4
Amanda stahl sich zur Seitenpforte ihres Elternhauses hinaus in eine enge Gasse. Sie schloss das Tor hinter sich, hüllte sich noch fester ihren Mantel und ging raschen Schrittes zum Ende der Gasse und spähte auf die große Straße hinaus.
An der Ecke North Audley Street wartete eine schwarze Equipage.
Dexter hatte wohl schon nach ihr Ausschau gehalten, denn als Amanda sich näherte, schwang augenblicklich die Tür der Kutsche auf.
»Komm, steig ein. Schnell!«
Seine Hand erschien; groß und langfingrig winkte sie Amanda gebieterisch herbei. Amanda verbarg ein Lächeln, als sie ihre Finger in die seinen legte und sich von ihm beim Einsteigen helfen ließ. Sie setzte sich, er beugte sich an ihr vorbei, um die Tür zu schließen, dann klopfte er kurz an die Decke der Kutsche; diese fuhr mit einem Ruck an und rumpelte die Straße hinunter.
Erst da löste er seinen Griff um Amandas Hand, ließ ihre Finger ganz langsam aus den seinen gleiten. Im flackernden Lichtschein einer Straßenlaterne sah Amanda, wie Martin sie eindringlich anschaute. Sie lächelte erfreut, dann warf sie einen Blick zum Fenster hinaus und betrachtete die Straßen, die draußen an ihnen vorüberzugleiten schienen.
Erregung schwirrte durch ihre Adern, prickelte auf ihrer Haut, als würden tausend winzige Füßchen darüber laufen. Ein Gefühl, das sehr viel mehr mit Martins Anwesenheit zusammenhing, mit dem Umstand, dass er so dicht neben ihr in der dunklen Kutsche saß, als mit dem Gedanken an den Zielort ihres heimlichen nächtlichen Ausflugs. Sie spürte, wie sein Blick von ihrem Gesicht aus abwärtsglitt, an ihrem Körper hinunterwanderte. Sie war sich Martins Gegenwart nur allzu deutlich bewusst, seiner atemberaubenden Männlichkeit und der sinnlichen Hitze, die von ihm auszustrahlen schien. Und mit alledem - sowie mit den sich daraus womöglich noch ergebenden Konsequenzen - saß sie nun eingeschlossen wie in einen engen Kokon in seiner Kutsche.
»Wenigstens warst du so vernünftig, einen warmen Mantel anzuziehen.«
Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Ich bezweifle, dass mir die Ausfahrt Spaß machen würde, wenn ich vor Kälte am ganzen Körper zittere.« Natürlich war sie liebend gerne bereit, aus einem anderen Grund zu zittern - aber nicht vor Kälte.
Die Kutsche wurde langsamer und bog dann von der Straße ab, um zwischen hohen Torpfosten hindurchzurollen, die gekrönt waren von steinernen Gebilden in Form von - ja, was war das, waren das Adler? Amanda und Martin waren um einen großen Häuserblock herumgefahren und dann die Park Lane hinunter. Ein riesiges herrschaftliches Wohnhaus tauchte vor ihnen auf; die Auffahrt führte an dem Gebäude vorbei und beschrieb dann einen Bogen zur Rückseite.
»Meine Karriole wartet schon auf uns.«
Wie aufs Stichwort kam die Equipage in genau diesem Moment schaukelnd zum Stehen. Dexter öffnete die Tür auf seiner Seite, sprang hinaus und war dann Amanda beim Aussteigen behilflich.
Düsternis lag über dem Hof, in dem die Karriole bereit stand. Dexter führte Amanda zu dem hohen, zweirädrigen Gefährt und half ihr auf den Sitz hinauf. Unterdessen spannten zwei Stallburschen die Kutschpferde aus und führten sie zurück in den Stall. Ein anderer hielt die beiden unruhig tänzelnden Tiere fest, die vor die Karriole gespannt waren. Dexter schwang sich auf den Kutschbock, ließ sich neben Amanda nieder und ergriff die Zügel. Er schaute sie flüchtig an, dann langte er mit einer Hand hinter sich und kramte einen Moment lang unter dem Sitz herum. »Hier.« Damit ließ er eine dicke, weiche Decke auf ihren Schoß fallen. »Wenn wir fahren, wird es noch kälter werden.« Er richtete seinen Blick wieder nach vorn und nickte dem Stallburschen zu. »Lass sie los.«
Der Junge löste seinen Griff um das Zaumzeug der Tiere und flitzte um die Karriole herum nach hinten, um sich blitzschnell auf das Trittbrett zu schwingen, während Dexter auch schon mit den Zügeln schlug. Amanda hielt sich an der Seitenlehne fest, als plötzlich der Kies unter den Rädern aufspritzte und das Gefährt mit einem unsanften Ruck vorwärtsschoss. Als sie um das Haus herumfuhren, ließ sie neugierig den Blick über das massige Gebäude schweifen, konnte aber nicht viel erkennen, denn es war in Dunkelheit und tiefe Schatten gehüllt. Sie brausten weiter, und dann tauchte auch schon wieder das große Tor am Ende der Auffahrt vor ihnen auf. Nachdem Dexter die Kurve genommen hatte und die Räder des Zweispänners ruhig und gleichmäßig über das Straßenpflaster rollten, ließ Amanda die Sitzlehne wieder los und lehnte sich entspannt zurück.
Als sie die Decke ausschüttelte, stellte sie fest, dass diese mehr als luxuriös war - aus herrlich weicher Seidenfaser gewirkt und von einem kaum spürbaren Gewicht. Und erst die Farben - intensiv und leuchtend, selbst in dem schwachen Licht. Zudem war das Plaid an beiden Enden mit langen Fransen versehen. Amanda legte sich das prachtvolle Stück um die Schultern und steckte es dann um sich herum fest. Dexter musterte sie mit einem Blick von der Seite, vergewisserte sich, dass sie warm eingehüllt war, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit dann wieder auf seine Pferde.
Sein Haus stand nahe dem südlichen Ende der Park Lane, die die südöstliche Ecke der von der Hautevolée bevorzugten Wohngegend bildete. Amanda konnte also einigermaßen unbesorgt neben Dexter in dem offenen Zweispänner durch die Nacht fahren, ohne befürchten zu müssen, von Bekannten gesehen zu werden, während er das Gefährt weiter Richtung Süden lenkte und auf die Kings Road hinauf.
Die Pferde waren frisch und ausgeruht und der Verkehr um diese Tageszeit so gering, dass sie nur hin und wieder einer anderen Kutsche begegneten. Amanda lehnte sich zurück und genoss die kalte Luft, die Stille des Abends. Sie kamen gut voran, fuhren bei Putney über den Fluss und rollten dann weiter durch Dörfer und Weiler. Während der Fahrt löste sich die Wolkendecke nach und nach auf, sodass nach einer Weile endlich der Mond zum Vorschein kam und ungehindert sein helles Licht verströmen konnte. Schließlich erreichten sie das Dorf Richmond, das schlafend unter einem von Sternen übersäten, schwarzsamtenen Abendhimmel lag. Hinter dem letzten Haus, auf einer riesigen Fläche, die sich vom Dorf bis hinunter zum Fluss erstreckte, begann der in undurchdringliche Finsternis getauchte Wildpark.
Amanda richtete sich unwillkürlich gerader auf ihrem Sitz auf, als die ersten hohen Bäume näher rückten, ihre kahlen, weit ausladenden Äste dem Himmel entgegenreckt. Amanda war im Laufe der Jahre schon des Öfteren hier gewesen und erkannte die Gegend wieder, und doch schien bei Dunkelheit alles anders zu sein - irgendwie plastischer, geheimnisvoller, die Verheißung von Nervenkitzel und Abenteuer unendlich viel greifbarer. Ein kühles Kribbeln lief über ihre Haut, und sie erschauerte.
Augenblicklich fühlte sie Dexters prüfenden Blick auf sich ruhen, machte jedoch keine Anstalten, ihn zu erwidern. Doch schon bald war Dexter gezwungen, wieder nach vorn zu schauen und auf seine Pferde zu achten, während sie immer tiefer in den schattigen Park eindrangen.
Stille hüllte sie ein, eine tiefe, vollkommene, scheinbar alles durchdringende Stille, die nur hier und dort einmal unterbrochen wurde von dem Schrei einer Eule, dem leisen Rascheln und Trippeln irgendeines nachtaktiven Tieres und dem dumpf klingenden Getrappel der Pferdehufe. Das Mondlicht war hier nur matt, reichte nur gerade aus, um Formen erkennen zu können, nicht aber Farben. Auch die Brise, die durch den Park wehte, war bloß schwach und brachte den Geruch nach Bäumen, Gras und vermoderndem Laub mit sich. Die Rehe und Hirsche schliefen, waren lediglich als verschwommene, höckerförmige Gebilde unter den Bäumen zu erkennen. Ein paar der Tiere standen aufrecht, bekundeten aber kein Interesse an den zwei- und vierbeinigen Geschöpfen, die da in ihre vom Mond beschienene Welt eingedrungen waren.
Sie waren tief im Inneren des Parks, außer Sichtweite aller menschlichen Wesen, als Dexter die Pferde schließlich anhalten ließ. Die Stille, die unheimliche Atmosphäre der Nacht verstärkten sich noch und hüllten sie ein. Dexter band die Zügel am Sitz fest und wandte sich dann Amanda zu. Mit großen, leuchtenden Augen betrachtete sie ihre Umgebung, nahm wie gebannt den Anblick der Parklandschaft in sich auf, die sich leicht wellenförmig zu beiden Seiten des Karrenpfades erstreckte, eine riesige Wiese, gesäumt von Bäumen und struppigen Dickichten und vollkommen unberührt bis auf den silbrigen Glanz des Mondes.
»Aufregend genug?«
Die Worte drangen als ein Flüstern an ihr Ohr, doch diesmal waren sie nicht von Zynismus begleitet - Dexter schien für den besonderen Zauber dieser Nacht ebenso empfänglich zu sein wie sie.
Amanda atmete tief durch. Die Luft war kühler, weicher, balsamischer als jede andere, die sie jemals gekostet hatte. »Es ist irgendwie... seltsam.« Sie schaute ihn flüchtig von der Seite an. »Komm, lass uns ein kleines Stück spazieren gehen.«
Dexter zog kritisch die Brauen hoch, erhob sich jedoch kommentarlos, trat an ihr vorbei und sprang vom Kutschbock auf den Boden. Er reichte Amanda beide Hände, half ihr die Trittstufen hinunter, dann umschloss er eine ihrer Hände mit festem Griff und ließ seinen Blick über die weite, von Mondlicht übergossene Grasfläche schweifen. »In welche Richtung?«
»Dorthin.« Sie zeigte über die sich vor ihnen ausdehnende Fläche hinweg auf eine Nadelholzschonung.
Dexter rief dem Pferdeknecht eine Anweisung zu, dann machten er und Amanda - ihre Hand noch immer fest von der seinen umschlossen - sich auf den Weg.
Es war Jahre her, seit sie das letzte Mal Hand in Hand mit einem Mann spazieren gegangen war. Sie fand es unerwartet schön und angenehm, denn es ließ ihr mehr Bewegungsfreiheit, als wenn sie an Dexters Arm gegangen wäre. Plötzlich blieb sie mit ihrem Stiefel in einer Bodenvertiefung stecken; sogleich zog Dexter Amanda wieder hoch und stützte sie. Sie lachte atemlos, dankte ihm mit einem Lächeln und zog sich die luxuriöse Decke wieder um die Schultern, dann ließ sie ihn abermals ihre Hand ergreifen, und sie setzten ihren Spaziergang fort.
Sie entfernten sich weiter und weiter von dem Karrenpfad. Das Gefühl, vollkommen allein zu sein, die einzigen Lebewesen in der stillen Landschaft, wurde mit jedem Schritt stärker. Und daraus wiederum erwuchs das Bewusstsein, in völliger Abgeschiedenheit und Einsamkeit zu sein, ein Mann und eine Frau, ganz allein in der Nacht. Es gab weit und breit kein anderes Geschöpf, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken oder zu verwirren.
Der Zauber, der in der mondhellen Luft lag, wirkte geradezu berauschend. Als sie sich dem Kieferngehölz näherten, fühlte Amanda sich regelrecht schwindelig. Sie war sich bewusst, dass Dexter sie beobachtete. Welche Gedanken ihm dabei durch den Kopf gingen, vermochte sie jedoch unmöglich zu erraten.
Als was mochte er sie wohl betrachten? Als eine Verpflichtung, als eine junge Dame, die zu beschützen er als seine Pflicht erachtete? Oder als eine junge Frau, mit der Hand in Hand durch den Mondschein zu spazieren ihm das größte Vergnügen bereitete?
Amanda wusste es nicht, aber sie war fest entschlossen, die Antwort herauszufinden.
Die Kiefern standen so dicht beieinander, dass sie ein kleines Wäldchen bildeten, durch das sich ein schmaler Pfad schlängelte. Amanda sah Dexter fragend von der Seite an. »Wollen wir dort reingehen?«
Er erwiderte ihren Blick. »Wenn du möchtest.«
Amanda ging vorweg, schaute sich nach allen Seiten um, als sie sich in den Schatten der Bäume begaben. Der Pfad führte zu einer Lichtung, wo der Interessierte innehalten und die einzelnen Bäume bewundern konnte. Und genau dies tat Amanda dann auch. Die Wipfel der Bäume verdeckten den Mond; die Lichtung war also nur von diffusem Licht erhellt, noch weicher, noch verschwommener, noch weniger greifbar als der klare Mondschein.
Behutsam entzog Amanda Dexter ihre Hand, um die seidene Decke um ihre Schultern zurechtzuziehen. Dann stand sie einen Moment lang still da, den Blick auf die Bäume geheftet, alle ihre Sinne erfüllt von der subtilen Verheißung, dem geheimnisvollen, kaum wahrnehmbaren Raunen, das in der nächtlichen Luft lag. Schließlich wandte sie sich Martin zu. Er löste den Blick von den Bäumen und schaute Amanda an. Sie zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann trat sie einen Schritt näher auf ihn zu. Legte ihm eine Hand auf die Schulter, erhob sich auf die Zehenspitzen und drückte ihre Lippen auf die seinen.
Er reagierte nicht sofort. Dann jedoch schloss er die Hände um ihre Taille, gab Amanda somit Halt, während er seine Lippen fest auf ihren Mund presste. Er erwiderte Amandas Zärtlichkeit, dann berührte seine Zungenspitze sacht ihre Lippen, und sie öffnete sie bereitwillig. Mit einem raschen Stoß drang er ein.
Ihrer beider Lippen verschmolzen zu einer Einheit, ihre Zungen umschlangen einander, liebkosten einander, machten einander raffinierte Versprechen. Seine Finger auf ihrem Rücken spannten sich an, gruben sich ein wenig tiefer in ihre Haut, so als ob er sie genau dort festhalten wollte, wo sie gerade stand. So als ob er den geringen, aber immer noch sicheren Abstand zwischen ihren beiden Körpern unbedingt wahren wollte - obgleich Amanda sich doch nichts sehnlicher wünschte, als diesen zu verringern und Martin endlich wieder ganz nahe zu sein.
Er beendete den Kuss und hob ein klein wenig den Kopf, schien aber unfähig, sich ganz von ihr zu lösen. Seine Augen blickten forschend in die ihren. »Was suchst du?«
Sie ließ ihre Finger um seinen Nacken gleiten. »Das habe ich dir doch schon gesagt - ich möchte aufregende Dinge erleben. Und du hast mir geantwortet, dass ich sie hier finden könnte.« In deinen Armen. Sie blickte ihn beschwörend an. Wage es ja nicht, so zu tun, als ob du mich nicht verständest!, schienen ihre Augen zu sagen, als sie, den Druck seiner Hände an ihrer Taille einfach ignorierend, so nahe auf ihn zutrat, dass ihr Mantel seinen Überrock streifte. Sie hielt Martins Blick aus dunklen, unergründlichen Augen fest, und betete innerlich darum, dass sie die richtige Nuance traf - einen unverhohlen herausfordernden Ton. »Also, dann zeig es mir.« Ihr Blick fiel auf seine Lippen. »Ich will es wissen - ich will es spüren.«
Abermals stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Und diesmal reagierte er gleich von der ersten Sekunde an. Ihre Lippen verschmolzen miteinander, ihre Zungen tanzten, spielten voller Leidenschaft miteinander… dann gaben seine harten, muskulösen Arme ganz plötzlich nach, lösten ihren Griff, so als ob es Amanda endlich gelungen wäre, ihn dazu zu bewegen, ihr in seinem Inneren eine Tür zu öffnen. Seine Hände glitten von ihrer Taille fort, wanderten tiefer, schoben sich dann unter die rutschende Seidendecke, die sie noch immer um die Schultern geschlungen trug. Langsam, ja geradezu bedächtig zog er Amanda an sich.
Die Berührung ihrer Körper war für Amanda ein regelrechter Schock - aber ein lustvoller. Wenn irgendein anderer Mann versucht hätte, sie so zu halten, hätte sie sich augenblicklich gegen die eisenharte Kraft seiner Umarmung gewehrt - einer Umarmung, in der sie sich fast schon gefangen fühlte. Stattdessen jedoch schmiegte sie sich verlangend an Martin und lächelte innerlich, als sich seine Arme noch fester um sie schlossen und seine Hände über ihren Rücken wanderten. Und schwelgte in den so deutlich spürbaren Gegensätzen - ihre Schmalheit im Vergleich zu seinem großen, kräftigen Körper, die Feinheit ihrer Knochen im Vergleich zu der Schwere der seinen. Ihr Körper reagierte prompt, und sie fühlte ganz deutlich, wie sein Körper wiederum auf die enge Berührung mit dem ihren reagierte, spürte, wie ihr Puls mit einem Mal schneller schlug. Ahnte Martins drängendes Bedürfnis, sich auf der Stelle Erleichterung zu verschaffen. War ihm dankbar dafür, dass er es nicht tat.
Er fühlte sich wie Eisen unter seinen Kleidern an, heiß, hart, kraftvoll männlich. Ihre Brüste, die gegen seinen Überrock gepresst wurden, begannen vor Verlangen zu schmerzen, und es juckte ihr förmlich in den Fingern, ihn zu berühren, zu erforschen. Sie schob ihre Hand in sein Haar, zerzauste voller Ungestüm die dichten Locken, die so schwer und seidig waren wie die Decke um ihre Schultern, ließ sie wieder und wieder durch ihre Finger gleiten. Ihre andere Hand ruhte auf seiner Brust; nur zu gerne hätte sie sie über seinen Körper wandern lassen, doch Martin lenkte sie ab.
Er lockte sie tief in den Kuss hinein, raubte ihr den Atem, fesselte ihre Sinne, brachte sie beinahe um den Verstand unter dem unvermittelten Aufflammen sinnlicher Hitze. Mit der plötzlichen Entlarvung leidenschaftlicher Begierde, der seinen und der ihren, der Versuchung, einem bis dato unbekannten Bedürfnis nachzugeben.
Martin legte den Kopf schräg und vertiefte den Kuss, zog Amanda mit sich in den Strudel der Leidenschaft, hielt sie gefangen. Denn er wollte die Kontrolle über die Situation behalten, wollte verhindern, dass Amandas Zauber ihn zu sehr in seinen Bann schlug. Und allein der Himmel wusste, weshalb er ihr überhaupt in das Wäldchen gefolgt war. Doch genau genommen war ihm sein Verstand ja schon in dem Augenblick abhanden gekommen, als sie in diese einsame, menschenleere Landschaft vorgedrungen waren. Damit also hatte Amanda ihn in die Falle gelockt, auf genau diese Weise war es ihr gelungen, ihn in diesen Austausch zu verwickeln, einen Austausch, der, wie Martin sehr wohl wusste, äußerst unklug war. Doch wie dagegen ankämpfen, wie sie zurückweisen... eine absolut unmögliche Aufgabe in seiner augenblicklichen Verfassung.
Ihre Lippen waren warm und unendlich köstlich, ihr Mund die schiere Verlockung, der weiche, nachgiebige Körper, den er da in den Armen hielt und der sich so verlangend an ihn drängte, der Inbegriff alles Weiblichen. Martin konzentrierte sich auf den Kuss, konzentrierte sich darauf, Amandas Mund noch weiter zu erforschen, jede Zärtlichkeit gründlichst auszukosten und auch noch das letzte Körnchen sinnlichen Genusses aus der nächsten Liebkosung herauszuholen und der nächsten...
Besser das, als seinen verwegenen Gedanken Zeit zu gewähren, sich allzu eingehend mit den Möglichkeiten zu beschäftigen, welche in jenem biegsamen Körper stecken mochten, den er da in seinen Armen hielt.
Sie murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin, drängte sich noch näher an ihn und erschauerte leicht; und er schloss seine Arme automatisch noch fester um sie, drückte ihren Körper ganz eng an sich, bestrebt, sowohl ihr als auch sich selbst sinnlichen Genuss zu bereiten. Er nahm ihren Mund in einem heißen, stürmischen Kuss, ließ sie noch ein wenig mehr von dem Feuer spüren, mit dem sie offenbar so unbedingt spielen wollte.
Und diese Kostprobe von Leidenschaft fesselte sie, schlug sie in ihren Bann. Er konnte es an der Art spüren, wie Amanda ganz leicht den Rücken versteifte, daran, wie sie ihre Aufmerksamkeit vollständig auf ihn richtete, an ihrer sinnlichen Begierde. Letztere war nur schwer fassbar; süß blitzte sie zuweilen hervor, blieb aber zugleich doch stets verschleiert, verhalten...
Mit einem Mal überkam Martin das drängende Bedürfnis, Amandas Begierde gänzlich hervorzulocken; er wollte Amanda dazu verführen, ihm ganz offen zu zeigen, dass sie ihn begehrte. Ein Wunsch, der ihm bis dato gänzlich fremd gewesen war - denn das Verlangen einer Frau zu wecken hatte für ihn noch nie eine sonderlich große Rolle gespielt. Sein ganzes Leben lang war es immer umgekehrt gewesen: Sie hatten stets sein Verlangen wecken wollen. Nun aber...
Martin versuchte, sich zu zügeln, sich zu beherrschen. Und stellte fest, dass er es nicht konnte. Die Verlockung war einfach zu groß.
Amanda erwiderte seinen nächsten, noch drängenderen Kuss bereitwillig, und doch spürte er bei ihr noch immer eine Barriere, die zwar nur sehr schwach, aber dennoch vorhanden war, und die ganz klar einschränkte, wie viel Amanda ihm offenbaren, ihm preisgeben würde - wie viel von sich selbst sie bereit war, ihm zu schenken.
Noch während er abermals ihren Mund nahm, fühlte, wie sie sich an ihn klammerte, spürte, wie sie aufkeuchte, noch während sich heißes Verlangen einer heimtückischen Krankheit gleich in seinem Körper ausbreitete, schoss ihm mit einem Mal die Erkenntnis durch den Kopf, dass er Amanda nicht zu noch mehr drängen durfte, jedenfalls nicht jetzt - beziehungsweise, wenn er klug war, am besten überhaupt nie.
Martin unterbrach den Kuss, beugte Amandas Kopf zurück, streifte mit seinen Lippen an ihrem Unterkiefer entlang und ließ seinen Mund dann tiefer hinabwandern. Die schlanke Säule ihres Halses verlockte ihn, die seidenweiche, pfirsichzarte Haut, die ihre Kehle umspannte. Seine Finger glitten abwärts, wanderten mal hierhin, mal dorthin, fasziniert tastend und erforschend. Seine Lippen erkundeten, kosteten, fanden Amandas Pulsschlag, der wild in der kleinen Grube an ihrem Halsansatz pochte.
Ihre Finger waren in seinem Haar vergraben, spielten selbstvergessen mit seinen Locken, während sie sich ganz seinen Liebkosungen hingab. Als er endlich die Kraft fand, den Kopf zu heben, strich Amanda ihm das völlig zerwühlte Haar aus der Stirn zurück und blickte ihm ins Gesicht, sah ihm einen Moment lang forschend in die Augen. Dann berührten ihre Finger seine Wange, glitten abwärts und streiften hauchzart über seine Lippen.
Sie lächelte - erfreut, zufrieden. Aber auch, oder zumindest ein klein wenig, verwirrt - denn der Atemzug, den sie tat, war zittrig und ging sogar noch ein wenig keuchender, als ihre Brüste gegen Martins Brust drückten.
»Danke.« Ihre Augen leuchteten strahlend, selbst in dem matten Licht. Sie machte Anstalten zurückzuweichen, sich aus seiner Umarmung zu lösen, sodass Martin seinen Muskeln regelrecht befehlen musste, sich zu entspannen, seine Arme regelrecht zwingen musste, Amanda freizugeben.
Sie legte den Kopf schief, sah ihm dabei noch immer in die Augen. »Wir sollten jetzt besser wieder zu deiner Kutsche zurückgehen. Es wird spät werden, bis wir in die Stadt zurückkehren.«
Das hätte eigentlich sein Text sein sollen, nicht der ihre. Er widerstand dem Drang, kräftig den Kopf zu schütteln, um seinen trägen, bummeligen Verstand wieder wachzurütteln. Seine Miene war starr, ausdruckslos. Es war unmöglich zu erraten, was hinter der in seine Züge eingebrannten Maske des Verlangens in seinem Kopf vor sich gehen mochte.
Amanda trat einen Schritt zurück, und er ließ es geschehen, obgleich sich wirklich alles in ihm dagegen sträubte, sie gehen zu lassen.
Ihre Hand glitt an seinem Arm hinab, und er ergriff sie, hielt sie fest. Mit einem tiefen Blick in ihre Augen hob er ihre Hand an seine Lippen und drückte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen.
»Komm.« Er behielt ihre Hand in der seinen. »Die Kutsche wartet auf uns.«
Die Rückfahrt nach London verlief ebenso glatt und ohne Zwischenfälle wie ihre Hinreise, unterschied sich jedoch in einer bemerkenswerten Hinsicht. Amanda plapperte. Redete fast ununterbrochen. Aber trotz der Tatsache, dass das, was sie sagte, durchweg Hand und Fuß hatte und vernünftig klang - eine echte Leistung, wenn man bedachte, wie lange die Fahrt dauerte -, ließ Martin sich nicht täuschen. Denn er wusste, sie hatte erheblich mehr bekommen, als sie ursprünglich erwartet hatte. Sicherlich, es war ihr eigener Wunsch gewesen, etwas Aufregendes zu erleben, aber das, was sie mit ihm, Martin, in dem menschenleeren nächtlichen Park erlebt hatte, war dann doch derart aufregend gewesen, dass sie noch immer ziemlich durcheinander war.
Er überließ es seinen Stallburschen, sich um die Pferde und die Kutsche zu kümmern, und strebte mit raschen Schritten zum Haus. Geschah Amanda ganz recht, dass sie völlig durcheinander war - man brauchte sich ja nur mal anzusehen, was sie mit ihm gemacht hatte!
Die Seidendecke, die noch immer warm von Amandas Körper war, über einen Arm geworfen, betrat Martin das Haus und marschierte schnurstracks zu seiner Bibliothek. Doch erst als er es sich in ihrem luxuriösen Inneren bequem gemacht hatte, sich auf das Liegesofa hatte fallen lassen, die Seidendecke in einem unordentlichen Knäuel neben sich und in der Hand ein Glas mit Kognak, gestattete er sich, seine Gedanken zurückschweifen zu lassen, die Ereignisse der vergangenen Stunden und der vorhergehenden Abende noch einmal im Geist Revue passieren zu lassen.
Das Feuer im Kamin brannte langsam herunter, während er sich seine ersten Begegnungen mit Amanda ins Gedächtnis zurückrief, um Vergleiche anzustellen und Eindrücke zu analysieren. Zwei Dinge erschienen ihm bereits als sicher: Amanda ging nach einem ganz bestimmten Plan vor. Und er, Martin, war Teil dieses Plans.
Zwei andere Aspekte jedoch blieben im Dunkeln, wollten sich ihm nicht so recht erschließen. Zum einen fragte Martin sich, ob Amanda von Anfang an gewollt hatte, dass er derjenige wäre, der sie auf ihrer Suche nach aufregender Kurzweil und prickelnden Abenteuern begleiten sollte, oder ob sie sich erst später für ihn entschieden hatte, als die beste Wahl, die es für sie gab. Und dies war immerhin ein überaus relevanter und wichtiger Punkt im Hinblick auf jenen anderen, letzten Aspekt ihres Plans, über den er nach wie vor nichts wusste.
Jener letzte Aspekt nämlich behandelte die Frage, worauf Amanda mit alledem eigentlich hinauswollte. Was war ihr Endziel?
Ging es ihr lediglich darum, noch einen letzten kurzen Flirt zu erleben, sich noch ein letztes Mal nach Herzenslust zu amüsieren, bevor sie einen Hausstand gründete und einen hoffähigen Mann aus ihren Kreisen heiratete? Ihre Bemerkung, dass der Beginn der eigentlichen Saison ihren romantischen Abenteuern ein Ende setzen würde, ließ darauf schließen, dass sie sich womöglich tatsächlich nur für eine Weile amüsieren wollte.
Aber was, wenn dem nicht so war? Was, wenn sie hinter ihrer Natürlichkeit und Arglosigkeit, die er ihr mittlerweile sowieso nicht mehr so recht abnahm, darauf konzentriert war, sehr viel mehr zu erreichen?
Was, wenn sie es sich zum Ziel gesetzt hatte zu heiraten - und zwar ihn?
Er runzelte nachdenklich die Stirn, wartete, trank einen Schluck Kognak, kostete den Geschmack noch einen Moment lang aus … Und immer noch wollte sich die Reaktion, die er eigentlich von sich selbst gewohnt war, nicht einstellen. Seine Entschlossenheit, sich von Amanda zurückzuziehen, sie auf Distanz zu halten … wo war seine instinktive, bisher doch stets mit absoluter Zuverlässigkeit eintretende Schutzreaktion geblieben?
»Großer Gott!« Martin nahm einen weiteren kräftigen Schluck Kognak. Genau das war es, was sie ihm angetan hatte. Sie hatte jenen Teil von ihm verlockt, den er eigentlich schon lange tot und begraben geglaubt hatte.
Er scheute sich zwar davor, diesem Gedanken allzu intensiv nachzugehen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er Recht hatte, als er mit einem Mal wieder einen klaren Kopf bekam, sich seine Verwirrung legte und seine wild kreisenden Gedanken endlich zur Ruhe kamen. Er wartete, nippte dabei an seinem Kognak, den Blick auf das mittlerweile fast vollständig erloschene Feuer gerichtet, bis er in der Lage war, sich einigermaßen ruhig und gelassen mit der Frage zu beschäftigen, wo er - sie beide - jetzt standen.
Sie spielten irgendein Spiel. Und die Wahl des Spiels hatte Amanda getroffen. Trotzdem war er mittlerweile zu einem engagierten Mitspieler geworden. Auszusteigen, das Spiel aufzugeben, kam für ihn also nicht mehr in Frage. So viel dazu. Und was das Ziel anbetraf, worauf sie zusteuerten - nun, das kannte er nicht. Er würde eben einfach Amandas Führung folgen müssen. Das gehörte zu dem Spiel eben dazu. Somit war es Amanda gelungen, die Zügel in ihre kleinen Hände zu nehmen, und er sah derzeit auch keine Möglichkeit, sie wieder an sich zu nehmen.
Was bedeutete, dass er von einer Frau vorwärtsgetrieben, herumkommandiert, manipuliert wurde.
Wieder wartete er auf seine unvermeidliche Reaktion, und wieder blieb sie überraschenderweise aus. Zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht vollkommen abgeneigt, sich von einer Frau gängeln zu lassen. Zumindest für eine kleine Weile.
Mit einer selbstironischen Grimasse trank Martin sein Glas aus.
Angesichts des Spielfelds, auf dem ihr Spiel gespielt werden sollte, und angesichts seiner großen Erfahrung auf genau diesem Gebiet lag die letztendliche Kontrolle - die Fähigkeit, das Spiel zu stoppen, neu auszurichten, ja sogar die Regeln zu ändern - jedoch in seinen Händen. Und dort würde sie auch bleiben.
Er fragte sich, ob Amanda das wohl schon erkannt hatte.
Nach ihrem romantischen Mondscheinspaziergang durch Richmond Park fiel es Amanda schwer, ein sonderlich großes Interesse an einem solch alltäglichen und profanen Ereignis wie einem Ball vorzutäuschen.
»Ich wünsche, ich könnte mich verdrücken«, flüsterte sie Amelia zu, während sie im Kielwasser ihrer Mutter Louise durch Lady Carmichaels Ballsaal promenierten.
Amanda warf ihrer Zwillingsschwester einen besorgten Blick zu. »Du kannst nicht schon wieder Kopfschmerzen haben! Schon beim letzten Mal habe ich Mama nur mit Mühe davon abhalten können, Doktor Graham kommen zu lassen.«
Amanda beäugte die Zierde der vornehmen Gesellschaft mit misstrauischem Blick. »Nun gut, dann werde ich eben wieder mal behaupten müssen, ich hätte noch eine andere Einladung. Geben die Farthingales nicht heute Abend eine Gesellschaft?«
»Schon, aber du musst mindestens noch eine weitere Stunde die brave Tochter spielen, bevor du gehen kannst. Und du wirst Reggie finden müssen.«
»Stimmt.« Suchend ließ Amanda ihren Blick über die Menge der Ballgäste schweifen. »Hast du ihn irgendwo gesehen?«
Amelia schüttelte den Kopf. Ihre Mutter ließ sich auf einer Chaise neben Lady Osbaldestone und der Herzoginwitwe von St. Ives nieder, Amandas und Amelias Tante. Nachdem die Zwillinge höflich vor den Damen geknickst und Begrüßungen ausgetauscht hatten, schlenderten sie weiter durch die Menge.
»Da drüben sind Emily und Anne!«
Amanda folgte Amelias Blick zu jener Stelle an der Seitenwand des Saales, wo zwei sichtlich nervöse junge Mädchen standen. Emily und Anne Ashford sollten in dieser Saison in die Gesellschaft eingeführt werden. Die Zwillinge kannten die Ashfords schon ihr ganzes Leben lang. Mit einem absolut identischen, beruhigenden Lächeln auf den Lippen bahnten sie sich einen Weg durch das Gedränge zu den jüngeren Mädchen.
Emilys und Annes Augen leuchteten auf.
»Dies ist euer erster Ball, stimmt’s?«, fragte Amelia, als sie sich zu den Schwestern gesellten.
Die Mädchen nickten so eifrig, dass ihre braunen Ringellocken tanzten.
»Keine Sorge«, meinte Amanda. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber ihr werdet den Abend garantiert überstehen - und zwar ohne euch hoffungslos zu blamieren.«
Emily lächelte, nervös, aber dankbar. »Es ist bloß alles so … überwältigend.« Sie wies auf die Menschenmenge, die den Saal füllte.
»Zu Anfang sicherlich«, erwiderte Amelia, »aber nach ein paar Wochen seid ihr das alles schon genauso gewohnt wie wir.«
Gemeinsam mit Amelia plauderte Amanda über allerlei belanglose Dinge, nahm den beiden jüngeren Mädchen auf diese Weise geschickt ihre Befangenheit und half ihnen dabei, sich zu entspannen.
Amanda hielt gerade nach einem passenden jungen Gentleman Ausschau, den sie dazu bewegen könnte, Emily und Anne Gesellschaft zu leisten, als Edward Ashford, einer der Brüder der Mädchen, aus der Menge auftauchte. Groß, gut gebaut und unauffällig gekleidet, verbeugte Edward sich vor den Zwillingen, um dann neben seinen Schwestern Posten zu beziehen und die Gästeschar zu betrachten. »Eine relativ kleine Versammlung. Wenn die Saison erst einmal richtig angefangen hat, wird der Andrang noch sehr viel größer werden als im Augenblick.«
Emily warf Amanda einen erschrockenen Blick zu.
Die hätte Edward für seine undiplomatische und wenig ermutigende Bemerkung am liebsten einen kräftigen Tritt versetzt. »Ob nun einhundert Leute oder fünfhundert, das macht wirklich keinen großen Unterschied. Man kann ja sowieso immer nur zwanzig Menschen auf einmal sehen.«
»Und bis die größeren Bälle anfangen, werdet ihr euch schon so an den ganzen Rummel gewöhnt haben, dass ihr euch wie zu Hause fühlt«, warf Amelia ein.
Edward musterte seine Schwestern abschätzend und überaus kritisch. »Diese Saison ist eure Chance, eine gute Partie zu machen. Es wäre sicherlich klug, wenn ihr euch etwas mehr Mühe geben würdet, die entsprechenden Kandidaten auf euch aufmerksam zu machen. Solange ihr euch hier an der Wand herumdrückt und euch versteckt -«
»Edward.« Amanda bedachte ihn mit einem eisigen Lächeln und einem vernichtenden Blick, als er sie ansah. »Kannst du Reggie Carmarthen irgendwo entdecken?«
»Carmarthen?« Edward hob den Kopf und schaute sich im Saal um. »Ich hätte nicht gedacht, dass der zu sonderlich viel zu gebrauchen wäre.«
Zu erheblich mehr zu gebrauchen als du, dachte Amanda. Mit siebenundzwanzig war Edward ein unerträglicher Langweiler, selbstgefällig, wichtigtuerisch und eingebildet. Amelia nutzte den Augenblick, um die Aufmerksamkeit der Mädchen auf etwas anderes zu lenken; Amanda bewegte sich ein Stückchen zur Seite, um zu verhindern, dass Edwards kritischer Blick erneut auf seine Schwestern fiel.
»Ich kann nicht sehen... oh!«
Über Edwards Züge legte sich ganz plötzlich eine vertraute Ausdruckslosigkeit. Amanda folgte seinem Blick und war keineswegs überrascht, als sie seinen älteren Bruder, Lucien Ashford, Viscount Calverton, aus der Menge auftauchen sah, seine langen, schmalen Lippen zu dem leicht spöttischen, seltsam schief anmutenden Lächeln verzogen, das so typisch für ihn war.
»Hier steckt ihr also!«
Amanda wusste, Luc war sich Amelias und ihrer Anwesenheit durchaus bewusst, dennoch hatte er im ersten Moment nur Augen für seine Schwestern. Diese blühten unter seinem Einfluss förmlich auf, entfalteten sich wie Knospen in der Sonne. Eine verwegen-elegant anmutende Erscheinung, verbeugte er sich vor den beiden, zog sie dann aus dem anmutigen Knicks, mit dem sie seine Begrüßung erwiderten, empor und drehte zuerst Emily einmal um sich selbst und dann Anne, während er mit messerscharfem Blick deren neue Kleider begutachtete. Auf seinem Gesicht erschien ein anerkennender Ausdruck.
»Ich glaube, ihr werdet großen Erfolg haben, mes enfants, also sollte ich die günstige Gelegenheit wohl besser gleich einmal nutzen. Den ersten Tanz werde ich mit dir tanzen« - er neigte seinen dunklen Kopf feierlich vor Emily - »und den zweiten Tanz mit dir.« Damit lächelte er Anne an.
Beide Mädchen waren hocherfreut. Das Strahlen in ihren Augen und der begeisterte Ausdruck auf ihren Gesichtern verwandelte sie von hübsch in absolut bezaubernd. Amanda verkniff sich die ätzende Bemerkung, dass Luc nun für mindestens zwei Tänze im Ballsaal würde bleiben müssen - etwas, was er nur selten tat. Die Tatsache, dass er sich freiwillig dazu verpflichtet hatte, stand in krassem Gegensatz zu Edwards Beitrag zum Erfolg seiner Schwestern.
Obgleich die beiden Brüder sich in Körpergröße und Statur sehr ähnlich waren, war Luc nicht nur mit einer eindeutig sinnlichen Schönheit gesegnet, sondern auch mit dem entsprechenden Charakter und Talent. Diese Tatsache hatte jahrelang dafür gesorgt, dass die beiden Brüder sich nicht vertrugen und Edward ständig über die freizügige und verwegene Art seines älteren Bruders nörgelte.
Als Amanda zu Edward hinüberschaute, bemerkte sie die nur schlecht verhohlene Verdrießlichkeit in dessen Augen, während diese auf Luc ruhten. Sie entdeckte auch Ärger in seinem Blick, so als ob Edward es seinem Bruder übel nahm, wie leicht dieser bei anderen Menschen Sympathie und Anklang fand. Amanda unterdrückte ein verächtliches Schnauben, denn es gab eine ganz einfache Lösung für das Problem, nämlich wenn Edward sich nur einmal ein Beispiel an Luc nehmen würde. Luc konnte zuweilen recht hochmütig sein und schrecklich gönnerhaft, und er hatte eine höllisch scharfe Zunge, aber er gebärdete sich niemals päpstlich, hielt niemals Moralpredigten oder meinte, andere belehren zu müssen - alles Dinge, welche zu Edwards Lieblingsbeschäftigungen zählten. Darüber hinaus besaß Luc auch eine natürliche Liebenswürdigkeit, die jedes weibliche Wesen, das dieser Bezeichnung würdig war, sofort erkannte und zu schätzen wusste und auf die es instinktiv ansprach.
Amanda schaute zu, wie Amelia sich mit Luc zusammentat, wie sie herumscherzten und die beiden jüngeren Mädchen neckten, um diese moralisch zu unterstützen. Ihre Zwillingsschwester bildete das perfekte Gegenstück zu Lucs dunkler byronscher Schönheit. Amandas Blick verweilte einen Augenblick auf seinem Profil. Es war ihr vertraut, schließlich kannte sie Luc schon seit Jahren…Sie blinzelte verdutzt, schaute dann zu Edward hinüber, der ihr in diesem Moment ebenfalls sein Gesicht in Seitenansicht präsentierte. Beide Profile hatten eine außerordentliche Ähnlichkeit mit einem anderen, das ihr sogar noch vertrauter war.
Sie ließ ihren Blick wieder zu Luc zurückschweifen. Bist du etwa mit Dexter verwandt? Nur ganz knapp gelang es ihr noch, die Worte wieder hinunterzuschlucken, während sie sich schlagartig der unvermeidlichen Reaktion auf ihre Frage bewusst wurde, wäre sie so töricht gewesen, diese laut auszusprechen - Luc würde sich langsam zu ihr umdrehen, sie mit nervenzermürbendem, durchdringendem, scharfem Blick ansehen und leise fragen: Woher kennst du denn Dexter?
Sie konnte ihn also unmöglich nach seiner Verwandtschaft mit Dexter fragen, so viel stand fest, aber nun, da sie genauer darüber nachdachte, fiel ihr wieder ein, dass sie schon einmal von einer Verbindung zwischen den Ashfords und den Fulbridges gehört hatte. Sie betrachtete Luc noch einmal von neuem und sah sich dann wieder Edward an. Verglichen mit Luc gab dieser vom Aussehen her eine etwas weniger anziehende Figur ab. Luc war eine Idee schlanker, eine Idee drahtiger und geschmeidiger als sein jüngerer Bruder und hatte schwarzes Haar und dunkelblaue Augen. Edward mit seinem braunen Haar und den haselnussbraunen Augen wies zwar eine größere Ähnlichkeit mit Dexter auf, doch mit seiner geringschätzigen, wichtigtuerischen Arroganz und jener unterschwelligen Verdrießlichkeit wirkte er irgendwie geringer, weniger bedeutend als..., weniger bedeutend als Dexter und auch als Luc. Was die Gesichtszüge und den Körperbau anging, so waren sie sozusagen alle mit derselben Gussform fabriziert worden, aber in Edwards Fall war etwas schiefgegangen, und es hatten sich Mängel eingeschlichen, die ihn weniger attraktiv machten, sowohl physisch als auch in jeglichem anderen Sinne.
»Und jetzt, meine Lieben, muss ich euch verlassen.« Lucs Stimme riss Amanda aus ihrer Gedankenverlorenheit. »Trotzdem, sobald der erste Tanz beginnt, werde ich wieder zur Stelle sein.«
Er zog spielerisch an einer von Emilys Ringellocken, schenkte Anne ein liebevolles Lächeln, verbeugte sich vor Amelia und dehnte diese kleine Höflichkeit dann mit einer Neigung seines Kopfes auch auf Amanda aus. Dann straffte er die Schultern und blickte seinen Bruder an. »Edward, wenn ich dich mal kurz sprechen könnte...« Elegant mit einem langen, gekrümmten Finger winkend, schlenderte Luc davon und zwang Edward, hinter ihm herzutrotten …
... und seine Schwester endlich von der Last seiner Anwesenheit zu befreien. Im Stillen nickte Amanda beifällig und sah ihre Zustimmung auch prompt in Amelias Augen widergespiegelt. Sie sah sich um. »So, und nun...«
Fünf Minuten später nahm sie den Kreis von Verehrern in Augenschein, die sie und Amelia um Emily und Anne versammelt hatten. Es war ein äußerst erfreulicher Anblick. Ein Anblick, der auf seine ganz eigene Art befriedigend war. Sie fing Amelias Blick auf. »Ich will mich jetzt mal auf die Suche nach Reggie machen. Falls ich nicht hier bin, wenn ihr geht, sagst du dann Mama Bescheid?«
Amelia nickte lächelnd, der Ausdruck in ihren Augen jedoch war ernst. »Pass auf dich auf.«
Amanda schenkte ihrer Schwester ein beruhigendes Lächeln. »Das tue ich doch immer.«
Damit tauchte sie in die Menge ein. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der erste Tanz begann. Reggie würde also hier irgendwo im Saal sein. Zumal Amandas und Amelias Mutter fest mit Reggies Mutter rechnete - und wo Reggies Mutter war, da war auch Reggie -, schließlich hatten er und Amanda keine anders lautenden Verabredungen getroffen.
Amanda hatte genau deshalb nichts mit ihm vereinbart, weil sie sich nicht sicher gewesen war. Nicht in Bezug auf das, was sie wollte - das nämlich war tief in ihr Herz eingebrannt. Nein, ihre Unsicherheit ging auf etwas Nebulöseres zurück. Auf etwas, das mit jenem Kuss im Mondschein zusammenhing - vielleicht hatte die Mühelosigkeit, mit der Dexter sie in das Feuer der Leidenschaft hineingezogen hatte, bewirkt, dass sie sich nach mehr sehnte. Oder war es lediglich irgendeine nachklingende prüde Reaktion? Was auch immer es war, jedenfalls hatte ganz plötzlich und unerwartet die Vorsicht ihre Fratze gezeigt. Eine ganz und gar misstrauische und rein von Amandas Instinkten genährte Art von Vorsicht, wie sie sie noch nie zuvor empfunden hatte. Als würde ihr ihr Unterbewusstsein zuflüstern: Du hast mit dem Feuer gespielt, hast unklugerweise ein wildes Tier gereizt.
Aber Misstrauen, Nervosität und Vorsicht vermochten nicht gegen jene andere Emotion zu bestehen, die im Mondschein geboren worden war.
Ungeduldiges Verlangen.
Es war wie ein unaufhörliches Kribbeln unter ihrer Haut, ein brennendes Bedürfnis, das hartnäckig nach Erfüllung verlangte, weil nichts sonst dagegen half. Jedes Mal, wenn Amanda sich an die Flut von Gefühlen erinnerte, die sie in Dexters Armen überwältigt hatte, wenn sie im Geiste wieder die Kraft der Arme spürte, die sie umschlossen hatten, seine Lippen hart und fordernd auf den ihren, seine Zunge -
»Na also, wer sagt’s denn, meine liebe Miss Cynster - da habe ich Euch doch tatsächlich endlich gefunden!«
Amanda musste sich gewaltig zusammenreißen, bevor es ihr gelang, ihre Aufmerksamkeit auf den Gentleman zu richten, der sich gerade vor ihr verbeugte. Sie kaschierte ihr Missfallen rasch mit einem matten Lächeln, versank in einen Knicks und reichte ihm die Hand. »Mr. Lytton-Smythe.«
Percival Lytton-Smythe, blond und braunäugig, umschloss ihre Finger mit seiner Hand und lächelte sein gewohnt überhebliches Lächeln. »Lady Carmichael versicherte mir, dass Ihr heute Abend zu ihrem Ball kommen würdet. Ich war mir zuerst nicht sicher gewesen, ob ich mich wohl überhaupt dazu aufraffen könnte, zu einem solchen Mummenschanz zu erscheinen, und noch dazu so früh in der Saison, aber der Gedanke daran, wie Ihr allein und einsam in der Menge umherwandert, wie es Euch nach passender Gesellschaft hungert, hat mir das Rückgrat gestärkt. Und hier bin ich nun also, bin wieder einmal herbeigeeilt, um Euch mein Geleit anzutragen!«
Mit einer schwungvollen Geste bot er ihr seinen Arm.
Amanda widerstand dem Drang, genervt die Augen zu verdrehen. Da sie wusste, dass sie Percival nicht so leicht würde entfliehen können, machte sie also erst einmal gute Miene zum bösen Spiel und legte ihre Hand auf den dargebotenen Arm. »Nun, bis gerade eben war ich aber gar nicht allein, sondern hatte mich mit ein paar Freunden unterhalten.«
»So, so.«
Er glaubte ihr nicht. Amanda biss die Zähne zusammen, eine Reaktion, die ihr in Percivals Gegenwart häufig unterlief. Suchend ließ sie ihren Blick über die Menge schweifen. Percival war einen halben Kopf größer als sie, doch ihre guten Manieren verboten ihr, ihn zu bitten, Reggie für sie zu finden, damit sie ihm, Percival, entrinnen könnte.
Von guten Manieren, geschweige denn von Klugheit, konnte allerdings keine Rede sein, als Percival, der Amandas Kleid mit einem immer deutlicher werdenden Ausdruck des Missfallens betrachtete, sich plötzlich räusperte und anhub: »Ähem! Miss Cynster - ich fürchte, dass ich in Anbetracht der Übereinkunft zwischen uns beiden nun doch einmal die kritische Bemerkung loswerden muss, dass mir Euer Kleid etwas... nun ja... gewagt, erscheint.«
Übereinkunft? Gewagt?
Amanda blieb abrupt stehen. Sie zog ihre Hand von Percivals Arm und starrte ihn empört an. An ihrem apricotfarbenen Seidenkleid mit dem herzförmigen Ausschnitt und den winzigen Ärmeln gab es nun wirklich absolut nichts auszusetzen. Seit jenem Abend während der letzten Saison, als er zufällig über sie gestolpert war, hatte Percival immer wieder mehr oder minder deutliche Andeutungen darüber gemacht, dass er der Meinung war, sie würden hervorragend zusammenpassen. Aus seiner Sicht mochte das ja vielleicht so sein; aber nicht aus der ihren. »Mr. Lytton-Smythe, ich fürchte, dass ich nun auch einmal eine äußerst ungehaltene Bemerkung über Eure Vermessenheit loswerden muss. Es gibt keine Übereinkunft zwischen uns, keine wie auch immer geartete Beziehung, die mich eventuell darüber hinwegsehen lassen könnte, dass Ihr solch unschmeichelhafte und noch dazu völlig unzutreffende Äußerungen über mein Aussehen von Euch gebt.« Sie sah ihn betont verächtlich an und packte die Gelegenheit, die er ihr quasi auf dem Silbertablett präsentiert hatte, beim Schopfe. »Ich fühle mich beleidigt, und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr es in Zukunft unterlassen würdet, Euch mir zu nähern.«
Mit einem eisigen Nicken wirbelte sie herum.
Hastig ergriff er ihre Hand und hielt sie fest. »Nicht doch, meine Liebe, nicht doch. Verzeiht mir meine Dummheit, tölpelhaft, wie ich bin. Ich wünsche mir doch nichts sehnlicher als Eure Zustimmung. Tatsächlich -«
Und in diesem Stil ging es in einer Tour weiter, bis Amanda das Gefühl hatte, jeden Moment laut schreien zu müssen. Sie versuchte, ihre Finger aus seinem Griff zu lösen, doch Percival wollte sie partout nicht gehen lassen, Ihr blieb also nichts anderes übrig, als ihn seine Entschuldigungen und Beteuerungen hervorsprudeln zu lassen. Mitzuerleben, wie er vor ihr zu Kreuze kroch und um Vergebung bat.
Angewidert ließ sie ihn weiterreden. Nur der Himmel wusste, wie sie ihn wieder von der irrigen Annahme befreien sollte, die sich nun ganz offensichtlich in seinem Kopf festgesetzt hatte. Sie hatte versucht, Percival zu ignorieren, stets in der Hoffnung, dass ihm damit wohl endlich mal ein Licht aufgehen würde, aber die Sensibilität, die nötig war, um eine subtile Abfuhr zu erkennen, war ihm ganz eindeutig nicht gegeben.
Blieb also nur noch die grobe Variante übrig, aber diesen Punkt hatte Amanda noch nicht erreicht.
Eine Geige ertönte. Percival unterbrach seinen Wortschwall, und Amanda nutzte den günstigen Augenblick. »Na schön, in Ordnung. Ihr könnt mit mir zum Kotillon antreten.«
Beim Anblick des selbstgefälligen Lächelns, das sich daraufhin auf seinem Gesicht ausbreitete, hätte sie am liebsten abermals laut geschrien - der Dummkopf glaubte doch tatsächlich allen Ernstes, ihre Verärgerung sei nur gespielt gewesen! Gefährlich nahe daran, in echte Wut auszubrechen, verdrängte Amanda jeden weiteren Gedanken an Percival aus ihrem Bewusstsein und konzentrierte sich stattdessen ganz auf ihr eigentliches Ziel. Reggie. Denn der tanzte für sein Leben gern, und wenn er hier war, dann würde er mit Sicherheit auf der Tanzfläche zu finden sein.
Suchend ließ sie ihren Blick über die Ballgäste schweifen, als die Paare zum Kotillon Aufstellung nahmen und sich zu Reihen formierten. Zwei Reihen von ihr entfernt hatten sich gerade Luc und Emily, die vor Stolz beinahe platzte und jetzt vollkommen gelöst war, aufgestellt. Und in der Reihe dahinter stand Reggie mit seiner Tanzpartnerin, einer hoch gewachsenen jungen Dame namens Muriel Brownley.
Amanda lächelte erfreut. Als die Musik einsetzte, blickte sie Percival an, und seine Miene verriet ihr, dass er glaubte, ihr Lächeln gelte ihm. Amanda löschte also jegliche Regung aus ihrem Gesicht und ihren Augen, setzte einen Ausdruck äußerst kühlen, abweisenden Hochmuts auf und widmete ihre Aufmerksamkeit allein dem Tanz.
Der letzte Akkord war noch nicht ganz verklungen, als sie auch schon hastig vor Percival knickste. »Ich fürchte, Ihr müsst mich jetzt entschuldigen - es gibt da jemanden, den ich unbedingt noch erwischen muss.«
Damit ließ sie Percival einfach stehen, der ihr ungläubig nachstarrte. Wenn ihre Mutter ein solch undamenhaftes und ungehöriges Benehmen beobachtet hätte, wäre sie zur Rechenschaft gezogen worden. Zum Glück jedoch befanden sich ihre Mutter, ihre Tante und Lady Osbaldestone am anderen Ende des Saals.
Amanda erreichte Reggie und seine Tanzpartnerin noch, bevor diese die Tanzfläche verließen. Sie begrüßte die beiden freundlich, tauschte die üblichen Höflichkeiten aus und bemerkte dabei die besitzergreifende Art, wie Miss Brownley Reggies Arm umklammert hielt, sowie den Ausdruck in ihren Augen, der an den eines in der Falle hockenden Kaninchens erinnerte.
Miss Brownley war noch relativ neu in der Londoner Gesellschaft und war ihr, Amanda, daher nicht gewachsen. Amanda plauderte also vergnügt weiter und verwickelte sowohl Reggie als auch Miss Brownley in eine angeregte Unterhaltung über kommende gesellschaftliche Ereignisse.
Miss Brownley merkte nicht, wie die Zeit verging.
Dies entdeckte sie erst, als die Geigen abermals aufspielten und ihr klar wurde, dass sie den nächsten Tanz nicht mehr mit Reggie würde tanzen können. Zwei Tänze nacheinander würden nämlich sofort Anlass zu Gerede geben. Und nachdem sie sich ja quasi als alte Freundin der Familie ausgewiesen hatte, machte Amanda nun einfach den Vorschlag, dass Reggie doch bei diesem Tanz ihr Partner sein solle. Woraufhin Miss Brownley widerstrebend einwilligte und ihn endlich gehen ließ.
»Dem Himmel sei Dank! Ich dachte schon, ich würde sie die gesamte Nacht über am Hals haben! Hat sich wie eine Klette an mich gehängt, kaum dass ich einen Fuß in den Ballsaal gesetzt hatte. Mama zog mit ihrer Mutter ab - tja, und da stand ich dann! Festgenagelt!«
»So, na ja -« Amanda hatte Reggie untergehakt und zog ihn eiligen Schrittes an der Reihe der Paare entlang, die bereits für den Tanz Aufstellung genommen hatten. »Lass uns aufpassen, dass wir bei der Tür am Ende des Saals landen.« Sie beeilte sich, ihn auf einen geeigneten Platz zu schieben, von dem aus sich dieses Ziel, wie die Erfahrung ihr sagte, erreichen lassen würde.
Reggie starrte sie verdutzt an. »Wieso denn das?« Man konnte ihm deutlich ansehen, wie ihm allmählich die Erkenntnis dämmerte, dass er womöglich gerade vom Regen in die Traufe gekommen war.
»Ich möchte Lady Hennessy besuchen.«
»Schon wieder?«
Der Tanz begann, und sie trennten sich für einen Moment, um in entgegengesetzte Richtungen zu schreiten. Als sie wieder zusammenkamen, zischte Amanda: »Also ehrlich gesagt, in Anbetracht dessen, wovor ich dich gerade eben gerettet habe, hätte ich eigentlich von dir erwartet, dass du dankbar sein würdest und nur zu gerne bereit wärst, dich mit mir zu verdrücken.«
Sie ließ Reggie zwei Drehungen lang Zeit, darüber nachzudenken, dann fügte sie hinzu: »Wenn du’s nicht tust, wird sie dich unter Garantie wieder aufspüren.«
Was nur der Wahrheit entsprach. Als sie sich das nächste Mal trafen, nickte Reggie grimmig. »Du hast Recht - dann also auf zu Lady Hennessy. Ist alles in allem doch erheblich sicherer.«
Kaum dass der Tanz geendet hatte, schlichen sie sich unauffällig zur Tür hinaus, ohne auf Miss Brownley oder sonst irgendjemanden zu stoßen, bei dem die Gefahr bestanden hätte, dass er ihre Flucht behinderte. Unterdessen trafen sie jedoch ganz unerwartet auf einen anderen Flüchtenden. Während sie nämlich noch in der Halle darauf warteten, dass man Amandas Umhang aufstöberte und eine Mietdroschke für sie herbeirief, gesellte sich mit einem Male Lucien Ashford zu ihnen. Er kam lässigen Schrittes die Treppe herunter, und als er Reggie erblickte, nickte er diesem freundlich zu. Als er gleich darauf aber Amanda entdeckte, wurde sein Blick sofort scharf und durchdringend. »Und wo wollt ihr beide hin?«
Amanda lächelte betont harmlos und kämpfte den schier überwältigenden Drang nieder, ihm zu sagen, dass ihn das überhaupt nichts anging. Denn so war Luc nun einmal; jede Reaktion dieser Art würde die schlimmstmögliche Wirkung haben - er würde nur noch hartnäckiger werden, noch entschlossener, alles zu erfahren, was es zu erfahren gab. Er war ein Windhund mit vier Schwestern; sie kannte seinen Typ nur zu gut. »Wir wollen noch zu den Farthingales«, erklärte sie.
Reggie hatte wie gewöhnlich seine ausdrucksloseste Miene aufgesetzt und überließ es Amanda zu antworten. Jetzt jedoch nickte er. »Am Cavendish Square.«
Luc sah ihn an. Sah ihn einfach nur schweigend an.
»Und wo willst du hin?« fragte Amanda. Es war ihr egal, was Luc vermutete. Auf die Wahrheit würde er ohnehin niemals kommen. Aber sie sah auch keinen Grund dafür, weshalb sie tatenlos dastehen und zulassen sollte, dass er Reggie in dessen Widerstand gegen ihre, Amandas, Pläne auch noch den Rücken stärkte.
Luc wandte sich nicht sofort zu ihr um, doch als er es dann tat, war sein Blick aus dunkelblauen Augen geradezu stechend. »Ich habe vor, den Rest des Abends in« - seine langen Wimpern verhüllten seine Augen, als er eine seiner Manschetten zurechtzog - »etwas privaterer Umgebung zu verbringen.«
Ein Lakai näherte sich. »Eure Equipage wartet, Mylord.«
»Danke.« Luc wandte sich zur Tür um, blickte dabei aber wieder Amanda an. »Kann ich euch beide mitnehmen?«
Amanda lächelte liebenswürdig. »Ich glaube nicht, dass Cavendish Square auf deinem Weg liegt.«
Luc hielt ihren Blick einen Moment lang fest, dann nickte er. »Wie du meinst.« Mit einem höflichen Nicken in Reggies Richtung schlenderte er zur Tür.
Und Reggie stand hilflos da, mit einer Miene, als ob er sich äußerst unbehaglich fühlte. Amanda hakte ihn unter und schwatzte über irgendwelche belanglosen Dinge, um ihn rasch wieder abzulenken.
Und das gelang ihr sogar recht gut, denn als sie bei Lady Hennessy hereingelassen wurden, hatte Reggie wieder zu seiner gewohnt friedlichen, zugänglichen Art zurückgefunden. Nachdem sie ihre Gastgeberin begrüßt hatten, drückte Amanda Reggies Arm. »Ich möchte mal nachschauen, wer alles hier ist. Wie wär’s, wenn du dir in der Zwischenzeit ein Glas Champagner besorgst?«
»Klar, in Ordnung.«
Fünf Minuten später hatte sie sich vergewissert, dass Dexter keinen der Räume Ihrer Ladyschaft mit seiner Anwesenheit zierte - zumindest keinen der für alle Gäste zugänglichen Räume. Dass er sich vielleicht in einem der Privaträume aufhalten könnte, daran wollte sie lieber gar nicht erst denken, und daher verdrängte sie diese Möglichkeit energisch aus ihrem Bewusstsein und stellte sich ihn stattdessen vor, wie er bei Mellors oder in einer der anderen exklusiven Spielhöllen saß.
Verborgen im Schutz der Dunkelheit. Außerhalb ihrer Reichweite.
Zur Hölle mit dem Mann - er machte es ihr wahrhaftig nicht leicht, ihn zu erobern!
Sie machte sich also wieder auf die Suche nach Reggie und fand ihn in einem der angrenzenden Salons, wo er an einem mit allerlei Delikatessen beladenen Büffetttisch herumlungerte. Er mampfte gerade eine Pastete und reichte Amanda ein Glas Champagner. Sie trank einen Schluck, dann stellte sie das Glas beiseite. »Hier ist niemand, den ich treffen möchte. Wir können also auch ebenso gut wieder nach Hause fahren.«
»Nach Hause?« Reggie starrte sie verdutzt an. »Aber wir sind doch eben erst gekommen.«
»Ohne die richtige Gesellschaft ist es überall langweilig. Und außerdem ist mir gerade eingefallen, dass ich morgen früh um sechs einen Termin habe.«
»Um sechs? Kein Mensch hat so früh schon Termine - noch nicht einmal bei der Hutmacherin.«
»Ich schon.« Ungeduldig zog sie ihn am Ärmel. »Nun komm schon. Ich muss jetzt wirklich nach Hause.« Und zwar noch rechtzeitig genug, um einen Lakaien mit einer Nachricht nach Fulbridge House schicken zu können.
Seufzend ließ Reggie seinen Blick über den Tisch wandern. »Verflixt leckere Lachspastetchen.«
Sie erlaubte ihm, sich noch eines davon zu nehmen, dann zerrte sie ihn in Richtung Ausgang.