7

Da hatte Amanda ihren Löwen nun endlich in die Falle gelockt - und musste feststellen, dass er verwundet war. Fürs Erste erlaubte sie ihm, sich wieder in seine Höhle zurückzuziehen. Das hieß aber nicht, dass sie ihren Traum von einem gemeinsamen Leben mit Martin bereits begraben hätte. Nein, im Gegenteil, nichts lag ihr ferner - besonders seit ihrem gemeinsamen Spaziergang durch die nächtliche Landschaft von Green Park.

»Ich muss noch mehr über ihn herausfinden.« Zusammen mit Amelia hatte Amanda sich an den Rand von Lady Moffats Ballsaal zurückgezogen und ließ nun forschend den Blick über die Menge gleiten. »Ich muss irgendwie in Erfahrung bringen, ob sich das alles wirklich so zugetragen hat, wie er mir erzählte, und ob die Leute ihn tatsächlich für einen Mörder halten.«

Amelia warf ihrer Schwester einen raschen Seitenblick zu. »Aber du persönlich bist davon überzeugt, dass er kein Mörder ist?«

»Man braucht Martin nur ein einziges Mal getroffen haben, um zu wissen, dass diese Vorstellung geradezu absurd ist. Aber leider weigert er sich, auch nur irgendjemandem die Chance einzuräumen, die Sache noch einmal neu zu beleuchten. Folglich ist es also sehr unwahrscheinlich, dass die Allgemeinheit ihre Meinung über ihn wirklich ändern wird.«

»Das ist natürlich richtig. Nur, ehrlich gesagt, habe ich noch nie auch nur ein Sterbenswörtchen darüber gehört, dass Martin angeblich ein Mörder sein soll. Es ging eigentlich immer nur um seine amourösen Neigungen.«

»Mag schon sein. Aber wenn man bedenkt, dass die Geschichten über seine Liebschaften durchaus auf wahren Begebenheiten fußen, dann ist es doch wahrscheinlich, dass auch dieser Mord nicht so ganz frei erfunden ist. Bedauerlicherweise aber hatten die Damen, die uns vor ihm gewarnt haben, wohl offensichtlich beschlossen, unsere empfindlichen Ohren nicht mit den genaueren Details des Skandals beschmutzen zu wollen.«

»Genau so etwas vermute ich leider auch.«

»Also werde ich jetzt mal irgendwie in Erfahrung bringen müssen, was genau man sich in unseren Kreisen eigentlich so alles über ihn erzählt. Ich kann ja schlecht so tun, als wäre mir sein gesellschaftlicher Ruf vollkommen egal, und als hätte ich auch überhaupt kein Interesse daran, mal meine eigenen Erkundigungen über ihn einzuholen - das würde er mir wohl kaum abnehmen.« Abermals ließ Amanda den Blick über die Schar der Gäste schweifen. »Die Frage ist nur: Wer wäre am besten dafür geeignet, um ihn mal ein bisschen über Martin Fulbridge auszuhorchen?«

»Tante Helena?«

»Die durchschaut mich doch sofort. Und womöglich steckt sie Mama dann auch noch eine kleine Warnung zu.«

»Tja, und Honoria zu fragen dürfte aus dem gleichen Grund wohl ebenfalls schwierig werden.«

»Außerdem liegt die ganze Sache doch schon zehn Jahre zurück - ich kann mir also nicht vorstellen, dass Honoria überhaupt irgendetwas darüber wüsste.«

Gemeinsam mit ihrer Schwester musterte Amelia die Anwesenden mit kritischem Blick. »Es ist wirklich keine leichte Aufgabe. Du brauchst jemanden, der sich noch gut genug an die Einzelheiten dieses uralten Skandals erinnern kann -«

»Zumal das Einzelheiten sind, die man sich - wenigstens zum Teil - sicherlich nur hinter vorgehaltener Hand erzählt hat.«

»Und sowieso sollte das Gedächtnis dieser Person wirklich exzellent sein. Ich meine, nicht, dass sie da noch irgendwelche alten Geschichten miteinander verwechselt.«

»Ja, allerdings...« Plötzlich hielt Amanda inne, starr auf jene eine Person blickend, die wahrscheinlich die ideale Informationsquelle für sie sein dürfte.

Amelia folgte ihrem Blick. Dann nickte sie sehr entschieden. »Ja. Wenn es jemanden gibt, der dir in dieser Angelegenheit helfen kann, dann sie.«

»Außerdem laufe ich bei ihr noch am wenigsten Gefahr, dass sie mir irgendwelche Knüppel zwischen die Beine wirft.« Amanda strebte entschlossenen Schrittes quer durch den Ballsaal und wich geschickt all jenen aus, die womöglich gerne ein kurzes Schwätzchen mit ihr gehalten hätten. Dann aber musste sie, neben einem Sofa in unmittelbarer Nähe ihres Zielobjektes herumlungernd, erst einmal warten, bis eine würdige Dame, die versucht hatte, ein wenig Unterstützung für das gesellschaftliche Debüt ihrer Tochter zu erhalten, sich endlich erhob und wieder davonrauschte.

Rasch nahm Amanda deren Platz ein und ließ sich mit leise raschelnden Röcken auf besagtem Sofa nieder.

Sogleich richtete Lady Osbaldestone ihren obsidianschwarzen Blick auf Amanda; sie musterte ihre junge Sitznachbarin mit deutlich größerem Interesse, als sie für die ernste Matrone hatte aufbringen können, die gerade eben noch dort gesessen hatte. »Was ist los, Mädchen? Du bist doch hoffentlich nicht schwanger, oder?«

Amanda starrte sie an, dann erwiderte sie in vorbildlich gelassenem Tonfall: »Nein.«

»Ah, nun gut - aber was nicht ist, kann ja noch werden.«

Amanda nahm all ihren Mut zusammen. »Also, nun ja, gerade, was das anbelangt... ich hatte mich gefragt, ob Ihr Euch vielleicht noch an die Einzelheiten eines gewissen alten Skandals erinnert.«

Fest heftete Lady Osbaldestone ihren Blick aus schwarzen Augen auf Amanda und musterte sie mit geradezu zermürbender Eindringlichkeit. »Wie alt?«

»Zehn Jahre.«

Die Augen der alten Dame verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Dexter«, erklärte sie ohne Umschweife.

Amanda zuckte erschrocken zusammen.

»Gütiger Gott, Mädchen! Jetzt sag nicht, dass dir gelungen ist, woran sich alle anderen bisher vergeblich die Zähne ausgebissen haben?«

Amanda konnte sich nur schwer entscheiden, ob sie den Triumph nun für sich beanspruchen oder aber einfach alles abstreiten sollte. »Vielleicht«, entgegnete sie zögernd. »Aber, wie gesagt, ich wüsste gerne, was genau es mit diesem alten Skandal eigentlich auf sich hatte. Alles, was Amelia und ich je gehört haben, war, dass Dexter angeblich irgendein Mädchen verführt haben soll, das sich dann hinterher das Leben nahm. Außerdem habe ich erfahren, dass da auch noch ein Mord in der Geschichte vorkommen soll.«

»So, so, das also hast du bereits in Erfahrung gebracht? Da schießt mir doch gleich die Überlegung durch den Kopf, wer dir das wohl erzählt haben mag? Es gibt nämlich nicht viele, die dir derlei Details so einfach auf die Nase binden würden.«

»Ach?« Amanda bemühte sich, so arglos-fragend dreinzuschauen wie nur irgend möglich.

Lady Osbaldestone aber schnaubte bloß verächtlich durch die Nase. »Nun denn - mir scheint, es könnte tatsächlich noch von Bedeutung für dich sein, dass dir jetzt mal jemand die wahre Geschichte erzählt. Also, was man sich damals in der Londoner Gesellschaft erzählte, war, dass Dexter irgendeines der Mädchen aus seinem Heimatort verführt haben sollte - das Anwesen seiner Familie liegt übrigens in der Gegend von Peak. Dieses Mädchen jedenfalls wurde schwanger, aber anstatt nach Dexter zu schicken, vertraute sie sich ihrem Vater an. Und das war offensichtlich einer von der strenggläubigen Sorte. Jedenfalls verstieß er seine Tochter daraufhin. Und am Ende nahm sie sich das Leben. Dexter erfuhr von dem Ganzen erst, als er das nächste Mal von London aus wieder nach Hause fuhr. Er machte sich sofort auf den Weg, um den Vater des Mädchens aufzusuchen, und hat ihn dann - so wurde es hier jedenfalls erzählt - umgebracht. Und dann war er auch noch so dumm, neben der Leiche stehen zu bleiben, bis die Dorfbewohner ihn schließlich fanden.

Der alte Dexter - also der Vater von dem jetzigen - war natürlich entsetzt und wollte seinen Sohn auf der Stelle enterben. Aber dann wären der Titel und der dazugehörige Besitz an die Krone zurückgefallen. Außerdem liebte die Gräfin ihren Sohn abgöttisch - er war quasi ihr einziges Küken. Und der alte Dexter wiederum vergötterte seine Gräfin. Daran, den Burschen einfach vor Gericht zu stellen und seiner gerechten Strafe zu überlassen, war natürlich überhaupt nicht zu denken - zumindest damals nicht. Also wurde Dexter in die Verbannung geschickt. Solange sein Vater noch lebte, durfte er nicht nach England zurückkehren. Das zumindest ist die Geschichte, die wir hier in London gehört haben.« Lady Osbaldestone faltete die Hände vor ihrer nicht unbeträchtlichen Leibesmitte. »Was wir davon wiederum für bare Münze genommen haben und was nicht - nun, das ist ein ganz anderes Thema.«

»Dann glaubte die Gesellschaft also nicht, dass er - der jetzige Graf, meine ich - den Vater des Mädchens ermordet hatte?«

Lady Osbaldestone legte die Stirn in Falten. »Es wäre richtiger zu sagen, dass man sich hier mit seinem Urteil allgemein zurückhielt. Denn Dexter, der jetzige Graf, wie du schon anmerktest, mochte zwar ein Hitzkopf gewesen sein, ein wilder und ungestümer Bursche, aber er schien uns nie irgendwelche wirklich unangenehmen Züge zu haben - er schien sozusagen nie der schlechte Apfel im Körbchen seiner Familie zu sein.«

Ihre Ladyschaft betrachtete Amanda einen Moment lang schweigend. Dann fuhr sie in etwas sanfterem Ton fort: »Was ich damit sagen will, ist doch vor allem eines - bei jeder guten Ernte gibt es auch immer den einen oder anderen schlechten Apfel. Und welcher nun genau dieser Apfel ist, kann man meist erst dann sagen, wenn man sie quasi in die Saftpresse legt - erst dann zeigt sich, wie es um das Innere der Früchtchen bestellt ist. Denn auch wenn Dexter unter gewissen Umständen vielleicht dazu fähig sein mag, einen Menschen zu erschlagen, so ging es doch weit über das Vorstellungsvermögen der meisten von uns hinaus, dass er auch zu einem kaltblütigen Mord in der Lage sein sollte. Dazu bräuchte es schon ein sehr finsteres Herz, und das hatte Dexter nicht. Er war ein lebhafter junger Lord, voller Tatendrang, voller Erlebnishunger, und vielleicht sogar leichtsinnig - aber ein Mörder war er nun wirklich nicht. Und alle, die immer noch daran zweifeln, mögen sich zum Teufel scheren. Er hatte sich zwar nur für ein paar Monate in unseren Kreisen aufgehalten, aber selbst in der kurzen Zeit hatten wir wahrlich genug gesehen, um uns ein Bild von ihm machen zu können.«

Lady Osbaldestone machte eine kurze Pause, dann ergänzte sie: »Zumal es da auch noch die unbestreitbare Tatsache gab, dass sein Vater ein wahrer Zuchtmeister war. Ein guter Mann, das sicherlich, aber eben auch sehr streng und vor allem selbstgerecht. Die bloße Vorstellung, dass sein Sohn womöglich ein Mörder sein könnte - geschweige denn auch noch diese dem Mord vorausgehende Tat begangen haben sollte -, hatte Dexters Vater sowohl in seinem Stolz als auch in seiner Seele zutiefst verletzt. Binnen Stunden wurden also die Entscheidungen über Martin Fulbridges weiteres Schicksal getroffen und die nötigen Vorkehrungen in die Wege geleitet. Aber unter solchen Umständen und noch dazu, wenn die Gefühle hoch hergehen, kann einem schon einmal ein Fehlurteil unterlaufen.«

Amanda hatte Mühe, die vielen Informationen in sich aufzunehmen. Schließlich fragte sie: »Dann ist die derzeitige Meinung über Dexter also...?«

Wieder schnaubte Ihre Ladyschaft lediglich verächtlich. »Bei dem Vermögen? Mal ganz abgesehen von seinem fantastischen Aussehen - aber Letzteres weiß ich natürlich nur vom Hörensagen. Also, um es kurz zu machen: Es gibt zweifellos eine ganze Reihe von Mamas, die ihre Töchter auf der Stelle und ohne jede Umschweife sofort mit ihm verheiraten würden. Mörder hin oder her.« Sie bohrte ihren Blick in den von Amanda. »Deine Mutter allerdings gehört nicht dazu.«

Nur mit Mühe konnte Amanda sich beherrschen, bei Lady Osbaldestones Worten nicht sogleich erschrocken zusammenzuzucken.

Ihre Ladyschaft lehnte sich entspannt zurück, die Augen noch immer zusammengekniffen. »Die gegenwärtige Situation beschreibt man also wohl am besten dahingehend, dass man sich über Dexters aktuelle Stellung in der Gesellschaft noch nicht so ganz einig ist. Sollte er also doch noch mal zur Besinnung kommen und sich wieder in die Londoner Gesellschaft einfügen wollen, so wird man ihn mit Sicherheit nicht ächten. Dafür werden wir, die älteren Semester, schon Sorge tragen. Andererseits - ich meine, bis die Angelegenheit mit diesem alten Mord endlich einmal geklärt ist -, wird wohl immer auch noch ein winzig kleines Fragezeichen über seinem Namen hängen.«

Amanda nickte. »Vielen Dank.« Damit wollte sie sich erheben, hielt dann jedoch doch noch einmal inne. »Was ich noch fragen wollte - in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis steht Dexter eigentlich zu den Ashfords?«

»Sie sind Blutsverwandte. Luc Ashford ist Martin Fulbridges Cousin ersten Grades. Ihre Mütter waren Schwestern.« Lady Osbaldestone schwieg einen Augenblick lang, fügte dann aber noch hinzu: »Als kleine Jungen waren die beiden, wenn ich mich recht erinnere, unzertrennlich. Und sie sehen sich auch ziemlich ähnlich, nicht wahr?«

Amanda nickte.

Da krähte Lady Osbaldestone plötzlich triumphierend: »Aha! Damit besteht also überhaupt kein Zweifel mehr daran, dass du diesen schwer fassbaren Grafen bereits kennen gelernt hast! Nun denn, mein Mädchen, lass dir von mir noch einen kleinen Rat geben.« Sie schloss eine klauenartige Hand um Amandas Handgelenk und beugte sich noch ein wenig näher zu ihr hinüber. »Wenn du etwas wirklich willst, und wenn du überzeugt davon bist, dass das ganz sicher das Richtige für dich ist, dann rate ich dir, sollte es zu einem Kampf kommen, nur eines - kämpfe!«

Damit ließ sie Amanda wieder los und beobachtete, wie diese sich erhob. »Erinnere dich stets daran, was ich dir gesagt habe. Wenn er wirklich der Richtige für dich ist, dann gib nicht auf, ganz egal, wie groß der Widerstand auch sein mag.«

Amanda blickte in die klugen dunklen Augen Ihrer Ladyschaft. Dann vollführte sie einen höflichen kleinen Knicks. »Ich werde es bestimmt nicht vergessen.«


Sie brauchte zwei ganze Tage, bis sie Reggie davon überzeugen konnte, dass es von geradezu lebenswichtiger Bedeutung wäre, dass sie noch einmal in Lady Hennessys Salon einkehrten. Drei Tage nachdem Amanda durch Green Park geschlendert war, erschien sie am Abend also abermals in der Gloucester Street Nummer 19. Und wieder war der Salon voller Menschen; Lady Hennessy hob bei Amandas und Reggies Erscheinen zwar kritisch eine Braue, hieß sie aber dennoch willkommen.

Amanda tätschelte Reggie den Arm. »Denk dran, was du mir versprochen hast.«

Reggie ließ derweil einen misstrauischen Blick über die Schar der Gäste schweifen. »Trotzdem gefällt mir das Ganze hier überhaupt nicht. Was, wenn sich irgendein anderer der Herren hier an dich ranmacht?«

»Dann eile ich natürlich sofort zurück an deine Seite.« Damit ließ Amanda Reggie stehen, schaute sich dann aber noch einmal nach ihm um und warnte ihn: »Also, versteck dich bitte nicht so gut, dass ich dich hinterher nicht mehr wiederfinde.«

Amandas Anweisung folgend, schlenderte Reggie nun also langsam in Richtung der weniger belebten Regionen am Rande des Salons. Aufmerksam schaute Amanda sich um, konnte aber nirgends jenen gewissen wohl geformten Kopf mit den von der Sonne golden ausgeblichenen Locken erkennen; sie betete darum, dass Dexter möglichst bald auftauchen möge. Dann setzte sie ihr gewohntes Lächeln auf und wanderte langsam durch den Raum.

Dieses Mal sah sie sich vor, keinen der Gentlemen dazu zu verleiten, ihr den Hof zu machen. Stattdessen gesellte sie sich mal zu der einen Gruppe, mal zu der anderen; das alles aber natürlich unter Aufbietung aller ihr mit den Jahren in der Londoner Gesellschaft erworbenen Gewandtheit und Geschicklichkeit, die es Amanda erlaubten, umherzuschwirren, ohne dabei jedoch die Verlassenen vor den Kopf zu stoßen. Unterdessen spürte sie genau, wie sich in ihrem Inneren eine immer größer werdende Nervosität ausbreitete, wie ihre Nerven sich Stückchen für Stückchen immer fester anspannten.

Amanda wusste nicht, wie Dexter reagieren würde, wenn er sah, dass sie trotz ihrer Absprache abermals in einem dieser weniger geachteten Etablissements aufgetaucht war. Denn das war schließlich seine Hauptbedingung gewesen, ehe er zugestimmt hatte, ihr die ersehnten Abenteuer zu ermöglichen: Ausflüge ins niedere Milieu waren für Amanda für den Rest der Ballsaison tabu. Er hatte sich an seinen Teil der Abmachung gehalten - sie dagegen schien ihr Versprechen ganz offensichtlich zu brechen. Und davon würde er sicherlich nicht begeistert sein. Doch Amanda war bereit, ihr Handeln im Zweifelsfall auch zu verteidigen. Was ihr stattdessen wesentlich mehr Sorgen bereitete, war, dass er ihr Erscheinen hier wohl in erster Linie als eine kindische Trotzreaktion betrachten würde, ganz so, als ob sie sich absichtlich in Gefahr begeben wolle. Und das wiederum könnte durchaus dazu führen, dass er entschied, Amanda und ihr wenig verantwortungsvolles Betragen wären schlichtweg unter seinem Niveau, wären es nicht wert, dass er sich noch weiter damit befasste.

Was also sollte sie tun, wenn er auf ihr Erscheinen hier eben nicht auf die gewohnt hitzige, besitzergreifende und beschützende Art reagierte, sondern sie stattdessen vielleicht bloß einmal kalt anblickte und ihr dann den Rücken zukehrte? Amanda wusste es nicht...

Doch darüber hätte sie sich im Grunde auch gar keine Gedanken machen müssen - denn es dauerte nicht lange, ehe Martin wie eine Art Racheengel vor ihr erschien. Mit zusammengekniffenen Augen, die Stirn in finstere Falten gelegt und die Lippen zu einer festen Linie zusammengepresst, sah er sie mit glühendem Blick an. Er war in einen schwarzen Abendanzug gekleidet, stellte sich ihr mitten in den Weg, unterbrach sie mitten im Satz und baute sich drohend vor ihr auf. »Was, zum Teufel noch mal, tust du hier?«

»Oh!« Amanda zuckte zusammen, instinktiv hob sie die Hand an ihre Brust - dumpf hämmerte ihr Herz unter ihren Fingern. Dann aber durchströmte sie ein Gefühl der Erleichterung. »Schön dich zu sehen - da bist du ja endlich.«

Martin kniff die Augen noch enger zusammen.

Amanda wiederum trat etwas näher, umfasste sein Revers und hoffte unterdessen, dass niemand sie beobachtete. »Wir können uns nicht mehr im Park treffen. Die Sonne geht jetzt schon so früh auf, dass auch andere Leute um sechs bereits ihren ersten Spaziergang machen. Außerdem muss ich mittlerweile jeden Abend auf mehreren Bällen erscheinen - ein Treffen vor sechs Uhr früh geht also auch nicht.« Forschend blickte sie in sein Gesicht, doch seine wie zu Stein erstarrten Züge waren anscheinend durch nichts zu erweichen. »Aber ich muss trotzdem unbedingt mit dir sprechen.«

Ein misstrauischer Ausdruck erschien in seinen Augen und vertrieb die Gewitterwolken, die dort eben noch zu schweben schienen. »Aber du sprichst doch gerade mit mir.«

»Ja, schon.« Hastig blickte Amanda sich um. »Trotzdem kann ich diese Sache, die ich dir sagen muss, nicht hier erörtern.« Nicht hier, in aller Öffentlichkeit, meinte sie damit. »Gibt es denn nicht irgendeinen Ort, an dem wir...«

Nach einer unheilschwangeren Pause glaubte Amanda, Martin leise aufseufzen zu hören.

»Wo steckt denn Carmarthen eigentlich?« Damit hob Martin den Kopf und schaute sich um. »Ich gehe doch mal davon aus, dass er es war, der dich hierher begleitet hat?«

»Reggie wartet dahinten an der Wand. Er weiß, dass ich nur hierher gekommen bin, weil ich noch einmal mit dir sprechen wollte.«

Martin schaute in Amandas erregtes, doch auch vertrauensvoll dreinblickendes Gesicht hinab, sah in ihre kornblumenblauen Augen - und konnte nicht den Hauch jenes Trotzes erkennen, den er eigentlich dort zu sehen erwartet hatte. Zwar schien sein Instinkt ihn zu warnen, dass er Amandas Worten besser nicht lauschen sollte, dass er - was auch immer das sein mochte, was sie ihm nun sagen wollte - wesentlich besser dran wäre, wenn er es nicht hörte. Aber andererseits würde er sich dann wohl ewig fragen, was Amanda ihm eigentlich hatte mitteilen wollen …

Ihr bloßer Anblick hatte schon gereicht, um ihn all die rationalen und logischen Argumente, die eigentlich dafür sprachen, dass er sich von ihr fernhalten sollte, gleich wieder vergessen zu lassen.

»Also gut.« Mit fest zusammengepressten Lippen ergriff er ihren Arm. »Hier entlang.«

Er führte sie zunächst am Kamin vorbei und dann in Richtung zweier hoher, von Spitzenvorhängen verhüllter Glastüren. Er langte zwischen den Vorhängen hindurch und stieß eine der Türen weit auf. Ohne zu zögern huschte Amanda über die Schwelle und entschlüpfte aus dem Salon. Martin folgte ihr. Dann schloss er die Tür hinter sich, sodass nur noch sie beide auf einem schmalen, zum Garten hinaus gelegenen Balkon standen. Sie waren nun vollkommen allein, und doch wiederum nicht so allein, dass dies Anlass zu einem Skandal gegeben hätte.

»Worüber wolltest du denn mit mir sprechen?«

Amanda schaute ihn an; fast konnte er es sehen, wie sie sich innerlich zu wappnen schien, ehe sie zu ihrer kleinen Ansprache ansetzte: »Du hast mir doch von deiner Vergangenheit erzählt. Und du hast mir auch deutlich zu verstehen gegeben, dass diese Vergangenheit - oder eher noch deren Konsequenzen - eine Verbindung zwischen uns beiden aus deiner Sicht unmöglich machen. Nun habe ich in der Zwischenzeit aber mal ganz unauffällig ein paar Erkundigungen darüber eingeholt, wie die Leute das, was passiert ist, sehen, und was die Londoner Gesellschaft nun ganz aktuell über dich denkt.« Amanda blickte ihm in die Augen. »Es gibt nicht wenige, die dich für unschuldig halten und die auch von Anfang an nie geglaubt haben, dass du ein Mörder sein könntest.«

Vage hob Martin die Brauen; denn eigentlich hatte er nie auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, was die Gesellschaft über ihn denken könnte. Die Londoner Gesellschaft als solche hatte ihn noch zu keinem Zeitpunkt sonderlich interessiert. »Wie...« Was wollte er eigentlich sagen? Meinte er »wie ermutigend«? Wohl kaum. Also eher »wie interessant«? Nein, auch das nicht. Denn das Letzte, was Martin nun vorhatte, war, Amanda auch nur in irgendeiner Art und Weise in ihrem Vorgehen zu bestärken. Schließlich zuckte er nur nichts sagend mit den Schultern. »Nun ja, aber was spielt das schon für eine Rolle?«

Amanda hob mit einem Ruck den Kopf. »Ganz im Gegenteil - das spielt sogar eine sehr große Rolle.«

Amandas Tonfall, das entschlossene Glitzern in ihren Augen, das energisch vorgeschobene Kinn ließen ihn schließlich erahnen, worauf sie hinauswollte. Was sie ihm mitteilen wollte, war, wenn er aus Sicht der Gesellschaft wieder rehabilitiert wäre, dann...

Plötzlich erkannte er die Vision, der Amanda gerade nachhing, den Traum, den sie gegen alle Widerstände zu realisieren versuchte, mit ganzer Klarheit. Sie träumte davon, ihm seine gesellschaftliche Anerkennung zurückzuschenken, wollte ihn wieder auf jene ihm von Rechts wegen zustehende Position hieven, sah sich selbst bereits als seine... All das - all das und noch so viel mehr, alles, was er die kompletten vergangenen zehn Jahre rigoros aus seinem Bewusstsein verbannt hatte, sah er nun in ihren Augen schimmern.

Wütend riss er sich von seinen Fantasien los, verdrängte alle Gedanken an Amandas Traum und löschte ihre Vision aus seinem Gedächtnis. Doch die Anstrengung, die ihn dies kostete, raubte ihm fast die Luft und ließ seinen Magen sich zu einem schmerzenden Knoten zusammenkrampfen. »Nein.«

Amanda runzelte die Stirn, öffnete die Lippen.

»Das würde ja doch nicht funktionieren.« Er musste sie davon abhalten, den Geist der Vergangenheit noch einmal heraufzubeschwören, durfte ihn nicht noch weiter Gestalt annehmen lassen. »Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte ich nicht schon selbst darüber nachgedacht, meinen Namen reinzuwaschen, meine Reputation wiederherzustellen.« Genau genommen hatte er darüber in den vergangenen Wochen sogar fast ununterbrochen nachgedacht. »Aber das Ganze ist jetzt schon zehn Jahre her. Und selbst damals, als die Geschichte gerade erst passiert war, gab es nicht die Spur eines Beweises, um meine Version der Geschichte zu untermauern - ich hatte keinerlei Zeugen.«

Die Furchen auf Amandas Stirn wurden nur noch tiefer. Dann, nach einem Augenblick des Schweigens, entgegnete sie: »Aber du hast doch wohl hoffentlich begriffen, wie sich alles entwickeln könnte, wenn du nur... du bist dir doch im Klaren darüber, wie dein Leben sich wieder entfalten könnte, nicht wahr?«

Er hielt ihrem Blick Stand und erklärte dann kurz und bündig: »Ja.« Denn er sah das alles in der Tat nur allzu deutlich vor sich. Er war sich durchaus bewusst, wie sehr er sich nach alledem verzehrte, wie gerne er all das wieder sein Eigen nennen würde. Aber er wusste auch, dass ein gescheiterter Versuch in diesem Fall noch wesentlich schlimmer wäre, als wenn er es gar nicht versuchte.

Denn wenn er, wenn sie beide versuchten, seinen Namen wieder reinzuwaschen, und dabei versagten, dann …

Dann würden sie sich einem Szenario gegenüberfinden, dem er sich um keinen Preis der Welt stellen wollte. Er wollte nicht mehr von jenem Leben träumen, das er schon lange für begraben gehalten hatte; wollte nicht noch einmal die Hoffnung erwecken, nur um dann erkennen zu müssen, dass sie schon längst und unwiderruflich zerstört war. Außerdem wusste er, dass durch die Verbindung mit ihm dann auch Amandas Ruf beschmutzt wäre - ihre Anteilnahme an seinem Schicksal würde sicherlich nicht unbemerkt bleiben.

Eine Sache allerdings gab es, die ihm trotz allem die ganzen Jahre über nie aus dem Kopf gegangen war: Wer war nun eigentlich der Mörder des alten Buxton? Er selbst jedenfalls war es nicht.

Allerdings war seine Einstellung gegenüber dieser Frage seit seiner Rückkehr nach London auch ein wenig zwiespältig geworden. Denn wollte er wirklich wissen, wer für den Mord und damit auch für sein, Martins, Schicksal verantwortlich war? Andererseits aber könnte er mit der Beantwortung genau dieser Frage seinen Namen ein für alle Mal wieder reinwaschen.

Martin tat einen tiefen Atemzug und zwang sich, den Blick von Amanda abzuwenden. Stattdessen schaute er auf den Garten hinaus und versuchte, innerlich wieder ein wenig Abstand zu gewinnen zu dieser ganzen Angelegenheit, wollte eine Art Barriere errichten zwischen sich und jener Frau, mit der er hier gerade stand - und vor allem Letzteres war ihm doch normalerweise ein Leichtes.

Aber bei Amanda gelang ihm dies grundsätzlich nicht. Außerdem war der Balkon so verdammt schmal. »Es macht keinen Sinn, diese Sache noch einmal aufzurollen. Es gibt nichts, was ich oder auch wir beide da noch unternehmen könnten.« Schließlich wurde sein Tonfall noch eine Spur härter: »Und ich hab dir das Ganze auch nicht erzählt, damit du dich nun als meine Fürsprecherin aufspielst. Ich habe dir nur deswegen davon erzählt, damit du verstehst, warum es für mich in der Londoner Gesellschaft einfach keine Zukunft mehr gibt.« Er hielt einen Moment inne, dann fügte er hinzu: »Die Vergangenheit ist tot und begraben.«

Schweigen breitete sich aus, bis Amanda entgegnete: »Nein, die Vergangenheit ist vielleicht begraben - aber ganz bestimmt nicht tot.«

Martin schaute nicht in ihre Richtung, wollte nicht ihr Gesicht sehen, den Ausdruck in ihren Augen.

Nach einer kurzen Pause fuhr Amanda mit zunehmend härter werdendem Ton fort: »Es fällt mir wirklich schwer nachzuvollziehen, wie du dich einfach so und ganz bewusst von deinem Leben abwenden kannst - wie du alledem den Rücken kehrst, was dein Leben ausmachen würde, wenn du nur endlich mal deinen Namen wieder reinwaschen würdest.«

Amanda sprach von »würde« und nicht von »könnte«, wie Martin keinesfalls entging; ihre Zielstrebigkeit schien ihn regelrecht zu entwaffnen.

Als er trotzdem noch immer nichts erwiderte, explodierte Amanda geradezu: »Warum denn bloß?« Deutlich hörte er die Frustration in ihren Worten. »Ich kenne dich nun immerhin schon gut genug, um zu wissen, dass es da irgendeinen Grund für dein Verhalten geben muss.«

Er hatte sogar eine ganze Reihe von Gründen, doch keiner von ihnen ging Amanda auch nur das Geringste an. Außerdem konnte er sich schon jetzt ausmalen, wie Amandas Meinung zu seinen Einwänden lauten würde, wie sie seine Sorge um sie, Amanda, Stück für Stück zerreden würde. Er musste sich regelrecht zwingen, um abermals in ihre glühenden Augen zu blicken. Und in dem Moment, da er die Emotionen erkannte, die hinter dem Kornblumenblau schimmerten, wusste er, dass ihm nur eine Chance blieb: Er musste ihr irgendwie einreden, dass sie sein Verhalten vollkommen falsch verstanden hätte, dass sie alles das, was sie in den vergangenen Wochen über ihn in Erfahrung gebracht hatte, ganz und gar fehlinterpretiert hätte.

Mit eiserner Entschlossenheit überging er sämtliche Gedanken an die möglichen Auswirkungen, an den Schmerz, den sie beide nun würden ertragen müssen, und erklärte, den Blick fest in ihre Augen gerichtet: »Ich sehe einfach keinen zwingenden Grund, warum ich mich auf ein solch aussichtsloses Verfahren einlassen und noch einmal irgendwelche alten Geschichten aufrühren sollte, die doch schon lange vergessen sind. Diese Rückkehr in die Gesellschaft, dieses Wiedererlangen des Wohlwollens der grandes dames - das alles hat für mich überhaupt keine Bedeutung mehr.«

Der Nachdruck, mit dem er Amanda seine letzten Worte entgegengeschleudert hatte, war schon wahrhaft grausam gewesen. Sie schreckte vor ihm zurück - Martin konnte es deutlich spüren, fühlte, wie mit Amanda auch die Wärme von ihm wich, wie eine plötzliche Kälte ihn ergriff. Dann verloren ihre Züge jeglichen Ausdruck; ihre Augen blickten wie blind, suchten verzweifelt seinen Blick. Schließlich wiederholte sie mit leiser Stimme: »Keine Bedeutung mehr. Ich verstehe.«

Amanda schaute zu den hohen Fenstern hinüber, aus denen sanftes Licht sich über sie beide ergoss. Sie tat einen tiefen, schweren Atemzug. »Dann bitte ich um Entschuldigung. Ich muss deinen... deinen Wunsch, endlich wieder das Leben führen zu können, zu dem du eigentlich erzogen wurdest, wohl vollkommen falsch verstanden haben.« Damit nickte sie ihm knapp noch einmal zu und griff schließlich nach dem Türknauf. »Es ist wohl besser, wenn ich dich jetzt einfach wieder dem Leben überlasse, das dir offenbar das liebere ist. Lebwohl.«

Kein »Gute Nacht.« Martin blickte Amanda nach, wie sie die Tür öffnete und durch die Spitzenvorhänge trat. Eine Faust fest um das Balkongeländer geschlossen, beobachtete er, wie sie mit hoch erhobenem Kopf wieder zurück in den Raum marschierte, wie sie nur einen kurzen Moment später auch schon wieder in der Menge der Gäste verschwand. Er vertraute darauf, dass Carmarthen sie sicher nach Hause geleiten würde. Dann wandte er dem hell erleuchteten Saal den Rücken zu, stützte sich auf das Geländer und ließ den Blick über den finsteren Garten schweifen, schaute in die tiefe Nacht hinein, zu der sein Leben nun geworden war.


»Und dann sagte er ›Nein‹. Hat meine Hilfe schlichtweg abgelehnt! Ohne Umschweife.« Amanda versetzte ihren Röcken einen wütenden Tritt und wirbelte herum. »Er sagte, das alles - ich, wir! - hätte für ihn überhaupt keine Bedeutung mehr

Amelia musterte ihre Schwester, wie diese ruhelos durch ihr Schlafzimmer wanderte. »Bist du dir sicher, dass er auch wirklich verstanden hat, worauf du angespielt hast?«

»Oh, und ob er das verstanden hat! An Intelligenz mangelt es ihm ja nun wirklich nicht - aber dafür mangelt es ihm an so ziemlich allem anderen!« Mit einem gedämpften Aufschrei der Empörung wirbelte Amanda herum und marschierte wieder in die entgegengesetzte Richtung.

Amelia war beunruhigt, bewahrte aber dennoch die Ruhe. Ihre Schwester hatte zwar eine deutlich ausgeprägtere Neigung zum Theatralischen als sie selbst, aber dennoch hatte sie Amanda in ihrem ganzen Leben noch nie so aufrichtig erregt gesehen. Nur leider würde gerade diese aufgebrachte Stimmung ihr nun herzlich wenig helfen.

Nach einer Weile fragte Amelia zögernd: »Dann... dann gibst du also auf?«

»Aufgeben?« Abrupt blieb Amanda stehen und starrte Amelia an. »Natürlich nicht.«

Das war eine Aussage, die Amelia gleich schon wieder etwas entspannte. Sie ließ sich auf Amandas Bett zurücksinken. »Dann erzähl mal, was du jetzt vorhast.«

Amanda erwiderte Amelias Blick, trat dann zu ihr und ließ sich neben ihr auf das Bett fallen. Nachdenklich starrte sie in den Betthimmel empor. Das Kinn leicht vorgeschoben und mit sturem Gesichtsausdruck erwiderte sie: »Das weiß ich leider noch nicht.« Nur einen Moment später ergänzte sie jedoch: »Aber mir wird da schon noch irgendwas einfallen.«


Drei Nächte später kehrte Martin auf Aufforderung von Lady Hennessy abermals in der Gloucester Street ein. Eigentlich hatte er zwar nicht vorgehabt, ihren Salon so bald schon wieder aufzusuchen, doch Helens Nachricht war kurz und unmissverständlich gewesen - sie wollte ihn bei sich haben. Und da Martin und Helen ein durchaus freundschaftliches Verhältnis zueinander pflegten, und er ohnehin nichts Besseres vorgehabt hatte an diesem Abend, fühlte er sich verpflichtet, ihr ihren Willen zu lassen.

Wie immer bereitete sie ihm auf ihre liebenswert kultivierte Weise einen herzlichen Empfang.

»Komm am besten gleich zur Sache«, erklärte Martin ihr sogleich und ohne falsche Zurückhaltung. »Du wolltest mich hier haben - und hier bin. Warum?«

Mit hochgezogenen Brauen schaute sie ihn an. »Dein Betragen lässt durchaus ein wenig zu wünschen übrig… So etwas ist immer ein sehr verräterisches Zeichen.«

Martin legte die Stirn in Falten. Doch noch ehe er fragen konnte, was sein mangelhaftes Betragen denn angeblich andeuten sollte, zeigte Helen bereits in eine der Ecken des Salons. »Was den Grund deines Erscheinens hier betrifft: Ich würde dir raten, die Aktivitäten deiner jungen Freundin mal ein bisschen besser im Auge zu behalten.«

Martin schaute Helen forschend an. »Welche junge Freundin?«

»Na, Miss Cynster, natürlich. Und, bitte, versuch mir jetzt nicht weiszumachen, dass ihr gar nicht befreundet wärt.« Helen tätschelte ihm aufmunternd den Arm. »Carmarthen jedenfalls hat sie heute Abend nicht hierher begleitet - sie ist ganz allein hier erschienen. Und statt mich jetzt so finster anzustarren, empfehle ich dir, diesen Blick lieber mal dort drüben bei besagter junger Dame anzuwenden. Damit würdest du uns allen wirklich einen großen Gefallen erweisen.« Mit einer knappen Bewegung ihres Kopfes deutete Lady Hennessy zur gegenüberliegenden Ecke des Raumes hinüber; dann ließ sie ihre scherzhafte Maske endgültig fallen und erklärte: »Ich meine es ernst. Schau dir das bitte mal an, wie die sich hier aufführt. Und was immer du danach mit ihr anstellst, überlasse ich ganz allein dir.«

Martin erwiderte Helens Blick, dann nickte er: »Ich werde es mir mal ansehen.«

Abermals hob Helen die Brauen, doch Martin überging diese fragende Geste einfach und strebte zu jener Ecke hinüber, auf die Helen zuvor gedeutet hatte. Im Übrigen irrte Helen sich, wenn sie glaubte, er fühle sich ihr nun zu Dank verpflichtet.

Trotzdem wollte er, bevor er wieder aufbrach, noch einmal rasch mit eigenen Augen sehen, weswegen Helen ihn nun eigentlich hierhergerufen hatte. Unauffällig schlich er an der Wand entlang, bis er die kleine Gruppe in der hinteren Ecke des Salons im Blickfeld hatte. Dann allerdings stieß er sofort einen nur mühsam unterdrückten Fluch aus und wünschte sich, er wäre gleich nach der kurzen Unterredung mit Lady Hennessy wieder verschwunden.

Andererseits aber war er natürlich nicht so töricht, in die Situation einzugreifen, ohne sich zuvor erst einmal einen genaueren Überblick über die Lage zu verschaffen. Und nun verstand er durchaus, weshalb Helen sich Sorgen um Amanda machte. Das Grüppchen, das sich da vor ihm präsentierte, war wahrhaft beispiellos; eine bunte und äußerst explosive Mischung.

Amanda hatte eine durchaus beträchtliche Anzahl der begehrtesten und gleichwohl vergnügungssüchtigsten jungen Männer um sich geschart, die London im Augenblick zu bieten hatte. Damit wiederum zog sie natürlich auch die Aufmerksamkeit jener vornehmen Damen auf sich, die ebenso wie die Herren auf der Suche nach ein wenig pikanter Zerstreuung Helens Räumlichkeiten zu durchstreifen pflegten. Das Problem war bloß, dass nur wenige der besagten Damen es mit Amandas Charme aufnehmen konnten - es konnte folglich also nicht mehr lange dauern, bis sie begannen, ihrer neuen Konkurrentin das Leben in Lady Helens Salon zu verdrießen. So zumindest wäre der normale Ablauf der Dinge gewesen, wenn die Damen Amanda als Konkurrenz wahrgenommen hätten. Doch irgendetwas war schiefgelaufen. Und Martin wusste genau, wer da am Rädchen gedreht hatte.

Denn statt zu fauchen und ihre Krallen gegen Amanda auszufahren, waren Amanda und die bereits etwas gereifteren Damen offenbar zu einer Art Übereinkunft gekommen. Und Martin konnte sich ziemlich genau denken, was diese Übereinkunft beinhalten mochte. Den Gentlemen hingegen - das konnte er an ihren hingerissenen Mienen deutlich ablesen - schien noch nicht aufgegangen zu sein, dass Amanda ganz und gar nicht die Absicht hegte, die Spielregeln des Abends konsequent und bis zum Ende durchzuziehen.

Andererseits...

Martin beobachtete, wie sie mit einem eleganten Roué flirtete... und kam prompt ins Grübeln, ob er tatsächlich eine so wichtige Rolle in ihrem Leben spielte, wie er ursprünglich geglaubt hatte. Zumal Amanda in dieser Arena zurzeit wirklich der Hauptgewinn war, ein Erlebnis, wie es ganz und gar nicht der Norm entsprach. Sie war nicht nur schön und von sinnlicher Attraktivität, nein, sie war auch noch unberührt und intelligent, geistreich, schlagfertig und selbstbewusst - sie war alles in allem herausfordernd weiblich. Und es gab nicht wenige Kenner in dem um sie versammelten Kreise, die all das durchaus zu schätzen wüssten.

Nur würde ihnen dieses Vergnügen heute Abend nicht mehr zuteil werden. Egal, was Amanda da auch geplant haben mochte.

Nachdem Martin aus schmalen Augen eine kurze Einschätzung der Situation vorgenommen hatte, verwarf er den Vorsatz, einen Frontalangriff zu starten. Stattdessen wandte er sich um und winkte einen Lakaien heran.


Mit einem Lachen schaute Amanda zu Lord Rawley auf und nahm unterdessen beiläufig die Nachricht von dem Tablett, klappte das Kärtchen auf - und hätte es beinahe prompt wieder fallen gelassen. Sie hatte nicht gewusst, dass Dexter ebenfalls hier war; sie hatte sich so auf ihre Rolle konzentriert, war so angespannt gewesen, dass sie Martins Blick gar nicht wahrgenommen hatte... Sie hatte ihn einfach nicht gesehen.

»Und darauf sagte ich - aber was ist denn los? Schlimme Neuigkeiten?«

Amanda schaute auf und musste feststellen, wie Lord Rawley und auch sämtliche anderen der um sie versammelten Gentlemen sie ehrlich besorgt musterten. »Ach… nein.« Augenblicklich hellten die Mienen der Herren sich wieder auf - und ebenso rasch erkannte Amanda, was der wahre Grund ihrer Besorgnis gewesen war. »Das heißt...« Sie zerknüllte die Nachricht, konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, sich über die Stirn zu reiben. »Ich bin mir nicht so ganz sicher.«

Genau dies war es, was sie angestrebt hatte, genau hierauf hatte sie hingearbeitet. Nur, warum wartete er denn vorne in der Eingangshalle?

Sie schenkte ihren Verehrern ein letztes Lächeln. »In der Halle wartet ein Bote auf mich. Ich muss ihn unbedingt sprechen. Wenn Ihr mich bitte für einen Moment entschuldigen würdet?«

Lady Elrood war die Erste, die in ehrlich erfreutem Tonfall ausrief: »Aber natürlich, meine Liebe.«

Und noch ehe einer der Gentlemen Amanda anbieten konnte, sie zu begleiten, huschte sie auch schon davon.

Sie trat aus dem überfüllten Salon in die Eingangshalle, blickte sich sogleich in Richtung der Vordertür um, konnte zu ihrem Erstaunen aber niemanden entdecken - außer zwei Lakaien. Sie wollte sich gerade in die andere Richtung drehen und zu den Treppen hinaufschauen, als ihr bereits ihr Mantel um die Schultern gelegt wurde.

Bevor sie auch nur in irgendeiner Weise darauf reagieren konnte, wurde ihr mit einem jähen Ruck die Kapuze über das Gesicht gezerrt, und Arme wie Stahl schlangen sich um sie und hoben sie vom Boden hoch.

»Die Tür, ihr Trottel - aufmachen!«

Jeglicher Zweifel, den sie vielleicht noch über die Identität ihres Angreifers gehegt haben mochte, war sofort verflogen. Sie wand sich verzweifelt hin und her, zappelte wie wild, versuchte, nach ihm zu treten - doch alles vergeblich. Und als ihr dann endlich einfiel, laut um Hilfe zu schreien, hatte Martin sie auch schon über die Schwelle getragen und eilte bereits die Treppen hinab. Amanda fügte sich, hörte auf, sich zu wehren, und wartete darauf, dass er sie wieder absetzen würde.

Schließlich erreichte er den Bürgersteig, machte noch zwei weitere große Schritte, stemmte sie hoch - und warf sie ohne viel Federlesens unsanft auf den Sitz der dort wartenden Kutsche.

Mit einem Wutanfall versuchte Amanda, sich aus den Falten ihres Umhangs zu befreien.

Unterdessen wurde die Kutschentür bereits zugeknallt, und Amanda hörte einen barschen Ruf. Mit einem Ruck schoss die Droschke vorwärts und rollte in wahnwitzigem Tempo davon, ganz so, als ob der Teufel persönlich hinter ihnen her wäre. Endlich hatte sie sich aus ihrem Mantel befreit - und sah, wie die Häuserfassaden der Belgrave Road geradezu an ihr vorbeizusausen schienen. Wie betäubt ließ sie sich in den Sitz zurücksinken.

Wie konnte er es bloß wagen?

Sie war so schockiert, so erbost, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Die Droschke raste unterdessen die Straßen entlang und verlangsamte selbst dann, wenn sie um eine Ecke bog, nur minimal ihr Tempo, sodass Amanda sich an den Halteriemen regelrecht festklammern musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und vom Sitz zu kippen. Erst als die Kutsche wieder langsamer wurde und schließlich abrupt stehen blieb, hatte Amanda ihre fünf Sinne wieder einigermaßen beisammen.

Sie nahm ihren Mantel und ihr Retikül, öffnete die Tür und war keineswegs überrascht, als sie feststellte, dass man sie genau an der Ecke der North Audley und Upper Brook Street abgesetzt hatte, dort nämlich, von wo aus es nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Zuhause waren. Sie drehte sich um und öffnete ihr Retikül.

Der Droschkenkutscher allerdings hüstelte verlegen und erwiderte: »Bitte um Verzeihung, Ma’am, aber der Herr hat mich bereits recht ordentlich entlohnt.«

Natürlich hatte er das. Amanda schaute auf und lächelte - allerdings alles andere als liebenswürdig. »In dem Fall schlage ich vor, dass Ihr schleunigst wieder verschwindet.«

Dem wollte der Kutscher offenbar nicht widersprechen. Sie wartete noch, bis die Droschke um die Straßenecke verschwunden war. Dann warf sie sich ihren Mantel um die Schultern und stapfte nach Hause.


»Zumindest zeigt das doch, dass er sich durchaus Gedanken um dich macht.«

»Es zeigt nur, dass er ein unerträglicher Idiot ist - ein anmaßender, eingebildeter und arroganter Esel! Ein Wichtigtuer, der geradewegs dem Cynster-Clan entsprungen sein könnte.«

»Tja, und nun?«

»Nun beginne ich mit Plan B.«


Die ausgleichende Gerechtigkeit für ihre Schimpfereien über Dexter ließ nicht lange auf sich warten und überrumpelte Amanda auf Mrs. Fawcetts Soiree. Mrs. Fawcett war eine Witwe von nicht ganz tadellosem Ruf, deren abendliche Vergnügungsangebote bei der Halbwelt hoch im Kurs standen.

»Was, zum Teufel noch mal, hast du hier zu suchen?«

Das kehlige Knurren war geradezu Musik in Amandas Ohren. Ohne sich von dem Kartenspiel, das zu verfolgen sie vorgab - und bei dem es um eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes ging -, abzuwenden, warf sie einen raschen Blick über ihre Schulter und auf Dexter, der ummittelbar hinter ihr stand. »Ich amüsiere mich.«

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen schaute sie wieder auf das Spiel.

Nach einem Augenblick des brütenden Schweigens ertönte abermals ein dunkles Grollen: »Wenn du schon nicht an deinen Ruf denkst, dann denk wenigstens an den von Carmarthen. Du manövrierst ihn hier in eine äußerst unangenehme Lage.«

Auch zu dieser Abendgesellschaft hatte Amanda wieder Reggie als ihren Begleiter abkommandiert; und der war gerade in eine scheinbar angeregte Diskussion mit einem Gentleman etwa gleichen Alters vertieft.

»Sieht mir eigentlich nicht so aus, als ob er hier Gefahr liefe, seinen guten Ruf zu verlieren.« Sie hob eine Braue und schaute abermals zurück über ihre Schulter und in Dexters zunehmend zorniger blickende Augen. »Wäre es dir lieber, ich käme ohne ihn hierher?«

»Mir wäre es am liebsten, du würdest dich hier überhaupt nicht herumtreiben. Und auch nicht an irgendwelchen anderen Orten dieser Art.«

Amanda wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Kartenpartie zu und zuckte lediglich mit den Schultern. »Keine Ahnung, wie du auf den Gedanken kommst, dass deine Meinung mich in irgendeiner Weise umstimmen könnte.«

»Aber du hattest mir versprochen, wenn ich dir all die Abenteuer liefere, die du dir gewünscht hattest - und ich habe wirklich jeden einzelnen deiner Wünsche erfüllt -, dass du dich dann für den Rest der Ballsaison von Orten wie diesen hier fernhalten würdest.«

Martin stieß seine Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Amanda wandte sich um. Sie standen so dicht beieinander, dass ihre Brüste sacht an seinem Brustkorb entlangstreiften. Sie hob eine Hand und strich zart mit dem Finger über seine schmale Wange. Dann lächelte sie und blickte ihm ganz ungeniert in die Augen. »Nun denn, dann habe ich wohl gelogen.« Schließlich sah sie mit betont großen Augen zu ihm auf und fragte: »Aber warum sollte dich das überhaupt interessieren?« Mit einem spöttischen Gruß trat sie um ihn herum. »Wenn du mich jetzt also bitte entschuldigen würdest. Es gibt da einige Gentlemen, die ich gerne noch treffen würde.«

Damit ließ sie Martin einfach stehen und schlenderte gemächlich davon. Aber ihr war nicht die abrupte Anspannung entgangen, die seinen großen Körper plötzlich erfasst hatte. Und auch der ihr geradezu den Rücken durchbohrende Blick, der sie für den Rest des Abends verfolgte, entzog sich nicht ihrer Wahrnehmung. Kaum war Amanda über die Schwelle zu Mrs. Swaynes Salon getreten, um, kurz innehaltend, ihren Blick über die Anwesenden schweifen zu lassen, da schlang Martin auch schon seine Finger um ihr Handgelenk. Er hatte genau beobachtet, wie sie in das Empfangszimmer geschlüpft war, und hatte sich dann dort quasi auf die Lauer gelegt. So tief war er nun also schon gesunken.

Jetzt zog er sie aus dem Strom der Gäste heraus. »Dann erzähl mal, was ist eigentlich dein Plan?«

Er war dicht bei der Wand stehen geblieben; Amanda riss betont verwundert die Augen auf. »Welcher Plan?«

»Der Plan, der hinter deinem Vorgehen steht, den Großteil von Londons Lebemännern zu sabbernden Hunden zu erniedrigen, die nur darauf warten, dass du gnädigst einen von ihnen zu deinem Begleiter ernennst?«

»Ah - den Plan meinst du.« Amanda ließ den Blick über die Schar verwegener Lebemänner und Verführer schweifen, die sich in dem kleinen Salon drängten.

Grimmig bemühte Martin sich, seine Wut zu zügeln. Er bedauerte es bereits zutiefst, dass er damals bei Helen die Beherrschung verloren hatte. Denn ganz gleich, wie befriedigend sein kleiner Überfall auf Amanda auch gewesen sein mochte, so brauchte man sich doch bloß mal anzuschauen, wozu dieser Impuls letztendlich geführt hatte: Er hatte die letzte Woche fast ausschließlich damit verbracht, so ziemlich jeden verdammten Empfang, jeden Salon und jede Veranstaltung der Londoner Halbwelt abzuklappern - immer auf der Suche nach Amanda. Stets hatte er sich bemüht, ein wachsames Auge auf sie zu behalten. Langsam fiel er damit schon richtig auf. Und das Allerletzte, was Martin wollte, war, die Aufmerksamkeit der Leute auf sein Interesse an Amanda Cynster zu lenken.

»Das braucht dich doch überhaupt nicht zu kümmern. Ich habe ja schließlich bereits akzeptiert, dass das vermeintliche Einvernehmen zwischen uns beiden wohl bloß meiner Fantasie entsprungen war. Zwischen uns existiert keinerlei Beziehung - das hast du mir ja nun ganz deutlich zu verstehen gegeben. Ich kann also nicht so ganz nachvollziehen, warum ich dann nicht wenigstens die Aufmerksamkeiten anderer Herren genießen darf - aber du lässt ja keine Gelegenheit aus, so ziemlich jeden Gentleman, der sich in meine Nähe wagt, gleich wieder zu verschrecken. Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich das noch länger dulden werde.«

Grimmig schob Martin das Kinn vor und biss sich fest auf die Zunge, um den Hohn in Amandas Augen nicht sogleich mit einer scharfen Bemerkung zu quittieren. Denn sie hatte den Nagel zweifellos auf den Kopf getroffen, hatte seine Emotionen für sie genauestens analysiert.

Als Martin in Schweigen verharrte, hob Amanda flüchtig die Brauen und ließ abermals den Blick durch den Raum schweifen. »Und nun musst du mich bitte entschuldigen, es gibt noch andere, mit denen ich gerne noch ein paar Worte wechseln möchte.«

Amanda wollte davonschreiten, doch sein fester Griff um ihr Handgelenk hinderte sie daran. Sie schaute auf seine Finger hinab, die sich wie eine Fessel um sie schlossen. Und wartete. Martin musste sich wahrlich zwingen, die Finger wieder zu öffnen. Mit heiter-gelassenem Lächeln nickte Amanda ihm noch einmal kurz zu und machte Anstalten, sich einen neuen Gesprächspartner zu suchen.

»Wohin gehst du?« Martin konnte sich diese Frage beim besten Willen nicht verkneifen. Und natürlich wusste er, dass auch Amanda sogleich begreifen würde, was er in Wirklichkeit damit zum Ausdruck bringen wollte - er wollte wissen, bis wohin sie ihre Spielchen mit ihm noch zu treiben gedachte.

Sie musterte ihn. Schließlich erwiderte sie: »Einmal bis in die Hölle und wieder zurück.« Dann, bereits im Weggehen begriffen, fügte sie noch hinzu: »Sofern ich Lust dazu habe.«

Amandas Vorgehen glich einem Balanceakt, ganz so, als ob sie sich auf einem dünnen Seil über eine Grube voller ausgehungerter Wölfe tastete. Aber irgendwann würde sie einen Fehler begehen, würde sie einen falschen Schritt machen, das stand außer Frage. Und genau darauf zählten auch die Wölfe, was schließlich auch der Grund war, weshalb sie sich noch immer in Geduld übten und sich am Gängelband führen ließen, als ob sie lediglich harmlose junge Welpen wären - was sie mit absoluter Sicherheit eben nicht waren.

Martin biss die Zähne zusammen und begnügte sich damit, Amandas Treiben einfach nur schweigend zu beobachten - Nacht für Nacht, und sei dies nun auf einer Soiree, auf einer Party oder auf einer Abendgesellschaft. In den gehobenen Londoner Kreisen hatte die Ballsaison ihren Höhepunkt erreicht; und in der Halbwelt ereignete sich ein nicht weniger hektischer Ausbruch gesellschaftlicher Aktivitäten.

Es verging kein Abend, an dem Martin Amanda nicht irgendwo aufgespürt hätte. Denn obgleich sie natürlich in ihren Kreisen so mancherlei Verpflichtung nachzukommen hatte, machte sie danach doch auch stets noch einen kleinen Abstecher in seine, Martins, Welt - begleitet von einem zunehmend unglücklicher dreinschauenden Carmarthen. Und mit jedem weiteren Abend, der verstrich, schien sie noch ein bisschen wilder und gewagter aufzutreten, noch ein bisschen weniger berechenbar zu sein.

Sie lachte und ließ ihren ganzen Charme spielen, und fast hätte man glauben können, dass Amanda regelrecht an einer Sucht litte, so eifrig, wie sie eine Eroberung an die nächste reihte. Unterdessen pflegte Martin mit grimmigem Gesichtsausdruck an der Wand zu lehnen und sie einfach nur mit seinen Blicken zu verfolgen. Glücklicherweise waren besonders die gefährlicheren unter Amandas Verehrern bereits auf ihre ehemalige Verbindung mit Dexter aufmerksam geworden, sodass ihr Selbsterhaltungstrieb sie einen gebührenden Abstand zu Amanda wahren ließen. Zwar hätte keiner sagen können, was genau sich eigentlich zwischen Amanda und Martin abgespielt hatte, doch nur wenige wollten es riskieren, ihm mit ihrem Verhalten womöglich auf die Zehen zu treten. Das war die einzige Waffe, die Martin noch besaß und mit der er Amanda beschützen konnte. Bislang zumindest funktionierte dieses Instrument anstandslos - und das war zugleich auch der einzige Sieg, den er je in dem Spiel, das sie miteinander eingegangen waren, hatte erringen können.

Lässig an der Wand lehnend, musterte er auf Mrs. Emersons Abendgesellschaft jenen Kreis, dessen Mittelpunkt Amanda nun bildete. Irgendeine kleine Auseinandersetzung schien sich dort zusammenzubrauen, wenngleich das Thema dieser Diskussion offenbar eher ein intellektuelles war und kein sexuelles. Was an und für sich bereits merkwürdig war, zumindest, wenn man diese ganz spezielle Gesellschaft betrachtete. Andererseits aber war dies nun wiederum auch nicht allzu verwunderlich, wenn man jene Tatsache dagegenhielt, dass eine der Wortführerinnen in diesem Konflikt Amanda war.

Schließlich zog Carmarthen sich aus der Gruppe zurück. Suchend ließ er den Blick über die Menge schweifen, während sich auf seinem Gesicht ein Ausdruck wachsender Panik abzeichnete. Dann entdeckte er Martin.

Zu dessen Überraschung kam Carmarthen sogleich auf ihn zugestürmt. Als er neben Martin angelangt war, verzichtete Reggie auf jegliche formelle Begrüßung und platzte sogleich heraus: »Ihr müsst irgendetwas unternehmen. Sie«, damit deutete er mit einer vagen Geste auf Amanda, »ist drauf und dran, sich endgültig zu verkalkulieren!«

Ruhig erwiderte Martin Reggies ernsten Blick. »Dann haltet sie doch einfach davon ab.«

Reggies Miene wurde immer ungeduldiger. »Wenn es in meiner Macht stünde, Amanda auch nur von irgendetwas abzuhalten, dann wäre sie mit Sicherheit gar nicht erst hier aufgetaucht! Das ist doch wohl klar. Aber sobald Amanda sich erst mal in eine Sache verbissen hat, sind mir die Hände gebunden.« Fast schon kriegerisch schaute er Martin in die Augen. »Und dass sie sich hier mal wieder in etwas verbissen hat, steht doch wohl außer Frage - alles hat in dem Moment angefangen, als Ihr Amanda angeboten hattet, ihr bei dieser Partie Whist beizustehen.«

Deutlich konnte man den Vorwurf heraushören, der in dieser Erklärung mitschwang - aber Martin brauchte keine zusätzliche Gedächtnisstütze in Form von Reggie Carmarthen. Er fühlte sich doch ohnehin bereits verantwortlich - und das vor allem auch im moralischen Sinne - für Amanda und deren zunehmend schamloseres Auftreten, für ihre Ruhelosigkeit und ihre augenscheinlich unzufriedene Stimmung. Im Übrigen zweifelte er daran, ob Reggie sich eigentlich im Klaren darüber war, wie umfassend Martins Schuld in dieser Angelegenheit tatsächlich war.

Im Grunde war es zwar logisch nicht so ganz nachvollziehbar, warum Martin glaubte, für Amanda verantwortlich zu sein. Letztendlich war es schließlich ihre Entscheidung, wo und wie sie ihre Abende zu verbringen gedachte. Dennoch spürte Martin tief in seinem Inneren, dass allein er ihr den Anstoß zu diesem Verhalten gegeben hatte.

Starr und rechtschaffen blickte Reggie ihn an - und endlich rührte Martin sich, richtete sich auf und schaute zu der zunehmend lauter werdenden Gruppe hinüber. »Worum geht es denn bei ihrer Diskussion?«

»Um irgendwelche Radierungen.«

Martin blickte Reggie verwundert an. »Radierungen?«

Angewidert nickte Reggie. »Ganz genau - und zwar um diese ganz spezielle Art von Radierungen. Bloß Amanda hat das noch immer nicht begriffen. Ein paar von den Kerlen dagegen haben Amandas Dummheit natürlich längst erkannt. Es kann sich also nur noch um Minuten handeln, bis sie unwissenderweise irgendeine von deren nur allzu sorgfältig vorformulierten Herausforderungen annimmt.« Ängstlich schaute Reggie zu der Gruppe hinüber. »Wenn sie das mal nicht schon getan hat.«

Martin fluchte und folgte Reggies Blick, durfte dann aber voller Erleichterung feststellen, dass die Diskussion noch immer in vollem Gange war. Amanda hielt sich augenscheinlich ausgesprochen wacker. »Wenn sie klug sind, lassen sie Amanda sich erst einmal in ihren eigenen Behauptungen verstricken.«

»Sowohl Curtin als auch McLintock nehmen beide an dem Streitgespräch teil.«

Womit die Frage nach der Cleverness von Amandas Diskussionspartnern bereits beantwortet wäre. »Verdammt.« Martin beobachtete, wie das Drama seinen Lauf nahm, und überlegte, wie er nun am besten einschreiten sollte. Er hatte schon darüber nachgedacht, ihre Cousins von Amandas Freizeitabenteuern in Kenntnis zu setzen, doch leider war ihm noch nicht ein einziger dieser Gentlemen über den Weg gelaufen, während er, Martin, Amanda durch die Salons der Halbwelt folgte. Und dass er selbst nun einfach einmal einen der Empfänge der besseren Gesellschaft aufsuchte, um ihre Cousins ausfindig zu machen, kam nicht in Frage - zumindest nicht für ihn.

Martin blickte Reggie an. »Falls ich es schaffen sollte, sie aus diesem Schlamassel wieder herauszureißen, dürfte ich dann vorschlagen, dass Ihr vielleicht mal einem ihrer Cousins einen leisen Wink gebt? Ich meine Devil oder Vane oder einen von den anderen.«

Reggie starrte Martin an, als ob dieser irgendetwas ganz Entscheidendes noch immer nicht verstanden hätte. »Das kann ich nicht tun.« Als Martin daraufhin lediglich die Stirn runzelte, erklärte Carmarthen: »Ich bin doch schließlich ihr Freund.«

Aufmerksam musterte Martin Reggies vollkommen arglose Züge, verzog anschließend das Gesicht zu einer Grimasse und schaute sich abermals nach Amanda um. Im Stillen stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Tja, dann scheint wohl wieder mal alles an mir hängenzubleiben.«

Amanda hatte den Mut bereits verloren - ganz und gar und ohne auch nur noch einen letzten Hoffnungsschimmer zu haben -, als Dexter plötzlich unmittelbar neben ihr auftauchte. Seit der vergangenen Woche bereits war Amanda stetig größere Risiken eingegangen, war ihr Lachen von Abend zu Abend immer schriller geworden, ihr Verhalten immer empörender. Und nun war sie drauf und dran, etwas wirklich Unverzeihliches zu tun - aber einen Teil von ihr interessierte das schon gar nicht mehr.

Es war geradezu erschreckend gewesen zu erkennen, wie wenig ihr das, was das Leben ihr zu bieten hatte, noch wert war, wenn Martin Fulbridge nicht mehr zu diesem ihrem Dasein gehörte. Es hatte sie regelrecht geängstigt zu sehen, wie karg ihre Zukunft ihr schien: Es erwartete sie nichts als eine langweilige, rechtschaffene Ehe. Und auch die Vergnügungen der Halbwelt schienen Amanda mittlerweile nur noch schal und reizlos - obgleich sie natürlich immer noch vorgab, deren Zerstreuungen in vollen Zügen zu genießen -, denn im Grunde war das alles doch bloß eine schlechte Kopie des Treibens in der vornehmen Londoner Gesellschaft. Regelrecht ungebildet schienen Amanda ihre Gesprächspartner in den halbseidenen Etablissements und auch weitaus weniger gewinnend als jene, die sie eigentlich gewohnt war; auch die kalten Blicke der Gentlemen und die dreiste Unaufrichtigkeit der Frauen waren ihr zuwider.

Heute Abend aber war Amandas Verzweiflung schon gar nicht mehr in Worte zu fassen; selbst der Flirt mit einer ihren Ruf womöglich nachhaltig schädigenden Liaison schien sie nicht mehr schrecken zu können. In ihrem Inneren wusste Amanda zwar, dass ihr dieses Wagnis ganz und gar nicht behagte - doch ihr war einfach zu schwer ums Herz, als dass sie noch gegen den Sog der Gefahr hätte ankämpfen können.

Jetzt, da Dexter wieder an ihrer Seite aufgetaucht war, hätte sie eigentlich jubilieren müssen, doch ein einziger Blick in seine wie zu Stein erstarrten Züge genügte, um ihre Freude bereits im Keim wieder zu ersticken. »Und, Mylord?« Sie blickte ihn mit dem gleichen kecken Blick an, mit dem auch die anderen anwesenden Frauen ihn musterten; nur dass Amandas Augenaufschlag noch eine Spur herausfordernder schien. »Wie würdet Ihr in dieser Angelegenheit entscheiden - ja oder nein?«

Er hielt ihrem Blick Stand. »Ja oder nein - worum geht es denn?«

»Nun ja, es geht um die Behauptung, dass Radierungen - zumindest, wenn sie wahrhaft meisterlich ausgeführt sind - nicht nur die Sinne des Kunstkenners betören, sondern auch die Leidenschaft der Damen zu entfachen vermögen.« Ruhig hielt sie dem durchbohrenden Ausdruck in seinen Augen stand und bemühte sich, ihre Verachtung für das Thema auch weiterhin für sich zu behalten. Überhaupt war sie bloß zufällig dazugekommen, als in dieser Runde gerade das Gespräch auf den angeblich schier unwiderstehlichen Reiz einer gewissen Radierung zu sprechen kam, die irgendeiner der Anwesenden offenbar erst kürzlich erworben hatte. Amanda hatte es sich bei dieser Gelegenheit nicht verkneifen können anzumerken, dass die Wirkung von derlei Kunstwerken auf Frauen im Allgemeinen weit überschätzt würde. Woraufhin sämtliche der in Hörweite versammelten Gentlemen Amandas Meinung sofort und mit geradezu gönnerhaftem Gebaren als reinen Mumpitz abgetan hatten.

Mehr hatte es in der Gemütsverfassung, in der sie sich derzeit befand, nicht gebraucht, um sie dazu zu verleiten, der herrschenden Meinung auch weiterhin Paroli zu bieten und an ihrer Sichtweise festzuhalten. Der eigentliche Grund für ihre Verachtung allerdings war gar nicht einmal das Niveau dieser nur schlecht verhüllten Zweideutigkeiten, sondern eher die Tatsache, dass augenscheinlich alle der an der Diskussion beteiligten Herren ihr bloß eine recht bescheiden strukturierte Intelligenz zutrauten. Die Kerle glaubten doch tatsächlich, Amanda hätte die Andeutungen nicht verstanden und wäre noch immer der naiven Ansicht, es ginge bei der Diskussion lediglich um den malerischen Reiz irgendwelcher Radierungen. Die Gentlemen hier glaubten also tatsächlich, sie könnten Amanda dazu verleiten, sich schließlich noch um Kopf und Kragen zu reden.

Für wie naiv hielten sie sie eigentlich?

Selbstverständlich wusste Amanda genau, welche spezielle Sorte von Radierungen hier gemeint war - sie war immerhin schon dreiundzwanzig! Ein paar dieser Werke hatte sie sogar schon selbst gesehen, und von anderen wiederum hatte sie gehört, und überhaupt hatte man sie bereits von frühester Jugend an mit den Werken von Künstlern wie Fragonard vertraut gemacht. Ihr Standpunkt in dieser Diskussion war nicht bloß irgendeine Theorie, sondern gesicherte Tatsache: Kunstwerke, ganz gleich, welcher Art das dargestellte Thema auch sein mochte, hatten Amandas Leidenschaft noch nie entfachen können.

Doch das war ein Punkt, den sie den hier Versammelten wohl noch ein wenig deutlicher würde vor Augen führen müssen; obgleich Amanda, so regelrecht ausgehungert nach echter intellektueller Kurzweil, wie sie mittlerweile war, nicht ganz ausschließen konnte, dass sie aus einer Laune heraus womöglich auch das Ihre dazu beigetragen haben könnte, dass diese Diskussion überhaupt erst entbrannt war. Ihr derzeitiger Kurs in dieser Angelegenheit sah jedenfalls so aus, dass sie ganz entspannt abwartete, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die anwesenden Gentlemen endlich mal kapierten, dass Amanda keineswegs so dumm war vorzuschlagen, ihre These doch einfach einmal selbst unter Beweis zu stellen, indem sie sich eine der Sammlungen dieser angeblichen Kunstkenner ansah.

Das zumindest war Amandas Haltung in dieser Posse gewesen, ehe Dexter neben ihr erschienen war. Nun aber, da er sich der Diskussion offenbar anschließen wollte...

Amanda hob die Brauen. »Ihr habt doch sicherlich auch eine Meinung dazu, nicht wahr, Mylord? Schließlich sollte man doch meinen, dass gerade Ihr auf diesem Gebiet bereits recht bewandert seid.«

Fest hielt er den Blick in ihre Augen gesenkt. Schließlich verzog er die Lippen zu einem müden Lächeln, das Amanda regelrechte Schauer über den Rücken rieseln ließ. »Meiner Ansicht nach verfehlen diese Radierungen nur sehr selten ihren Zweck. Wenngleich da natürlich auch die Sensibilität der fraglichen Dame noch mit hineinspielt - die hat selbstverständlich auch einen gewissen Einfluss auf das Ergebnis.«

Auf Martins in schleppendem Tonfall vorgetragene, doch gleichwohl scharf artikulierte Worte folgte allgemeines Schweigen.

Amanda starrte ihn an, war geradezu gefangen in seinem Blick. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie erst einmal wieder drohend ansehen würde und dann versuchte, die Diskussion irgendwie zu ersticken. Was sie nun allerdings überhaupt nicht erwartet hatte, war, dass Martin sich in diesem Streitgespräch auf die Seite der Männer schlug und Amanda mit seiner geschickten Formulierung genau jenen Fehdehandschuh entgegenschleuderte, den auch die anderen Herren ihr schon seit geraumer Zeit hatten aufdrängen wollen. Hinter ihrer höflichen Maske wurde Amanda von echtem Entsetzen ergriffen.

»In der Tat«, schnurrte Mr. Curtin. »Genau diese Erfahrung habe ich auch stets gemacht.«

»Richtig, richtig«, stimmte Lord McLintock mit ein. »Und das wiederum bedeutet, meine Liebe, dass Ihr Euch, wenn Ihr Euren Standpunkt halten wollt, wohl mal eine Reihe geeigneter Radierungen werdet ansehen müssen. Ich würde mich da gerne anbieten, Euch meine Kollektion einmal zur Beurteilung vorzulegen.«

»Nein, nein. Meine Sammlung ist wesentlich umfangreicher -«

»Ah, aber ich denke doch, meine wäre am besten geeignet -«

Eine wahre Kakophonie von Angeboten stürmte auf Amandas Ohren ein. Binnen weniger Augenblicke drohte es zu einer ernsthaften Auseinandersetzung darüber zu kommen, wessen Sammlung denn nun am besten geeignet wäre, um Amandas Standpunkt auf die Probe zu stellen.

Plötzlich durchschnitt Dexters tiefe Stimme den Lärm. »Da ich es war, der überhaupt erst die Überlegung ins Spiel gebracht hat, dass die Reaktion der Dame auf die Radierungen in erster Linie von der Sensibilität besagter Betrachterin abhängt, und da meine Bibliothek darüber hinaus wohl eine wahrhaft umfangreiche Sammlung dieser Werke enthält - darunter sogar einige sehr seltene Bände aus dem Orient -, möchte ich doch wohl vorschlagen, dass Miss Cynster ihre Behauptung am besten durch die Betrachtung einer kleinen Auswahl aus meiner Sammlung unter Beweis stellt.«

Amanda tat einen langen, tiefen Atemzug. Nicht ein einziger der hier versammelten Galane wagte es, Martin zu widersprechen. Stattdessen warteten sie schweigend ab; immer bereit natürlich, sofort einzuspringen, falls Amanda Martins Angebot ablehnen sollte.

Sie blickte zu ihm auf, ließ nur ihn ihre zu grimmigen Schlitzen verengten Augen sehen. Es war wohl nur schwer zu leugnen, dass Martin Amandas Vergnügungen für diesen Abend soeben ganz gezielt ein Ende gesetzt hatte. Und das alles selbstverständlich in der selbstgefälligen Annahme, dass es ja bloß zu ihrem eigenen Besten sei. Schön und gut - aber dann sollte er doch bitte schön auch dafür sorgen, dass Amanda für die ihr nun entgehende Unterhaltung irgendeinen Ausgleich erhielt.

Kämpferisch reckte sie das Kinn empor und entgegnete mit einem Lächeln: »Was für eine wundervolle Idee!« Der argwöhnische Ausdruck, der daraufhin sofort in Martins Augen aufblitzte, war eine wahre Wonne. Mit einem noch herzlicheren Strahlen auf den Lippen wandte Amanda sich dann zu ihrem Publikum um und erklärte: »Natürlich werde ich euch allen über meine Eindrücke ausführlich Bericht erstatten.«

Einige der Herren grummelten missmutig. Andere nahmen die Niederlage mit mehr Anstand hin - und zweifellos in der Annahme, dass Amandas Appetit bei ihrer Rückkehr nur noch größer wäre. Ein Appetit, den sie, die Verlierer des heutigen Abends, dann wiederum befriedigen könnten. Innerlich schnaubte Amanda bloß verächtlich und beschloss, ihre Ausflüge in die Halbwelt hiermit ein für alle Mal zu beenden. Denn der einzige Grund, weshalb sie sich überhaupt erst hier hereingewagt hatte, war, um den Mann zu finden, der nun an ihrer Seite weilte. Sie reichte ihm die Hand, und sogleich zog er diese unter seinem Arm hindurch. Mit einem Nicken in Richtung der anderen führte Dexter sie von dem Kreis fort. Und steuerte geradewegs auf die Tür zu.

»Du glaubst doch wohl hoffentlich nicht«, murmelte Amanda, »dass du dich jetzt einfach so aus der Affäre ziehen kannst, ohne mir zumindest ein Buch aus deiner Sammlungen von Radierungen vorzuführen - am besten einen dieser ›seltenen Bände aus dem Orient‹?«

Das Gesicht zu einer harten Maske erstarrt, schaute er sie an. »Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb du dir solche Bücher ansehen solltest.«

Mit weit aufgerissenen Augen zog Amanda die Hand von seinem Ärmel fort - sofort schloss er fest die Finger um die ihren. Amanda schaute hinab auf ihre in seinem Griff gefangene Hand, dann hob sie den Blick zu seinen Augen empor. »Wenn du glaubst, die Gesellschaft dieser Herrschaften wäre zu riskant für mich, dann wirst du mir wohl oder übel eine Alternative bieten müssen. Also, du hattest gerade eben angeboten, mir deine Radierungen zu zeigen - und ich habe dein Angebot angenommen. Das haben alle gehört.«

»Da willst du mich doch jetzt wohl nicht ernsthaft drauf festnageln, oder?« Martins Tonfall ließ erkennen, dass er Amanda mittlerweile für eindeutig geisteskrank hielt.

Fest hielt sie den Blick in seine achatgrünen Augen gesenkt. »Doch.«

Martin fluchte leise vor sich hin. Er wandte den Blick ab und sah zu dem wahren Meer an Köpfen hinüber. Schließlich ließ er Amandas Hand los und langte in die Tasche seines Überrocks hinein. Dann zog er einen kleinen Notizblock hervor und kritzelte eine Nachricht für Reggie Carmarthen darauf, in der er ihm kurz erklärte, dass er dessen Freundin gerettet hätte und nun nach Hause befördern würde. Reggie würde den schroffen Ton von Martins kurzer Botschaft zweifellos zu deuten wissen. Nachdem Amandas Begleiter einen Lakaien mit der Beförderung der zusammengefalteten Nachricht beauftragt hatte, griff er wieder nach Amandas Hand.

»Na, dann komm.«