Lord Burlington

 

Der Familiensitz von Lord Burlington erstrahlte im hellen Schein von mehr als zwei Dutzend Laternen. Ihre Leuchtkraft verriet, dass es sich dabei um Gaslampen handelte. Sie schienen zwischen kugelrund geschnittenen, hüfthohen Buchsbäumen vor der Längsfront des lang gestreckten Gebäudes wie eine Lichtergarde Wache zu stehen.

Das Herrenhaus erhob sich auf einer leichten Anhöhe und erschien dadurch noch größer und imposanter, als es schon in Wirklichkeit war. Es hatte hohe, spitze Fenster und alle anderen Merkmale spätgotischer Baukunst auf englischem Boden sowie die Ausmaße eines königlichen Palastes. Wer immer von Rupert Burlingtons Vorfahren dieses Gebäude hatte errichten lassen, von mangelndem Selbstdarstellungsgefühl war er gewiss ebenso wenig gequält worden wie von Geldsorgen. Das Gebäude machte den Eindruck, als hätte es so viele Zimmer wie das Jahr Tage. Der Stein, aus dem der fürstliche Landsitz dreieinhalb Stockwerke hoch errichtet worden war, leuchtete in einem warmen sandgelben Ton. Zumindest traf das auf die wenigen freien Flächen zu, wo die jahrhundertealte Fassade noch nicht unter dem dichten Geflecht von grünem Efeu und anderen wild wuchernden Ranken verborgen lag.

»Das ist ja …« Jana fehlten die Worte. Mit offenem Mund bestaunte sie Mulberry Hall.

Auch Tobias hatte noch kein herrschaftliches Anwesen zu Gesicht bekommen, das diesem hier gleichgekommen wäre. Und dazu dieser Luxus von Gaslampen! Er war schlichtweg sprachlos.

Nicht jedoch Sadik, der sein nicht minder großes Staunen in die Worte kleidete: »Eine Dattel für jedes Zimmer – und eine Händlerseele könnte in Cairo ein blühendes Geschäft eröffnen!«

»Und da wohnt Lord Burlington ganz allein?«, wunderte sich Jana.

»Allein bestimmt nicht«, meinte Tobias und sagte scherzhaft: »Von der Heerschar normalen Dienstpersonals einmal ganz abgesehen, die man für so ein Herrenhaus braucht, hat er bestimmt noch ein dutzend Führer eingestellt, die sich jeweils in einem Teil seines Palastes auskennen und ihn davor bewahren, dass er sich verirrt und auf ewig verschollen bleibt.«

Die Allee der Maulbeerbäume mündete in einen Vorplatz, der von wunderschönen Blumenrabatten und gepflegten Rasenflächen beherrscht wurde. Hegarty lenkte den Dampfstraßenwagen die halbkreisförmige Auffahrt hinauf, die mit der Abfahrt zurück zur Allee einen perfekten Kreis um Blumen und Rasen bildete.

Auf halber Höhe der Freitreppe, die zum Portal von Mulberry Hall hochführte, wartete schon eine stattliche, aufrechte Gestalt. Sie trug einen schwarzen Anzug, eine weiße Hemdbrust und eine passende Halsbinde.

Tobias beugte sich etwas zu Sadik hinüber. »Ist das Rupert Burlington?«, fragte er leise.

Dieser schüttelte den Kopf. »La, nein. Sihdi Burlington ist das sicherlich nicht. Dafür hält sich der Mann viel zu stocksteif. Das muss sein Butler sein.«

Und so war es auch. Als Borstenkopf den Dampfkraftwagen vor der Freitreppe zum Stehen brachte, rief er zu dem Mann hinüber: »Die Gäste für Seine Lordschaft, Mister Talbot!«

»Fast hätte ich es mir gedacht, Mister Hegarty«, lautete die leicht sarkastische Antwort des Butlers, ohne dass dieser sich jedoch von der Stelle rührte.

Jana und Tobias kletterten mit gemischten Gefühlen vom Wagen. Parcival Talbot machte nicht gerade einen herzlichen, einladenden Eindruck. Auch Sadik nahm sein Bündel, drückte Hegarty eine Münze in die Hand und stieg aus. Lisette dampfte zum Torhaus zurück.

Parcival, ein Mann in den Fünfzigern, musterte sie von seiner erhöhten Position aus mit ausdrucksloser Miene. Doch Tobias hatte das Gefühl, als wäre Parcival Talbot alles andere als erfreut über ihr unangemeldetes Erscheinen.

»Der steht da wie aus Stein gehauen«, raunte Jana, die sich unter dem Blick des Butlers auch nicht wohl fühlte.

»Die Prinzessin von Alouette nimmt der Stockfisch mir garantiert nicht ab!« Und von dem Moment an hatte Parcival Talbot bei ihnen seinen Spitznamen weg: Stockfisch.

Sadik wollte ihn gerade ansprechen, als jemand aus dem Portal kam und die Freitreppe zu ihnen hinuntereilte. »Das ist er!«, rief er leise und fast ein wenig erleichtert.

Jana und Tobias waren von Lord Burlingtons Erscheinung ebenso überrascht wie von Mulberry Hall. Er sah aus wie sein eigener Hilfsgärtner: ein großer hagerer Mann, der sich nach vorn gebeugt hielt, als hätte er sich den Rücken im Freien krumm geschuftet. Sein Haar hatte die Farbe von rot-brauner Wolle und war so wenig gekämmt wie das Fell eines Hochlandschafes nach einer stürmischen Nacht im Freien. Er hatte tiefe Ratsecken im Haar, einen buschigen Schnurrbart und eine daumenlange Narbe über dem linken Wangenknochen, die zweifellos von einer scharfen Klinge herrührte.

Was seine Kleidung betraf, so erinnerte auch sie auf den ersten Blick an die einer Hilfskraft, die in den Garten- und Parkanlagen von Mulberry Hall erfahrenen Gärtnern zur Hand ging. Ausgebeulte Cordhosen von beiger Farbe steckten in verschlissenen braunen Halbstiefeln mit Krempe. Über einem einfachen, weißen Leinenhemd trug er eine ärmellose Strickweste, die ihm viel zu groß war und schlabberig an ihm herabhing. Ihre Farbe war ein undefinierbares Gemisch aus braunen und grau-blauen Tönen und sie sah so aus, als wäre sie das bedauernswerte Ergebnis eines erstmaligen Umgangs mit Stricknadeln. Der einzige Hinweis darauf, dass dieser Mann wohl doch kein Hilfsgärtner war, bestand in dem goldgefassten Monokel, das er mit hochgeschobenem Wangenmuskel vor seinem rechten Auge eingeklemmt hielt. Durch die kleine Goldöse der Einfassung lief ein dünnes, geflochtenes Band, das er um den Hals »Scheich Sadik Talib! Welch reizender Einfall, sich vom Wüstenwind einmal nach Mulberry Hall wehen zu lassen. Sie treffen gerade noch rechtzeitig zum Abendessen ein. Ich habe Willard schon angewiesen, den Tisch heute für vier Personen zu decken. Es gibt Geflügel und frisches Gemüse, ganz wie Sie es lieben«, begrüßte Rupert Burlington ihn in einem beiläufigen Tonfall, als hätten sie sich erst noch vor wenigen Tagen bei irgendeinem anderen gesellschaftlichen Ereignis getroffen. Doch seine Augen strahlten vor sichtlicher Freude.

»Wer seinen Fuß vor die eigene Hütte setzt, lernt auch über die eigene Türschwelle hinaus zu denken. Und niemand ist so weise, als dass er nicht noch etwas dazulernen könnte, wenn er sein Zelt in fremden Oasen aufschlägt«, erwiderte Sadik mit einer äußeren Zurückhaltung, die ebenso groß war wie seine innere Wiedersehensfreude, und dann setzte er vergnügt und mit freundschaftlichem Spott hinzu: »Und diese Oase ist wirklich auch die längste Reise wert, Lord Burlington!«

Dieser lächelte. »Zu viel der Ehre, mein Bester! Entschieden zu viel der Ehre. Zudem gebührt sie nicht mir, sondern, wenn überhaupt, meinen Vorfahren, die ihren ganz eigenen Hang zur Gigantomanie pflegten.« Er wandte sich nun Jana zu und ergriff ihre Hand. »Prinzessin Jana von Alouette, nehme ich an? Es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Seien Sie auf Mulberry Hall herzlichst willkommen!«

Jana hatte nicht ein Wort verstanden. Sie lächelte unsicher, blickte hilfesuchend zu Tobias, der ja auf Grund seiner Begabung und Ausbildung Rupert Burlingtons Muttersprache genauso gut beherrschte wie die von Jean Roland und Sadik Talib, und fragte: »Was hat er gesagt? Ich habe ihn nicht verstanden.«

»Verzeihen Sie meine Gedankenlosigkeit«, sagte der Lord in einem fast akzentfreien Deutsch, bevor Tobias ihr antworten konnte, und wiederholte seinen Willkommensgruß noch einmal.

»Danke … Eure Lordschaft«, sagte Jana etwas verlegen. »Aber ich bin keine Prinzessin. Das hat Tobias nur schnell erfunden, als uns Borsten … als uns Mister Hegarty nicht glauben wollte, dass Sadik Sie kennt … und dass Sie ihn und Tobias bestimmt gern auf Mulberry Hall begrüßen würden.«

»Und Sie, Miss Jana«, versicherte er schmunzelnd und blickte Tobias an. »Schau an, das geht also auf Ihr Konto, junger Mann? Sie sind Ihrem Vater nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten, sondern scheinen auch über seine besondere Geistesgegenwart in kritischen Situationen zu verfügen. Kein Wunder, dass Ihr Vater so stolz auf Sie ist. Seien Sie mir von Herzen willkommen, Tobias.«

Das Lob ließ Tobias ein wenig erröten. »Danke, Eure Lordschaft«, sagte er und tauschte einen Händedruck mit ihm, der zu seiner Verwunderung sehr kräftig ausfiel. Aber dass Rupert Burlington kein Weichling war, wusste er schon von Sadiks Erzählungen.

»Ich schlage vor, wir lassen Seine Lordschaft wie auch die Prinzessin, die Exzellenz und den Scheich hier draußen zurück und nutzen die Zeit, die für solche Titel gemeinhin verschwendet wird, für sinnvollere Konversationen. Dein Vater und Sadik nennen mich Rupert, und ich denke, darauf sollten auch wir uns einigen«, bot er ihm freundlich an und nickte dabei auch Jana zu. »Es soll uns dabei nicht stören, dass ich es Sadik nicht habe abgewöhnen können, auch auf das Sihdi zu verzichten.«

»Sie sind sehr großzügig«, sagte Tobias und hätte ihn nun am liebsten sofort nach dem Gebetsteppich und dem dazugehörigen Rätsel gefragt. Doch er wollte nicht so unfein sein und gleich mit der Tür ins Haus fallen. Sadik hätte ihm eine solch grobe Verletzung der Gastfreundschaft sehr übel genommen. In diesen Dingen kannte sein beduinischer Freund keine Nachsicht. Deshalb beherrschte er seine Neugierde. Und nach allem, was hinter ihnen lag, kam es auf ein paar Minuten mehr oder weniger wirklich nicht mehr an.

Wie der Teppich wohl aussehen mochte? Und würden sie das dritte Wattendorfsche Gedichträtsel rasch lösen können?

»Großzügig?« Rupert Burlington schmunzelte. »Nein, nur gelegentlich sehr sonderbar und von eher exzentrischer Verschrobenheit, die einem anderen gesellschaftlich das Genick brechen würde, während man sie einem reichen Lord aber großmütig verzeiht. Ausgenommen wohl Parcival, der mich zweifellos für unzumutbar abstrus hält, um eine seiner besonders geschätzten Bezeichnungen zu verwenden.«

Der Butler, der sich bisher weder gerührt noch einen Ton von sich gegeben hatte, hüstelte leicht und sehr gekünstelt.

»Eine Mutmaßung, die, mit Verlaub gesagt, jeglicher Wirklichkeitsnähe entbehrt und die in der Tat die Bezeichnung abstrus verdient, Mylord!«, wies er die Behauptung seines Herrn kühl zurück.

»Gewiss, gewiss, und nun sorgen Sie dafür, dass Gregory das Gepäck unserer Gäste ins Haus bringt und dass Marigold die Zimmer richtet!«, trug Burlington ihm auf.

»Das Gepäck?«, wiederholte der Butler scheinbar verblüfft. Dabei gelang ihm das grandiose Kunststück, seine Geringschätzung zum Ausdruck zu bringen, obwohl seine Miene unverändert ausdruckslos blieb und auch seiner Stimme vordergründig nichts anzumerken war.

»Ah, Sie meinen die Bündel. Sehr wohl, Mylord.« Es folgte eine knappe, herrische Bewegung, auf die hin plötzlich ein junger Bursche wie aus dem Nichts auftauchte.

Sie überließen ihm ihr zugegebenermaßen armseliges Gepäck, doch den Bambuskäfig mit Unsinn gab Jana nicht aus der Hand.

»Ist der Affe für Ihre Trophäensammlung bestimmt, Mylord?«, erkundigte sich der Butler mit vorgetäuschter Ahnungslosigkeit. »Möchten Mylord, dass ich Mister Prickwither schon eine Nachricht zukommen lasse, dass Sie wieder seiner Kunst bedürfen, Kadavern den Anschein von Leben einzuhauchen?«

Rupert Burlington verzog in einem Ausdruck peinlicher Berührtheit die Mundwinkel nach unten, während er gleichzeitig die Augenbrauen hob. Dadurch verlor das Monokel seinen Halt und fiel herab. Das kunstvoll geflochtene Band fing das goldgefasste Brillenglas über der Brust auf.

»Nein, Parcival. Doch ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in Zukunft derart taktlose Bemerkungen unterlassen würden«, sagte er mit müdem Tadel, als wüsste er, wie wenig Sinn solche Ermahnungen hatten.

Parcival beschränkte sich auf eine Neigung des Kopfes, die alles und nichts bedeuten konnte.

»Was hat er damit gemeint? Wer ist dieser Mister Prickwither?«, erkundigte sich Jana irritiert und warf Stockfisch einen misstrauischen Blick zu.

Rupert Burlington räusperte sich. »Nun ja … Er ist ein … ein sehr fähiger Tierpräparator.«

Jetzt begriff Jana die Anspielung. Sie warf Stockfisch einen erzürnten, bitterbösen Blick zu. Er prallte jedoch von ihm ab wie ein Ball von einer Wand aus Granit. Von diesem Moment an verabscheute sie den Butler.

»Wäre er Araber, könnte ich ihn begreifen«, bemerkte Sadik nicht ohne Belustigung über die hintersinnigen Spitzen des Butlers, die verrieten, dass er wohl kaum um seine Stellung bangte. Deshalb sagte er auch: »Er scheint mir übrigens eine ganz eigene Art entwickelt zu haben, seinem Herrn als Butler zu dienen.«

Rupert Burlington seufzte scheinbar geplagt auf. »In der Tat, Sadik! Seine ganz eigene Art hat er fürwahr entwickelt. Doch ich muss ihm zugute halten, dass sie vermutlich aus einer großen inneren Verzweiflung geboren wurde.«

Jana, Sadik und Tobias sahen ihn gleichermaßen verständnislos wie fragend an.

Rupert Burlington zuckte mit den Achseln. »Der Gute hält mich schlichtweg für eine Schande meines und seines Standes!«

»Und warum geht er dann nicht einfach?«, wollte Jana voller Groll wissen.

»Der Butler eines Lords geht nicht so einfach, meine Liebe. Zudem war er schon der Butler meines Vaters, der jedoch seinen Ansprüchen an eine Herrschaft bis ins Letzte gerecht wurde, wie ich einräumen muss. Deshalb ist seine Verbitterung natürlich umso größer. Ich glaube, Parcival hätte mir schon längst seine verzweifelt treuen Dienste aufgekündigt, wenn er bloß jemanden wüsste, dem er diese Stelle auf Mulberry Hall zumuten könnte. Aber so sehr ist er offenbar keinem feindlich gesonnen, als dass er ihm die Arbeit bei mir schmackhaft machen und es noch mit seinem Gewissen vereinbaren könnte. Ein Mord würde ihm gewiss leichter fallen, als jemanden in die Stellung als Butler von Lord Burlington zu locken«, spottete er, während sie die Treppe hochgingen und ohne dass er dabei seine Stimme senkte. Stockfisch konnte somit jedes seiner Worte verstehen.

»Und warum kündigen Sie ihm nicht?«, ließ Jana nicht locker, die an Rupert Burlingtons Stelle kurzen Prozess mit diesem Stockfisch von einem Butler gemacht hätte.

Rupert zeigte ein verdutztes Gesicht, als wäre ihm der Gedanke, Parcival zu kündigen, bisher überhaupt noch nicht gekommen.

»Kündigen? Ich bitte Sie! Das ist England, meine junge Dame. Und nicht einmal ein Lord kann in diesem Land alles tun, was ihm gefällt!«, erklärte er, und wenn er sich damit einen Scherz erlaubte, war er ein ausgezeichneter Schauspieler. Denn nichts wies darauf hin, dass er sich über die Situation lustig machte. »Zudem vereinigt Parcival in sich die beiden besten Eigenschaften von uns Engländern: Er hält auch auf verlorenem Posten bis zum bitteren Ende aus und serviert den Nachmittagstee seit Jahrzehnten pünktlich auf den Gongschlag genau und in stets gleich bleibender Qualität. Was darf ein Lord mehr erwarten?«

Tobias und Jana tauschten einen halb belustigten, halb verwirrten Blick. War das noch humorvoll gemeint oder schon wieder Ernst? Oder umgekehrt?

»Wie hat Ihnen denn die Fahrt mit der Lisette gefallen, Sadik?«, wollte Rupert wissen, während er sie in die riesige Eingangshalle führte. Sie war mit kostbaren Möbeln und Teppichen eingerichtet. An den Wänden hingen überlebensgroße Porträts von Männern und Frauen, die mit zumeist strenger Miene auf den Betrachter herabschauten. Es war die Ahnengalerie der Burlingtons.

»Ich hätte den Ritt auf einem störrischen Esel vorgezogen«, gab der Beduine unumwunden zu. Es ging weiter durch Zimmerfluchten, deren Einrichtung von unaufdringlichem Luxus geprägt war.

»Ich nicht!«, rief Tobias sofort. »Ich fand es ganz phantastisch. Hat man diesen Dampfstraßenwagen extra für Sie gebaut?«

»Nein, er gehörte zu einer Reihe von Dampfstraßenwagen, die Mister Church schon vor fünfzehn Jahren auf der Linie London-Birmingham eingesetzt hat«, erklärte Rupert Burlington. »Er hat die Technik von Richard Trevithick weiterentwickelt, der schon 1801 ein erstes Straßenfahrzeug mit einer Hochdruckdampfmaschine als Antrieb gebaut hat. Sein Droschkenunternehmen hätte in London ein großes Geschäft werden können.«

»Und warum ist daraus nichts geworden?«, fragte Tobias, den die auserlesenen Möbelstücke und die Gobelins an den Wänden weit weniger interessierten als Rupert Burlingtons Dampfstraßen wagen.

»Weil der Verkehr in London so chaotisch und der Zustand der Straßen dermaßen miserabel ist, dass die Dampfwagen, obwohl sie ja bestens funktionieren, kaum das Tempo eines Fußgängers erreicht haben«, erklärte Rupert Burlington. »Bedauerlicherweise.«

»Ein Hammelkopf ist eben immer noch besser als ein Sack voller Heuschrecken, die zu nichts nutze sind«, merkte Sadik an.

Rupert Burlington blieb stehen und klemmte sich das Monokel vors Auge, als müsste er Sadiks geringschätziger Bemerkung scharfen Blickes entgegentreten. »Aber ihnen gehört ganz zweifellos die Zukunft, Sadik!«

»Das sagten die römischen Herrscher auch von sich und ihrem Reich, als sie Ägypten eroberten«, sagte Sadik bärbeißig und nicht einmal bereit, sich solch eine Zukunft auch nur vorzustellen.

»Eines Tages werden Pferdekarren und Droschken von den Straßen verschwunden sein«, fuhr Rupert Burlington jedoch ruhig und unbeirrt fort, als hätte er Übung im Umgang mit Menschen, deren Blick eher in die ›gute, alte Zeit‹ der Vergangenheit als in die Zukunft gerichtet war, »weil Pferdekraft mit diesen neuen Maschinen über kurz oder lang einfach nicht mehr konkurrieren kann.«

»Das habe ich ihm auch schon prophezeit«, warf Tobias eifrig ein und freute sich, dass der Engländer mit ihm übereinstimmte. »Aber er hat mich nur ausgelacht.«

»Zu Unrecht«, meinte Rupert. »Völlig zu Unrecht. Vieles kann man aufhalten, nicht jedoch den Fortschritt von Technik und Wissenschaft. Dabei sei dahingestellt, ob das Verantwortungsbewusstsein und das Moralempfinden der Menschen sich auch mit dem Fortschritt entsprechend weiterentwickeln. Jede Erfindung ist immer nur so gut wie der, der sie anwendet.«

»Wenn Allah wollte, dass es Brot regnen soll, hätte er den Himmel mit Teig bewölkt«, spottete Sadik. »In meiner Heimat würde man zu so einer nutzlosen Erfindung sagen: ›Die Berge hatten Geburtswehen und gebaren eine Maus.‹«

Rupert beließ es dabei. Er winkte einen unscheinbaren Diener heran und trug ihm auf, den Gästen zu zeigen, wo sie sich vor dem Essen die Hände waschen und etwas frisch machen konnten.

»So hatte ich mir Rupert Burlington wirklich nicht vorgestellt«, gestand Tobias, als er sich im geräumigen Waschkabinett die Hände abtrocknete.

»Ich auch nicht«, pflichtete Jana ihm bei. »Er ist ein sonderbarer Mensch. Allein das mit seinem Butler!« Sie schüttelte den Kopf.

Tobias lachte. »Ja, verrückt. Und ich weiß nie, wann er etwas ernst meint und wann er einen Scherz macht. Einen wie ihn habe ich noch nie kennen gelernt. Doch ich mag ihn.«

»Ja, man muss ihn einfach mögen«, gab Jana zu und füllte Unsinns Schale mit frischem Wasser. »Aber ein verrückter Kerl ist er schon. Allein wie er gekleidet ist. Dabei ist er doch ein Lord und wohnt in so einem Palast, der bestimmt mehr Räume hat, als ich zählen kann.«

Sadik nickte mit einem versonnenen Lächeln. »Dass er kein armer Mann und ein reiselustiger Sonderling mit einem aufrechten Charakter ist, wusste ich. Doch dass so die andere Seite seiner Welt aussieht, ahnte ich noch nicht einmal. Denn darüber verlor er nie auch nur ein Wort, was ihn angesichts von Mulberry Hall und seiner gesellschaftlichen Stellung noch höher in meiner Achtung steigen lässt. Nun ja: Nur der Neunmalkluge kehrt leer vom Markt zurück.«

»Gebe es Allah, dass er auch so klug war, Wattendorfs Brief und den Gebetsteppich gut zu verwahren!«, hoffte Tobias inständig. »Wir haben eine Menge auf uns genommen, um nach Mulberry Hall zu gelangen!«