20
»Dad is in der Hütte, draußen auf’m Hof, M’lord.« Der Schmied legte seinen Blasebalg beiseite und winkte Martin und Amanda mit diensteifriger Geste zu sich herein. »Wird sich freuen, Euch zu sehen. Gerade in den letzten Jahren hat ihm diese alte Geschichte doch ganz schön auf dem Gewissen gelastet. Wenn’s Euch nichts ausmacht, einfach nach hinten durchzugehen? Er ist in letzter Zeit ein bisschen wackelig auf den Beinen.«
»In Ordnung, das machen wir, Dan. Ich kann mich noch ganz gut an den Weg erinnern. Lass deine Arbeit besser nicht auskühlen.« Mit einem Nicken deutete Martin auf das glühende Hufeisen, an dem der Schmied gearbeitet hatte.
»Ja - nun gut, da habt Ihr zweifellos Recht.«
Amanda und Martin durchquerten den Hof hinter der Schmiede. Plötzlich ging Martin langsamer und schaute in die Ferne. Amanda folgte seinem Blick zu dem Steilhang hinauf. Froggat Edge war deutlich zu erkennen. Und dennoch war es noch eine gewisse Entfernung - könnte also irgendjemand von hier aus tatsächlich mit Sicherheit sagen, was er dort oben gesehen hatte?
»Die Menschen auf dem Land haben von jeher scharfe Augen«, murmelte Martin.
»Hmmm.« Amanda ging mit ihm im Gleichschritt, als sie auf das Cottage zuhielten, das an den kopfsteingepflasterten Innenhof grenzte.
Martin klopfte an die Tür. Eine dralle junge Frau öffnete ihm. Überrascht riss sie die Augen auf, als er ihr seinen Namen nannte und darum bat, Conlan sehen zu dürfen.
»Gütiger Gott!« Sofort sank sie in einem kleinen Knicks vor ihm nieder. »Mylord, ich -« Sie schaute in den Raum hinter sich.
»Wer ist denn da, Betsy?«
Martin hob die Brauen. Ein wenig verwirrt wischte Betsy sich die Hände an ihrer Schürze ab und winkte Martin und Amanda herein.
»Es ist Dexter, Conlan.«
Der alte Mann in dem Armlehnensessel neben dem Kamin kniff die Augen zusammen und blinzelte in Richtung der Tür. Schließlich entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. »Eure Lordschaft? Seid es wirklich Ihr?«
»Ist der Tat. Ich bin es.«
»Gott sei’s gedankt!« Conlan kämpfte sich auf die Beine und verbeugte sich. »Willkommen zu Hause, M’lord. Und ich danke Gott, dass ich’s Euch endlich sagen kann. Es wart nicht Ihr, den ich damals gesehen habe.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?« fragte Martin, nachdem sie sich alle gesetzt und Betsy die Tür geschlossen hatte. »Ich kann es ja verstehen, wenn du dir nicht ganz sicher bist, ob du nun mich gesehen hast oder irgendjemand anderen. Aber wie kannst du dir so sicher sein, dass ich es in jedem Fall nicht war? Auf die Entfernung kannst selbst du unmöglich die Gesichtszüge eines Menschen erkennen.«
»Stimmt schon, da habt Ihr natürlich Recht. Aber es waren ja auch nicht die Gesichtzüge, weshalb ich weiß, dass Ihr es nicht wart.« Conlan ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken und versuchte, sich zu erinnern. »Lasst mich Euch alles so erzählen, wie’s war, dann werdet Ihr verstehen, wie diese Verwechslung zu Stande kommen konnte.«
Mit einem knappen Nicken ließ Martin Conlan wissen, dass er einverstanden war.
»Ich hab die beiden oben auf der Klippe gesehen, wie sie gekämpft haben und miteinander rangen. Und dann sah ich, wie der junge Gen’leman den alten Buxton runtergestoßen hat. Ich wusste, dass der eine Buxton war, weil der seine gelb gestreifte Weste anhatte. Ich bin gleich losgerannt und hab auch Simmons und Tucker und Morrissey mitgenommen. Und ein paar andere sind auch noch mit, als wir den Steilhang hochliefen. Tucker hatte gefragt, wer Buxton gestoßen hätte. Ich sagte, es wär ein junger Gen’leman gewesen, der so aussah wie Ihr. Na ja, Ihr wart ja außerdem auch der einzige junge Gen’leman, den wir hier in der Gegend hatten. Wir alle wussten, wie Ihr aussaht, selbst von weitem. Und ich bin auch heute noch bereit, einen Eid darauf zu schwören - der Gen’leman, der Buxton runtergestoßen hat, sah genauso aus wie Ihr. Mehr hatte ich in dem Moment aber erstmal nicht gesagt. Ich hab nur das behauptet, was ich auch mit Sicherheit wusste. Und dann haben wir Euch gefunden, und alles passte zusammen. Ihr wart es. Auch wenn Ihr hinterher gesagt habt, Ihr wärt es nicht gewesen... Aber was sollten wir denn denken, als Ihr da mit dem Stein in der Hand gestanden habt und Buxton tot vor Euern Füßen lag?
Also haben wir Euch zu Euerm Da’ geschleift, und der hat dann ganz schnell gehandelt - das war ein Schock, das kann ich Euch aber sagen! Wir hätten nie gedacht, dass er gleich so aus der Haut fahren und Euch so kurzerhand und ohne viel Federlesens aus dem Land jagen würde. Aber da war die Sache auch schon beschlossen... Irgendwann sind wir dann alle wieder nach Hause gegangen.« Mit einem knappen Nicken deutete er zum Fenster hinüber. »Genau da hab ich gesessen und hab gehört, wie die Kutsche vorbeigerattert ist, die Euch nach Süden gebracht hat.«
Conlan seufzte. »Ich hab dann versucht zu schlafen, aber irgendwas hat mir keine Ruhe gelassen, hat mich einfach nicht losgelassen. Im Geiste habe ich das alles immer wieder und wieder vor mir gesehen, hab den Gen’leman gesehen, der Buxton bis an den Rand der Klippe drängte und ihn dann schließlich hinunterstieß. Und Buxton war ja kein Narr gewesen - so dicht an den Rand der Klippe wär der von allein nie gegangen. Der andere musste ihn richtig mit Gewalt rückwärtsdrängen, und natürlich hat Buxton sich nicht so einfach an den Abgrund schieben lassen... und genau das war der Moment, als mir klar wurde, dass wir da alle irgendwas falsch gedeutet hatten.«
Martin runzelte die Stirn. »Wie das? Woran genau hast du dich erinnert?«
»Es war die Reitpeitsche, die der Gen’leman bei sich hatte. Mit der hat er auf Buxton eingeschlagen. Ich hab es genau gesehen. Hab gesehen, wie der Gen’leman mehrmals den Arm gehoben und wieder runtergerissen hat und wie Buxton die Arme hoch hielt, um seinen Kopf zu schützen. Und genau da hat der Gen’leman Buxton bis an den Abgrund gedrängt und ihn über die Klippe gestoßen. Ich hab noch beobachtet, wie der Herr dastand und mit der Peitsche noch immer in der Hand zu Buxton runterspähte.«
Conlan seufzte. »Damit war klar, dass Ihr es nicht wart. Dass Ihr es nicht gewesen sein konntet.«
Amanda blickte Martin ins Gesicht und erkannte, wie der düstere Schleier, der - solange sie ihn kannte - immer über seinen Zügen gelegen hatte, sich ein wenig lüftete. Sie wandte sich zu Conlan um. »Und wieso hat ausgerechnet das dich davon überzeugt, dass es nicht Seine Lordschaft gewesen sein konnte, den du da oben auf dem Felsvorsprung gesehen hattest?«
Conlan blinzelte sie an. »Die Peitsche. Er hat nie eine Peitsche benutzt. Niemals. Noch nicht einmal, als er das erste Mal auf einem Pony gesessen hat. Wir alle kannten ihn doch schon, seit er noch ein kleines Kind gewesen war. Und wir hatten ihn die ganzen Jahre über reiten sehen. Aber er hatte nie eine Peitsche dabeigehabt. Nach dem, was Smithers gesagt hat, also der Erste Stallbursche in dem Herrenhaus, hatte der Master auch nie eine besessen.«
Damit drehte Conlan sich zu Martin um. »Und da wusste ich es. Und Ihr könnt Euch sicher sein, dass ich das auch allen anderen erzählt hab. Gleich am nächsten Morgen bin ich zum Herrenhaus, aber da wollten sie mich nicht zu Eurem Da’ reinlassen. Ich hab versucht, ihnen das alles zu erklären, aber es war gerade ein ungeheures Tohuwabohu in Eurem Heim. Dann hab ich noch mal mit dem alten Canter geredet - und der hat dann versucht, mit Eurem Da’ zu sprechen, aber es sah ganz so aus, als ob man allen dort verboten hätte, jemals wieder Euren Namen auszusprechen. Canter hatte es wirklich versucht, aber Seine Lordschaft wollte nicht auf ihn hören.
Letztendlich hab ich mir dann gesagt, dass ich wirklich mein Bestes versucht hatte. Und trotzdem hat mich die Sache nicht mehr losgelassen. Darum bin ich dann irgendwann sogar bis nach Buxton, also in das Dorf Buxton, gelaufen, und hab da mit Sir Francis geredet. Aber der sagte mir dann, dass Euer Vater der Friedensrichter des Bezirks hier wäre und dass er selbst, Sir Francis, darum keinen Weg sähe, wie er in dessen Entscheidung eingreifen sollte. Er sagte mir, dass Euer Da’ zweifellos seine Gründe gehabt haben müsste, und dass ich mich da nicht mehr einmischen sollte.«
Conlan hielt einen Augenblick lang inne, dann fuhr er fort: »Und dabei war es dann auch geblieben. Zehn Jahre hab ich darauf gewartet, Euch das nun von Angesicht zu Angesicht erzählen zu können. Ich dachte mir, dass Ihr schon irgendwann wieder zurückkehren würdet, dass Euer Vater seine Entscheidung vielleicht doch noch einmal überdenken würde - besonders, als Eure Mutter starb.« Fragend blickte er zu Martin auf.
»Sie wussten nicht, wo ich mich aufhielt. Sie konnten mich also gar nicht zurückrufen.« Martin klopfte Conlan auf die Schulter. »Danke, dass du mir das alles erzählt hast.«
Damit erhob er sich; er konnte es plötzlich nicht mehr aushalten in der engen kleinen Kate, hatte das dringende Bedürfnis, hinauszukommen. Irgendwo nach draußen, wo er Luft schöpfen konnte, wo er nachdenken konnte, wo er versuchen konnte, das alles zu verstehen. Sein Lächeln wirkte ein wenig angestrengt, als er sich schließlich von Conlan und Betsy verabschiedete. Amanda spürte seine innere Anspannung; betont unbekümmert plaudernd schritt sie als Erste wieder durch die Tür hinaus.
Martin winkte Dan noch einmal kurz zu, hielt aber nicht mehr an, sondern marschierte einfach weiter, eilte mit weit ausholenden Schritten die Straße entlang. Amandas Röcke raschelten leise, als sie sich bemühte, mit Martin Schritt zu halten. Schließlich packte sie ihn fest am Arm, um ihn dazu zu bewegen, einen Augenblick zu warten - musste aber regelrecht an ihm zerren, bis er endlich stehen blieb.
Abrupt hielt Martin inne und wirbelte zu ihr herum.
»Geh doch bitte mal ein bisschen langsamer!« Mit ärgerlich zerfurchter Stirn sah sie ihn an. »Du hast es doch gehört - du bist unschuldig!«
Martin schaute zu ihr hinab. »Das wusste ich von Anfang an.«
»Aber du warst auch in den Augen der Menschen hier nie der Schuldige.« Aufmerksam musterte sie sein Gesicht. »Bedeutet dir das denn gar nichts?«
»Doch. Das bedeut mir schon etwas«, stieß Martin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dann atmete er einmal tief durch und ließ den Blick über ihren Kopf hinwegschweifen. »Nur... nur, dass ich nicht weiß, was genau es mir bedeutet.« Er fuhr sich einmal mit der Hand über das Gesicht, stieß einen Fluch aus und wirbelte dann wieder herum.
Doch schon war Amanda wieder an seiner Seite. »Was soll denn das nun wieder heißen?« Eilig neben ihm hermarschierend, blickte sie ihn von der Seite an. »Was meinst du damit, dass du nicht weißt, was dir diese Neuigkeit bedeutet?«
»Ich will damit doch bloß sagen -« Martins gesamte Welt schien plötzlich vor seinen Augen zu zerfallen. »Ich -« Er fand einfach nicht die richtigen Worte, um zu beschreiben, was für eine grundlegende Veränderung diese Nachricht in seinem Denken ausgelöst hatte. Wieder stieß er einen Fluch aus, nahm Amanda beim Arm und zog sie an den Pferden vorbei. Erst vor der steinernen Mauer, die den Friedhof umgab, blieb er wieder stehen. Und drehte Amanda zu den Felsen um.
»Sieh dir mal Froggat Edge an. Wir haben jetzt so ziemlich die gleiche Uhrzeit wie auch an jenem bewussten Tag. Und es ist auch die gleiche Jahreszeit, und es herrschen die gleichen Lichtverhältnisse. Jetzt stell dir mal vor, wie ich da oben stehe. Und dann stell dir Luc vor. Würdest du - könnte uns irgendein beliebiger Beobachter miteinander verwechseln?«
Amanda starrte zu der Felskuppe hinauf. Dann blickte sie Martin an. »Du denkst, es war Luc?«
»Ich wüsste nicht, wem Sarah sich sonst hingegeben haben sollte. Andererseits hat Luc nie eine Peitsche bei sich getragen, genauso wenig wie ich.«
Seite an Seite saßen Amanda und Martin auf der steinernen Mauer, während er ihr von der Zeit vor seiner Verstoßung erzählte.
»Luc kannte sie ebenfalls. Zwar nicht so gut wie ich, aber... na ja, eben gut genug. Und er war schon immer umwerfend attraktiv. Ich könnte mir also durchaus vorstellen, dass da etwas zwischen den beiden gewesen war. Außerdem hatte Luc zuvor die Weihnachtstage in Hathersage verbracht und war an dem besagten Tag, als der Mord geschah, auch noch etwas vor mir von London aus hierher aufgebrochen. Ich weiß also, dass er vor mir hier zu Hause angelangt war. Und ebenso wie ich, wird wahrscheinlich auch er gleich nach seiner Ankunft von Sarahs Tod erfahren haben. Er hatte also durchaus die Gelegenheit, zu tun, was getan werden musste. Ich denke, sein Motiv müsste in etwa das Gleiche gewesen sein, wie sie es auch mir unterschieben wollten.« Er verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. »Und wenn man mich damals schon als ›wild‹ betitelt hatte, dann war Luc aber mit Sicherheit noch wilder.«
Amanda nickte. »Ich weiß. Du vergisst, dass ich ihn schon seit meiner Geburt kenne. Aber warum ist dir das nicht schon eher eingefallen? Ich meine, Conlan sagte doch von Anfang an, der Mörder hätte ausgesehen wie du -«
»Ich dachte, Conlan hätte sich eben geirrt. Wäre ja auch nicht allzu verwunderlich gewesen. Der Irrtum ist damals vielen unterlaufen.«
»Du meinst, dass man dich und Luc miteinander verwechselt hätte?«
Martin nickte. »Wir sehen uns ja selbst jetzt noch ziemlich ähnlich, aber damals... damals war es wohl noch leichter, uns, wenn man nur flüchtig hinsah, miteinander zu verwechseln. Nur... erst als mir Conlan gerade eben noch mal die ganze Szene beschrieben hat, ist mir die Sache mit dem Licht aufgefallen.«
Amanda schaute erneut zu dem Felsvorsprung hinauf. »Herrschte damals das gleiche Licht wie jetzt?«
»Ja. Der Himmel war klar, und der gesamte Edge war in schwaches Sonnenlicht getaucht. Und mal abgesehen von der Peitsche, kann ich mir nicht vorstellen, dass Conlan nicht aufgefallen wäre, wie unterschiedlich unsere Haarfarben sind - zumindest bei diesem Licht müsste das wirklich aufgefallen sein.«
»Was wiederum bedeutet, dass es wohl doch nicht Luc war.« Amanda drehte sich zu Martin um. »Aber wer denn dann...?« Sie verstummte. Dann dämmerte ihr die Erkenntnis; erstaunt riss sie die Augen auf. »Ein Gentleman, der genau so aussieht wie Ihr.« Sie packte Martin am Arm. »Der Straßenräuber!«
Der missbilligende Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er diese Verbindung längst schon selbst hergestellt hatte - und dass er sich gewünscht hätte, Amanda wäre etwas weniger scharfsinnig. Doch Amanda ignorierte seinen mürrischen Blick ganz einfach. »Und genau darum hat er gestern auch an der Kreuzung gewartet. Er wollte nicht Reggie treffen sondern dich, aber…« Sie runzelte die Stirn. »Woher soll er denn gewusst haben, dass du auf dieser Straße in Richtung Norden reisen würdest?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich möchte doch ernsthaft bezweifeln, dass Reggie das Ziel gewesen ist.«
»Reggie sagte, dass der Schuss in genau dem Moment gefallen wäre, als er sich ein bisschen vorgebeugt hätte.«
»Außerdem hat der ›Straßenräuber‹ sich sein Opfer nach dem Schuss nicht mehr angesehen, sodass wir jetzt nicht sagen können, ob er wohl weiß, dass er auf den Falschen geschossen hat.«
»Aber warum will er dich denn überhaupt umbringen?«
»Um mich daran zu hindern, die Ereignisse um Buxtons Tod noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen - und natürlich auch die näheren Umstände von Sarahs Tod.« Einen Moment lang verharrte Martin in Schweigen. Dann sprang er plötzlich von der Mauer. »Komm mit. Es gibt da noch eine andere Person, mit der wir sprechen müssen.«
Mrs. Crockett starrte Martin lange an. Schließlich trat sie beiseite. »Kommt herein. Ich müsste schon lügen, wenn ich behaupten würde, dass es’ne Überraschung für mich ist, Euch wiederzusehen.«
Amanda warf Martin einen raschen Blick zu. Gelassen schob er sie vor sich her und folgte ihr schließlich in das kleine Wohnzimmer der Kate. Mrs. Crockett winkte sie zu einem Sofa hinüber; sie selbst ging zu einem Schaukelstuhl, der noch immer sanft vor sich hin wippte.
»Nun denn.« Sie warf ihren Gästen über die Feuerstelle hinweg einen scharfen Blick zu. »Ich muss gestehen, dass ich dachte, Ihr wärt es gewesen, der den alten Mann in den Tod stieß. Zumal, wenn man bedenkt, dass sie Euch mit dem Stein in der Hand fanden. Und mit dem Temperament, das Ihr damals hattet, wärt Ihr zu der Tat wohl auch durchaus im Stande gewesen - verdammt selbstgerecht wart Ihr, genauso wie Euer Dad. Und es hätte Euch auch sehr ähnlich gesehen, sofort zu Sarahs Verteidigung anzurücken. Aber dann sagte Conlan, dass Ihr es wohl doch nicht gewesen wärt. Und es gibt keinen hier in der Gegend, der schärfere Augen hat als Conlan - zumindest damals nicht.«
Langsam begann sie wieder zu schaukeln, und ihr Blick schweifte in die Ferne. »Die Wahrheit ist, dass es mir nicht sonderlich leidtat, den alten Buxton tot zu sehen. Nicht nach dem, was er getan hatte. Auf seinem Haupt lasteten die Sünden der Väter. Es geschah ihm also nur recht. Aber«, abrupt hielt sie in ihrem Schaukeln inne und unterzog Martin einer eindringlichen Musterung, »aber zu einer Sache wärt Ihr nicht fähig gewesen, das wusste ich genau: Ihr hättet es niemals über Euch gebracht, meine Sarah auszunutzen oder ihr gar Gewalt anzutun.«
Ihre Stimme hatte einen bitteren Tonfall angenommen. »Ich hatte versucht, ihnen zu sagen, dass Ihr es nicht gewesen sein konntet. Aber alle dachten, mit dem Mord an Buxton hätte sich der Kreis geschlossen. Jeder wusste, dass Sarah, wenn Ihr nur gewollt hättet, sofort die Eure gewesen wäre. Ihr hättet bloß nach ihr zu pfeifen brauchen.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber Ihr habt sie ja nie auf diese Art und Weise gesehen, wie sie Euch ansah. Zumindest ist mir das nie aufgefallen. Ihr hattet ja keinerlei Brüder oder Schwestern - sie war also so etwas wie eine kleine Schwester für Euch.«
»Ja.«
»Recht so.« Mrs. Crockett zog ihren Schal noch etwas enger um sich. »Diese Schwachköpfe, alle miteinander. Wie konnten sie nur denken, dass Ihr es gewesen wärt. Ich wusste es besser. Denn ich hatte auch Sarahs Verletzungen gesehen.«
Amanda spürte, wie Martin mit einem Mal ganz still wurde, wie der ganze Raum den Atem anzuhalten schien. Dann fragte Martin leise: »Verletzungen?«
Mrs. Crocketts Lippen zuckten, dann platzte sie heraus: »Wer auch immer dieser Mann gewesen sein mag - er hat sie gezwungen, hat ihr Gewalt angetan. Ich habe die blauen Flecken gesehen. Ja, und ich hab auch gesehen, wie sie sich veränderte. Vorher hat sie so viel gelacht und war immer fröhlich gewesen. Dann, einen Tag später, konnte ich sie kaum mehr dazu bewegen, mich auch nur anzusehen. Die ganze Nacht über hat sie geweint. Aber damals habe ich ja noch nicht gewusst, was passiert war. Außerdem hat sie ja auch nie viel Aufhebens um irgendetwas gemacht, meine Sarah. Und mit so einem Vater, wie sie ihn hatte, war das ja wohl auch kein Wunder, oder?«
Sie schaukelte immer heftiger und warf Martin einen stechenden Blick zu. »Wenn Ihr nur hier gewesen wärt, dann hätte ich Euch Bescheid geben können. Vielleicht hättet Ihr sie ja dazu bewegen können zu erzählen, was passiert war. Aber mir wollte sie ja nichts sagen, ganz unabhängig davon, was ich ohnehin schon wusste.«
»Man hat sie gezwungen.« Martins Stimme klang überraschend ruhig und beherrscht. »Seid Ihr Euch da auch wirklich sicher?«
Mrs. Crockett nickte. »So wahr ich hier sitze. Es war am zweiten Januar, zwei Tage nach dem Ball im Herrenhaus.«
Schweigen senkte sich über das Zimmer. Schließlich fragte Amanda: »Ihr sagtet, Ihr wärt Euch sicher, dass es nicht Martin gewesen sein könnte.«
Mrs. Crockett blickte sie unverwandt an. »Das liegt doch klar auf der Hand, oder etwa nicht? Wenn er« - damit nickte sie zu Martin hinüber - »Sarah gewollt hätte, dann hätte er es bloß zu sagen brauchen. Er hätte sie nicht zwingen müssen.« Eindringlich schaute sie Martin an, und ihre Lippen bebten. »Aber selbst wenn Sarah ihn nicht gewollt hätte, hätte er ihr ganz sicher keine Gewalt angetan - zumal es hier ja noch genug andere junge Mädchen gab, die sich nur allzu gerne mit ihm eingelassen hätten. Das könnt Ihr mir glauben. Aber meine Sarah hatte überall blaue Flecken, dicke, schwarzblaue Blutergüsse, den ganzen Rücken runter. Dieser Lump hatte sie auf die Felsen geworfen, um sich an ihr vergehen zu können.« Mrs. Crockett deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf Martin. »Er war’s jedenfalls nicht.«
Martin rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Amanda spürte, dass er seine Wut nur noch schwer unter Kontrolle halten konnte; es schien so, als ob sie jeden Augenblick aus ihm herausbrechen könnte. Dennoch sprach er mit ruhiger Stimme, als er fragte: »Und hat sie irgendetwas gesagt? Vielleicht irgendeine Andeutung darüber fallen lassen, wer es war?«
Mrs. Crockett schüttelte den Kopf. »Nie. Denn das hätte ich sicher nicht vergessen, wenn sie irgendetwas gesagt hätte. Das könnt Ihr mir glauben.« Einen Moment später fuhr sie, den Blick in die Flammen gerichtet, fort: »Ich weiß noch, wie sie irgendwann, als es sich nicht mehr umgehen ließ, all ihren Mut zusammennahm und vor ihren Vater trat. Sie hat versucht, ihm das alles zu erklären. Aber er?« Mrs. Crockett schnaubte verächtlich. »Er hat sie in ihrem Zimmer eingesperrt. Ja, genau das hat er getan. Und dann ging es los mit den Schlägen und den Litaneien.«
Schwer lastete die Stille über ihnen. Abermals war Amanda es, die als Erste wieder das Wort ergriff: »Hat er sie denn wirklich gezwungen, sich das Leben zu nehmen?«
»Er hat sie sogar quasi selbst umgebracht - sicherlich, den Knoten in ihrem Strick hat er wohl nicht eigenhändig geknüpft. Aber er hat schon Sorge dafür getragen, dass sie es tat! Er hat ihr überhaupt keine andere Wahl gelassen - keine.« Mrs. Crockett schlang die Arme um sich und schaukelte unentwegt vor und zurück, vor und zurück. »Wenn sie doch bloß ein Tagebuch geführt hätte... Aber das hat sie nie getan.«
Amanda und Martin verließen die alte Frau, die unentwegt weiter in ihrem Stuhl schaukelte, und traten hinaus in die Gegenwart, in die Sonne und das Licht.
Amanda schwieg, während sie gemeinsam zum Haus zurückritten. Allie brauchte nur einen einzigen Blick in Martins Gesicht zu werfen, um zu erahnen, was ihn bewegte. Rasch wies sie die beiden an, dass sie sich auch ebenso gut bereits zum Mittagessen fertigmachen könnten. Sie servierte ihnen die Mahlzeit im Salon, der nun wieder tipptopp hergerichtet war. Mehrere Male sah sie Amanda forschend an, doch sie beherrschte sich und stellte keinerlei Fragen.
Allerdings berichtete sie ihnen, dass Reggie seine Mahlzeit schon etwas eher eingenommen habe und nun in seinem Zimmer ein Schläfchen hielte. »Sieht schon wesentlich besser aus, und von Fieber gibt es auch keine Spur.«
Froh und erleichtert über diese Nachricht, schob Amanda am Ende der Mahlzeit ihren Stuhl zurück. »Und jetzt komm, mein Lord und Graf, und führe mich durch deine Ahnengalerie.« Martin erhob sich, sah Amanda aber mit zynisch hochgezogener Braue an. »Das machen Gentlemen doch so, wenn sie ihre potenziellen Ehefrauen beeindrucken wollen, oder etwa nicht?«, fragte sie schelmisch.
Martin betrachtete sie aufmerksam, während er langsam auf sie zutrat. »Du bist so leicht zu durchschauen wie Glas.«
Sie lächelte nur und hakte sich bei ihm ein. »Und du willst dich wohl über mich lustig machen.«
Die Porträts hingen allesamt auf der Galerie am oberen Ende der Haupttreppe. »Gehe ich recht in der Annahme«, fragte Amanda, als sie die Treppe hinaufstiegen, und warf ihm dabei einen flüchtigen Blick zu, »dass du die Sache nach deiner Rückkehr nach England vor allem deshalb nicht mehr weiter verfolgt hast, weil du im Grunde immer davon ausgegangen bist, dass Luc der Schuldige war?«
Martin antwortete nicht sofort. Erst als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, drehte er sich zu ihr um und entgegnete: »Ich wusste nicht, was ich denken sollte - ich wusste es ganz zu Anfang nicht und auch später nicht. Luc und ich... Bis zu dem bewussten Zeitpunkt hatten wir uns sogar noch nähergestanden als Brüder. Wir waren zusammen aufgewachsen, unsere Mütter waren Schwestern, wir waren zusammen in Eton zur Schule gegangen, dann machten wir uns gemeinsam daran, London zu erobern...« Er zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Nein, zu der Schlussfolgerung, dass Luc der Schuldige wäre, bin ich, ehrlich gesagt, nie gekommen. Ich habe es für möglich gehalten, ja, aber weiter hab ich eigentlich nie gedacht.«
»Und wenn du ihn damals schon nicht verdächtigt hast, dann jetzt wohl erst recht nicht, oder?«
»Nein - ganz sicher nicht. Conlan hatte viel zu gute Augen. Und was diese Sache angeht, dass man Sarah Gewalt angetan hat…« Seine Lippen verzogen sich zu einem sarkastischen Grinsen, als er Amanda anblickte und fortfuhr: »Du kennst doch Luc. Der wird Frauen gegenüber doch höchstens dann einmal energisch, wenn es darum geht, sie sich vom Halse zu halten.«
Amanda schnaubte verächtlich, »Ja, das stimmt allerdings. So etwas passt wirklich nicht zu ihm. Also, wer sonst könnte es gewesen sein?« Damit betraten sie die Galerie.
»Tja, die Antwort auf diese Frage wird dich jetzt wohl überraschen - aber sieh selbst.« Martin führte sie zu den Porträts hinüber.
Allie war in der Zwischenzeit wirklich fleißig gewesen; die Vorhänge an den Fenstern waren zurückgezogen und mit ihren Kordeln fixiert worden. Hell strömte das Licht herein, Staubkörnchen glitzerten in der Luft und tanzten an den Bildern vorüber, die in exakt ausgerichteten Reihen entlang der Wand hingen.
»Fangen wir doch am besten gleich mit dem alten Henry an, dem allerersten Grafen von Dexter.« Martin führt Amanda zu einem Porträt hinüber, auf dem ein barsch aussehender Gentleman zu sehen war, der gemeinsam mit einer Schar Spaniel posierte, die allesamt bewundernd zu ihm aufschauten. »Es heißt, dass er seine Hunde sogar noch lieber mochte als die Gräfin an seiner Seite. Das ist sie.«
Amanda ließ ihren Blick zu dem benachbarten Gemälde hinüberschweifen - dem Bild einer streng dreinblickenden Dame mit eisgrauem Haar und verkniffenen Gesichtszügen. »Hmmm.«
Sie schlenderten weiter, bis sie bei einem Porträt ankamen, das offenbar etwas jüngeren Datums war. »Das ist mein Großvater, der dritte Graf.«
Das Bildnis war offenbar in der Blüte seiner Jahre angefertigt worden. Amanda betrachtete es sehr eingehend, blickte immer wieder mit einem leichten Stirnrunzeln zwischen Martin und dem Bild hin und her. »Der sieht dir aber nicht sonderlich ähnlich.«
»Es sollte wohl eher umgekehrt heißen - ich sehe ihm nicht sonderlich ähnlich.« Martin blickte Amanda in die Augen. »Was die Gesichtszüge angeht, komm ich auch wesentlich mehr nach meiner Mutter.«
Damit wies er mit einer Kopfbewegung in Richtung des Endes der Galerie, und sie schritten weiter an diversen Fulbridges entlang; jedes der Porträts, besonders die der männlichen Familienmitglieder, schien Martins Worte noch zu bestätigen. Die Fulbridges wiesen eine deutlich andere Kopfform auf als Martin, die Stirn wirkte niedriger, die Kinnpartie schien nicht ganz so kantig geschnitten und wie gemeißelt. Insgesamt waren die Züge der Fulbridges eher das Gegenteil von Martins, und, was noch auffälliger war, auch ihr Körperbau war anders, nämlich eher stämmig-untersetzt und mit leicht hängenden Schultern. Und dieser Linie waren sie wahrlich treu geblieben; vom ersten Grafen bis hin zum letzten, Martins Vater.
Amanda blieb vor dem Porträt des letzten stehen. Martin brauchte ihr nicht erst zu sagen, wer darauf zu sehen war. Sie wusste es auch so, merkte es daran, wie still Martin auf einmal wurde, erkannte es an dem düsteren Schatten, der sich plötzlich über seinen Blick zu legen schien. Sie betrachtete das Bild des Mannes, der seinen Sohn verstoßen hatte - und das auch noch ganz ohne Grund, wie es jetzt den Anschein hatte. Das Gesicht auf dem Gemälde hatte einen sehr ernsten, fast strengen Ausdruck, und, ja, es strahlte auch ein gewisses Maß an Selbstgerechtigkeit aus, doch es ließ keinerlei Anzeichen von Grausamkeit oder Boshaftigkeit erkennen.
Mit einem leichten Stirnrunzeln ließ Amanda ihren Blick weiterwandern - und war geradezu gefesselt von dem nächsten Bildnis. Es schien ihre Aufmerksamkeit wie magisch anzuziehen. »Deine Mutter?«, fragte sie und blieb unmittelbar vor dem Gemälde stehen, während sie immer wieder zwischen den drei dort portraitierten Gesichtern hin- und herschaute.
»Und ihre Schwester.«
»Lucs Mutter - ich weiß. Auf dem Bild sieht sie noch so jung aus.«
»Damals waren sie ungefähr Anfang zwanzig.«
Martin hatte gesagt, dass er mehr nach seiner Mutter käme, und bis zu einem gewissen Grad stimmte das auch. Die Ähnlichkeit war unverkennbar und doch ein wenig gedämpft durch die männlichen und weiblichen Grundzüge des jeweiligen Gesichts. Dennoch erkannte Amanda, was Martin mit dieser Bemerkung gemeint hatte. Sie deutete auf den Mann, der zwischen den beiden Mädchen und damit zugleich hinter dem Tisch stand, an den sie, je eine rechts und eine links, platziert worden waren. »Und wer ist das?«
»Mein Onkel, ihr älterer Bruder.«
Der Mann war, wenn auch nicht unbedingt die exakte Kopie von Martin, so doch quasi eine Art Abbild, das dem Original ziemlich nahe kam. Sie ähnelten einander sogar so sehr, dass man nicht viel Vorstellungsvermögen brauchte, um sich auszumalen, wie man die beiden leicht miteinander verwechseln könnte; selbst auf eine relativ kurze Entfernung.
Amanda starrte das Gemälde an, nahm alles das, was das Bild ihr verriet, tief in sich auf - alles das, von dem Martin ganz offensichtlich gewollt hatte, dass sie es mit eigenen Augen sähe. Dann drehte sie sich zu ihm um und erwiderte seinen Blick aus achatfarbenen Augen. »Der Mörder ist ein Verwandter von dir, aber kein Fulbridge. Sondern jemand aus der Familie deiner Mutter.«
Als Martin nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Und dieser Jemand ist immer noch am Leben und will ganz offensichtlich verhindern, dass du diese alte Geschichte noch einmal unter die Lupe nimmst. Denn wenn du das tust, dann...«
Nach einem Moment des Schweigens beendete Martin den Satz, den Blick dabei tief in Amandas Augen gesenkt: »Dieser Jemand hatte gehofft, dass die Angelegenheit längst begraben und er in Sicherheit wäre - denn ich hatte den Fall ja auch in der Tat lange Zeit ruhen lassen. Selbst nach meiner Rückkehr nach London hatte ich erst einmal nichts mehr unternommen, um meine Unschuld zu beweisen und nach dem wahren Mörder zu suchen. Jetzt aber, da mein Interesse an dir kein Geheimnis mehr ist, hat offenbar auch der Mörder erfahren, dass ich offiziell um deine Hand angehalten habe. Und wer die Cynsters kennt, kann sich denken, dass ich das Wohlwollen deiner Familie nicht einfach so bekommen habe, sondern dass ich schwören musste, den alten Skandal zu bereinigen. Und damit ist ganz unerwartet plötzlich auch der Mörder wieder unter Zugzwang geraten.«
Amanda sah Martin fest in die Augen und nickte. »Also hat er zurückgeschlagen - und wollte in Wirklichkeit dich töten, als er Reggie erwischt hat.«
»Ja.«
»Meinst du, dass er das erkannt hat? Ich meine, dass er Reggie angeschossen hat und nicht dich?«
»Vielleicht. In jedem Fall musste er schleunigst wieder verschwinden und uns damit im Endeffekt entkommen lassen. Und hier kann er mich nicht noch einmal angreifen, das kann er nicht riskieren.«
Amanda blickte Martin mit gerunzelter Stirn an. »Warum denn nicht? Vielleicht kennt er sich hier ja aus -«
»Aber wenn er die Gegend hier kennt, dann kennen die Dorfbewohner auch ihn.« Als Amanda noch immer nicht so recht überzeugt schien, erklärte Martin ihr: »Wenn er hier gesehen würde, wenn man ihn erkennen würde, dann wäre mein Tod doch vollkommen nutzlos für ihn, weil man im Gegenzug ihn für den Mord an Buxton festnehmen würde. Bestände allerdings die Chance, dass er mich umbringen und gleichzeitig unbehelligt wieder fliehen könnte - dann wäre es für ihn wohl in der Tat einen Versuch wert. Höchstwahrscheinlich aber sagt er sich jetzt einfach, dass erst mal noch immer die Möglichkeit besteht, dass es mir trotz aller Anstrengungen überhaupt nicht gelingen wird, meinen Namen wieder reinzuwaschen. Und selbst wenn ich das schaffen sollte, wird es nach all den Jahren wohl keinerlei Beweise mehr geben, mit denen man den Mord an Buxton dann plötzlich ihm anhängen könnte.«
Martin verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Im Übrigen wird sich genau das nicht nur der Mörder gerade sagen, sondern so denke auch ich.« Damit nahm er Amandas Arm, zog ihn unter dem seinen hindurch und führte sie weiter die Galerie entlang.
Amandas ließ sich bereitwillig von ihm weiterziehen, während sie im Stillen die Fakten, die sie bisher zusammensammeln konnten, ordnete. Immer mehr Teilchen fügten sich in das Puzzle ein, das sie im Geiste vor sich sah. »Aber«, fuhr sie schließlich fort, »der beste und sicherste Weg, um dich vor der Gesellschaft wieder zu rehabilitieren - und das besonders nach all der Zeit -, wäre doch zu beweisen, dass jemand anderer der Mörder war.«
Martin zögerte, dann nickte er jedoch. »Ja, das wäre die effektivste Lösung der ganzen Angelegenheit. Und trotzdem gibt es vielleicht auch noch eine andere Möglichkeit.«
Sie blickte ihm offen ins Gesicht. »Hast du denn nicht dein Wort darauf gegeben? Ich meine, darauf, dass du den Skandal irgendwie wieder aus der Welt schaffen wirst?«
»Nicht direkt. Aber das war uns allen auch so klar, ohne dass ich es noch ausdrücklich betonen musste.«
»Na also!« Sie umfasste seinen Arm noch ein wenig fester und versuchte gar nicht erst, ihre Entschlossenheit in dieser Sache zu verbergen. Sie würde nichts und niemanden mehr zwischen sich und Martin treten lassen - und erst recht keinen Mörder. »Ich schlage vor, wir beginnen jetzt einfach mal mit der Suche nach einem deiner Verwandten mütterlicherseits, der der Richtige sein könnte - also einer, der in der fraglichen Zeit hier war, der Sarah kannte, und so weiter.«
Vor ihnen durchschnitt ein breiter Streifen grellen Sonnenlichts die von tanzenden Staubkörnchen erfüllte Luft der Galerie - abrupt blieb Martin stehen. »Wie gesagt, vielleicht gibt es ja auch noch eine andere Möglichkeit.«
Wieder musterte Amanda aufmerksam sein Gesicht. Dann hob sie fragend die Brauen. »Du glaubst doch wohl hoffentlich nicht, dass ich die Sache jetzt einfach auf sich beruhen lasse und mich quasi in dein Leben im Verborgenen einfüge?«
Martins Blick blieb unverändert mürrisch. »Aber, wer auch immer der Mörder ist - er hat mit Sicherheit auch eine Familie, die von ihm abhängig ist. Unschuldige Menschen, die unter dem sozialen Abstieg, der gesellschaftlichen Ächtung, wenn der Mörder enttarnt wird, schwer zu leiden haben werden.« Mit einem einzigen Blick bedeutete er Amanda, ihn jetzt nicht zu unterbrechen. Dann atmete er einmal tief durch und fuhr fort: »Sarah ist tot. Nichts kann sie mehr zurückbringen. Und was Buxton angeht, nun, das Unrecht, das ihm zugefügt wurde, zu vergelten, interessiert mich, ehrlich gesagt, weniger. Aber dennoch -«
»Moment, warte!« Amanda fuchtelte aufgeregt mit den Händen. »Geh im Geist noch einmal einen Schritt zurück. Du machst dir jetzt tatsächlich Gedanken darüber, dass du der Familie des Mörders schaden könntest, wenn du seine Identität enthüllst?«
Kaum wahrnehmbar zog Martin eine Braue hoch - ein Zeichen, das sie mittlerweile nur allzu gut zu deuten wusste. Und plötzlich erkannte sie das Problem, dass Lady Osbaldestone in ihrer Weisheit bereits vorausgeahnt hatte. Lady Osbaldestone hatte Martins Wesen von Anfang an mit all seinen Facetten begriffen. Sie hatte die sprichwörtliche Grube gesehen, die ein Mann mit einem Übermaß an Beschützerinstinkt sich leicht selbst schaufeln konnte. Und die alte Dame hatte auch vorhergesehen, dass dies das eigentliche Problem war, mit dem Amanda sich würde auseinandersetzen müssen, das sie überwinden musste. Und zwar hier und jetzt.
Unbeirrbar schaute Amanda Martin in die Augen. »Deine Familie hat dich ohne Grund verleugnet. Du hingegen, das weiß ich genau, würdest und könntest niemals irgendjemandem so rigoros den Rücken kehren, wie sie es getan haben. Du würdest jedes Opfer bringen, um deine Familie zu beschützen und alle, die dazugehören. Habe ich Recht?«
Martin runzelte die Stirn, trat unruhig vom einen Bein aufs andere.
»Wie auch immer«, fuhr Amanda sogleich fort, »in jedem Fall besteht das oberste Ziel, das du jetzt verfolgen musst, darin, die Zukunft des Hauses Fulbridge zu sichern. Und da gibt es auch keinen Vorwand und keine Ausrede, mit denen du dich vor dieser Pflicht drücken kannst. Du bist dazu erzogen und darauf gedrillt worden, diesem Ziel alles andere unterzuordnen«, Amanda holte einmal tief Luft, »und genau diese Zukunft deines Hauses liegt nun bei dir«, damit stupste sie ihn fest in die Brust, »bei mir und bei unseren Kindern.«
Bei diesem Stichwort verengte Martin die Augen sofort misstrauisch zu schmalen Schlitzen; Amanda errötete kurz, machte dann aber hastig eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, das, woran du gerade denkst, ist jetzt nicht das Thema.«
Die Tatsache, dass Martins Gesichtsausdruck immer strenger wurde, deutete jedoch darauf hin, dass die Kinder, die sie womöglich noch miteinander haben würden, für ihn durchaus ein Thema waren; Amanda erkannte seine Gedankengänge und wechselte rasch die Taktik. Ein wenig unschlüssig fuhr sie mit den Händen durch die Luft. »Denk doch mal nach. Dieser Mörder hat doch nun schon, wenn auch aufgrund einer Verwechslung, Reggie angeschossen. Was, wenn er zu dem Schluss kommt, dass er auch wirklich ganz sichergehen muss, dass du tot bist, und noch einmal versucht, dich zu erschießen - und dabei mich oder eines unserer Kinder trifft oder sogar uns alle zusammen! Was dann?«
Martins spöttische Miene verriet ihr, dass sie mit diesem Szenario wohl ein wenig übertrieben hatte, und dass er sehr genau wusste, an welchen seiner Instinkte sie gerade appellieren wollte. Die Augen noch immer betont weit aufgerissen, die Handflächen nach oben gekehrt, hielt sie seinem Blick stand. Denn selbst wenn das Bild, das sie da gerade gezeichnet hatte, doch etwas arg dramatisch war, so war Martins Beschützerinstinkt doch nichtsdestotrotz sehr leicht wachzukitzeln.
Gepresst stieß er den Atem aus. Und wandte den Blick ab.
Sie ergriff seine Hände, verflocht ihre Finger mit den seinen, spürte, wie sich seine Finger anspannten, die ihren festhielten. Schließlich hob er den Blick wieder in ihre Augen; sie schaute ihn an, offen und ohne jegliche Hintergedanken. »Die Zukunft deines Hauses liegt bei dir, bei mir und bei unseren Kindern. Und wenn du nun deine eigene Zukunft opferst, um irgendwelche anderen Mitglieder aus deiner Familie zu schützen, dann mag das ja noch angehen. Aber wenn du uns alle zusammen opferst...
Das wäre nun wirklich zu viel verlangt, niemand würde so etwas von dir erwarten. Das kann keiner von dir verlangen. Sicherlich, einige werden wohl unter dem, was nun ans Tageslicht kommen könnte, leiden müssen. Aber wir sind doch auch noch da und werden ihnen helfen - du und ich und auch all die anderen, die uns zur Seite stehen werden. Wir können ihnen helfen, das, was auf sie zukommen mag, durchzustehen. Aber du darfst den Mörder jetzt nicht mehr länger decken.« Amanda blickte ihm fest in die Augen und fügte dann ruhig hinzu: »Und, mal abgesehen von allem anderen, ist er deine Fürsorge, deine Rücksichtnahme doch auch gar nicht wert.«
Da standen sie nun, ihre Hände fest miteinander verschlungen, den Blick tief in die Augen des anderen gesenkt. Hell ergoss sich das Sonnenlicht über sie, wärmend und tröstend und erfüllt von der Verheißung von Heilung und Fülle und Glück, das in der Zukunft nur auf sie zu warten schien. Um sie herum schien das Haus sich mit einem Mal zu dehnen und zu recken, ganz so, als ob es aus einem langen Schlaf erwachte. Von irgendwo aus dem Untergeschoss drang Allies Stimme zu ihnen herauf, und man hörte das Geklapper von Besteck.
Martin atmete einmal tief durch, drückte abermals kurz Amandas Finger. Dann ließ er seinen Blick durch das Fenster nach draußen schweifen.
Amanda wartete, betete. Sie hatte ihm doch nun wirklich alles gesagt, was es zu sagen gab - oder etwa nicht?
»Er muss eines der Familienmitglieder sein, die über Weihnachten und Silvester jenes Jahres bei uns zu Besuch waren. Und zum Ostertreffen ist er dann noch einmal zu uns zurückgekehrt.« Martin schaute zu Amanda hinab.
Hoffnungsfroh und wie von einem inneren Strahlen erfüllt, erwiderte sie seinen Blick. »Und, kannst du dich noch daran erinnern …?«
Doch Martin schüttelte den Kopf. »Da gibt es mehr Kandidaten, die in Frage kommen, als du dir vorstellen kannst. Dieser Zweig der Familie ist riesig, und viele von ihnen waren regelmäßig bei uns zu Besuch. Jedes Jahr zu Weihnachten und Silvester, jedes Ostern und noch mindestens zweimal im Sommer. Wir hatten hier im Haus riesige Gesellschaften. Und häufig gab es mehr als siebzig Übernachtungsgäste.«
»Aber wer könnte es denn dann wissen? Allie?«
»Nein.« Nach einem Augenblick erklärte er: »Ich muss mich mal im Arbeitszimmer meines Vaters umsehen.«
Amanda wusste, dass er schon seit Jahren nicht mehr in diesem Raum gewesen war, und dass er ihn darum das erste Mal gerne allein betreten wollte. Sie lächelte ihn an. »Ich werde in der Zwischenzeit mal nach Reggie sehen. Und dann spreche ich mit Allie.«
Damit entzog sie ihm sanft ihre Finger, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn flüchtig auf die Wange. Martin nahm ihre Zärtlichkeit entgegen, wandte ihr aber sogleich das Gesicht zu, begegnete ihrem Blick, beugte den Kopf und legte seine Lippen auf ihren Mund.
In einem schlichten und doch fast schon schmerzhaft süßen Kuss.
»Komm zu mir, wenn du mit deiner Besprechung mit Allie fertig bist.«
Martin öffnete die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters, einem rechteckigen Raum, dessen Fenster nach Westen gingen und einen Ausblick auf die Felsklippen boten. Bis hierher war Allie mit ihrer Reinigungsaktion noch nicht vorgedrungen; es war dunkel, und alles im Raum schien von einer dünnen Staubschicht überzogen. Martin schritt zu den Fenstern hinüber, zog die Vorhänge auseinander - und stand dann einen Moment lang regungslos da und blickte nach unten, sah dem Fluss nach, der sich glitzernd Richtung Osten schlängelte.
Stille umgab ihn... und doch schien ihn aus dieser Stille heraus irgendetwas zu beobachten. War es bloß Einbildung, dass er plötzlich das Gefühl hatte, seinem Vater ganz nahe zu sein, so als ob dessen Gegenwart noch immer diesen Raum durchdränge, ein ganzes Jahr nach seinem Tod? Martin atmete einmal tief durch, rüstete sich innerlich für die Aufgabe, die nun vor ihm lag, und wandte sich um.
Er musterte den Mahagonitisch, den thronähnlichen Sessel dahinter, dessen Lederpolster so abgewetzt war, dass es schon glänzte. Er erkannte den Tintenlöscher wieder, auf dem noch ein paar alte Flecken zu sehen waren, während die Schreibfeder in ihrem Tintenfässchen längst ausgetrocknet war. Auf dem Tisch lagen keinerlei Papiere mehr. Alles war ordentlich weggeräumt worden. Nicht von ihm, Martin, sondern von dem Nachlassverwalter.
Er wusste noch nicht einmal, wo oder unter welchen Umständen sein Vater gestorben war, man hatte ihm damals nur mitgeteilt, dass dieser nicht mehr lebte. Martin erinnerte sich wieder an das Datum, und plötzlich fiel ihm auf, dass es auf den Tag genau ein Jahr nach dem Tod seines Vaters gewesen war, als er Amanda zum ersten Mal begegnet war.
Der Gedanke an sie und an all das, was sie gesagt hatte, ließ ihn das eigenartige Gefühl der Lähmung, das ihn hier in diesem Zimmer befallen hatte, wieder vergessen. Die Vergangenheit wich in eine erträgliche Entfernung zurück, und die Gegenwart rückte wieder in den Fokus von Martins Aufmerksamkeit.
Er ging um den Schreibtisch herum, zog den Stuhl hervor und setzte sich. Dann nahm er sich die Geschäftsordner und die Hauptbücher vor, die entlang der Wand aufgereiht standen. Einige der Bücher waren neueren Datums, doch alles schien seine Ordnung zu haben, und kein Band fehlte. Um seine Lippen erschien ein bitterer Zug - nein, natürlich fehlte kein einziger Band. Damit blickte er auf den Schreibtisch hinab, ignorierte den Staub und griff nach der ersten Schublade auf der linken Seite.
Schreibfedern, Bleistifte, verschiedener Krimskrams - und eine feine Schnitzerei, die Martin seinem Vater vor Jahren einmal als Geschenk überreicht hatte. Er erinnerte sich noch genau daran, und es wunderte ihn, dass sein Vater diese Schnitzerei trotz seines Hangs zu konsequenter Härte noch immer hier aufbewahrt hatte; ausgerechnet hier, wo er sie jeden Tag vor Augen gehabt hatte... Die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, schloss Martin die Schublade wieder und öffnete die nächste.
Darin fanden sich verschiedene alte Briefe, die im Laufe der Jahre schon ganz vergilbt waren. Es war ein ansehnlicher Haufen, der sich da angesammelt hatte. Neugierig nahm Martin die zu Bündeln zusammengeschnürten Schreiben heraus und blätterte sie durch …
Sie waren allesamt an ihn adressiert. Und in der Handschrift seines Vaters verfasst.
Martin starrte auf die Briefe. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was... Außerdem fragte er sich, wann sein Vater die wohl geschrieben haben mochte.
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Noch einmal öffnete er die oberste Schublade, zog einen Brieföffner heraus und schlitzte das erste Päckchen der zusammengebündelten Schreiben auf. Nach einem kurzen Blick auf das Datum öffnete er auch die anderen Bündel und breitete die Briefe in chronologischer Reihenfolge auf dem Tisch aus. Die Briefe umfassten einen Zeitraum von neun Jahren; der erste war vier Tage, nachdem Martin sein Elternhaus verlassen hatte, geschrieben worden - oder genauer gesagt, nachdem er verstoßen worden war.
Er atmete einmal tief durch, wappnete sich im Geiste und nahm dann entschlossen den ersten Briefbogen auf.
Martin, mein Sohn - mein Urteil war falsch.
So schrecklich falsch. In meiner Arroganz und...
Martin musste aufhören zu lesen, musste den Blick von den Zeilen lösen und sich regelrecht zwingen weiterzuatmen. Seine Hand zitterte, und er legte den Brief zurück auf den Tisch. Dann stand er auf, ging zum Fenster hinüber, zerrte an dem Riegel und schob den unteren Teil des Schiebefensters hoch. Er beugte sich hinaus und hieß die kühle Luft des Tales in seinen Lungen willkommen. Atmete ein paarmal tief durch, versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Dann kehrte er zum Schreibtisch zurück, setzte sich, nahm den Brief wieder auf und las aufmerksam jedes einzelne Wort.
Als er am Ende angelangt war, starrte er stumm auf die Tür. Die Vergangenheit, wie er sie zu kennen geglaubt hatte, war in tausend Stücke zerbrochen - und formte sich in diesem Moment zu einem neuen Bild zusammen. Er schloss die Augen, saß eine Weile einfach nur da, reglos, und malte sich im Geiste aus...
Was das Zerwürfnis seiner Mutter angetan haben musste.
Was diese Seelenqualen seiner Mutter, die Schuld und die zermarternden Selbstvorwürfe, die Martin aus dem Brief herausgelesen hatte, für seinen Vater bedeutet haben mussten. Jenen Vater, der stets so selbstgerecht gewesen war, immer so sehr darauf bedacht, das Richtige zu tun. Und der auch von anderen gern als derjenige gesehen werden wollte, der immer korrekt handelte.
Schließlich öffnete Martin die Augen wieder und las auch den Rest der Briefe. Dem letzten lag auch noch eine kleine Notiz seiner Mutter bei, die sie kurz vor ihrem Tod geschrieben hatte. Darin bat sie Martin, ihnen beiden - ihr und seinem Vater - zu vergeben und zurückzukehren, damit dieser das Unrecht, das er seinem Sohn angetan hatte, wieder gutmachen könne. Die Worte seiner Mutter setzten ihm noch härter zu als alles, was sein Vater ihm geschrieben hatte.
Er saß noch immer still in dem Sessel hinter dem Schreibtisch, die Briefe und noch einige andere Dokumente lagen vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch, und die Schatten waren mittlerweile schon ein gutes Stück weiter über den Boden gekrochen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.
Amanda schaute herein, hielt einen Moment inne. Die Luft schien schwer von Emotionen. Es war zwar keine bedrohliche Stimmung, die sie hier erspürte, und dennoch... leise schloss sie die Tür und trat neben Martin.
Endlich nahm er sie wahr, schaute auf, blinzelte - und zögerte. Schließlich aber legte er den Arm um sie und zog sie näher zu sich heran. Lehnte den Kopf gegen sie und drückte sie noch ein wenig fester an sich.
»Sie wussten es.«
Amanda konnte sein Gesicht nicht erkennen. »Dass du nicht der Mörder warst?«
Er nickte. »Ja, es hatte wohl nur wenige Tage gedauert, bis auch sie das begriffen hatten. Und gleich darauf hatten sie mir offenbar einen Boten nachgeschickt. Aber...«
»Aber was? Wenn sie es nun also doch wussten, warum durftest du dann trotzdem all die Jahre über nicht wieder nach England zurückkehren?«
Zitternd atmete Martin einmal tief durch. »Ich sollte auf dem Kontinent leben, dort, wo alle begüterten und betitelten Schurken hingingen, wenn ihnen England zu gefährlich wurde. Meine Eltern hatten bereits alles in die Wege geleitet. Ich jedoch dachte mir, wenn mein Vater mich fortan verleugnete, dann bräuchte ich mich auch nicht mehr an seine Anweisungen zu halten. Statt nach Dover zu reisen und von dort aus nach Ostende überzusetzen, bin ich also nach Southampton gefahren und habe dort einfach das erstbeste Schiff genommen - und das erste Schiff, das an jenem Tag von Southampton auslief, fuhr nach Bombay. Mir war es egal, wohin ich segelte, solange das Ziel nur möglichst weit von England entfernt lag. Von hier.«
»Und sie konnten dich wirklich nirgends finden?«
Martin blätterte noch einmal den Stapel mit den Briefen durch. »Sie hatten mir wohl Kuriere nachgeschickt und andere, die sich alle nach mir auf die Suche gemacht haben, aber sie haben mich trotzdem nie gefunden, weil sie auf dem falschen Kontinent nach mir geforscht haben. Hätten sie in Indien nach mir gesucht, dann hätten sie mich sicher irgendwann aufgespürt - ich habe dort schließlich nicht inkognito gelebt.«
Amanda strich ihm mit der einen Hand sanft über das Haar. »Aber sicherlich hat doch irgendjemand in London, der vielleicht auch einmal in Indien gewesen war oder geschäftliche Beziehungen mit Indien hatte -«
Martin schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein - das ist ja der schlimmste Teil an der ganzen Geschichte.« Seine Stimme klang rau. Amanda fühlte, wie er einmal tief durchatmete. »Sie haben die ganze Zeit hier gewartet. Auf mich. Es war wohl wie eine Art Strafe, die sie sich selbst auferlegt hatten. Statt ihr Leben zu leben wie bisher, statt zur Ballsaison nach London zu reisen und Freunde zu besuchen, zu schießen und zu jagen, blieben sie hier in diesem Haus. Von dem Tag an, an dem mein Vater mich fortschickte, bis zu ihrem Tod sind sie, zumindest soweit ich das sagen kann, hier geblieben und haben auf mich gewartet. Darauf, dass ich wieder zurückkommen und ihnen vergeben würde.«
Doch ich habe ihnen nie vergeben.
Er brauchte die Worte nicht laut auszusprechen; Amanda spürte, was er dachte. Er schloss den Arm noch fester um sie, schmiegte das Gesicht an ihre Seite und klammerte sich einen Augenblick lang einfach nur wie blind an sie.
Sie streichelte seinen Kopf, versuchte, mit den Emotionen, die über sie hereinbrachen, umzugehen, versuchte, das Mitgefühl, die Sympathie, die schiere Frustration darüber, dass all dies, dass so viel Leid überhaupt hatte geschehen können, zu verarbeiten - und schaffte es doch nicht. Und das alles nur wegen eines einzigen Feiglings. Wer auch immer dieser Mann sein mochte.
Letzteres beschäftigte mittlerweile auch Martins Gedanken wieder. Er löste sich aus Amandas Umarmung und zog sie auf die gepolsterte Stuhlarmlehne hinab. Dann nahm er den Briefstapel auf, legte ihn zurück in die Schublade und schloss sie.
Was vorbei ist vorbei - die Vergangenheit ist tot und begraben.
Er konnte nicht mehr zurückgehen und wieder mit seinen Eltern Frieden schließen. Doch er konnte sie rächen - und Sarah, ja, sogar Buxton. Er konnte dafür sorgen, dass derjenige, der ihrer aller Leben zerstört hatte, endlich seiner gerechten Strafe zugeführt wurde. Und dann würde er mit seinem Leben fortfahren, und zwar genau so, wie seine Eltern es sich gewünscht und für ihn erhofft hätten.
Er konzentrierte sich wieder ganz auf die Gegenwart. »Ich bin hierhergekommen, weil ich nach dem Gästebuch meines Vaters gesucht habe. Er war ein sehr gut organisierter Mann, exakt und präzise. Er hat ein Buch geführt, in dem er alle, die zu den jeweiligen Familienfeiern eingeladen worden waren, verzeichnet hat. Und er hat auch notiert, wer wann kam. Er hatte dieses Buch immer in seinem Schreibtisch...«
In der untersten Schublade schließlich fanden sie es. Martin holte das Buch heraus, pustete den Staub vom Deckel und blätterte durch die Seiten.
»Aber eine Sache verstehe ich immer noch nicht. Wenn deine Eltern wussten, dass du nicht der Schuldige warst - warum haben sie dann nicht an deiner statt deinen Namen wieder reingewaschen?«
Martin blickte auf. Er konnte in Amandas Augen lesen, wie sehr sie sich um ihn sorgte. Mit einem halbherzigen Grinsen erwiderte er: »Das steht auch in den Briefen. Mein Vater hatte vor, eine offizielle Erklärung abzugeben - er wollte eine große Geste, und alle, die gesamte bessere Gesellschaft, sollte ihm dabei zuhören. Das passte zu ihm. Und er wollte damit wohl auch in gewisser Weise Buße tun. Aber er wünschte sich, dass ich bei ihm wäre, dass ich neben ihm stände, wenn er diese Erklärung abgab.« Damit senkte Martin den Blick wieder auf das Buch hinab. »Und dann ist er plötzlich und ganz unerwartet gestorben.«
Das ganze Drama war für seinen Vater zu schmerzlich gewesen, seine Schuld war so groß, dass der alte Graf nicht mehr die Kraft besessen hatte, die Sache allein aufzuklären - nicht ohne die Absolution, die Martins Anwesenheit ihm erteilt hätte.
»Und wie hast du dann erfahren, dass er gestorben war und du wieder zurückkehren konntest?«
»Nach ein paar Jahren im Ausland hatte ich einen Londoner Anwalt damit beauftragt, sich um meine Belange hier in England zu kümmern. Von ihm erfuhr ich dann irgendwann vom Tod meiner Mutter, und schließlich auch von dem... meines Vaters.«
Martins Tonfall ließ Amanda aufhorchen; sie blickte auf das Buch hinab. »Was?«
Er brauchte einen Augenblick, ehe er erwidern konnte: »Ich hatte dir doch gesagt, dass mein Vater die Familienzusammentreffen liebte. Nach dem Osterfest in jenem bewussten Jahr gibt es keine weiteren Einträge.«
Keine Familienfeste mehr. Dann hatten sie hier ganz allein gelebt, vollkommen abgeschottet von Familie und Freunden. Genauso einsam, wie auch Martin gelebt hatte. Er seufzte, fühlte, wie die Schuldzuweisungen und die Bitterkeit, die er so lange gegen seine Eltern gehegt hatte, sich auflösten und verschwanden; seine Eltern hatten sogar noch wesentlich mehr gelitten als er.
Die Zähne fest aufeinandergebissen, legte er das Gästebuch offen auf den Tisch. »Das hier ist die Liste all derer, die an jenem Ostern bei uns waren.«
Sie lasen sich die Liste aufmerksam durch und gingen dann noch einmal zurück zu jener, auf der die Gäste des Silvesterfests aufgeführt waren. Kleine Anmerkungen neben den Namen gaben Aufschluss darüber, wann die diversen Besucher jeweils angekommen waren. Amanda nahm ein neues Blatt Papier und einen Stift aus dem Schreibtisch.
»Nenn mir mal die Namen aller männlichen Familienmitglieder aus der Linie deiner Mutter, die am Tag nach Neujahr noch hier waren. Und dann gib mir die Namen derer, die Ostern zu Besuch waren, an dem Tag, als Buxton starb. Urteile noch nicht über deine Verwandten, und schließe auch noch keinen von ihnen aus - das machen wir später.«
Martin nahm das Buch auf, ließ sich in den Sessel zurücksinken und fügte sich Amandas Bitte. Schließlich strichen sie jene wieder von ihrer Liste, die wegen ihres Alters oder aus anderen Gründen nicht der Mörder sein konnten.
»Zwölf.« Amanda inspizierte noch einmal genauestens die Aufstellung. »Dann ist der Mörder also einer von diesen zwölf Männern. Also, was wissen wir sonst noch über ihn?«
Martin nahm die Liste zur Hand und las die Namen einen nach dem anderen noch einmal durch. »Luc und Edward kannst du ebenfalls rausstreichen.«
Amanda strich Lucs Namen durch, dann aber zögerte sie. »Wie alt war Edward damals?«
»Er ist fast zwei Jahre jünger als Luc... Er wird also wohl etwa sechzehn Jahre gewesen sein, fast siebzehn.«
»Hmmm.«
»Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass er es gewesen sein könnte.« Martin griff erneut nach der Liste.
Amanda aber brachte sie rasch außer Reichweite seines Arms. »Wir müssen die Sache jetzt ganz logisch angehen. Was Luc betrifft, so stimme ich dir zu, aber auch nur, weil man euch bei Tageslicht eigentlich unmöglich miteinander verwechseln kann. Aber Edward?« Amanda hob eine Braue. »Denk noch mal zurück - wie war Edward mit sechzehn?«
Martin schaute sie an, kniff die Augen zusammen, dann machte er eine beschwichtigende Handbewegung. »Gut, du sollst deinen Willen haben - dann lass Edward fürs Erste noch auf der Liste stehen.«
Sie schnaubte verächtlich. Edward hatte die gleiche Haarfarbe und den gleichen Teint wie Martin, und obgleich Amanda zwar der Ansicht war, dass die beiden sich heute nicht mehr unbedingt zum Verwechseln ähnlich sahen, so könnten sie doch damals...? Wenn Edward in seiner Jungend ebenso rasch gewachsen war wie die männlichen Mitglieder ihrer Familie, dann müsste er mit sechzehn schon fast die Größe gehabt haben, die er auch heute hatte. Und damit hätte man ihn aus einer gewissen Entfernung durchaus mit Martin verwechseln können.
Nicht, dass sie ernsthaft in Erwägung zog, Edward könnte etwas so Schreckliches verbrochen haben. Doch da sie nun schon Lucs Namen aus ihrem Verzeichnis streichen musste, hatte es etwas geradezu Befriedigendes an sich, Edwards Namen nicht auch noch auszulöschen. Egal, wie kindisch dieser Starrsinn nun auch sein mochte. »So weit, so gut. Jetzt müssen wir nur noch diejenigen überprüfen, die auch Ostern hier waren. Und von denen wiederum können wir jene Gentlemen streichen, die deshalb nicht als Mörder in Frage kommen, weil es andere gibt, die bezeugen können, dass sie zum Zeitpunkt des Mordes mit den fraglichen Herren zusammen waren.«
Martin blickte Amanda aufmerksam an. »Wie geht es eigentlich Reggie?«
Sie grinste. »Schon viel besser. Er ist fast schon so weit, dass er wieder zurück nach London reisen kann.«
Martin erhob sich, trat um den Tisch herum und auf Amanda zu. »Es gibt da noch eine andere Sache, die wir über den Mann wissen. Er war vor zwei Tagen auf der Great North Road unterwegs.«
Damit wandte er sich zur Tür um; Amanda schaute ihm nach. »Und genau genommen wissen wir damit sogar noch eine ganze Menge mehr«, erwiderte sie.
Mit fragend hochgezogener Braue blickte Martin sie an.
»Unser Mann wusste, dass auch du vor zwei Tagen auf der Great North Road unterwegs warst - auch wenn er offensichtlich nicht wusste, warum und in welcher Kutsche du fuhrst.«