17

»Eine Schaukel!« Amanda blieb vor einer gepolsterten, an einem schmiedeeisernen Gestell hängenden Bank stehen, die Platz für zwei Personen bot und inmitten eines wahren Dschungels von Farnen und Palmen stand. »Was für eine hübsche Idee. Die muss neu sein.«

»Wir könnten sie einweihen.« Martin trat neben Amanda.

Bereitwillig wandte sie sich um, um auf der Schaukel Platz zu nehmen.

»Nein.« Er schloss seine Finger fest um ihren Ellenbogen und hielt sie zurück. Er wartete, bis sie den Blick hob und ihm in die Augen schaute. »Nicht so.«

Sein Ton ließ sie augenblicklich aufhorchen. Ihr Blick wanderte kurz zu seinem Mund hinunter, dann wieder hinauf zu seinen Augen. »Aber... aber der Ball - meine Cousins. Was ist, wenn wir gestört werden? Wieder mal.« Durch sie.

»Keine Sorge, das passiert schon nicht. Deine Cousins werden hier ganz bestimmt nicht an die Tür hämmern, das kann ich dir versprechen - die sind anderweitig beschäftigt. Der Augenblick gehört also ganz und gar uns, und es steht uns frei zu tun, was wir wollen.« Den letzten Satz ließ er wie eine Herausforderung klingen, eine Mutprobe.

Amanda befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze. »Was denn zum Beispiel?«

Martin zog sie an sich. Sanft schmiegte sie sich in seine Arme, wenngleich auch ein klein wenig zögernd, leicht reserviert, ganz so, als ob sie sich ihr Urteil über Martins fachmännisches Können noch vorbehielte. Es war eine subtile Kampfansage, eine spöttische Aufforderung an ihn, sie mit seinen Ideen zu beeindrucken. Martin unterdrückte ein Lächeln prickelnder Vorfreude, beugte den Kopf und presste seine Lippen auf die ihren.

Und küsste sie, bis sie jegliche Zurückhaltung, jegliche Reserviertheit vergessen hatte, bis sie sich voll stürmischen Verlangens an ihn drängte, ihre Lippen mit den seinen verschmolzen, ihre Arme um seine Schultern geschlungen, ihre Finger in seinem Haar vergraben.

»Wir müssen dir dein Kleid ausziehen - es wird sonst zu stark zerknittert.« Martin murmelte die Worte dicht an Amandas Lippen, dann küsste er sie abermals, zog sie, die ihm nur allzu willig folgte, tiefer in die sinnliche Hitze des Kusses hinab.

Hinab in das Feuer und die Flammen der Leidenschaft, die so beständig und unauslöschlich zwischen ihnen loderten. Trotz seiner langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet der körperlichen Liebe, trotz all der vielen amourösen Abenteuer, die er in der Vergangenheit gehabt hatte, hatte er doch noch niemals etwas wie dies hier erlebt - niemals zuvor war aus Erregung und Verlangen so leicht, so mühelos, so jäh geradezu heißhungrige Begierde geworden. Unbändige Begierde, gepaart mit jenem primitiven, schier übermächtigen Drang, besitzen zu wollen. So war es für ihn mit Amanda von Anfang an gewesen, und das war auch der Grund, weshalb er es vom allerersten Augenblick an gewusst hatte - nämlich dass er für sie letzten Endes sogar seine Seele verkaufen würde, wenn die Liebe und das Schicksal es denn so von ihm verlangten.

Mit Amanda in seinen Armen kümmerte ihn all das im Moment aber gerade herzlich wenig; mit ihr vergaß er alles um sich herum. In diesem Augenblick, in dem sie sich so bereitwillig an seinen Körper schmiegte, sich so schamlos fordernd an ihn drückte, kannte er nur das drängende Bedürfnis, ihre Not zu lindern, ihren sinnlichen Hunger zu stillen und zu befriedigen und somit auch den seinen.

Als er die Bänder am Oberteil ihres Kleides löste, wusste er ganz genau, was er an diesem Abend von ihr sehen wollte, sehen musste. Wonach es ihn verlangte, was er brauchte - so überaus dringend haben musste. Sowohl er als auch Amanda waren mittlerweile derart erregt, dass ihr Atem in kurzen, keuchenden Stößen ging, dass ihre Augen vor Verlangen ganz dunkel waren, ihre Nerven vor Erwartung aufs Äußerste angespannt.

»Heb die Arme hoch.«

Mit einer raschen, energischen Bewegung zog er Amanda das Kleid über den Kopf, sodass ihre üppigen Locken und die drei Orchideen, die sie an diesem Abend im Haar zu tragen beschlossen hatte, mit der Bewegung auf und ab hüpften. Begehrlich ruhte sein Blick auf ihrem Körper, der nur von einem durchscheinenden Seidenunterhemd verhüllt war; mit einer achtlosen Bewegung und ohne den Blick von Amanda zu lösen, warf er ihr Kleid über eine in der Nähe stehende Topfpalme. Und streckte dann abermals die Arme nach ihr, Amanda, aus.

Diesmal kam sie sofort und überaus bereitwillig zu ihm; jede vorgebliche Zurückhaltung, jeder Anschein von Reserviertheit waren vergessen, stattdessen stand das nackte Verlangen in ihr Gesicht geschrieben, leuchtete in ihren Augen, glänzte auf den feuchten Lippen, die sie Martin entgegenhob.

Er schloss seine Hände um ihre Taille, schwelgte einen Moment lang in der geschmeidigen Festigkeit ihres grazilen Körpers, dann ließ er seine Hände weitergleiten und zog Amanda zu sich heran. Presste sie ganz fest an sich, sodass sie sein Verlangen fühlen konnte und sich mit ihrem Unterleib verlangend gegen die eisenharte Länge seiner Erektion drängte. Sie schmolz förmlich in seinen Armen dahin, während ihr Körper verführerisch weich und nachgiebig wurde.

Amanda erwiderte Martins Kuss voller Leidenschaft und schob alle Vorbehalte, alle Bedenken erst einmal beiseite. Sie wollte ihn; er wollte sie - für genau diesen Augenblick genügte das. Sie brauchte ihn, hatte das dringende Bedürfnis, wieder bei ihm zu sein, ganz nah, ganz intim, sodass ihrer beider Herzen im Gleichklang schlugen und ihre Seelen einander berührten - wenn auch nur für jenen einen, flüchtigen Moment.

Sie musste diese intime Verschmelzung unbedingt noch einmal spüren, musste sie noch einmal erleben, bevor sie zu einer Entscheidung gelangen konnte. Bevor sie sich endgültig dazu entschließen konnte, die Waffen zu strecken und zu kapitulieren, sich zu ergeben, sich ihm hinzugeben, bedingungslos und ohne Vorbehalte. Sie fing allmählich an zu denken, dass dies vielleicht sogar der einzige Weg war - für ihn, für sie beide. Womöglich musste tatsächlich erst einmal sie nachgeben, ehe auch Martin endlich aufgab. Es war ein Risiko, so viel stand fest. Doch sie schien dieses Risiko eingehen zu müssen.

Seine heißen, liebkosend über ihren Körper wandernden Hände steckten ihre Haut geradezu in Brand. Schließlich glitten sie tiefer, schoben mit einer ungeduldigen Bewegung den Saum ihres Unterhemds hoch. Und dann endlich berührten seine Handflächen nackte Haut, kneteten und massierten zärtlich ihre Pobacken und packten dann fester zu. Lange, schlanke Finger wanderten behutsam tiefer hinunter und nach innen, um zu streicheln, zu liebkosen; dann öffnete er Amanda, tastete sich vorsichtig ein Stückchen weiter vor, ließ seine Finger in sie hineingleiten.

Er trank ihr lustvolles Aufkeuchen von ihren Lippen durch ihrer beider Kuss hindurch und ließ Amanda sich an seinem Atem laben, während er sie weiter streichelte und erregte. Dann löste er sich schließlich aus dem Kuss, zog seine Hände für einen kurzen Moment von Amanda fort. Die eine legte er ihr auf die Hüfte, um sie zu stützen und ihr Halt zu geben, mit der anderen griff er zwischen ihre beiden Körper. Sie spürte, wie er sich an seinem Hosenbund zu schaffen machte, schaute hinab und ließ alle zehn Finger über seine Brust hinuntergleiten. Seine Hände mit einer ungeduldigen Bewegung zur Seite schiebend, hakte sie geschickt die Verschlüsse auf und öffnete die Klappe seiner Hose, und ihre Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln, als sie ihn entblößte.

Sie füllte ihre Hand mit seinem langen, harten Glied und hörte, wie Martin bei der Berührung mit einem kehligen, erstickten Laut nach Luft schnappte, spürte, wie er sich jäh anspannte. Fühlte, wie er atemlos wartete, während sie entschied, was genau sie mit ihm tun würde. Dann schloss sie liebevoll die Hand um ihn, schwelgte von neuem in dem Kontrast zwischen der seidenglatten, weichen Haut und der so überaus potenten, kraftvollen Männlichkeit, welche diese umschloss, und ließ ihre Fingernägel zart an ihm emporgleiten.

Sie wiederholte diese geradezu qualvoll köstliche Liebkosung dreimal, bevor Martin sich vorsichtig von ihr zurückzog; es schien ihr fast so, als ob er vor Erregung nicht mehr atmete. Dann wich er einen Schritt zurück, ließ sich auf der Schaukel nieder und bedeutete Amanda mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.

»Knie dich rittlings darauf.«

Sie stützte erst das eine Knie auf die Bank, dann das andere und fühlte die mit Damast überzogenen Polster unter beiden Knien. Sie schlang Martin die Arme um den Hals, beugte den Kopf und presste ihre Lippen auf die seinen; dann rückte sie ein klein wenig näher an ihn heran, bis ihr Bauch seinen festen, muskulösen Unterleib berührte, und ließ sich mit einer langsamen, sinnlichen Bewegung abwärtsgleiten. Die Berührung mit seinen Kleidern, die rau über ihre weiche, empfindliche Haut streiften, war eine Erinnerung daran, dass sie nackt war, er hingegen noch weitgehend bekleidetet. Eine Erinnerung an ihre Verletzlichkeit, seine Kraft; an ihre Hingabe, sein Verlangen.

Wie ein Verhungernder presste Martin seine Lippen auf ihren Mund und drängte sie dabei noch tiefer auf seine Schenkel hinunter. Seine Hand war unter ihr, führte Amanda, führte die Spitze seiner Erektion zwischen die weichen, geschwollenen Falten ihrer Weiblichkeit. Sie spürte die Berührung seines harten Gliedes, fühlte den sanften Druck und die ungeheure Kraft, als er nur ein kleines Stückchen in sie eindrang, nur gerade bis an der engsten Stelle vorbei. Ihr stockte der Atem, und für einen Moment hielt sie reglos inne; dann ließ sie sich langsam - so langsam, wie sie nur konnte - Zentimeter für Zentimeter weiter hinuntersinken, um Martin noch tiefer in sich aufzunehmen, um in dem köstlichen Druckgefühl zu schwelgen, dem Gefühl des Ausgefülltseins, der Mühelosigkeit, mit der ihr Körper sich anpasste, sich um ihn herumschmiegte.

Sie hielt nicht eher inne, bis sie vollkommen von seiner Erektion durchbohrt war, bis sie ihn tief, ganz tief in ihrem Schoß spürte, bis es sich so anfühlte, als stupste er ihr Herz an. Ihre Haut war erhitzt, prickelte vor Erregung, ihre Nerven vibrierten förmlich.

Seine Zunge schob sich tief in ihren Mund, lenkte ihre Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde ab. Dann spürte sie mit einem Mal, wie sich seine Schenkel unter ihr anspannten.

Die Schaukel begann, hin- und herzuschwingen.

Eine Flut köstlicher, ungeahnter Empfindungen strömte durch sie hindurch. Überrascht klammerte Amanda sich an Martin, drückte sich noch enger an ihn, dann fühlte sie seine Hände auf ihren Schenkeln, spürte, wie er sie wortlos drängte, ihre Beine um seine Hüften zu schlingen.

Sie gehorchte, und mit einem Mal war er noch tiefer in ihr. Das köstliche Lustgefühl wurde noch intensiver, verstärkt durch die Bewegungen der Schaukel, durch den zunehmenden Schwung. Die Schaukel war gewissenhaft geölt und gut ausbalanciert; ein gelegentlicher Stoß durch Martins Fuß genügte, um dafür zu sorgen, dass sie weiterhin sanft vor- und zurückschwebten.

Wer von ihnen beiden den sinnlichen Tanz begann, das hätte Amanda nicht zu sagen vermocht, und dennoch passte sich der Rhythmus ihrer beider Körper allmählich dem der Schaukel an, ging in ein glattes, müheloses Stoßen und Zurückziehen zu den Schwingbewegungen der Schaukel über, sodass die Wirkung noch verstärkt wurde. Amanda kontrollierte diese Wirkung, indem sie ihre Arme gebrauchte, um sich abzustützen, und ihre um Martins Hüften geschlungenen Beine als Hebelkraft einsetzte. Als sie dann schließlich den Rhythmus gefunden hatten, als ihrer beider Körper ungehindert und tief und in vollkommener Harmonie miteinander verschmolzen, zog Martin seine Hände von ihren Hüften fort und ließ sie zärtlich über ihre Haut gleiten, streichelte sie auf verführerische, erfahrene Weise und entzündete mit seinen Liebkosungen eine Million winziger Flammen der Erregung, die sich langsam, nach und nach zu einem lodernden Feuer vereinigten. Und dann zu einem Inferno.

Zu einem gigantischen Strudel der Hitze und Leidenschaft, der sie beide emporriss und sie dann jählings in schwindelerregende Tiefen hinabstürzen ließ, der ihnen den Atem raubte und ihnen Verzückung bescherte und noch mehr sinnliche Verzückung - eine unvergleichliche Wonne, die einer gewaltigen Woge gleich durch sie beide hindurchbrandete, von dem einen zum anderen und dann wieder zurück.

Die höchste Form des Gebens und Nehmens, die Quintessenz des miteinander Teilens.

Als Amanda sich bebend an ihn klammerte, ihre Lippen mit den seinen verschmolzen, ihr Mund ganz und gar der seine, ebenso wie auch ihr Körper, da endlich ließ Martin Vergangenheit und Gegenwart los, ließ die Zukunft frei und gab sich ganz diesem einen Augenblick hin, gab sich Amanda hin, gab sich dem hin, was er jetzt mehr noch als alles andere brauchte.

Denn das hier war es, was er an diesem Abend gewollt hatte, dieses vollkommene, rückhaltlose, uneingeschränkte Geben: Amandas Beine, die bis auf ihre hauchdünnen Seidenstrümpfe nackt waren, um seine Hüften geschlungen; seine Hände unter ihrem Hemd auf ihrer bloßen Haut, sodass er sie ganz nach seinem Belieben berühren und streicheln und genießen konnte; ihr Körper, feucht und heiß und schier geschmolzen, der sich so wundervoll weich um ihn herumschmiegte, der sich noch ein wenig fester zusammenzog, wenn die Schaukel abwärts schwang, und sich wieder entspannte, wenn die Schaukel wieder emporschwang. Offen und großzügig und ganz und gar der seine.

Wieder und wieder und wieder.

Der kraftvolle Rhythmus, die bezwingende Wiederholung, die sich ausnahmsweise einmal seiner Kontrolle entzog, hielt ihn gefangen, berauschte seine Sinne, bescherte ihm unbeschreibliche, unvergleichliche Lustgefühle. Bis er vor wilder, übermächtiger Verzückung schließlich alles um sich herum vergaß.

Amanda erreichte den Gipfel der Lust und brach gleich darauf kraftlos in seinen Armen zusammen, ihr Aufschrei gedämpft durch ihren Kuss; und Martin folgte ihr, unfähig, die Verbindung zu durchbrechen, die sie vereinte, die Amandas Verzückung mit der seinen verschmolz, die sie beide zu ein und demselben Wesen werden ließ. Zu einem Ganzen - ihrer beider Herzen im selben Takt pochend, ihrer beider Seelen in Leidenschaft vereint …

… ihrer beider Leben durch eine gemeinsame Zukunft verbunden. Wenn Martin jemals irgendwelche Zweifel gehabt hatte, so waren diese durch die letzten Augenblicke - während die Schaukel allmählich langsamer hin- und herschwang und er nach und nach wieder zu Atem kam, während er Amanda fest in seinen Armen hielt und tief in ihrem Schoß ihren Herzschlag fühlte - endgültig ausgelöscht worden.

Die Kraft, die sie beide durchströmt hatte, zwar nur kurz, aber doch so gewaltig, die unsichtbare Macht, die sie mit sich gerissen hatte, die sie beide so mühelos vereinigt hatte, und das nicht nur in dieser Welt, sondern auch noch auf einer anderen, höheren Ebene, war einfach nicht zu leugnen.

Er musste diese Macht einfach anerkennen, was bedeutete, dass er einen Weg würde finden müssen, wie er ihre Beziehung noch intensivieren könnte - und zwar nicht mehr länger nur für ihn selbst, sondern auch für Amanda. Für sie beide. Im Grunde hatte er Connors Warnung überhaupt nicht gebraucht - er wusste auch so, dass er es nicht riskieren durfte, Amanda zu verlieren.

Martin holte mühsam Luft; seine Brust schien noch immer zu eng zusammengeschnürt, als dass er frei hätte atmen können. Zärtlich berührte er mit seinem Mund die kleinen Löckchen über ihrem Ohr, kämpfte verzweifelt darum, jene Worte auszusprechen, die Amanda, wie er wusste, so gerne hören wollte. Und konnte sie doch einfach nicht über die Lippen bringen.

»Heirate mich.« Diese Worte zu sagen bereitete ihm erheblich weniger Schwierigkeiten. »Und zwar bald. Dieses Spiel geht nun schon viel zu lange. Wir müssen es beenden.«

Seine Stimme klang aufrichtig. Amanda hob den Kopf von seiner Brust, blickte ihm ins Gesicht, hob eine Hand an seine Wange. Und versuchte zu lächeln, doch sie war noch immer zu kraftlos, zu erschöpft von dem leidenschaftlichen Liebesspiel, um ein richtiges Lächeln zu Stande zu bringen. In ihrem Kopf drehte sich noch immer alles; sie war einfach nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Wort »Ja« schwebte auf ihren Lippen.

Sie wusste selbst nicht so recht, was sie davon abhielt, dieses Wort endlich auszusprechen, was sie daran hinderte, auf der Stelle einzuwilligen, Martin zu heiraten, ohne noch weiter darüber nachzudenken. In dem Wechselspiel von mattem Mondlicht und Schatten schien sein Gesicht bis auf die Grundlinien reduziert, auf die so streng, so kompromisslos anmutenden kantigen Flächen, so dass es wie das unverfälschte Spiegelbild des Mannes wirkte, der er wirklich war, ohne die mildernde Wirkung seines mit einem goldenen Schimmer überhauchten braunen Haares und der moosgrünen Nuance seiner Augen, die seinen Zügen gewöhnlich etwas von ihrer Strenge nahmen. Er wartete schweigend auf ihre Antwort, sein Gesicht noch immer von einem Hauch von Düsternis verfinstert, von einem Schatten all der Dinge, über die in der Vergangenheit so überaus sorgfältig der Mantel des Schweigens gebreitet worden war. Die so sorgfältig vertuscht worden waren, aber nicht zu seinem Besten - all jene Dinge waren die Lasten anderer, die Martin bis heute noch immer mit sich herumschleppte.

Würde er endlich einsehen, endlich akzeptieren, dass er diese Last abschütteln musste, dass er sich mit dem alten Skandal noch einmal auseinandersetzen, die Sache noch einmal neu aufrollen und für eine Untersuchung zugänglich machen musste, und zwar ungeachtet dessen, was dabei möglicherweise ans Tageslicht kommen würde? Wenn er das tat, dann würde die Bedingung, die Lady Osbaldestone ihr zu stellen geraten hatte, erfüllt sein, und sie, Amanda, könnte getrost Ja sagen.

»Ich …« Sie unterbrach sich, um ihre trockenen Lippen mit der Zunge zu befeuchten, verlagerte ihr Gewicht in Martins Armen und sah ihm in die Augen. »Es ist nicht so, dass ich ausdrücklich ›Nein‹ sage, aber …« Sie runzelte die Stirn; ganz gleich, wie angestrengt sie in seine Augen starrte, sie konnte einfach keine Spur von Entgegenkommen darin erkennen. »Aber ich muss erst noch einmal in Ruhe darüber nachdenken.«

Sein Ausdruck war nicht der eines Mannes, der an Kapitulation dachte. »Wie lange?«

Amanda kniff die Augen zusammen, drauf und dran, wütend zu werden, aber er hatte ja Recht; sie mussten diese Sache beenden. »Einen Tag.«

Martin nickte. »Gut.« Und versetzte die Schaukel wieder in schwingende Bewegung.

Ein Schauer heißer, prickelnder Erregung überlief Amanda. Mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen starrte sie Martin an, als dieser seine Hände wieder unter ihr Hemd schob, um abermals ihre Brüste zu umfassen. Tief in ihrem Schoß spürte sie, wie er sich bewegte, wieder zu neuen Kräften kam.

Dann stieß er tiefer in sie hinein. Seine Fingerspitzen schlossen sich fest um ihre Brustwarzen. Amanda ließ den Kopf zurücksinken und schloss die Augen. »Großer Gott!«


»Sie haben die ganze Zeit über Wache gehalten!«

»Was?« Amanda warf ihrer Zwillingsschwester einen erschrockenen Blick zu. Auf dem obersten Treppenabsatz hatten sie sich von Louise getrennt und gingen nun den Korridor zu ihren Zimmern hinunter.

Amelias Gesichtsausdruck war grimmig. »Als ihr beide, du und Martin, in dem Wintergarten verschwandet, fing Demon sofort an, in der Nähe der Tür herumzulungern, so als ob er einfach nur so an der Wand lehnte und sich müßig umschaute - na, du weißt schon, wie.«

»Und?«

»Nun ja, und als dann ein anderes Pärchen auftauchte und auf die besagte Tür zusteuerte, war Demon gleich zur Stelle, um sich ihnen in den Weg zu stellen. Ich habe selbst gesehen, wie er sie weggescheucht hat und sich dann gleich wieder davor postierte. Und dann, als Flick den Wunsch äußerte, früh nach Hause zu gehen, machte Demon Vane auf sich aufmerksam, und daraufhin übernahm Vane Demons Wachtposten an der Tür. Er war die ganze Zeit über da, bis du wieder herausgekommen bist - du hast ihn bloß deshalb nicht bemerkt, weil er ganz dicht an der Wand in den Schatten stand.«

Inzwischen waren sie bei ihren Zimmern angelangt. Für einen Moment konnte Amanda ihre Schwester nur entgeistert anstarren; es war eines der seltenen Male in ihrem Leben, dass es ihr wahrhaftig die Sprache verschlagen hatte. In ihrem Kopf drehte sich alles, und ihre Gedanken überschlugen sich regelrecht. Schließlich drückte sie Amelias Hand. »Zieh dich um, und dann komm in mein Zimmer, damit wir ausführlich reden können.«

Die Minuten, die sie mit ihrer Zofe verbrachte, während sie zum zweiten Mal an diesem Abend aus ihrem Kleid stieg und dann ihr Nachthemd überzog und sich die Haare bürstete, trugen nicht sonderlich viel dazu bei, um ihre angeschlagene Gemütsverfassung zu verbessern. Als das Mädchen wieder ging und Amelia hereingehuscht kam, um mit einem Satz unter die Bettdecke zu schlüpfen, wirbelten Amandas Gedanken noch immer hektisch in ihrem Kopf herum, und auch ihre Gefühle waren in wildem Aufruhr. Sie war so völlig durcheinander, so derart außer sich, dass ihr vor Aufregung beinahe übel war. Sowohl in ihrem Kopf als auch in ihrem Herzen herrschte Tumult; ihre innere Stabilität schien auf immer verloren. Das Einzige, worauf sie sich anscheinend noch halbwegs verlassen konnte, war ihr Instinkt. Und ihr Instinkt riet ihr, im Geiste erst einmal einen großen Schritt zurückzutreten und Abstand zu nehmen.

»Ich begreife einfach nicht, was da vor sich geht.« Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich neben Amelia in die Kissen sinken. »Ich weiß, Devil hat Martin seine Erlaubnis erteilt, aber...« Wut und Verwirrung prallten in ihrem Bewusstsein aufeinander, sodass sie nur hilflos den Kopf schütteln konnte. »Nachdem sie uns nun all die Jahre über stets mit Argusaugen bewacht haben, nachdem sie uns jedes Mal, wenn wir es auch nur andeutungsweise gewagt haben, irgendeinem Windhund zuzulächeln, prompt in die Quere gekommen sind, drehen sie sich nun ganz plötzlich um hundertachtzig Grad herum und werfen mich, ohne mit der Wimper zu zucken, einem Löwen zum Fraß vor!«

Amelia warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Hat er wirklich so viel von einem Löwen an sich?«

»Oh ja!« Amanda verschränkte die Arme vor der Brust und starrte finster zum Betthimmel empor. »Wenn du wüsstest, was da vorhin im Wintergarten vor sich gegangen ist, würdest du nicht fragen.« Amelia machte allerdings ganz den Eindruck, als würde sie nur zu gerne danach fragen, deshalb fuhr Amanda hastig fort: »Ich hatte angenommen, dass sie sich nur zähneknirschend einverstanden erklärt hätten, doch stattdessen...« Plötzlich verengte sie die Augen zu Schlitzen. »Hah, jetzt weiß ich, warum sie ihn unterstützen! Das machen sie bloß deshalb, weil er genauso ist wie sie!«

»Na ja, sicher. Aber das wussten wir doch schließlich von Anfang an, dass unser idealer Kandidat genau so sein müsste wie sie.«

Amanda unterdrückte einen frustrierten Aufschrei. »Aber deshalb müssen sie ihm doch nicht auch noch helfen! Er ist doch von sich aus schon schwierig genug!«

Nach einem Moment des Schweigens wollte Amelia wissen: »Und? Wie ist denn nun der aktuelle Stand deines Spiels?«

»Das ist es ja gerade - ich weiß es nicht! Jedes Mal, wenn ich die Sache gründlich zu durchdenken versuche«, erwiderte Amanda und rieb mit einem Finger zwischen ihren Augenbrauen, »tut mir der Kopf weh. Ganz fürchterlich.«

Wieder verstrichen einige Augenblicke des Schweigens, dann fand Amelia unter der Bettdecke die Hand ihrer Schwester, drückte sie flüchtig und setzte sich schließlich in den Kissen auf. »Ich gehe jetzt wieder in mein eigenes Bett zurück. Schlaf mal eine Nacht darüber - morgen früh wirst du die ganze Angelegenheit bestimmt schon sehr viel klarer sehen. Das sagt Mama jedenfalls immer.«

Amanda murmelte ein »Gute Nacht« und horchte noch einen Moment darauf, wie Amelia durch das Zimmer tappte und zur Tür hinausschlüpfte. Dann schloss sie die Augen und zwang sich dazu, den Rat ihrer Schwester zu befolgen.


Das gelang ihr allerdings erst, als bereits der neue Tag heraufdämmerte. Und selbst dann konnte sie keine wirkliche Ruhe finden, sondern schlief äußerst unruhig. Nur ganz vage nahm sie wahr, wie Louise ins Zimmer kam, einen prüfenden Blick auf ihre Tochter warf und erklärte, dass sie an diesem Morgen ausschlafen solle.

Einige Zeit später erschien ihre Mutter abermals an ihrem Bett. Louise lächelte, dann setzte sie sich auf die Bettkante und strich Amanda die zerzausten Locken aus der Stirn. »Es ist nicht leicht, nicht wahr?«

Amanda runzelte die Stirn. »Nein. Ich hatte gedacht, dass es das wäre, aber...«

Louises Lächeln nahm einen leicht bitteren Zug an. »Das ist es nie. Aber«, sie erhob sich wieder, »es lohnt sich, beharrlich zu bleiben, nicht aufzugeben. Am Ende wirst du sehen, dass es das wert war. So, und nun möchte ich, dass du den Rest des Morgens über schläfst. Amelia und ich werden jetzt erst einmal zu Lady Hatchams Morgentee gehen, und danach schauen wir wieder bei dir herein und sehen, ob du dich inzwischen wohl genug fühlst, um zu Lady Cardigans Lunch mitzukommen.«

Mit einem letzten liebevollen Lächeln verließ Louise das Zimmer wieder. Amanda betrachtete die Tür, als diese hinter Louise ins Schloss fiel, und dachte daran, wie verständnisvoll und hilfreich ihre Mutter gewesen war, wie viel näher sie sich ihr jetzt fühlte. Und nicht nur Louise, sondern auch all ihren Tanten, den Ehefrauen ihrer Cousins. So als ob sie, Amanda, so etwas wie eine Reifeprüfung absolviert hätte, eine Art Übergangsritus. Als ob sie durch die Tatsache, dass sie nun vor einer Hürde stand, vor der alle Frauen in ihrer Familie schon einmal in ihrem Leben gestanden hatten - einer Hürde, die sie letztlich alle überwunden hatten -, einen tieferen Einblick gewonnen hätte, ein umfassenderes Verständnis. Für eine ganze Vielzahl von Dingen.

Für Dinge wie das Leben, die Liebe und die Familie. Die Erkenntnis, was wirklich dazugehörte, um den Wunschtraum einer Frau - den Wunschtraum jeder Frau - Wirklichkeit werden zu lassen. Für die Tatsache, dass sie sich im Grunde alle das Gleiche erträumten, dass diese Träume sich auch im Laufe der Jahrhunderte nicht verändert hatten. Die Männer, um die es ging, die jeweiligen Umstände und Lebensverhältnisse mochten zwar ganz unterschiedlich sein, doch die Sehnsucht der Frauen blieb immer die gleiche. Immer war es die gleiche einzigartige, aufrichtige Empfindung, die aus ihrem tiefsten Innersten entsprang.

Mit einem Seufzer rollte Amanda sich auf den Rücken und starrte blicklos in den Betthimmel hinauf. Entgegen Amelias Hoffnung sah sie die ganze Angelegenheit an diesem Morgen zwar noch keineswegs klarer, aber zumindest fühlte sie sich nicht mehr ganz so überwältigt.

Die Kernfrage, um die sich alles drehte, stand noch immer unbeantwortet im Raum. Angenommen, Martin liebte sie - aber war er sich seiner Liebe zu ihr auch bewusst? Bekannte er sich zu seinen Gefühlen? Und wenn dem so war, war es dann wirklich unbedingt notwendig, dass er ihr seine Liebe mit Worten gestand, dass sie ihn die drei entscheidenden Worte laut und deutlich aussprechen hörte? Oder würde es nicht auch genügen, wenn er seine Gefühle für sie auf andere Art und Weise zum Ausdruck brachte?

Aber was, wenn sie da etwas falsch verstand? Wenn sie ihn ohne jede verbale Erklärung akzeptierte und dann später erfahren musste, dass er nicht zugeben wollte, dass er sie überhaupt liebte? Würde er sich dann trotzdem noch dazu gezwungen sehen, seinen Namen von dem alten Skandal reinzuwaschen? Oder würde er - trotz der Zusicherung, die er, davon war sie überzeugt, Devil gegeben haben musste, um dessen Erlaubnis zu erhalten, ihr den Hof machen zu dürfen - die Regeln etwas großzügiger auslegen, sobald sie erst einmal offiziell die Seine war, indem er zum Beispiel den Skandal offen eingestand und sich dann einfach aus dem öffentlichen Leben zurückzog, sodass es ihr und ihren gemeinsamen Kindern überlassen bleiben würde, die gesellschaftliche Fassade der Familie aufrechtzuerhalten?

Wenn er diesen Kurs einschlug, dann gab es tatsächlich so gut wie nichts, was die Cynsters dagegen tun könnten, außer gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Das musste auch der Grund sein, weshalb Lady Osbaldestone so unerbittlich darauf beharrte, dass sie, Amanda, sich mit nichts weniger als einem eindeutigen Bekenntnis seiner Liebe begnügen sollte, in Worten oder in anderer Form. Nämlich, damit sie ein Druckmittel in der Hand hätte, mit dem sie sicherstellen könnte, dass Martin jene alte Geschichte von vor zehn Jahren endlich aufklären und seinen Namen wieder reinwaschen würde. Wenn er sie liebte und ihr seine Liebe gestanden hatte, dann konnte sie darauf bestehen, dass er sich rehabilitierte, dass er ein für alle Mal reinen Tisch machte. Andererseits - wenn er sie liebte, dies aber nicht wusste und sich weigerte, seine Gefühle sich selbst und ihr gegenüber einzugestehen, dann hatte sie nur wenig Macht, um ihn umzustimmen.

Amelia hatte sie gefragt, ob ein solches Eingeständnis wirklich eine so große Rolle spielte. Nachdem Amanda sich noch einmal alles durch den Kopf hatte gehen lassen, was sie jetzt über Dexter und Martin, den Grafen und den Mann, wusste, war sie zu dem Schluss gelangt, dass es durchaus entscheidend sein könnte. Und nicht nur aus dem Grund, den Lady Osbaldestone ihr genannt hatte, sondern auch wegen jener vageren, aber dennoch nicht minder beunruhigenden Sorge, die sie in den schwarzen Augen Ihrer Ladyschaft gelesen hatte.

Diese gestaltlose Besorgnis war das lästigste, quälendste, mit dem Verstand am schwersten zu erfassende Gefühl, doch jetzt empfand auch Amanda diese Sorge ganz deutlich. Sie spürte sie nicht im Kopf und auch nicht in ihrem Herzen, sondern in der Magengrube. Ihr logisches Denken sagte ihr, solange nur der Skandal endlich zur Aufklärung käme, würde alles gut sein. Ihr Herz versicherte ihr, dass Martin sie liebte, ungeachtet dessen, was er dachte. Ihr Bauchgefühl hingegen sagte ihr, dass sie auf der Hut sein musste, dass es da noch eine andere, tiefere Wunde gab, die sie nicht sehen konnte, irgendetwas Verborgenes, das sie - sie und Martin - dringend klären mussten …

»Aaaargh!« Amanda warf frustriert die Hände in die Luft, dann setzte sie sich in den Kissen auf. Es würde sie nicht weiterbringen, wenn sie noch länger hier im Bett blieb, sie würde sich damit höchstens erneute Kopfschmerzen einhandeln. Sie schlug also die Bettdecke zurück und stand auf... und dann fiel es ihr wieder ein. Sie hatte Martin am vorigen Abend gesagt, dass sie ihm in einem Tag ihre Antwort mitteilen würde.

Was bedeutete, dass dies bis heute Abend geschehen müsste.

Kraftlos sank sie wieder auf das Bett hinunter. Bei dem bloßen Gedanken daran, Martin zu sehen, begann sich in ihrem Kopf schon wieder alles zu drehen. »Ich kann das nicht.« Wenn sie Martin jetzt wiedersähe, würde sie das nur noch stärker verwirren. Womöglich würde sie sogar einfach Ja sagen, obwohl doch alle ihre Instinkte sie dazu drängten zu sagen: »Noch nicht. Erst wenn …«

Amanda schlang sich ein Tuch um die Schultern und begann, ruhelos im Zimmer hin- und herzuwandern. Sie musste dringend nachdenken, musste ihre Argumente auf eine Formel bringen und in präzise Worte fassen, damit sie ihn damit treffen, ihm Kontra geben konnte, wenn er sie das nächste Mal aus wütenden moosgrünen Augen anfunkelte und sie dazu drängte, seinen Antrag endlich anzunehmen. Und das würde er unter Garantie tun. Nun, da er auch noch die Unterstützung ihrer Cousins gewonnen hatte - nach der Sache vom vergangenen Abend war es ja nur zu offensichtlich, wie ihre wahren Absichten aussahen -, gab es keinen Zweifel mehr daran, dass er diesen Kurs weiter verfolgen würde, und zwar so lange er nur irgend konnte. Ihre Cousins hatten ihm ganz bewusst die Macht gegeben, mit der er Amanda, wie niemand besser wusste als eben ihre Cousins, schließlich noch vollends den Kopf verdrehen würde...

Sie biss die Zähne zusammen, um einen frustrierten Aufschrei zu unterdrücken.

Dank der unheiligen Allianz zwischen Martin und ihren Cousins war London für sie, Amanda, nicht mehr sicher - zumindest so lange nicht, bis sie voll und ganz gewappnet war und wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Sie musste also dringend für eine Weile fort von hier, irgendwohin, wo sie ungestört nachdenken konnte, frei von Martin, frei von dem ganzen unseligen Haufen, vorzugsweise in Begleitung von jemandem, der sie schützen würde, der ihr dabei helfen würde, ihren Weg zu erkennen …

Abrupt blieb Amanda stehen. »Natürlich! Wieso bin ich eigentlich nicht schon eher darauf gekommen?« Sie überlegte noch einen Moment länger, dann schob sie energisch das Kinn vor und nickte. »Die perfekte Lösung.«

Schon wieder ein klein wenig aufgemuntert und gestärkt und bereits spürbar weniger niedergedrückt - ja fast schon hoffnungsvoll - eilte Amanda zum Klingelzug neben der Tür.


Martin wartete und wanderte nervös in seiner Bibliothek auf und ab und wartete noch ein wenig länger. Um vier Uhr gab er es schließlich auf, verließ sein Haus und marschierte zur Upper Brook Street. Seine Geduld war restlos erschöpft. Bestimmt würde Amanda um diese Uhrzeit doch nicht noch immer unterwegs sein oder im Park umherschlendern - nicht, wenn sie ihm doch versprochen hatte, ihm heute ihre Antwort zu geben.

Den ganzen Tag über hatte er sich dafür gescholten, dass er am vergangenen Abend nicht hartnäckiger gewesen war, dass er ihr nicht stärker zugesetzt hatte, als sie noch ganz überwältigt gewesen war von ihrem Liebesspiel und infolgedessen überaus nachgiebig und empfänglich. Als sie ein weiches Bündel warmer, voll und ganz befriedigter Frau in seinen Armen gewesen war und ihre fünf Sinne noch nicht wieder ganz beisammen gehabt hatte. Wenn er da auf einer Antwort bestanden hätte... aber genau das hatte er eben nicht getan, und zwar ausschließlich deshalb nicht, weil ihn eine tief in seinem Inneren verwurzelte Ritterlichkeit daran gehindert hatte. Eine Ritterlichkeit, die ihm diktierte, dass eine unter Zwang gegebene Einwilligung nicht bindend war und dass eine bewusste Ausnutzung eines solchen Szenarios, bloß um jemandem eine positive Antwort zu entlocken, nicht fair war.

Fair? Ha! Martin unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Das verflixte Weibsbild hatte ihn wochenlang verfolgt; und nun, da die Situation umgekehrt war, machte sie ihn völlig konfus, und das auch noch, ohne es überhaupt zu wissen. Wenn er mit ihr zusammen war, konnte er sich einfach nicht dazu durchringen, ihr die Wahrheit zu gestehen - sich den linken Arm abzuhacken würde ihm im Vergleich dazu entschieden leichter fallen. Warum das so war... nun, er wusste durchaus, warum, aber es war sinnlos, sich gedanklich damit zu befassen, das würde ihn nämlich nicht einen Schritt weiterbringen. Waren er und Amanda hingegen getrennt, dann sah er wiederum überhaupt keine Schwierigkeit darin, jene gewissen Worte auszusprechen, wenn das denn so unbedingt nötig war, um Amanda zu der Seinen zu machen. Dann war es für ihn lediglich eine rein strategische Entscheidung, die in keiner Weise durch Gefühle kompliziert wurde.

Seine Gefühle kamen erst in dem Moment ins Spiel, in dem er Amanda zu Gesicht bekam. Dann war die Wirkung, die sie auf ihn hatte, der emotionale Aufruhr, den sie in seinem Inneren auslöste, allerdings geradezu beängstigend. Und was das anbelangte, was er sich selbst antat … Er hatte von Connors »undankbarem Schicksal« geträumt. Die Worte des alten Lebemannes verfolgten ihn selbst noch im Schlaf, was dieser wohl zweifellos auch genauso beabsichtigt hatte.

Aber er wollte Amanda nicht verlieren.

Heute war der bewusste Tag. Wenn er erst einmal ihre Entscheidung vernommen hatte, wenn sie die Dinge zwischen sich eindeutig geklärt hatten, dann könnte er - könnten sie - von diesem Punkt aus weitermachen. Nach der vergangenen Nacht musste Amanda doch nun eigentlich wissen, dass es keine Lösung war, weiterhin zu leugnen, dass sie ihn liebte. Denn sie liebte ihn, das stand für ihn eindeutig fest - liebte ihn schon seit jenem allerersten Mal, als sie sich ihm hingegeben hatte, und er war bei weitem zu erfahren, als dass er das nicht erkannt hätte. Jedes Mal, wenn sie zu ihm kam, in seinen Armen regelrecht dahinschmolz, festigte sie die Bande zwischen ihnen nur noch mehr.

Es gab für sie also wirklich keinen Grund mehr, sich noch länger zu weigern, seinen Antrag anzunehmen. Jedenfalls keinen wie auch immer gearteten logischen Grund. Sicherlich, nach wie vor gab es da eine gewisse Wankelmütigkeit an ihr - aber andererseits war sie doch keine unvernünftige Frau. Ihr Widerstand hatte am vergangenen Abend merklich nachgelassen; sie war nahe daran gewesen, endgültig schwach zu werden - um ein Haar hätte sie Ja gesagt. Heute, da war Martin sich ziemlich sicher, würde sie es tun.

Wenn ihr Vater zu Hause gewesen wäre, hätte er diesen vielleicht um Rat fragen können, doch Arthur wurde erst in einigen Tagen wieder zurückerwartet. In der Zwischenzeit hatte er auch Louise und Amandas Tanten kennen gelernt - aber er war nicht so dumm, sich ausgerechnet von ihnen Hilfe zu erhoffen, besonders in dieser speziellen Sache nicht. Vielleicht würden sie ihm ja beistehen, wenn er um Gnade flehte - aber ihm dabei helfen, Amandas Forderung zu umgehen? Nie und nimmer. Und das bedeutete, dass er vollkommen auf sich allein gestellt war, als er die Stufen zum Haus Nummer zwölf hinaufstieg. Der Butler öffnete die Tür.

»Ich möchte zu Miss Amanda Cynster.« Martin überreichte dem Mann seine Karte.

Der Butler warf einen kurzen Blick darauf. »Bedaure sehr, doch ich fürchte, Ihr habt sie verpasst, Mylord. Aber sie hat eine Nachricht für Euch hinterlassen.«

»Verpasst?«

»In der Tat. Sie ist kurz nach dem Lunch abgereist, völlig unerwartet.« Der Butler hielt die Tür auf, und Martin betrat die Halle. »Mr. Carmarthen ist mit ihr gefahren. Ich bin mir sicher, dass ich Euren Namen auf einem der Briefe hier gesehen habe …« Rasch blätterte der Butler einen Stapel Einladungen durch. »Ah, ja, da ist er ja! Ich wusste doch, dass ich mich nicht geirrt hatte. Aber warum Ihre Ladyschaft ihn hier deponiert hat …«

In seiner Ungeduld riss Martin dem Butler das Briefchen geradezu aus den Fingern. »Dexter« stand auf der Vorderseite geschrieben. Nicht gewillt, nachzudenken und womöglich voreilige Schlüsse zu ziehen, bog er die ordentlich gefalteten Ecken auseinander und strich das einzelne Blatt Papier glatt.

Er überflog die Zeilen. Begriff schlagartig.

Und hatte plötzlich das Gefühl, als ob ihm das Blut in den Adern gefröre.

Bitte verzeih mir. Ich konnte dir nicht die Antwort geben, die du erwartest. Ich habe Schritte unternommen, um mich an einen Ort zu begeben, wo ich für dich nicht erreichbar bin, aber sobald ich kann, werde ich wieder nach London zurückkehren, und dann wirst du deine Antwort bekommen.

Die Botschaft war mit einem schwungvollen »A.« unterzeichnet.

Martin zerknüllte die Nachricht in seiner Faust. Für einen langen Augenblick starrte er schweigend durch die Halle, ohne etwas wahrzunehmen. Ihm war zumute, als ob die Welt urplötzlich stehen geblieben wäre, und mit ihr sein Herz. Als er dann schließlich sprach, klang seine Stimme vollkommen tonlos. »Wohin ist sie gefahren?«

»Nun, nach Schottland, Mylord. Hat sie denn nicht gesagt …?«

Martins Miene versteinerte sich. Er stopfte die zusammengeknüllte Nachricht in seine Tasche, machte wortlos auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Haus.


Eine Stunde später trieb er seine Pferde in halsbrecherischem Tempo die Great North Road entlang und verfluchte dabei alles und jeden, der es wagte, ihm in die Quere zu kommen. Verfluchte die Minuten - selbst wenn es nur einige wenige waren -, die er damit vergeudet hatte, eine kurze Nachricht an Devil zu schreiben, um diesem mitzuteilen, was geschehen war.

Um ihm mitzuteilen, dass er Amanda zurückbringen würde.

Am heftigsten und inbrünstigsten aber verfluchte Martin sich selbst. Weil er nicht die entscheidenden Worte gesagt hatte, die Amanda so unbedingt hören wollte; weil er nicht den Mut gehabt hatte, die Wahrheit zu gestehen und mit der Vergangenheit ein für alle Mal reinen Tisch zu machen. Am vergangenen Abend hatte er die ideale Gelegenheit dazu gehabt, aber er hatte sich dagegen gesträubt, hatte feige den Schwanz eingekniffen und lieber den leichtesten Ausweg gewählt. Hatte stur darauf beharrt, dass Amanda diejenige sein sollte, die sich beugte, die sich darein fügte, nur so viel zu bekommen, wie er zu geben bereit war. Er hatte die Chance gehabt, sich ihr zu öffnen, ihr sein Herz auszuschütten; stattdessen jedoch hatte er es vorgezogen, sich weiterhin hinter einer schützenden Mauer zu verschanzen, sein Innerstes weiterhin zu verschließen. Selbst vor ihr, Amanda. Er war vor dem Risiko zurückgeschreckt - und nun waren sie beide nahe daran, den Preis dafür zu zahlen.

Seine Karriole flog nur so die Straßen entlang, überholte langsamere Gefährte in weitem Bogen, um dann in den Ebenen in noch größerem Tempo dahinzurasen. In Barnet wechselte Martin zum ersten Mal die Pferde und danach noch etliche weitere Male, und er verfluchte die Notwendigkeit, ohne Pferdeknecht reisen zu müssen. Doch er hatte nicht gewollt, dass noch ein weiterer Zeuge zugegen sein würde, wenn er schließlich Amandas Kutsche einholte. Mit Carmarthen und ihrem Kutscher fertigwerden zu müssen, würde schon schwierig genug sein.

Aber zumindest würden sie und Carmarthen nicht rasen, sie würden nicht andauernd die Pferde wechseln, um ihr hohes Tempo halten zu können. Martin hatte sich eine Weile den Kopf darüber zerbrochen, warum Amanda ihm ihre Nachricht nicht sofort durch einen Lakaien hatte überbringen lassen, doch dann hatte er plötzlich begriffen. Sie hatte den Brief bei sich zu Hause hinterlegt, damit er ihm, Martin, erst am späten Abend überbracht werden sollte, zu einem Zeitpunkt, an dem ihr Vorsprung bereits so groß gewesen wäre, dass an eine Verfolgung nicht mehr zu denken war. Stattdessen jedoch waren Amanda und ihr Begleiter nun erst knappe fünf Stunden vor ihm losgefahren. Und seine Karriole war noch dazu erheblich schneller als eine Reisekutsche.

Die Schicksalsgöttin - jene überaus launische, unbeständige Dame - hatte ihm noch eine allerletzte Chance gegeben. Wenn er weniger nervös, weniger unruhig gewesen wäre, wenn er Amandas Antwort stattdessen mit mehr Zuversicht und Gelassenheit entgegengesehen hätte, dann wäre er nicht völlig unerwartet um vier Uhr nachmittags in der Upper Brook Street erschienen. Aber das hatte er nun einmal getan, und somit hatte er noch eine letzte Chance bekommen, Amanda die Worte zu sagen, die sie hören wollte - und den Preis für ihr Ja zu zahlen. Eine allerletzte Chance, um sie zu überzeugen, die Seine zu werden.

Und nicht Carmarthens Ehefrau.

Das Tageslicht wurde langsam schwächer, als Martin mit seiner Peitsche schnalzte und die Pferde abermals zu einem gestreckten Galopp antrieb. Im Brausen des Fahrtwindes konnte er Connors zynisches, spöttisches Lachen hören.


Amanda schloss die Augen, als die Lichter von Chesterfield hinter ihnen in der Ferne verblassten. Sie hatte den größten Teil der Reise vor sich hin gedöst, daher war sie nun nicht mehr müde; und Reggie, der ihr gegenübersaß, hatte die Augen zugemacht, kaum dass sie Derby verlassen hatten. So hatte er zumindest endlich damit aufgehört, ihr Strafpredigten zu halten.

Amanda hatte mit der Ausführung ihres Plans gewartet, bis Louise und Amelia von ihrer Einladung zu Lady Hatchams Morgentee zurückgekehrt waren. Louise hatte ihrer Tochter aufmerksam zugehört und dann ihr Einverständnis erklärt, hatte es Amanda jedoch zur Auflage gemacht, dass sie ihre lange Reise zum Tal von Casphairn nicht ohne Begleitung antreten dürfe. Dabei hatte Louise Amelia einen fragenden Blick zugeworfen - die jedoch hatte nur dagesessen und stumm und unverwandt ihre Schwester angestarrt. Es war in genau jenem Augenblick gewesen, als ihnen Reggies Erscheinen gemeldet worden war; er war gekommen, um Amanda und Amelia zu Lady Cardigans Lunch zu begleiten.

Als Amanda daraufhin ihn um Hilfe ersucht hatte, hatte er augenblicklich die Schultern gestrafft und sich - als der wahre Freund, der er war - sofort dazu bereit erklärt, mit ihr in den Norden zu reisen. Er hatte das Tal früher schon einmal mit ihnen besucht und hatte die Reise damals sehr genossen. Nachdem dieses Problem nun also geklärt war, war Reggie unverzüglich wieder nach Hause zurückgefahren, um seine Reisetasche zu packen. Amanda hatte ihn dort wenig später mit ihrer Kutsche abgeholt, und dann waren sie auch schon auf dem Weg stadtauswärts gewesen.

Doch erst als sie Barnet hinter sich gelassen hatten, war Reggie auf die Idee gekommen, Amanda zu fragen, was genau denn nun eigentlich der Grund für ihre überstürzte Reise gen Norden war. Und wo eigentlich Dexter steckte.

Amanda hatte ihm die Sachlage erklärt, woraufhin Reggie vollkommen wider Erwarten plötzlich Martins Partei ergriffen hatte. Er war so verärgert, so aufgebracht gewesen, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Über viele Meilen hinweg hatte er ihr unentwegt Strafpredigten gehalten, hatte ihr heftige Vorhaltungen gemacht wegen ihrer »unrealistischen Erwartungen«, darüber, warum es sich nun wirklich ganz und gar nicht gehörte, weiterhin an einer solch unnachgiebigen Einstellung festzuhalten, wenn Dexter sich doch nun schon bereit gezeigt hatte, ihr in so vieler Hinsicht Zugeständnisse zu machen und sich ihr anzupassen. Und in diesem Tenor war es ununterbrochen weitergegangen.

Von Luc hätte Amanda eine derartige Reaktion erwartet, aber nie und nimmer von Reggie.

Wie betäubt hatte sie dagesessen und seine Worte an sich vorbeiströmen lassen. Es war ihr wenig sinnvoll erschienen, mit Reggie zu streiten oder auch nur den Versuch zu unternehmen, sich zu verteidigen. In diesem einen Punkt waren sich die Männer anscheinend alle einig; offenbar gab es zu dieser Kernfrage eine einhellige Ansicht, die denn auch jedes männliche Wesen prompt und mit Nachdruck vertrat, wohingegen der weibliche Standpunkt in dieser Sache völlig entgegengesetzt war.

Erst als sie Derby erreicht hatten, war Reggie endlich verstummt. Sie waren ins »Red Bells« eingekehrt, hatten in ungemütlichem Schweigen ihr Abendessen eingenommen und sich dann anschließend wieder auf den Weg gemacht. Noch immer schweigend, hatte Reggie erneut seinen Platz in der Kutsche eingenommen, die Arme vor der Brust verschränkt, Amanda einen Moment lang kalt und finster angestarrt und dann die Augen geschlossen.

Seitdem hatte er sie noch nicht wieder geöffnet. Gelegentlich hörte Amanda ihn leise schnarchen.

Weiter und immer weiter holperte die Kutsche. Es war eine lange und strapaziöse Reise bis ins Tal von Casphairn, aber Amanda hatte diese Fahrt in den Jahren, seit Richard und Catriona geheiratet hatten, schon viele Male unternommen. Dann waren die Zwillinge geboren worden, und jetzt hatten Richard und Catriona noch eine zweite kleine Tochter, Annabelle… Amandas Gedanken schweiften in die Ferne, zu dem Glück und der Zufriedenheit, die im Herzen des Tales wohnten. Genau das war es auch, was sie sich für Martin und sich selbst ersehnte, dieses häusliche Glück, nach dem sie strebte. Das war ihr noch nie so deutlich bewusst geworden wie in diesem Moment.

»Sofort anhalten!«

Der laute Ausruf von irgendwo hinter ihnen riss Amanda abrupt aus ihren Gedanken, riss auch Reggie mit einem unsanften Ruck aus seinem Schlummer. Verwirrt runzelte er die Stirn. »Was zum -«

Der Kutscher zerrte an den Zügeln, die Pferde warfen sich nach vorn, die Kutsche schwankte heftig und kam dann schließlich zum Stehen. Amanda richtete sich auf ihrem Sitz auf und starrte ganz und gar verblüfft und unfähig, ihren Ohren zu trauen, in die schwarze Nacht hinaus.

Es konnte einfach nicht sein. Es war schlichtweg nicht möglich -

In dem Moment wurde auch schon der Kutschenverschlag aufgerissen, und ein großer, nur allzu vertraut anmutender Schatten füllte die Öffnung.

»Da bist du ja!« Die Erleichterung, die Martin durchströmte, war so groß, dass sie ihn beinahe in die Knie gezwungen hätte. Diese Erleichterung wurde jedoch sofort von dem Bedürfnis verdrängt, Amanda zu packen. Er streckte den Arm aus, schloss seine Finger um Amandas Handgelenk und zerrte sie ohne viel Federlesens aus der Kutsche heraus und in seine Arme.

Als sie sich wie eine Furie in seinen Armen wand und zappelte, trat er wieder einen Schritt zurück.

»Martin! Was zum Teufel fällt dir ein? Lass mich sofort wieder runter!«

Er stellte sie wieder auf die Füße und funkelte sie bitterböse an. »Du fragst, was mir einfällt? Ich war nicht derjenige, der nach Schottland durchbrennen wollte!«

»Ich wollte keineswegs durchbrennen!«

»Ach nein? Na, dann kannst du mir vielleicht ja mal erklären -«

»Ich unterbreche euch ja nur ungern« - Reggies ruhige, beherrscht klingende Stimme schnitt durch ihre hitzige Auseinandersetzung - »aber ich denke, der Kutscher und ich können auf das zweifelhafte Vergnügen, das hier mit anzuhören, getrost verzichten. Wir werden um die Kurve dort hinten herumfahren und dann da warten.« Er streckte die Hand nach der Kutschentür aus.

Martin schaute die Straße hinunter zu der Stelle, wo die Fahrbahn erneut einen Bogen beschrieb. Hinter der Kurve würde die Kutsche den Blicken entzogen sein. Er sah Reggie an und nickte kurz; dieser junge Bursche namens Carmarthen war wirklich erstaunlich verständnisvoll, aber andererseits kannte er Amanda auch schon sein ganzes Leben lang. Martin zog Amanda von der Kutsche fort. »Wir werden in Kürze nachkommen.«

»Du willst mich einfach hier zurücklassen, allein mit ihm?« Amandas Erstaunen und ihr wachsender Zorn schwangen klar und deutlich in ihrer Stimme mit.

»Allerdings.« Reggie sah sie missbilligend an. »Mit ein bisschen Glück wirst du ja wohl hoffentlich wieder zur Vernunft kommen.« Damit zog er die Tür zu, der Kutscher schnalzte widerstrebend mit den Zügeln, und die Kutsche rumpelte langsam weiter die Straße hinab.

Amanda starrte dem Gefährt einen Moment lang nach, dann wandte sie sich mit zusammengekniffenen Augen zu Martin um. Mit majestätischer Verachtung sah sie hinunter auf ihr Handgelenk, das er noch immer mit festem Griff umschlossen hielt. »Sei bitte so freundlich und lass mich los.«

Grimmig schob Martin das Kinn vor. »Nein.«

Sie sah ihn nur wortlos an... und kniff ihre Augen zu noch schmaleren Schlitzen zusammen...

Das Knurren, das aus seiner Kehle aufstieg, kam aus tiefster Seele. Ihren finsteren Blick mit nicht minder finsterer Miene erwidernd, zwang Martin sich schließlich, seinen Griff zu lockern und seine Finger von Amandas Haut zu lösen.

»Danke.« Sie atmete einmal tief durch. »So, und jetzt möchte ich dich doch dringend bitten, mir mal zu erklären, was du dir eigentlich dabei gedacht hast, mich hier mitten in stockfinsterster Nacht und in einer völlig gottverlassenen Gegend einfach so aus der Kutsche meiner Eltern herauszuzerren!«

»Was ich mir gedacht habe?« Er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf ihre Nase. »Du bist diejenige, die mir heute Abend eine Antwort geben sollte!«

»Aber ich habe dir doch alles erklärt! In der Nachricht, die ich für dich hinterlassen hatte.«

Martin wühlte einen Moment in seiner Tasche. »Du meinst das hier?« Aufgebracht fuchtelte er mit dem zusammengeknüllten Briefbogen vor ihrem Gesicht herum.

Sie riss ihm das Knäuel aus der Hand, strich das zerknitterte Papier glatt. »Ja. Wie Mama dir sicherlich erklärt hat, als sie dir meinen Brief übergab -«

»Es war nicht deine Mutter, die ihn mir gegeben hat - sondern euer Butler.«

»Colthorpe?« Amanda starrte Martin verdutzt an. »Colthorpe hat ihn dir gegeben? Oh.« Auf ihrem Gesicht machte sich ein Ausdruck der Verblüffung breit. »Deshalb also hast du uns noch erwischt -«

»Noch diesseits der Grenze, richtig. Zu unser aller Glück, wie ich nur sagen kann, weil es nämlich auch ebenso verdammt gut hätte sein können, dass ich euch erst in Gretna Green eingeholt hätte oder noch später, und das wäre dann alles andere als schön gewesen.«

Amandas Augen wurden nur noch runder. »Gretna Green?«

Beim Anblick ihrer fassungslosen Miene runzelte Martin verärgert die Stirn. »Weiß der Himmel, wieso du dachtest, dass es eine gute Idee wäre, den guten Reggie in den Hafen der Ehe zu schleppen -«

»Wir wollten doch überhaupt nicht nach Gretna Green - und ich würde Reggie doch auch niemals heiraten. Wie um alles in der Welt bist du bloß auf die verrückte Idee gekommen?«

Sie sagte die schlichte Wahrheit; diese Tatsache stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Martins Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur finsterer. »Aber der Brief - was du darin geschrieben hast. Was hast du denn sonst damit gemeint, wenn nicht das?« Er fing allmählich an, sich ebenso verwirrt und durcheinander zu fühlen, wie Amanda aussah.

Sie warf einen Blick auf die Nachricht, las die wenigen Zeilen und schnitt dann eine Grimasse. »Mama hatte mich gebeten, einen kurzen Brief zu schreiben, damit sie etwas von mir hätte, das sie dir geben könnte. Du solltest ihn eigentlich erst lesen, nachdem sie dir alles erklärt hätte. Der Brief war quasi nur als Ergänzung gedacht, nicht als die eigentliche Mitteilung.«

Wieder wallte Ärger in Martin auf. »Na ja, was, zum Henker, sollte ich denn denken, als ich die Zeilen las?« Er strich sich mit den Fingern durchs Haar, holte zum ersten Mal seit Stunden - so fühlte es sich für ihn zumindest an - wieder richtig tief Luft. Sie hatte überhaupt nicht vorgehabt, Reggie zu heiraten! Er blinzelte einmal, dann sah er Amanda abermals missmutig an. »Aber wenn du nicht auf dem Weg nach Gretna Green bist, wo, zum Teufel, willst du denn dann hin?«

Sie reckte ihre wohlgeformte Nase in die Höhe. »Schottland besteht nicht bloß aus Gretna Green, da gehört schon noch einiges mehr dazu«, erklärte sie spitz.

»Aber nur ein kleiner Teil davon ist bewohnbar. Warum, um alles in der Welt, musst du unbedingt den ganzen weiten Weg bis dort hinauf fahren?«

Amandas Augen funkelten wütend. »Ich habe vor, Richard und Catriona zu besuchen. Sie leben im Tal von Casphairn, das liegt nördlich von Carlisle.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte zu Martins Karriole hinüber.

Martin schloss sich Amanda an, tief in Gedanken versunken. Vor seinem geistigen Auge stieg das Bild einer bezaubernden jungen Frau mit flammend rotem Haar auf - Richards Ehefrau. Und als er ihr Bild vor sich sah, fiel ihm mit einem Mal auch wieder all das ein, was er über sie gehört hatte... mit argwöhnisch funkelnden Augen sah er die Frau an, die neben ihm herging. »Catriona... Ist sie nicht eine Hexe?«

Amanda nickte. »Eine Heilkundige und Wahrsagerin, und eine kluge Frau - eine sehr kluge Frau.«

»Eine, die mit Kräutern und anderen Arzneipflanzen arbeitet?«

Amanda wollte schon nicken, dann blieb sie abrupt stehen und sah Martin an. Abermals zutiefst erstaunt. Dann wurden ihre Lippen plötzlich schmal. »Ich fahre nicht zu Catriona, um mir irgendeinen… irgendeinen Trank, irgendein Kräuterheilmittel zu besorgen! Als ob ich so was tun würde! Oh!« Mit wild fuchtelnden Händen, so als ob sie Martin wegstoßen wollte, drehte sie sich um und marschierte weiter. Und schüttelte wütend den Kopf. »Du bist wirklich unmöglich!«

»Ich bin unmöglich? Das wird ja immer schöner! Du hast mir doch noch immer nicht gesagt, warum -«

»Na schön, in Ordnung!« Sie fuhr zu ihm herum und stieß ihm mit einem Finger gegen die Brust. »Ich brauchte dringend Zeit zum Nachdenken, und zwar fern von dir! Ich hatte versucht, die Entscheidung zu treffen, die ich auf deinen Wunsch hin treffen sollte, aber... aber das geht nun einmal nicht so schnell, dazu brauche ich Zeit und Ruhe und ein bisschen Frieden, Herrgott nochmal!« Wieder fuchtelte sie aufgebracht mit den Händen in der Luft herum. »Ich kann es mir nicht leisten, die falsche Entscheidung zu treffen. Und Catriona kann sehr gut zuhören...« Sie wandte sich wieder zu der Karriole um. »Wie dem auch sei, jedenfalls ist das das Ziel meiner Reise.«

Martin half ihr auf den hohen Sitz des Zweispänners hinauf, dann zögerte er plötzlich, sein Gesicht ausnahmsweise einmal auf gleicher Höhe mit Amandas. Schließlich stieß er den Atem in einem tiefen Seufzer aus. »Ich komme mit.«

Sie fixierte ihn mit hartem Blick. »Dann würde mein Aufenthalt dort seinen Sinn verlieren.«

»Nein, wird er nicht.« Er erwiderte ihren Blick ruhig und unverwandt. »Wenn dieses Tal und Catriona so gut sind, wie du sagst... vielleicht kann sie mir dann ja auch helfen.«

Amanda hielt inne, verstummte ganz plötzlich. Martin blieb, wo er war, und blickte Amanda weiterhin ruhig und unverwandt an, während sie ihm forschend in die Augen sah, so als wäre sie sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, als wollte sie überprüfen, ob es ihm wirklich ernst war mit dem, was er gesagt hatte. Dann … zögernd, streckte sie eine Hand aus.

Martin tat das Gleiche.

Ihre Finger berührten einander, glitten übereinander, verflochten sich miteinander.

In dem Moment wurde die Stille der Nacht von einer Explosion zerrissen.