast jeden Tag unternahmen sie entweder in den frühen Morgenstunden oder am Abend einen Ausritt. Ein gutes Pferd unter sich zu haben und mal im fliegenden Galopp, mal im gemächlichen Trab durch Wälder und grünes Hügelland zu reiten erschien ihm wie ein kostbares Geschenk. Auf Falkenhof war er täglich ausgeritten und er hatte diese Art der körperlichen Ertüchtigung die letzten Wochen sehr vermisst. Jana teilte das Vergnügen mit Tobias, denn auch sie war von Kindesbeinen an mit Pferden aufgewachsen, wenn auch nicht mit ganz so edlen Tieren, wie sie in den Stallungen von Gut Falkenhof und ganz besonders in denen von Mulberry Hall standen. Häufig begleitete sie Sadik, der von ihnen allen der beste Reiter war und Kunststücke im Sattel fertigbrachte, die so atemberaubend waren wie seine Treffsicherheit beim Messerwerfen.
Jana und Tobias unternahmen oft auch lange Spaziergänge durch die ausgedehnten Parkanlagen, zu denen Heckenlabyrinthe, Seerosenteiche und stille Kanäle sowie rosenumrankte Laubengänge gehörten. Sie tauschten dabei allerlei lustige, aber auch ernste Geschichten über ihre unterschiedliche Kindheit und ihr Aufwachsen aus, sprachen über Parcival und Hegarty, über Mungo und Chang und immer wieder über Rupert Burlingtons Marotten und seine gelegentlich haarsträubenden Geschichten. Ihre Gespräche kreisten natürlich auch um Wattendorf, Zeppenfeld und das legendäre Tal, und sie fragten sich immer wieder, was sie wohl in Ägypten und in der nubischen Wüste erwarten würde. Denn dass sie gemeinsam dorthin reisen und das Tal suchen würden, war zwischen ihnen längst beschlossene Sache. Aber nicht immer redeten sie. Manchmal folgten sie während der heißen Stunden auch nur gedankenversunken den schattigen Wegen, ohne dass ihr Schweigen jedoch etwas Trennendes an sich gehabt hätte. Es war im Gegenteil so verbindend wie ihre Hände, die sich dann in einem dieser stillen Momente fanden und einander hielten und sich das sagten, was sie noch nicht in Worte kleiden mochten.
Eines teilte Jana jedoch nicht mit Tobias – und zwar dessen Begeisterung für Chang und die Katakomben von Mulberry Hall, wie Jana die hohen Kellergewölbe unter dem Gewächshaus bezeichnete. Nur ein einziges Mal begleitete sie ihn dort hinunter.
»Dieses Durcheinander von Maschinen, Gestängen, Rohrleitungen, Seilzügen, Zahnrädern und was weiß ich noch alles macht mich ganz wirr, einmal von dem Rattern und Quietschen und Zischen und der Hitze, die da unten herrscht, und dem penetranten Geruch von Öl und Schmierfett und solchen Dingen ganz abgesehen. Das ist nichts für mich! Das war das erste und letzte Mal, dass ich da hinuntergegangen bin!«, versicherte sie ihm nachdrücklich.
»Aber die Technik und die unglaublichen Erfindungen, die Chang …«, wandte Tobias ein wenig enttäuscht ein.
»Die Technik mag ja wirklich bewundernswert sein, aber ich ziehe es doch vor, ihre Ergebnisse von oben zu bewundern, nämlich im Gewächshaus und nicht unten in den Katakomben«, erklärte sie unumwunden. »Und was diesen Chang betrifft, so möchte ich, um Gottes willen, seine Fähigkeiten und Verdienste nicht in Frage stellen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, so gefallen mir sogar Parcivals gehässige Bemerkungen noch um einiges besser als die Einsilbigkeit dieses Kantonesen! Der geht ja so sparsam mit seinen Worten um, als wären sie aus purem Gold gegossen!«
Tobias war da zwar ganz anderer Meinung, musste sich jedoch geschlagen geben. Jana war für Chang und sein Reich einfach nicht zu begeistern. In den weitläufigen Gewölben herrschte zugegebenermaßen oftmals ein gehöriger Lärm, heiß war es zudem auch, und der Geruch von Öl und Schmiermitteln war so allgegenwärtig wie Ruß und Kohlenstaub. Aber genau das alles zusammen ergab nach Tobias’ Ansicht doch gerade diese faszinierende Atmosphäre, von der er gar nicht genug bekommen konnte.
Was den Chinesen anging, so schien dieser von ihm schon genug zu haben, kaum dass er ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte.
Chang war ein schmächtiger, sehniger Mann, kleiner als Jana und stets in einen weiten Anzug aus schwarzem glattem Kattun gekleidet, der an ihm wie ein Schlafanzug aussah. Ein spärlicher Bart hing wie vertrockneter, zotteliger Seetang von seinem spitzen Kinn, was sein scharf geschnittenes Gesicht noch schmaler und knochiger erscheinen ließ. Das dünne, pechschwarze Haupthaar trug er straff nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem langen Zopf geflochten.
Tobias störte sich nicht an Changs ablehnender Haltung. Er blieb einfach in seiner Nähe, achtete darauf, ihm nicht im Weg zu sein, beobachtete ihn bei der Arbeit und übte sich in Schweigen wie in Geduld. Manchmal über mehrere Stunden hinweg, wenn Jana mit anderen Dingen beschäftigt war.
Am dritten Tag fiel Tobias auf, dass der Druck von einem der Dampfkessel stetig fiel. Er deutete auf die Anzeige, griff zur Schaufel und warf Chang einen fragenden Blick zu. Dieser zögerte kurz, dann gab er sein Einverständnis durch ein knappes Nicken. Tobias öffnete die Kesseltür und schaufelte Kohle hinein. Nach genau vierzehn vollen Schaufeln schloss er die Feuerluke wieder.
»Warum nicht mehr?«, fragte Chang knapp und irgendwie herausfordernd. »Warum nicht weniger?«
»Weil Sie die letzten beiden Male, als der Druck auf diese Höhe gesunken war, auch nur vierzehn volle Schaufeln nachgeworfen haben«, antwortete Tobias.
Zum ersten Mal zeigte sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Chinesen. »Du hast sehr gut beobachtet.«
»Wer etwas lernen will, muss gut beobachten.«
»Und du willst lernen? Hier?«
Tobias nickte. »Ja, was ich kann.«
Chang zog ein Buch aus seiner Brusttasche. Es war schon sehr abgegriffen, aber doch nicht dreckig. Er schlug es auf. Die Seiten waren mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt, die er ihm nun übersetzte: »›Lernen, ohne zu denken, das führt zu nichts; denken, ohne zu lernen, das macht lediglich müde.‹ Du hast beides verbunden. Das ist gut so.«
»Von wem ist das?«, fragte Tobias und dachte, dass es gut von Sadik hätte stammen können.
»Von Konfuzius, einem großen chinesischen Philosophen und Gelehrten«, antwortete Chang, »der diese Weisheiten schon ein halbes Jahrtausend vor eurer christlichen Zeitrechnung gelehrt hat. Und nun komm, ich will dir zeigen, wie die Seilzüge funktionieren, für die du dich schon seit Tagen so brennend interessierst.«
Von Stund an war Chang der geduldigste und entgegenkommendste Lehrer, den Tobias sich denken konnte. Was immer ihn interessierte, was immer er nicht sofort verstand, Chang nahm sich die Zeit, ihm Funktion und Zusammenhänge zu erklären. Jana hätte ihren ›einsilbigen‹ Kantonesen nicht wiedererkannt, und als Tobias ihr von Changs Verwandlung berichtete, hatte sie erst Schwierigkeiten ihm zu glauben. Als sie sich dann doch ein zweites Mal hinunter in die Katakomben begab, um Tobias daran zu erinnern, dass sie doch mit Sadik nach Farnham fahren wollten, fand sie einen scheinbar unverändert einsilbigen Chang vor, der in den Minuten ihrer Gegenwart auch Tobias kaum eines Wortes würdigte.
»Was für eine herzliche Freundschaft doch zwischen euch besteht! Und dieser Redestrom eurer Unterhaltungen!«, spottete sie, als sie nach oben gingen. »Du hast wirklich nicht übertrieben.«
»Wenn wir unter uns sind, ist er wie umgewandelt!«, beteuerte Tobias.
»Natürlich. Ich jage ihm dermaßen Angst ein, dass er kein Wort zu sagen wagt, weil er fürchtet, ich könnte ihm die Pest an den Hals hexen!«
»Er ist anders«, beharrte Tobias, ließ das Thema aber fallen. Als sie Stunden später aus Farnham zurückkehrten, wo sie Einkäufe für ihre Reise nach Ägypten getätigt hatten, begab er sich sofort zu Chang hinunter und fragte ihn ruhig, aber bestimmt, warum er sich vorhin so merkwürdig und distanziert verhalten hatte.
»Wer sich nicht selbst bemüht, dem mag ich nicht weiterhelfen; wer nicht selbst das Wort sucht, dem zeige ich es nicht«, rezitierte Chang, ohne die Feile aus der Hand zu legen. »So steht es bei Konfuzius geschrieben.«
»Aber Jana bemüht sich doch!«, wandte Tobias ein.
Chang sah zu ihm auf, strich über seinen dünnen Kinnbart und lächelte. »Nicht um mich, um dich bemüht sie sich. Glaube mir, ich habe nicht das Geringste gegen sie. Aber es ist nun mal nicht meine Art zu reden, um eine Stille auszufüllen, die ich als solche gar nicht empfinde. Ich bin gern allein. Und was das Reden angeht, so sagte Konfuzius: ›Bedenke: Die guten Taten eines Lebens können durch ein Wort ausgelöscht werden! Ist da nicht Vorsicht geboten?‹«
»Wäre doch nur Parcival bei Konfuzius in die Lehre gegangen«, meinte Tobias und ließ die Angelegenheit damit auf sich beruhen.
Die Tage eilten förmlich dahin, waren vom Morgen bis in den
Abend mit vielfältigen Beschäftigungen ausgefüllt. Dazu gehörten mehrfache Besuche beim Schneider Lester Rutherford und seiner pummeligen Frau Martha in Farnham. Da sie nach ihrer Flucht aus Paris zur Küste und dann über den Kanal kaum noch ein ordentliches Kleidungsstück besaßen, waren diese Besuche, die Sadik als genauso lästig empfand wie Tobias, unumgänglich geworden. Zudem hatte ihr Gastgeber darauf bestanden, dass die Rutherfords ihnen auf seine Kosten ein Kostüm für das bevorstehende Fest auf Mulberry Hall schneiderten.
Die Vorbereitungen für das gesellschaftliche Ereignis nahmen Rupert Burlington von Tag zu Tag mehr in Anspruch. Es wurden über dreihundert Gäste erwartet, und er hatte alle Hände voll zu tun, um bei den vielen Details, die zu bedenken waren, den Überblick nicht zu verlieren. Sein Sekretär James Smith, ein blasser, unauffälliger junger Mann mit einem Gesicht, das schon dem Vergessen anheimgefallen war, kaum dass man sich umgedreht hatte, nahm ihm zwar einen Großteil der Arbeit ab. Doch auch so blieb noch genug für ihn zu tun.
Zudem kümmerte sich Rupert Burlington auch schon um die Organisation und Buchung ihrer Überfahrt nach Ägypten.
»Wie ich in Erfahrung gebracht habe, läuft die Arcadia drei Tage nach unserem Fest aus dem Hafen von Portsmouth aus, mit Kurs auf Alexandria«, teilte er ihnen mit. »Die Arcadia ist ein gutes Schiff und Frederick Cornally ein erfahrener Captain, dem ich mich schon auf mehreren weiten Reisen anvertraut habe. Vorsorglich habe ich zwei Kabinen für Sie gebucht. Ich habe auch meinem alten Freund Odomir Hagedorn in Cairo eine Nachricht zugeschickt, die ihn von Ihrem Kommen und Ihrem voraussichtlichen Ankunftstermin unterrichtet. Er wird entzückt sein, Sie in seinem Haus als seine Gäste begrüßen zu können.«
»Nach Ihrem Schreiben dürfte er zumindest den Eindruck gewinnen, dass er gar keine andere Wahl hat«, merkte Sadik mit leichter Kritik an dem vorschnellen Handeln an, das nicht mit ihnen abgesprochen war.
»Ach was! Odomir wird sich über Ihren Besuch freuen, das können Sie mir glauben!«, versicherte Rupert Burlington. »Und wozu hat man Freunde, mein bester Sadik?«
»Odomir Hagedorn. Ein höchst seltsamer Name«, sagte Tobias. »Erzählen Sie uns ein wenig über Ihren Freund, Rupert, wer er ist und was er in Cairo so treibt?«
»Aber gern doch. Odomir Hagedorn ist ein gutes Jahrzehnt älter als ich, war lange Jahre im diplomatischen Dienst tätig und vertrat Preußen am Hof von Vizekönig Mohammed Ali, der seit 1807 uneingeschränkt über Ägypten herrscht«, erzählte Rupert Burlington. »Seit einigen Jahren hat er sich jedoch aus der Politik zurückgezogen und genießt in Cairo das Leben eines wohl situierten Privatiers. Sie werden in ihm einen ebenso großzügigen wie unterhaltsamen Gastgeber finden.«
»Wenn er nur halb so nett ist wie Sie, dann werden wir uns bei ihm sicherlich sehr wohl fühlen«, sagte Jana spontan.
Rupert Burlington lächelte über das Kompliment und bat sie zum Abendessen an den gedeckten Tisch in die ›Prärie‹. Sowohl das köstliche Essen als auch die Geschichten, die Sadik und der Lord abwechselnd zum Besten gaben, machten den Abend zu einem weiteren unvergesslichen Erlebnis.
Am nächsten Vormittag traf auf Mulberry Hall ein berittener Bote ein, der die Nachricht von Lord Pembrokes Rückkehr überbrachte. Rupert Burlington machte sich unverzüglich auf den Weg nach Royal Oak, um den Gebetsteppich zu holen. Jana, Sadik und Tobias hätten ihn nur allzu gern begleitet. Doch das ließ der Anstand nicht zu, und so mussten sie sich gedulden, bis Rupert mit dem Teppich zurückkehrte.
Sie warteten einen halben Tag, und dies waren die einzigen Stunden seit ihrer Ankunft vor zehn Tagen, in denen es ihnen schwer fiel, sich ablenken zu lassen. Ihre Gedanken und Hoffnungen kreisten allein um den Gebetsteppich. Was war, wenn Rupert Burlington sich geirrt und Zeppenfeld Mittel und Wege gefunden hatte, den Verbleib von Wattendorfs drittem Rätsel-Geschenk in Erfahrung und den Teppich durch Bestechung oder Diebstahl in seinen Besitz zu bringen? Sie hatten zwar Sicherheitsvorkehrungen getroffen und sowohl den Bediensteten auf Mulberry Hall als auch auf Royal Oak Zeppenfeld und seine Komplizen beschrieben. Sie hatten ihnen sogar eine hohe Belohnung für entsprechende Hinweise versprochen, sollte einer von ihnen an sie herantreten, sie über ihren Herrn, dessen Gäste oder über kuriose Dinge wie etwa einen Spazierstock aushorchen oder sie gar bestechen wollen. Hegarty hatte auf den Befehl des Lords außerdem noch ein volles Dutzend verlässlicher Männer angestellt, die nach ihrer regulären Arbeit für hohen Lohn rund um das Herrenhaus einen nächtlichen Wachdienst versahen. Was sie hatten tun können, um sich vor Zeppenfeld zu schützen, hatten sie getan.
Aber wer konnte sagen, was einem infamen Mann wie ihm an Gemeinheiten und üblen Tricks einfiel, um an sein Ziel zu gelangen?
Aber auch wenn Zeppenfeld noch immer in Frankreich weilte und seine schweren Verbrennungen auskurierte und Rupert Burlington wirklich mit dem Teppich zurückkehrte, hieß das noch längst nicht, dass sie jubeln konnten. Denn ohne das dazugehörige Gedicht würden sie das Rätsel, das der Teppich barg, kaum lösen können. Und das Erinnerungsvermögen von Lord Burlington hatte, trotz aufrichtigen Bemühens, von seinem verschütteten Wissen noch nicht einmal einen Zipfel zum Vorschein kommen lassen.
»Erwarten wir nicht zu viel«, dämpfte Sadik deshalb von vornherein allzu hoch gespannte Erwartungen. »Seien wir Allah erst einmal dankbar, wenn wir den Teppich unbeschädigt in unseren Händen halten.«
Am späten Nachmittag war das der Fall. Rupert Burlington entschuldigte sich, dass es so lange gedauert hatte.
»Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich Ihre Geduld nicht so lange strapaziert«, bedauerte er, während er aus der Kutsche stieg und mit ihnen ins Haus ging, den zusammengerollten Teppich unter dem Arm. »Aber der gute Desmond konnte mal wieder kein Ende finden. Ich glaube, er hat mir jedes Polospiel und jeden Treffer beschrieben, den er erzielt hat. Zum Glück ist er ein lausiger Polospieler, sonst säße ich noch immer auf Royal Oak!«
Jana schloss die Tür des Salons, in den sie Rupert Burlington gefolgt waren. Dann rollte er den Teppich mit den Worten aus: »Hier ist das gute Stück, das Wattendorf mir verehrt hat!«
Tobias konnte hinterher nicht mehr sagen, was genau er erwartet hatte. Auf jeden Fall nicht das, was da vor ihnen ausgebreitet lag und das Sadik nach einem Moment der Ernüchterung in die Worte fasste: »Nun denn, ein gewürzter Knochen ist immer noch besser als stinkendes Fleisch.«
»Ich sagte ja gleich, dass es sich nicht einmal um eine handwerklich mittelmäßige Arbeit handelt«, erinnerte Rupert Burlington sie an das, was er ihnen schon am Tag ihrer Ankunft über den Teppich erzählt hatte. »Der Händler muss froh gewesen sein, einen Käufer für diesen Teppich gefunden zu haben.«
Aufdringlich bunte Muster aus geometrisch angelegten stilisierten Blumen und Ornamenten sowie Bordüren umgaben das typische Nischenmotiv im Mittelfeld, das sich auf vielen Gebetsteppichen fand. Diese Gebetsnische wies auf den Verwendungszweck dieser
Teppiche hin. Rot, Blau und Gelb waren in unterschiedlichen Tönen die vorherrschenden Farben, in die sich jedoch noch viele andere mischten.
»Tja«, sagte Jana nur, und mehr brauchte sie auch nicht zu sagen, um ihre Enttäuschung auszudrücken. Auch sie hatte etwas anderes erwartet – irgendetwas, dem man ansah, dass es ein Geheimnis in sich barg.
Rupert Burlington vollführte eine verlegene Geste, als hätte ihm einer von ihnen den Vorwurf gemacht, dass er den Brief verbrannt hatte und sich einfach nicht an den Wortlaut des Gedichtes erinnern konnte.
»Immerhin haben wir ihn – und nicht Zeppenfeld«, tröstete sich Tobias.
Sadik schwieg. Er starrte unverwandt auf den Teppich, die Stirn kraus gezogen.
»Was ist, Sadik? Hast du etwas entdeckt?«, fragte Jana.
Der Beduine schüttelte den Kopf und zuckte dann mit den Schultern, als wollte er die Verneinung wieder aufheben. »Nein, nichts … jedenfalls nichts, was ich benennen könnte.«
»Wie meinst du das?«
Sadik zuckte auf Tobias’ Frage hin erneut mit den Achseln. »Irgendetwas stört mich an diesem Teppich. Aber ich kann beim besten Willen nicht sagen, was es ist. Da ist etwas, doch ich kann den Finger nicht drauflegen. Ich weiß nur, dass da etwas nicht stimmt.«
Sie schauten alle intensiv auf den bunten, einfach geknoteten Gebetsteppich aus billiger Wolle. Aber so sehr sie sich auch konzentrierten und nach einem Hinweis suchten, der zur Lösung des Rätsels führen konnte, sie fanden nichts – außer Blumen, Bordüren und Ornamenten, die ihnen bestenfalls verrieten, dass hier wahrlich kein Meister der Teppichknüpfkunst am Werk gewesen war.
»Irgendetwas stimmt nicht«, sagte Sadik viele Stunden später noch einmal, als er sein Nachtgebet verrichtet hatte und in ihrem Gästezimmer auf dem Boden vor Wattendorfs Teppich kniete. »Ich weiß nicht, was es ist, aber ich werde es herausbekommen. Allah ist mein Zeuge!«
Vier Tage darauf waren sie noch immer keinen Schritt weitergekommen, wie viele Stunden Sadik täglich auch vor dem Teppich saß und grübelte. Doch ihn verließ weder die Geduld noch die Zuversicht. Eile treibt die Kamele nicht, dachte er gelassen. Und wenn die Katze nur lange genug still liegt, so erjagt sie eine fette Maus. Aiwa,
so wird es sein. Bei Allah und seinem Propheten!