Zwischen Dschungel und Prärie
Wenig später führte sie der Diener in einen Raum, den er das ›kleine Esszimmer‹ nannte. Tobias hielt das für die Untertreibung des Tages, die auch dem Lord oder seinem eigenwilligen Butler gut zu Gesicht gestanden hätte. Denn das ›kleine Esszimmer‹ entsprach doch von der Größe her dem ehemaligen Ballsaal auf Gut Falkenhof, den Onkel Heinrich für räumlich besonders aufwendige Experimente benutzt hatte. Ein sternenübersäter Nachthimmel war auf die hohe, gewölbte Decke gemalt worden und vermittelte den Eindruck, als blicke man direkt in die endlose Tiefe des Kosmos. Und obwohl in der Mitte des Saals mit dem Planetenhimmel nur ein runder Tisch stand, der gerade einem Dutzend Personen Platz bot und der jetzt festlich gedeckt war, hatte man nicht das Gefühl des Verlorenseins und der Ungemütlichkeit.
Das lag zweifellos an der ungewöhnlichen Einrichtung, besser gesagt an der Ausstaffierung des großen Raumes. Sie spiegelte gewissermaßen Rupert Burlingtons Lebensstil genauso beispielhaft wider, wie die Ahnengalerie und die davor liegenden Räume einen Hinweis auf das Leben gaben, das sein Vater und dessen Vorfahren geführt hatten.
Zweifellos weniger verrückt. Jagdtrophäen hatten viele von ihnen in diversen Räumen an die Wände hängen lassen. Doch es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, im hinteren Teil eines ballsaalgroßen Esszimmers Erde aufzuschütten, ein paar schwere Felsbrocken und mannshohe Dornensträucher ins Haus zu holen und dann auch noch fünf mächtige, ausgestopfte Bisonbüffel in dieser Kulisse aufzustellen. Die zotteligen, buckeligen Tiere sahen erschreckend lebensecht aus und machten mit ihren gesenkten Köpfen den Eindruck, als donnerten sie im vollen Galopp über die amerikanische Prärie, die auf die dahinter liegende Rückwand mit beeindruckend plastischer Tiefe gemalt war. Links davon standen vor dem Hintergrund eines Birkenwaldes und in der Ferne aufragender Berge fünf Indianertipis. Zwei angepflockte Pferde grasten zwischen den Zelten, an denen Lanzen und andere Waffen lehnten. Acht Indianer in voller Kriegsbemalung saßen um ein Lagerfeuer. Einer von ihnen hielt ein Messer in der Hand. Ein anderer hatte ein Gewehr quer über seinem Schoß liegen.
Sie sahen so natürlich aus, dass Tobias, Jana und Sadik im ersten
Moment voller Erschrecken glaubten, dass auch sie zu Lord Burlingtons ›Jagdtrophäen‹ gehörten, die sich wie die Pferde und Büffel Mister Prickwithers kunstvoller Behandlung hatten unterziehen müssen.
Rupert Burlington sah ihre bestürzten Gesichter und sagte belustigt: »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich Ihr Kompliment, als das ich Ihren bestürzten Gesichtsausdruck ja wohl werten darf, an Mister Screwbury weitergeben. Er ist der Schöpfer dieser trefflich lebensechten Puppen und Masken.«
Im Esszimmer war jedoch nicht allein der Westen Amerikas vertreten, sondern auch ein Stück Tropenwelt. Denn die ganze rechte Seite schien vom Dschungel eines Regenwaldes überwuchert zu sein. Eine Riesenschlange kroch gerade über einen umgestürzten morschen Stamm, während hier und da fast nackte Eingeborene mit Blasrohren zwischen dem Dickicht aus Lianen, Bäumen und Farnen hervorlugten, als wollten sie den Tischgästen jeden Augenblick ihre Giftpfeile in den Nacken blasen. Bunte Aras saßen in den Bäumen.
Rupert Burlington freute sich wie ein Kind über die Fassungslosigkeit seiner Gäste. »Ich habe eine Schwäche für Reisen in ferne Länder und umgebe mich danach gern mit ein paar Erinnerungsstücken. Ich nenne dies meine ›Reisebilder‹. Sie machen meine Berichte ein wenig anschaulicher, wie ich finde.«
Jana holte tief Atem. »So kann man es natürlich auch ausdrücken«, murmelte sie, noch ganz benommen von der Skurrilität und den täuschend lebensechten ›Reisebildern‹ dieses spleenigen Lords.
Sadik war ganz blass geworden. Jetzt fasste er sich wieder. »Gibt es auch von der Nilquellen-Expedition ein solches Reisebild?«, fragte er.
Rupert Burlington nickte und seine Miene drückte Stolz aus. »Gewiss, es gehört zu meinen gelungensten, wie ich finde. Sie werden es morgen Nachmittag zur Teestunde zu sehen bekommen. Das Wüstenbild hat im kleinen Teesalon seinen bestmöglichen Platz gefunden, und ich hoffe, Sie werden darin mit mir übereinstimmen. Doch wenn ich Sie jetzt zu Tisch bitten darf?«
»Er ist verrückt!«, raunte Jana Tobias zu.
»Unsinn! Er hat einfach nur das Geld, um sich solche kostspieligen Marotten leisten zu können.«
»Präriebüffel, Indianer und Kopfjäger aus dem Dschungel im Esszimmer! Das ist schon ein bisschen mehr als nur eine Marotte!«, wandte sie ein.
Rupert Burlington sah Tobias mit einem fröhlichen Lächeln an. »Oh, hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, Miss Laura zu bitten, uns mit ein wenig Klaviermusik zu erfreuen?«, forderte er ihn auf.
»Miss Laura? Wen meinen Sie?«, fragte Tobias verwirrt.
»Die junge Dame hinter Ihnen.«
Tobias drehte sich um und erschrak. Dort in der Ecke, wo der Dschungel in eine Fläche scheinbar moosigen Waldbodens überging, saß neben der Flügeltür eine bezaubernde junge Frau mit blonden Korkenzieherlocken und in einem rüschenverzierten Kleid aus rauchblauer Seide an einem Klavier. Sie zeigte ihnen ihr reizendes Profil. Und als hätte sie Rupert Burlington gehört, begann sie zu spielen.
»Ah, ein Stück von Mozart. Sehr schön, Miss Laura«, lobte Rupert Burlington, doch in seiner Stimme lag ein vergnügt spöttischer Tonfall, der Tobias stutzig machte.
Zögernd trat er näher zu dieser Miss Laura ans Klavier. »Ist … ist sie echt? Oder ist sie auch eine von Mister Screwburys Schöpfungen?«, fragte er. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, dass Rupert sich den Spaß mit ihnen erlaubte, unter all die Puppen nun auch jemanden aus Fleisch und Blut zu mischen, um sie völlig zu verunsichern. Und da ihr Klavierspiel wirklich fehlerlos war …
»Miss Laura ist ein Androide«, erklärte Rupert Burlington lachend, und dabei ließ er wieder das Monokel fallen, was seinen Worten einen zusätzlich dramatischen Effekt gab.
»Ein Andro-was?«, fragte Jana.
»Androide. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bezeichnet mechanische Automaten in Tier- oder Menschengestalt. Auch dieses Wort Automat entstammt der Sprache der Hellenen und bedeutet ›Selbstbeweger‹«, erklärte er bereitwillig, während Miss Laura ungerührt ihr Klavierspiel fortsetzte.
»Dieser weibliche Androide hat den Vorzug, drei Schöpfer nennen zu können, nämlich einmal Mister Screwbury, der für das Äußere verantwortlich zeichnet, sowie die beiden Schweizer Mechaniker Henri-Louis Jaquet-Droz und seinen Vater Pierre Jaquet-Droz, die das geniale feinmechanische Innenleben von Miss Laura mit all seinen Federuhrwerken entwickelt haben.«
»Wie ein Geist«, murmelte Jana und verschränkte die Arme vor der Brust, als würde sie frösteln. »Diese … Androiden oder Automaten sind mir unheimlich.«
»Aber, meine Liebe! Solche Automaten gab es schon im Altertum! Sie sind nichts weiter als hochkomplizierte technische Gebilde, mit denen geniale Mechaniker menschliche Bewegungsabläufe imitieren – zu unserem Vergnügen oder sogar zu unserem praktischen Nutzen«, versuchte Rupert Burlington sie zu beruhigen. »Heron von Alexandrien beschrieb schon im 1. Jahrhundert nach Christi den Bau von Automatentheatern! Und derartige Automaten sind am Straßburger Münster 1352 und an der Frauenkirche in Nürnberg ein paar Jahre später angebracht worden, wenn auch in ihrer Ausführung um einiges primitiver als das, was in Miss Laura steckt. Ich liebe solche Erfindungen, weisen sie uns doch auf unterhaltsame und zugleich doch lehrreiche Weise den Weg in die Zukunft.«
»In der solch ein Androide nicht nur Klavier spielen kann, sondern vielleicht sogar einen Dampf Straßen wagen durch London fährt, ja?«, fragte Sadik mit spöttischem Unglauben.
»Warum nicht?«, fragte Rupert zurück und machte eine einladende Geste in Richtung gedeckter Tafel. »Ich sage immer, dass die Möglichkeiten des technischen Fortschritts erst da aufhören, wo die Phantasie des Menschen endet. Und bisher hat sich diese immer wieder als überraschend und meines Erachtens nach auch als grenzenlos erwiesen.«
»Aiwa«, murmelte Sadik mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel. »Zumindest Mulberry Hall und sein Besitzer sprechen für diese gewagte These.«
Als sie sich gesetzt hatten, sagte Rupert Burlington: »Ich habe mit meinem Verwalter Hegarty, dessen Frau Deborah gewöhnlich die Aufgaben der Torhüterin von Mulberry Hall wahrnimmt, vorhin per Brieftaube Nachrichten ausgetauscht …«
»Ja, Sie haben Königin Elizabeth geschickt«, erinnerte sich Jana. »Daraufhin ist er sehr freundlich geworden.«
Rupert nickte. »Richtig, und wenn ich Hegarty hätte mitteilen wollen, dass ich nicht zu sprechen sei, hätte ich Cromwell zurückgeschickt. Othello wiederum hätte ihm verraten, dass er der gewissen Person, die er mir gemeldet hatte, ein für alle Mal das Tor weisen solle. Ähnliche Nachrichten personifizieren auch die Brieftauben namens Brutus und Nero. Aber das ist letztlich doch eine sehr primitive Art der Kommunikation, die nur grobe Nachrichten erlaubt. Deshalb bin ich schon seit Jahren auf der Suche nach einem neuen System, das mich in die Lage versetzt, mich über die zweieinhalb Meilen hinweg rasch und eindeutig mit meinem Personal am Tor in Verbindung zu setzen …«
»Warum versuchen Sie es nicht mit optischen Signalanlagen?«, schlug Tobias vor, der von ihrem vielseitigen Gastgeber fasziniert war. Hatte sich sein Onkel mehr für die wissenschaftliche Theorie interessiert, so war Rupert Burlington offensichtlich ganz versessen darauf, sich dieser neuen Ideen und Erfindungen im alltäglichen Leben zu bedienen und praktischen Nutzen aus ihnen zu ziehen. »Es gibt doch inzwischen überall optische Telegrafenlinien, die über Land führen. In Frankreich hat man doch schon 1798 bei der ersten Überlandlinie zwischen Paris und Straßburg 29 Städte über 534 Signalstationen miteinander verbunden, und auch in Deutschland gibt es diese Telegrafenlinien, so etwa zwischen Berlin und Frankfurt.«
»Wie auch bei uns, Tobias. Dover-Portmouth hieß die erste englische Verbindung, die 1796 in Betrieb ging, also gut zwei Jahre vor der der Franzosen!«, betonte Rupert Burlington nachdrücklich. »Aber Alphabet und Handhabung des optischen Telegrafensystems sind viel zu kompliziert, was den täglichen Gebrauch angeht. Sender und Empfänger müssen erst die Signalsprache lernen. Nein, der Aufwand stände in keinem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen.«
Sadik, der wenig Interesse an technischen Diskussionen besaß und sich deshalb lieber mit wortlosem Genuss der köstlichen Geflügelsuppe gewidmet hatte, hob nun kurz den Kopf vom Teller. Er warf einen verwunderten Blick zu den Büffeln und Indianern hinüber, als fragte er sich, wo denn da der Nutzen verborgen lag, der den gewaltigen Aufwand rechtfertigte. Er wollte etwas sagen, unterdrückte diese Regung jedoch eingedenk der arabischen Weisheit: »Eine Wunde, von Worten geschlagen, ist schlimmer als eine Wunde, die das Schwert schlägt.« Und so wandte er sich kommentarlos wieder der Suppe zu.
»Zudem brauchte ich hohe Türme, um den Wald zwischen Herrenhaus und Tor zu überbrücken«, fuhr Rupert Burlington derweil fort, »und die würden mein ästhetisches Empfinden erheblich beeinträchtigen, von anderen Schwächen dieser Form der Nachrichtenübermittlung einmal ganz abgesehen.«
»Dann werden Sie wohl bei Brutus und Nero und Königin Elizabeth bleiben müssen«, meinte Jana.
»O nein!«, widersprach der fortschrittsbegeisterte Lord. »Ich habe mit einigen Wissenschaftlern Kontakt aufgenommen, die sich mit der Entwicklung eines elektrischen Telegrafen beschäftigen, und unterstütze ihre Forschung finanziell.«
»Elektrisch?«, fragte Jana, die sich darunter nicht das Geringste vorstellen konnte.
»Ja, es handelt sich dabei um eine Fortentwicklung des elektrischen Telegrafen, mit dem der Münchner Thomas von Sömmering auf der Arbeit des Spaniers Francisco Salva aufgebaut und schon vor gut zwanzig Jahren eine Strecke von über zwei Meilen überbrückt hat«, erklärte Rupert Burlington angeregt und gab Willard das Zeichen, die Suppenteller abzuräumen und den nächsten Gang zu servieren. »Das gelang ihm mit Hilfe von stärkeren Batterien, als Salva sie 1804 bei seinem Versuch in Barcelona eingesetzt hatte. Aber Sömmerings Telegraf hatte viele schwache Stellen, und er brauchte für jeden Buchstaben eine eigene Leitung, was zu 35 Drähten führte. Zudem war das Verfahren zur Erkennung der Zeichen noch zu kompliziert und zu langwierig. Mittlerweile hat man auf diesem Gebiet jedoch große Fortschritte erzielt, und ich hege die feste Überzeugung, dass dem elektrischen Telegrafen, der von Wind und Wetter sowie Tages- und Nachtzeiten unabhängig ist, die Zukunft gehört. Und dann werde ich nicht nur Hegarty oder seiner Frau am Tor eine Nachricht zukommen lassen, sondern irgendwann einmal auch deinem Onkel auf Falkenhof oder Hagedorn in Cairo – und zwar ganz bequem von meinem Arbeitszimmer aus.«
Sadik seufzte schwer, als hätte er nun genug Märchen zu hören bekommen, die den Titel Lord Burlingtons Tausend-und-eine-Technik-Nachtgeschichten haben konnten.
Rupert Burlington fixierte ihn durch sein Monokel, jedoch ohne Groll, waren ihm Skepsis und Gelächter, die er mit derartigen Reden immer wieder bei seinen Zuhörern hervorrief, doch nur zu vertraut.
»Es mag uns heute so phantastisch wie ein Märchen aus einem technischen Schlaraffenland vorkommen«, räumte er ein. »Aber derjenige, der in der Steinzeit das Rad erfand, hatte anfangs bestimmt auch gegen das Unverständnis seines Clans zu kämpfen, der den Nutzen dieses komischen runden Dinges nicht begriff.«
Sadik zuckte mit den Achseln. »Nicht von jedem Minarett wird Weisheit gepredigt.«
»Und der Müßige weilt allein im Mondschein!«, hielt Rupert Burlington ihm schlagfertig entgegen. »Der technische Fortschritt der Menschheit beruht nicht auf Skepsis und Untätigkeit, sondern auf Tatkraft und Visionen. Gewiss, viele enden in Sackgassen. Aber wenn von tausend scheinbar lächerlichen Ideen uns auch nur eine einzige in unserer Entwicklung weiterbringt, so haben auch die neunhundertneunundneunzig ihren Sinn gehabt und ihren Beitrag dazu geleistet. Der Mensch lernt nicht zuletzt durch seine Irrtümer, mein lieber Sadik. Um noch einmal auf das Rad zurückzukommen: Wer von den Menschen, die vor vielen tausend Jahren den ersten Radkarren gebaut haben, hat sich schon vorstellen können, dass das Prinzip des Rades eines Tages in vielfältiger Weise unser Leben und unseren Fortschritt bestimmen würde? Angefangen von Knopf und Flaschenzug, über das Uhrwerk und die Kutsche bis hin zu den Dampfmaschinen und Lokomotiven und Dampfern. Natürlich niemand! Von dem ersten Rad bis zu den Federuhrwerken in Miss Laura da drüben war es eben ein langer Weg, der mit unzähligen Visionen wie Irrungen gepflastert war. Doch auch die längste Reise …«
»… beginnt mit dem ersten Schritt«, beendete Sadik die alte Weisheit und fügte einlenkend hinzu: »Schon gut, Sihdi Rupert. Mag sein, dass ein bàdawi für solch eine Diskussion nicht gerade der beste Gesprächspartner ist. Zudem liegen ein paar anstrengende Tage hinter uns, die mein Interesse an Telegrafen und derartigen Erfindungen in sehr bescheidenen Grenzen halten.«
Tobias war versucht zu sagen, dass ihnen eine solche Erfindung gerade in den letzten Tagen, ja Monaten von allergrößtem Nutzen gewesen wäre – wenn sie doch nur schon so weit fortgeschritten wäre, wie ihr Gastgeber es für die Zukunft voraussah. Dann hätten sie Jean Roland und Rupert Burlington schon von Mainz aus vor Zeppenfeld warnen und auf einige Risiken verzichten können. Aber leider gehörte das nun wirklich ins Reich phantastischer Träume.
»Mein bester Sadik, verzeihen Sie, dass ich mich in meiner Begeisterung habe dazu hinreißen lassen, Sie mit meinen Grillen und Zukunftsvisionen zu langweilen«, entschuldigte sich Rupert Burlington. Er sagte es jedoch ohne Betroffenheit, sondern mit fröhlicher Beiläufigkeit. Denn er war längst zu der Überzeugung gelangt, dass es eigentlich keinen großen Unterschied machte, wie man sein Leben einrichtete, solange man seinen Mitmenschen nicht übel gesonnen war. Und wenn man den andern nicht in seinen Freiheiten beschnitt und ihm zubilligte, was man auch für sich selbst verlangte, dann war jede Wahl, die man für sich traf, die richtige. Denn letztlich war das ganze Leben eigentlich nichts weiter als eine einzige Laune des Schöpfers, wie er fand. Eine sehr reizvolle zwar, aber letztlich doch eine unwiderruflich tödliche für den Menschen. Und da dem so war, hatte jede Lebensphilosophie, sofern sie nur friedfertigen Charakter besaß, dieselbe Existenzberechtigung.
Sadik machte eine abwehrende Handbewegung. »Unsere Welt braucht den Träumer so sehr wie den Pragmatiker«, antwortete er mit gutmütigem Spott. »Und was Letzteres betrifft, so versteht Ihr Koch sein Handwerk wirklich ganz vortrefflich.«
Ihr Gastgeber lachte. »Dennoch habe ich wohl vorerst genug geredet, und es ist nun an der Zeit, dass Sie mir erzählen, was Sie nach Mulberry Hall geführt hat.« Dabei richtete er seinen Blick auch auf Tobias und Jana.
»Es ist wegen des Gebetsteppichs!«, platzte es nun aus Tobias heraus.
»Den Wattendorf Ihnen geschickt hat!«, fügte Jana sofort hinzu, als sie den verdutzten Blick von Rupert Burlington sah. »Sie haben doch von ihm aus Cairo einen Gebetsteppich und einen Brief mit einem Rätsel-Gedicht zugesandt bekommen, nicht wahr?«
»Ja, das ist richtig«, sagte der exzentrische Lord mit dem zerzausten rot-braunen Haar verwundert. »Ich habe in der Tat letztes Jahr von Eduard Wattendorf besagten Teppich und Brief erhalten, aber …«
»Und Zeppenfeld? Hat er sich bei Ihnen blicken lassen und sich danach erkundigt … oder sogar beides an sich gebracht?«, stellte Tobias sogleich die nächste bange Frage, die ihm seit Tagen keine Ruhe ließ. Sie hatten viel Zeit in Tinville verloren. Hatten sie den Wettlauf gegen Zeppenfeld und seine Komplizen gewonnen, oder kamen sie um die paar Tage zu spät, die sie in der französischen Hafenstadt festgesessen hatten?
»Zeppenfeld? … Hier auf Mulberry Hall?«, fragte Rupert Burlington verständnislos, als hätten sie ihn danach gefragt, ob sein Koch unter Aussatz leide. Toleranz und Gelassenheit fielen von ihm ab. Sein Gesicht nahm einen harten Ausdruck an.
»Dieses verkommene Subjekt! Er würde es nicht wagen, auch nur einen Fuß auf mein Land zu setzen! Und wenn er es in einem Anfall von geistiger Umnachtung oder kopfloser Verzweiflung dennoch versuchen würde, würde ich Brutus, Othello und Cromwell schicken – und zwar gleichzeitig! Dann wüsste Hegarty, welchen Gruß er ihm von mir auszurichten hat, nämlich den mit der Flinte, die mit grobem Schrot geladen ist! Ich verabscheue Gewalt, aber auch die ehernste Regel kennt ihre Ausnahme: Bei mir heißt diese Zeppenfeld und Wattendorf! Aber was habt ihr bloß mit diesem Lumpenpack zu schaffen?«
»Es hängt alles mit dem Teppich zusammen, den Sie bekommen haben«, antwortete Tobias. »Wattendorf hat Jean Roland einen Koran geschickt und meinem Vater einen Spazierstock mit einem Falkenkopf als Knauf …«
»Gemach, mein Junge! Gemach!«, fiel Sadik ihm ins Wort. »Willst du Sihdi Rupert eine Geschichte erzählen oder ihm ein Rätsel stellen?«
Tobias errötete unter dem Tadel, der seinem Übereifer galt. »Ich wollte ihm erzählen, was in den letzten Monaten passiert ist … und warum wir nach Mulberry Hall gekommen sind.«
»Dann solltest du mit dem Tag im Februar beginnen, als wir Falkenhof verließen, um nach Mainz zu fahren und den Ballon abzuholen«, schlug Sadik vor.
Jana lächelte, denn ihr war klar, weshalb er wünschte, dass Tobias seinen Bericht mit diesem Tag begann. Denn das war der Tag gewesen, an dem sie ihren schweren Unfall auf der verschneiten Landstraße gehabt hatte und an dem das Schicksal ihren Lebensweg mit dem von Tobias und Sadik verknüpft hatte.
»Nur zu! Auf diese Geschichte, in der Wattendorf und Zeppenfeld offenbar eine gewichtige Rolle spielen, bin ich sehr gespannt«, sagte Rupert Burlington und gab dem Diener einen Wink, sein Weinglas zu füllen.