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Wenn das kleine Biest es auf ihn abgesehen hatte, dann ging sie dabei allerdings auf verdammt ungewöhnliche Art und Weise zu Werke.

Mit einer Schulter lässig an die Wand gelehnt, beobachtete Martin von einer Ecke des Konsulatsballsaals aus, wie Amanda Cynster auf der Türschwelle erschien und sich im Raum umschaute. Ihr hübsches Gesicht ließ noch nicht einmal die Spur eines erwartungsvollen Ausdrucks erkennen. Sie bot das vollkommene Bild einer Dame, die ruhig und gelassen ihre Wahlmöglichkeiten prüft.

Leopold ließ nicht lange auf sich warten. Raschen Schrittes strebte er auf sie zu. Sie lächelte charmant und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen; Leopold ergriff sie begierig und bedachte Amanda mit einer überaus eleganten, überaus entzückten Verbeugung.

Martins Miene wurde steinern. Leopold redete, gestikulierte, gab sich ganz offensichtlich alle Mühe, Amanda zu beeindrucken. Martin beobachtete die Szene und machte sich so seine Gedanken.

Er war in seinem Leben schon zu oft Zielobjekt von Damen mit Heiratsabsichten gewesen, um nicht mittlerweile einen sechsten Sinn dafür entwickelt zu haben, wenn ein weibliches Wesen sich an ihn heranzupirschen versuchte. Aber bei Amanda Cynster... war er sich irgendwie nicht sicher. Sie war anders als die Damen, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte. Jünger, weniger erfahren, aber wiederum auch nicht mehr so jung, dass er sie als Backfisch hätte abtun können, und auch nicht mehr so unerfahren, dass er so blöde war, sie oder ihre Machenschaften nicht ernst zu nehmen.

Schließlich hatte er sich im Geschäftsleben bereits ein ansehnliches Vermögen verdient - und das wäre ihm bestimmt nicht gelungen, wenn er dazu geneigt hätte, seine Gegner zu unterschätzen. In diesem Fall jedoch war er sich noch nicht einmal ganz sicher, ob ihn das verflixte Weibsbild überhaupt im Visier hatte.

Nun näherten sich ihr zwei weitere Gentlemen, Draufgänger von der gefährlichsten Sorte, stets und ständig auf der Suche nach dem besonderen Kitzel. Leopold taxierte die beiden mit einem schnellen Blick, dann stellte er sie Amanda vor, ließ jedoch durch nichts erkennen, dass er gewillt wäre, von Amandas Seite zu weichen, geschweige denn, auf ihre Aufmerksamkeit zu verzichten. Daraufhin verbeugten die Dandys sich und zogen weiter.

Erleichtert atmete Martin wieder aus; es war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sich innerlich angespannt hatte. Er heftete seinen Blick wieder auf den Grund seines Besuchs, betrachtete ihre üppigen Locken, die in dem hellen Licht golden glänzten, ließ seinen Blick auf der schlanken, biegsamen Gestalt ruhen, die in feine Seide von der Farbe reifer Pfirsiche gehüllt war. Fragte sich in Gedanken, wie weich und nachgiebig der Körper unter jener Seide wohl sein würde...

Er riss sich zusammen und löschte das Bild, das sich vor seinem geistigen Auge zu entfalten begonnen hatte, energisch aus seinem Bewusstsein.

Besser, er konzentrierte sich wieder auf die Realität und auf das Rätsel, das er da vor sich hatte.

Bisher hatte sie sich noch jedes Mal, wenn er erschienen war, ganz eindeutig gefreut, ihn zu sehen, war gewillt gewesen - ja sogar froh -, den Schutz, den er ihr anbot, anzunehmen. Dennoch hatte er bei ihr noch immer keinerlei Anzeichen dafür erkennen können, dass sie speziell an ihm interessiert war. Immerhin war sie beschützerische Männer gewohnt. Männer wie zum Beispiel ihre Cousins. Es bestand also durchaus die Möglichkeit - was für ein wenig erbaulicher Gedanke! -, dass sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Bereitwilligkeit auch den Schutz irgendeines anderen, ähnlich ritterlich veranlagten Gentlemans annehmen würde. Zwar fiel Martin so auf Anhieb kein anderer ein, von dem man den Eindruck haben könnte, als mache er ihr platonisch den Hof, aber denkbar war es. In der Tatsache, dass sie so offenkundigen Gefallen an seiner, Martins, Gesellschaft fand und diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit suchte, spiegelte sich vielleicht einfach nur eine natürliche Neigung zu jenem Typ von Mann wider, in dessen Nähe sie sich wohl fühlte.

Sie versuchte nicht, sich an ihn heranzupirschen. Nein, sie spukte bereits regelrecht in seinem Kopf herum, ließ ihn nicht mehr los, und das war eine vollkommen neue Erfahrung für ihn, denn er wusste nicht, ob dies nun alles zu Amandas Plan gehörte oder bloß Zufall war.

Das, so entschied Martin, war die Streitfrage, mit der er sich auseinandersetzen musste - der entscheidende Punkt, den es dringend zu klären galt.

Er stieß sich von der Wand ab. Leopold hatte Amanda nun wirklich lange genug mit Beschlag belegt, und die Stutzer, die sich vorhin an sie heranzumachen versucht hatten, lungerten noch immer in der Nähe herum.

Da Amanda ihre Aufmerksamkeit ganz auf Leopold konzentriert hatte, sah sie nicht, wie Martin sich näherte. Und auch Leopold bemerkte ihn nicht, so gefangengenommen, wie er von Amanda war; unfähig, seinen Blick von ihrem Gesicht loszureißen. Erst als Martin unmittelbar neben ihr auftauchte, hielt sie in ihrer Erzählung inne und blickte auf - dann lächelte sie strahlend und streckte ihm zur Begrüßung die Hand hin.

»Mylord.«

Er schloss seine Finger um die ihren. Sie versank in einen Knicks. Er zog sie wieder hoch und verbeugte sich. »Miss Cynster.«

Sie lächelte noch immer, und ihre Augen leuchteten, erfüllt von einer Freude, die zuvor nicht da gewesen war. Der Ausdruck des Missfallens, der in Leopolds dunklen Augen erschien, als er seinen Blick zwischen Martin und Amanda hin- und herwandern ließ, deutete darauf hin, dass auch er das freudige Aufleuchten in ihren Augen wahrgenommen hatte, dass es somit also nicht nur ein Produkt seiner, Martins, Einbildung war.

»Dexter.« Leopold begrüßte ihn mit einem knappen Nicken. »Ihr seid mit Miss Cynster bekannt.«

Es war keine Frage - oder zumindest keine harmlose Frage ohne jeden Hintergedanken. Martin erwiderte Leopolds Blick. »Wir sind... Freunde.«

Leopolds Missfallen wurde noch deutlicher; das Wort »Freunde«, auf diese Art und Weise geäußert, konnte so ziemlich alles bedeuten. Leopold kannte Martin jedoch ziemlich gut.

Falls der Gegenstand ihrer beider Debatte auch nur das Geringste von dem Austausch ahnte, der da über seinen - oder vielmehr ihren, Amandas - Kopf hinweg stattfand, so ließ sie sich zumindest nichts davon anmerken, sondern schaute nur erwartungsvoll vom einen zum anderen, in ihren Augen die unübersehbare Hoffnung auf Unterhaltung. Schließlich ließ sie ihren Blick auf Martin ruhen.

Er sah sie an und lächelte gelassen. »Hättet Ihr Lust, ein bisschen umherzuschlendern und zu sehen, wer sonst noch alles da ist? Ihr seid ja nun schon eine ganze Weile hier, und ich bin sicher, es gibt noch genügend andere Gäste, die nur darauf warten, dass Leopold sich ihnen widmet.«

Martin hatte diesen letzten Satz als Warnung an Leopold gemeint. Ein plötzliches Aufblitzen in Amandas Augen, der Umstand, dass ihr Lächeln mit einem Mal noch eine Spur strahlender wurde, veranlassten ihn jedoch, sich seine gerade eben vorgebrachte Bemerkung rasch noch einmal zu gegenwärtigen. Als Amanda sich gleich darauf liebenswürdig von Leopold verabschiedete, versetzte Martin sich im Geiste eine Ohrfeige. Er hatte ihr gerade verraten, dass er sie beobachtet hatte - und das sogar schon eine ganze Weile.

Als Gastgeber durfte Leopold seinem Ärger nicht mit Worten Ausdruck verleihen, aber der Blick, den er Martin zuwarf, als sie auseinandergingen, besagte, dass er nicht gewillt war, sich so einfach abschütteln zu lassen, sondern zurückkommen würde. Um Amanda wieder von Martins Seite wegzulocken. Denn nichts bereitete Leopold mehr Vergnügen, als mit einem Gleichrangigen die Klingen zu kreuzen.

Martin reichte ihr seinen Arm; Amanda legte ihre Hand auf seinen Ärmel.

»Kennt Ihr Mr. Korsinsky gut?«, wollte sie wissen.

»Ja. Ich habe geschäftliche Interessen in Russland.« Und die Mitglieder von Leopolds Familie gehören zu den übelsten Gaunern und Betrügern des gesamten Landes, fügte er im Stillen hinzu.

»Ist er...« - sie machte eine vage Handbewegung - »vertrauenswürdig? Oder sollte ich ihn mit den gleichen Augen sehen wie die beiden anderen, äh... Herren, die er mir vorgestellt hat?«

Martin wollte sogleich antworten, konnte sich allerdings gerade noch bremsen - und entspannte sich dann wieder, denn sie wusste ja schließlich bereits, dass er die Szene von vorhin beobachtet hatte. »Leopold hat so seinen ganz eigenen Begriff von Ehre, aber der deckt sich nicht immer mit der Vorstellung der Engländer. Ich weiß noch nicht einmal genau, ob seine Art von Ehre überhaupt noch in die Kategorie ›zivilisiert‹ fällt. Es wäre also klüger, ihn so zu behandeln, wie Ihr es auch mit den beiden anderen tun würdet.« Er hielt einen Moment inne, dann fügte er in weniger gedehntem, bedächtigem Ton hinzu: »Mit anderen Worten, Ihr solltet ihnen besser aus dem Weg gehen.«

Um ihre Lippen zuckte es amüsiert. Sie schaute zu ihm auf. »Nun ja, aber wisst Ihr, ich bin doch kein siebenjähriges Mädchen mehr.«

Martin fing ihren Blick auf. »Und Leopold und die beiden anderen sind keine achtjährigen Jungs mehr.«

»Und Ihr?«

Sie waren unterdessen immer langsamer durch den Raum geschlendert. In einiger Entfernung vor ihnen winkte eine Dame, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Martin sah das Winken wohl, reagierte aber nicht darauf, da er vollauf damit beschäftigt war, das zu ihm emporgewandte Gesicht zu betrachten - es hätte das eines Engels sein können, nur dass es dafür viel zu viel Vitalität ausstrahlte. Er holte tief Luft, dann löste er seinen Blick von Amandas Gesicht und schaute nach vorn. »Ich, meine Liebe, lasse mich nicht so leicht in Kategorien pressen.«

Amanda folgte seinem Blick, und die Kluft, die sich für den Bruchteil einer Sekunde zwischen ihnen aufgetan hatte, löste sich wieder in nichts auf. Gewandt gingen sie zu unverbindlicher Konversation über und blieben stehen, um mit einer Gruppe von Gästen zu plaudern, deren Bekanntschaft sie bereits bei Lady Hennessy gemacht hatten.

Martin war voll und ganz damit zufrieden, einfach nur neben Amanda zu stehen und sich von ihrer Lebhaftigkeit unterhalten zu lassen. Sie war selbstsicher, gelöst, witzig und überaus schlagfertig und bog sogar recht geschickt eine hinterhältige Frage ab, was ihrer beider Freundschaft anbetraf. Die Damen in der Gruppe waren fasziniert und neugierig. Die Gentlemen genossen ganz einfach ihre Gesellschaft, betrachteten ihr Gesicht, ihre Augen, horchten auf ihr melodiöses Lachen.

Er, Martin, tat das Gleiche, allerdings aus einem anderen Grund; er versuchte nämlich, hinter Amandas Fassade zu blicken. Er hatte gespürt, wie sie während jenes kurzen, spannungsgeladenen Augenblicks plötzlich schneller geamtet hatte, wie sich ihre Finger auf seinem Arm mit einem Male verkrampft hatten. Er hatte nochmals versucht, sie zu warnen. Kaum allerdings, dass er die Worte ausgesprochen hatte, sie selbst gehört hatte, da sah er - wenn auch nur für einen so winzigen, so flüchtigen Augenblick, dass er sich selbst nicht ganz sicher war, ob er überhaupt richtig hingeschaut hatte -, wie hinter Amandas fein geschnittenen Zügen eine eiserne Hartnäckigkeit aufblitzte. Und erst da war ihm der Gedanke gekommen, dass sie jene Worte vielleicht auch anders interpretieren könnte.

Sie womöglich gar als Herausforderung auffassen könnte.

Schließlich war sie ja auf der Suche nach Spannung und Abenteuer.

Er beobachtete das Mienenspiel, das sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, den ständig wechselnden Ausdruck in ihren blauen Augen, vermochte aber weder zu erkennen, wie sie im Inneren reagierte, noch, wie sich diese Reaktion in Zukunft auf ihr Verhältnis auswirken würde.

Und weit schlimmer - er wusste inzwischen nicht mehr so recht, welche Reaktion er sich denn nun eigentlich von ihr wünschte. Wusste nicht mehr, ob er wollte, dass sie vor ihm davonlief oder dass sie zu ihm gelaufen kam.

Im Stillen runzelte er irritiert die Stirn. Die Unterhaltung um ihn herum wich in den Hintergrund zurück, verblasste in seinem Bewusstsein. Vom Verstand her wusste er durchaus, was er wollte. Amanda Cynster war nicht für ihn bestimmt; er wollte keinen engeren Kontakt mit ihr. Vom Verstand her war alles klar.

Warum dann also dieses Gefühl der Verwirrung?

Die Töne einer Geige rissen ihn abrupt aus seiner Gedankenversunkenheit. Alle wandten sich um, blickten in Richtung des Geräusches, bestätigten, dass nun zu einem Walzer aufgespielt werden würde. Martin schaute hinab und begegnete Amandas Blick aus blauen Augen. Fragend zog sie eine Braue hoch.

Er deutete mit einer Handbewegung in Richtung Tanzfläche. »Wollen wir?«

Sie lächelte und reichte ihm die Hand. Er führte sie zur Tanzfläche, fest entschlossen, Antworten auf seine Fragen zu finden.

Im Übrigen tanzte man im russischen Konsulat die Walzer ein wenig anders, als es wohl dem Stil der Schirmherrinnen von Almack entsprochen hätte. Martin zog Amanda in seine Arme, zog sie gleich darauf noch ein wenig enger an sich, als die Paare auf die Tanzfläche strömten.

Sie begannen sich zu drehen, sich im Takt der Musik zu wiegen. Amanda ließ ihren Blick durch den Saal schweifen, während sie zugleich angestrengt versuchte, ihre Atmung zu beherrschen, sich nichts von der Erregung und Atemlosigkeit anmerken zu lassen, die sich ihrer gleich in dem Moment bemächtigt hatte, in dem Dexter ihr seine Hand auf den Rücken gelegt hatte. Es war eine große, kräftige Hand - elegant und ohne jede Anstrengung lotste er Amanda durch das Gedränge. Aber die Hitze, die durch die Seide ihres Kleides brannte - und nicht nur jene Wärme, die von seiner Hand ausstrahlte -, sondern die alles durchdringende Hitze seines großen Körpers, der dem ihren so nahe war, nur einen knappen Zentimeter entfernt... Kein Wunder, dass es mit schöner Regelmäßigkeit vorkam, dass Damen auf überfüllten Tanzflächen in Ohnmacht fielen.

Nicht, dass Amanda schon jemals zuvor in Gefahr gewesen wäre, es diesen Damen nachzutun, und sie hatte bereits unzählige Male in stickigen, überfüllten Ballsälen getanzt.

Ich, meine Liebe, lasse mich nicht so leicht in Kategorien pressen. Amanda konzentrierte sich allein auf diese Worte, auf alles das, was sie verhießen - alles das, was sie so brennend gern haben wollte. Von ihm. Sicherlich, er war genauso arrogant und überheblich wie ihre Cousins; doch das kümmerte sie, ehrlich gesagt, nicht im Geringsten. Im Gegenteil, es würde seine Eroberung für sie nur noch umso süßer machen.

Sie schaute ihm ins Gesicht, lächelte leicht. »Ihr beherrscht den Walzer wirklich perfekt, Mylord.«

»Dann seid Ihr wohl eine Expertin, wie ich annehme.«

»Nach sechs Jahren in den Ballsälen der Londoner Gesellschaft? Das bin ich allerdings.«

Er zögerte; sie versuchte, in seinen changierenden grünen Augen zu lesen, konnte den Ausdruck darin jedoch nicht deuten. »In dieser Arena hier seid Ihr aber keine Expertin, wie Connor ganz richtig feststellte«, erklärte er.

»Connor hat mir lediglich zu verstehen gegeben, dass ich meine Fähigkeiten wohl ein bisschen überschätzt habe, als ich dachte, es mit einem Spieler seines Formats aufnehmen zu können. Und in diesem einen Punkt stimme ich ihm sogar zu.« Sie blickte flüchtig auf die Tanzenden, die sich um sie herum im Walzertakt wiegten. »Ansonsten jedoch kann ich hier nur sehr wenig entdecken, das zu bewältigen eine echte Herausforderung für mich darstellen würde.«

Als Martin nichts darauf erwiderte, musterte sie forschend sein Gesicht. Er wartete und fing ihren Blick ein. »Was genau wollt Ihr, worauf habt Ihr es abgesehen?«

Auf dich habe ich es abgesehen. »Das habe ich Euch doch schon erklärt. Ich möchte das Leben ein bisschen genießen - ich möchte Dinge erleben, die aufregender sind als das, was die elegante Gesellschaft an Zerstreuung zu bieten hat.« Ruhig und unerschrocken erwiderte sie seinen Blick. »Und das ist, wie Ihr selbst ja schon gesagt habt, kein Verbrechen.«

»Kein Verbrechen, das sicherlich nicht, aber es ist gefährlich. Besonders für jemanden wie Euch.«

Amanda ließ ihren Blick durch den Saal wandern. »Ein bisschen Gefahr verleiht dem Ganzen doch erst die rechte Würze.«

Martin konnte kaum fassen, welche Flut von Emotionen sie so mühelos in ihm wachzurufen vermochte. »Und wenn die Gefahr nun größer als nur ›ein bisschen‹ ist?«

Wieder schaute sie ihn an; und wieder konnte er die Härte und Unbeirrbarkeit spüren, die sich hinter ihrer liebreizenden Fassade verbarg. »Wenn das der Fall wäre, dann hätte ich kein Interesse«, erklärte sie. »Ich bin vor sechs Jahren in die Gesellschaft eingeführt worden - ich weiß also mittlerweile, wo die Grenzen verlaufen. Und ich habe kein Interesse daran, diese Grenzen zu übertreten oder gar zu weit zu gehen.«

Damit wandte sie abermals den Blick ab.

Mit Absicht zog Martin sie noch enger an sich, hielt sie fest an sich gedrückt, während seine Schenkel bei jedem Schritt, jeder Drehung die ihren streiften, ihrer beider Hüften sich berührten, auseinanderglitten, sich abermals berührten, sodass die dünne Seide ihres Kleides bei jeder Bewegung knisternd über sein Jackett rieb, bei jeder Bewegung für einen kurzen Moment an seinen Schenkeln haften blieb. Er spürte das plötzliche Stocken ihres Atems, spürte ganz deutlich, wie Amanda ein Schauer der Erregung über den Rücken lief. Sie sah ihn einen flüchtigen Moment lang an, blieb aber gelassen und fühlte sich so wundervoll leicht an in seinen Armen.

Martin wartete, bis es an ihnen war, die lange Promenade durch den Saal zu tanzen. »Um noch einmal auf diese Vergnügungen zurückzukommen, die Ihr erleben möchtet. Ich nehme mal an, Ihr habt da eine ganz bestimmte Sache im Sinn.«

»Mehrere Sachen.«

Sie sagte nichts weiter, sodass er gezwungen war, nachzuhaken. »Und die wären?«

Sein Ton veranlasste sie, ihn wieder anzuschauen. Dann, als ihre Entscheidung, ihm den Gefallen zu tun und seine Frage zu beantworten, klar war, begann sie aufzuzählen: »Bei Mondschein durch Richmond Park spazieren zu fahren - oder, genauer gesagt, spazieren gefahren zu werden. Eine nächtliche Bootsfahrt auf der Themse zu machen, um zu sehen, wie sich die Sterne im Fluss spiegeln. Ein Ausflug nach Vauxhall im privaten Kreis, organisiert von jemandem, den meine Eltern nicht kennen. Eine der Maskeraden in Covent Garden mitzumachen.«

Sie verstummte, woraufhin Martin kurz angebunden fragte: »Sonst nichts?«

Amanda ignorierte seinen spitzen Ton. »Für den Augenblick ist mein Ehrgeiz damit erst einmal erschöpft.«

Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Wenn Ihr dabei ertappt werdet, wie Ihr eines dieser Dinge tut..., wenn bekannt wird, dass Ihr... dann wird man Euch -«

»Dann wird es einen Aufschrei der Empörung geben, man wird mich über alle Maßen dumm und töricht schimpfen, mir Strafpredigten halten, bis mir die Ohren wehtun, und dann für die gesamte Dauer der Saison ein wachsames Auge auf mich haben.« Sie ließ ihren Blick auf seinem Gesicht ruhen, nahm die harten, entschiedenen Züge wahr. »Diese Aussicht ist allerdings nur schwerlich dazu angetan, mich umzustimmen. In meinem Alter kann ich mir solch kleine Unbedachtheiten nämlich durchaus noch leisten. Da braucht es schon eine handfeste, erwiesene Indiskretion, um meinem Ansehen ernstlich zu schaden.«

Martin schnaubte spöttisch. Amanda lächelte und ließ ihren Blick abermals durch den Raum wandern. »Und wenn Ihr es wissen wollt - gerade wegen meiner zahlreichen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft ist meine Liste so kurz.« Der Walzer endete; mit einer letzten schwungvollen Drehung kamen sie zum Stehen. »Mir bleiben allerdings nur noch eine begrenzte Anzahl von Wochen, bis die Ballsaison in vollem Gange ist. Wenn es erst einmal so weit ist, wird sich mein Terminkalender derart mit obligatorischen Veranstaltungen füllen, dass ich dann garantiert keine Zeit mehr haben werde, mich noch großartig ins Vergnügen zu stürzen.«

Sie trat einen Schritt zurück, löste sich aus seinen Armen, zog schließlich auch ihre Finger aus den seinen - nur widerwillig gestattete er ihr diese kleine Flucht. Ganz so, als ob er es sich jeden Augenblick wieder anders überlegen könnte, so als ob er sie am liebsten sofort erneut packen und wieder zurück in seine Arme ziehen würde. Derart befreit, drehte Amanda sich um, spürte dabei, wie Martins Hand von ihrem Rücken glitt - und vermisste prompt ihre Wärme. Sie musterte die Gentlemen, die um sie herum auf der Tanzfläche standen. »Ich überlege gerade, wer von diesen Herren wohl bereit wäre, mich nach Richmond zu begleiten.«

Mit wütendem Blick griff Martin nach Amandas Hand, wollte sie ruckartig wieder zu sich herzerren und ihr sagen, was er von dieser Idee hielt - und dass er es überhaupt nicht leiden konnte, gefoppt zu werden -, als plötzlich Agnes Korsinsky, Leopolds Schwester, wie aus dem Nichts vor ihnen stand.

»Dexter, mon cher!«

Agnes stürzte sich förmlich in seine Arme, sodass ihm keine andere Wahl blieb, als sie aufzufangen. Sie küsste ihn geräuschvoll, drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf beide Wangen - dann fing sie sicherheitshalber noch einmal von vorn an und wiederholte die überschwängliche Begrüßung.

Martin packte sie um die Taille und schob sie ein Stückchen von sich fort. »Agnes.« Er achtete sorgfältig darauf, ihr nur ins Gesicht zu sehen und seinen Blick nicht weiter hinunterwandern zu lassen. Ihr Kleidungsstil war nämlich beinahe schon anstößig, stellte ihre üppigen Reize nur allzu deutlich zur Schau. Und Martin war sich auch durchaus bewusst, dass sie es auf ihn abgesehen hatte - auf seinen Titel, sein Vermögen und natürlich auch auf ihn als Mann; sie war schließlich schon seit Jahren hinter ihm her. Und sie war mindestens ebenso gefährlich wie ihr Bruder. Amanda stand daneben und beobachtete die Szene, abwartend, taxierend. Martin sagte das Erstbeste, was ihm gerade in den Sinn kam: »Eure Soiree hat wirklich enormen Zuspruch gefunden - Ihr müsst hocherfreut sein, dass so viele Gäste gekommen sind.«

»Ach, die!« Agnes tat die Menschenmenge, die eindeutig auch Amanda mit einschloss, mit einer verächtlichen Handbewegung ab. »Die sind doch nichts im Vergleich zu Euch, mon cher. Aber wie ungezogen von Euch, einfach so heimlich, still und leise hier hereinzuschleichen, ohne mich zu begrüßen! Ich wusste ja noch nicht einmal, dass Ihr überhaupt hier seid!«

Genau das war auch meine Absicht. Er streckte die Hand nach Amanda aus und kam damit um den Bruchteil einer Sekunde Agnes zuvor, die gerade seinen Arm ergreifen wollte. »Darf ich vorstellen... Miss Wallace.«

In Agnes schwarzen Augen blitzte der Zorn auf, der im Übrigen auch sonst niemals sonderlich tief unter der Oberfläche verborgen lag. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, straffte die Schultern und wandte sich hochmütig zu Amanda um. »Miss Wallace?«

Martin schaute zu Amanda hinüber, sah, wie sie lächelte und Agnes die Hand entgegenstreckte. »Miss Korsinsky. Eure Soiree ist wirklich ganz wunderbar. Ich habe mich eine Weile mit Eurem Bruder unterhalten...«

Es kostete Martin einige Anstrengung, ein süffisantes Grinsen zu unterdrücken. Er stand da und beobachtete voller Vergnügen, wie es Agnes die Sprache verschlug, als sie geradezu überrollt wurde von einer Woge gewandten, ungezwungenen Ballsaalgeplauders. Jemandem wie Amanda, die sich seit etlichen Jahren auf dem Parkett der großen Gesellschaft bewegte, war Agnes einfach nicht gewachsen, und am Ende fiel ihr plötzlich wieder ein, dass es da ja noch jemand anderen gab, den sie unbedingt sprechen musste. Mit nichts als einem kurzen, kühlen Nicken in Martins Richtung, aber einigen höflichen Worten an Amanda wandte sie sich ab und verschwand wieder in der Menge.

Erst da durfte er sich endlich ein amüsiertes Lächeln erlauben. Er hob Amandas Hand an seinen Mund und streifte mit den Lippen zart über ihre Fingerspitzen - genau in dem Moment, als ihre Blicke sich trafen.

Er spürte den heißen Schauer der Erregung, der sie bei seiner Berührung überlief, bis in seine eigenen Fußspitzen. Spürte, wie als Reaktion darauf eine Woge des Verlangens in seinem Inneren aufwallte, sah, wie ihre Augen sich urplötzlich weiteten.

Sie atmete einmal tief durch, lächelte, dann entzog sie ihm ihre Hand wieder. »Gab es irgendeinen speziellen Grund dafür, meine Identität zu ändern?« Sie wandte sich ab, ließ ihren Blick wieder über die Menge schweifen.

Wie gebannt starrte er auf die goldenen Locken, die er so dicht vor sich hatte, und murmelte: »Agnes ist kein Mensch, dem man vertrauen kann. Sie kann ziemlich... rachsüchtig sein.«

Amanda schaute flüchtig in seine Richtung. »Besonders, wenn es um Dinge geht, die sie zwar gerne gehabt hätte, aber leider nicht bekommen hat?«

»Besonders dann.«

Sie begann, durch den Saal zu schlendern; Martin heftete sich an ihre Fersen und folgte ihr. Die Schar der Gäste, die sich in dem langen Raum drängten, war zwischenzeitlich noch größer geworden, sodass es so gut wie unmöglich war, sich nebeneinander einen Weg durch die Menge zu bahnen.

Nach einem Moment drang von vorn Amandas Stimme an sein Ohr. »Nachdem ich Euch gerade eben vor Miss Korsinsky gerettet habe, kann ich Euch vielleicht dazu bewegen, mir nun ebenfalls behilflich zu sein.«

Jetzt kam gleich der Augenblick, in dem sie ihn bitten würde, mit ihr um Mitternacht in Richmond Park herumzukutschieren. »In welcher Angelegenheit benötigt Ihr Hilfe?«, fragte Martin.

Sie warf ihm einen kurzen Blick über ihre Schulter zu und lächelte leicht. »In der Frage der Entscheidung, welchen Gentleman ich bitten sollte, mich auf meiner Suche nach aufregender Kurzweil zu begleiten.«

Sie schaute wieder nach vorn, und wieder blieb ihm nichts anderes übrig, als auf ihren Hinterkopf voller goldblonder Locken zu starren; wieder kam er nicht umhin, sich zu fragen, was sie bloß an sich hatte, dass es eine solche Flut von Regungen und Impulsen in ihm wachrief. Impulse, die stärker, wilder und unendlich viel gefährlicher waren als alles, was Amanda auf ihren heimlichen Ausflügen zu erleben hoffte.

Und sie war der Dreh- und Angelpunkt dieser Impulse.

Mit grimmig vorgeschobenem Kinn schlich er hinter ihr her, froh darüber, dass sie den Ausdruck auf seinem Gesicht, in seinen Augen nicht sehen konnte. Schritt für Schritt schoben sie sich im Zickzackkurs durch die Menge; Martin blieb immer dicht hinter Amanda, nicht gewillt zuzulassen, dass sie sich weiter als zwanzig Zentimeter von ihm entfernte, während er seine Dämonen niederzuringen versuchte. Denn Amanda, davon war er fest überzeugt, hatte keineswegs die Absicht, irgendeinen anderen Gentleman zu bitten, sie zu begleiten - sie hatte es nur darauf angelegt, ihn, Martin, zu quälen.

Gelegentlich blieb sie für einen Moment stehen, um den einen oder anderen Bekannten zu grüßen und ein paar Worte zu wechseln, und sie war sich dabei nur zu deutlich Dexters bewusst, der ihr auf Schritt und Tritt wie ein Schatten folgte, war sich nur zu deutlich bewusst, dass er zwar jede Begrüßung höflich erwiderte, im Übrigen aber kein Wort sagte. Sie konnte seine Hitze spüren, seine Kraft, ähnlich wie einen tropischen Sturm, der sich drohend am Himmel zusammenbraute. Mit einem selbstbewussten Lächeln fuhr sie fort, nach der richtigen Art von Provokation zu suchen, um den Sturm endlich zu entfesseln.

Und dann entdeckte sie Lord Cranbourne. Seine Lordschaft war eine ausnehmend elegante Erscheinung, distinguiert, gewandt, selbstsicher, auf ungezwungene Art liebenswürdig. Mit anderen Worten: perfekt.

Sie blieb ganz unvermittelt stehen und zwang sich, nicht zu reagieren, als Dexter denn auch prompt gegen sie prallte. Erst als er wieder einen Schritt zurückwich, legte sie ihm, ohne ihn anzuschauen, eine Hand auf den Arm. »Lord Cranbourne«, murmelte sie vor sich hin. Sie spürte eher, als dass sie sah, wie Dexter ihrem Blick folgte. »Also, ich denke, der wäre wirklich der geeignete Kandidat, mich nach Richmond zu kutschieren. Er ist ein brillanter Unterhalter, und seine Grauschimmel sind einfach prachtvoll.«

Sie setzte ihr schönstes Lächeln auf, ließ Dexters Arm los und strebte entschlossen vorwärts, den Blick fest auf Lord Cranbourne geheftet.

Sie war gerade mal zwei Schritte weit gekommen, als sich ganz plötzlich harte Finger wie Handschellen um ihr Handgelenk schlossen.

»Nein!«

Das gedämpfte Knurren, das diesem einen Wort vorangegangen war, brachte Amanda beinahe zum Grinsen. Sie wandte sich zu Dexter um, ihre Augen groß vor unschuldigem Erstaunen. »Nein?«

Zornig reckte er das Kinn vor, und an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Er starrte ihr in die Augen, durchdringend, forschend …

Dann blickte er ganz plötzlich auf, über ihren Kopf hinweg, über die Menschenmenge hinweg. Er öffnete die Finger, löste seinen Griff um ihr Handgelenk und umschloss stattdessen ihre Hand. »Kommt mit!«

Amanda unterdrückte ein triumphierendes Grinsen, als Dexter sie zum anderen Ende des Saales zog. Sie nahm an, dass er dort stehen bleiben wollte. Doch stattdessen stieß er eine der dortigen Türen auf - sie war nur leicht angelehnt gewesen -, trat hindurch und zerrte Amanda regelrecht hinter sich her in eine lange Galerie hinein, die parallel zur Längswand des Ballsaals verlief. Die Galerie war nur schmal; die Wand, die sie mit dem Ballsaal teilte, wurde von drei zweiflügeligen Türen unterbrochen, in die gegenüberliegende Wand war eine Reihe von Fenstern eingelassen, die einen Ausblick auf die Gartenanlagen des Konsulats boten.

Andere Paare schlenderten in dem matten Licht umher, das die zwischen den Türen zum Ballsaal angebrachten Wandleuchter spendeten. Die Fenster waren ohne Vorhänge und ließen das Licht des Mondes hereinströmen, um die Szene in einen silbrigen Schimmer zu tauchen. Auf der Galerie war es erheblich kühler und auch weniger stickig als im Ballsaal. Dankbar atmete Amanda einmal tief durch und sog die frische Luft in ihre Lungen.

Dexter platzierte ihre Hand auf seinen Arm und bedeckte sie dann mit der seinen. Mit noch immer grimmiger Miene führte er Amanda die Galerie hinunter. »Diese Sache, die Ihr Euch da in den Kopf gesetzt habt, ist Wahnsinn, von vorn bis hinten Wahnsinn!«

Sie ließ sich nicht dazu herab zu antworten. Unterdessen näherten sie sich dem letzten Fenster der Reihe, das fast in der hinteren Ecke des Raumes gelegen war und dem Betrachter einen Blick in den kleinen Innenhof erlaubte. »Wie hübsch.«

Sie blieben vor dem Fenster stehen. Amanda zog ihre Hand unter Dexters harten Fingern hervor, beugte sich über das Fensterbrett und schaute in den Hof hinunter.

»Ihr denkt doch wohl nicht ernsthaft daran, eines dieser Dinge auf Eurer so genannten Liste wirklich zu tun.«

Amanda sagte nichts, sondern lächelte nur. Und hielt ihren Blick weiterhin auf den Hof geheftet.

»Ihr wisst doch nur zu gut, wie Eure Cousins darauf reagieren werden.«

»Sie werden ja nichts davon erfahren und können folglich auch nicht darauf reagieren.«

»Aber dann Eure Eltern - Ihr wollt mir doch wohl nicht weismachen, dass Ihr Euch Abend für Abend aus dem Haus schleichen könnt, ohne dass die etwas davon merken.«

»Ihr habt Recht. Abend für Abend schaffe ich das vermutlich nicht. Aber« - sie zuckte mit den Achseln - »hin und wieder lässt sich das durchaus bewerkstelligen. Immerhin habe ich ja nun schon zwei Abende in dieser Woche an Orten verbracht, die für gewöhnlich nicht von der feinen Gesellschaft frequentiert werden. Es gibt also wirklich nichts, was meinen Plänen im Wege stände.«

Sie fragte sich, ob das Geräusch, das sie da hörte, wohl das Knirschen seiner Zähne war. Sie sah Dexter an - und bemerkte dabei, dass die anderen Paare gerade allesamt wieder in den Ballsaal zurückkehrten. Musikfetzen drangen an ihr Ohr, gedämpft durch die Türen. Dexter schaute einen Moment lang zu, wie die letzten Nachzügler durch die Türen verschwanden und ihn und Amanda allein in der stillen Galerie zurückließen, dann blickte er wieder Amanda an.

Das silbrig schimmernde Licht des Mondes ließ die Flächen seines Gesichts deutlich hervortreten, sodass seine Züge plötzlich um einiges härter, um einiges strenger und einschüchternder anmuteten. Er war der Nachkomme normannischer Krieger, und bei dieser Beleuchtung - die jede Kontur, jede Kante seines Gesichts ihrer scheinbaren Weichheit beraubte, der Eleganz, die er stets wie einen Deckmantel trug - sah man ihm seine Abstammung mit einem Mal auch sehr deutlich an.

Energisch hob Amanda das Kinn. »Ich bin fest entschlossen, wenigstens ein bisschen was Aufregendes zu erleben - und ich habe vor, Lord Cranbourne zu bitten, mich in der nächsten klaren, mondhellen Nacht nach Richmond zu begleiten.«

Dexters Miene, ohnehin schon hart und angespannt, wurde geradezu steinern. »Das kann ich nicht zulassen.«

Hochmütig zog Amanda beide Brauen hoch. »Wieso?«

Nicht ganz die Reaktion, die er erwartet hatte; in seinen Augen erschien ein finsterer Ausdruck des Missfallens. »Wieso?«

»Wieso bildet Ihr Euch ein, Ihr hättet in dieser Angelegenheit auch nur ein einziges Wörtchen mitzureden? Mein Verhalten, mein Tun und Lassen gehen Euch doch überhaupt nichts an...« Sie hielt kurz inne, bevor sie bewusst provozierend hinzufügte: »... und zwar unabhängig davon, ob Ihr nun irgendein Graf seid oder nicht.«

Amanda wandte sich halb um, um an ihm vorbeizuschlüpfen und zurück zum Ballsaal zu streben. Doch im selben Augenblick schoss Dexters harter, muskulöser Arm vor, und seine Finger gruben sich in den Fensterrahmen, sodass Amanda wie in einem Käfig gefangen war und nicht mehr entwischen konnte. Sie warf einen Blick auf den Arm, der ihr den Weg versperrte, dann schaute sie Dexter wieder ins Gesicht. Arrogant hob sie - sofern dies überhaupt noch möglich war - die Brauen noch ein Stückchen höher.

Er erwiderte ihren Blick, hielt ihn einen langen, intensiven Moment lang fest. Dann hob er plötzlich die Hand und strich ihr mit dem Rücken seiner gekrümmten Finger hauchzart über die Wange.

Amanda unterdrückte gewaltsam den Schauer, der sie bei seiner Liebkosung überlief, um Dexter nicht merken zu lassen, wie sehr seine Berührung sie erregte. Doch sie wusste, dass er ihre Reaktion dennoch spürte. Seine Lippen, lang und schmal und bis eben noch zu einer geraden, mürrisch wirkenden Linie zusammengepresst, entspannten sich. Sein Blick wurde durchdringend. »Wenn Ihr unbedingt etwas Aufregendes erleben wollt, dann könnt Ihr das auch hier finden. Es ist wirklich nicht notwendig, dafür extra nach Richmond zu fahren.«

Seine Stimme war tiefer, kehliger geworden. Amanda hatte mit einem Mal das Gefühl, als wäre er noch ein ganzes Stück dichter an sie herangerückt, obgleich er sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Seine Kraft und Erregtheit waren geradezu greifbar, schlugen ihr wie eine Woge entgegen. Sein Blick hielt den ihren gefangen. Sie wagte es nicht wegzuschauen. Wagte es noch nicht einmal zu blinzeln.

Dann beugte er sich noch ein klein wenig näher zu ihr vor und neigte den Kopf. Amanda konnte seine Augen nicht mehr erkennen, heftete ihren Blick stattdessen auf seinen Mund.

Hinter sich fühlte sie die harte Kante des Fensterrahmens, und sie war wahrlich dankbar für die unerschütterliche Festigkeit und den Halt, den dieser ihr bot.

Dexter senkte den Kopf, berührte mit seinen Lippen zuerst nur ganz zart die ihren und streifte behutsam darüber, als wollte er ihren Geschmack kosten. Dann - nicht abrupt und angriffsartig, sondern mit der ruhigen Gelassenheit eines Menschen, der sich sicher ist, dass man ihn willkommen heißen wird - umschloss er mit seinen Lippen die ihren.

Amanda spürte diesen ersten Kuss bis ganz hinunter in ihre Zehenspitzen. Wie als Antwort darauf breitete sich ein süßes, prickelndes Gefühl der Erregung in ihrem Körper aus, eine köstliche Wärme, die von ihren Fußsohlen geradewegs bis zu ihrem Herzen hinaufwallte. Ihr Atem stockte. Sie schwankte, schwindelig vor Erregung - hob eine Hand, grub ihre Finger Halt suchend in den stahlharten Arm neben ihr.

Fühlte, wie sich seine andere Hand um ihr Kinn legte und ihr Gesicht zu dem seinen emporhob.

In Martins Kopf läuteten die Alarmglocken, schrillten mit geradezu gespenstischer Lautstärke. Doch er verdrängte sie energisch aus seinem Bewusstsein. Schließlich wusste er ja, was er da tat, wusste, dass - in dieser Arena - er die absolute Macht ausübte. Statt also schleunigst den Rückzug anzutreten, verwandte er seine beachtlichen Talente darauf, Amandas weiche, sinnliche Lippen noch weiter zu erkunden und sie schließlich dazu zu bringen, sich ihm zu öffnen.

Binnen Sekunden erkannte er, dass Amanda - obgleich dies bei weitem nicht der erste Kuss ihres Lebens war, obgleich sie durchaus schon von anderen geküsst worden war - ihren Mund doch noch keinem Mann jemals vollkommen überlassen hatte. Und Martin wollte ihren Mund, wollte derjenige sein, der ihn eroberte. Unerbittlich, aber noch immer sanft und behutsam, verlagerte er seine Finger auf ihrem Kinn, drückte - und ihre Lippen öffneten sich. Forsch ließ er seine Zunge in ihren Mund gleiten - spürte, wie sie jäh aufkeuchte, fühlte, wie sie sich plötzlich verkrampfte und den Rücken steif machte.

Er ließ seinen Arm sinken und legte seine Hand stattdessen an ihre Taille, um sie zu stützen, die Finger gegen ihr Rückgrat gedrückt. Dann massierte er mit seinen Fingerspitzen sanft die schlanken Muskeln zu beiden Seiten ihrer Wirbelsäule, um Amanda abzulenken, um ihre Nervosität zu beschwichtigen. Um ihr zu helfen, sich zu entspannen und seine Zärtlichkeiten zu genießen.

Nicht lange, und sie erwiderte seinen Kuss, lockte seine Zunge tiefer in ihren Mund hinein, erwiderte jede seiner Liebkosungen unbeholfen, aber voller Inbrunst. Wurde mit jeder Minute, die verging, noch ein bisschen wagemutiger.

Martin legte den Kopf schräg und vertiefte den Kuss.

Sie schmeckte süß. Unendlich köstlich. Verletzlich.

Er wollte mehr, konnte gar nicht genug bekommen, um sein plötzliches dringendes Bedürfnis zu stillen.

Alles in ihm drängte danach, Amanda an sich zu ziehen, sie ganz fest an sich zu pressen. Doch er widerstand dem Drang, indem er sich noch einmal in Erinnerung zurückrief, dass er ihr in Wahrheit doch nur die Gefahren veranschaulichen wollte, die ihre Suche nach aufregender Kurzweil und Abenteuern mit sich bringen würde. Amanda in seine Arme zu ziehen, hieße, das Schicksal herauszufordern.

Ganz gleich, wie verführerisch dieses Schicksal auch sein mochte.

Wieder nahm er ihren Mund, schwelgte in der süßen Nachgiebigkeit ihrer Lippen, genoss Amandas subtiles Locken, das - so unberührt sie auch war - einem natürlichen, instinktmäßigen Verlangen nach mehr entsprungen zu sein schien. Er ließ es geschehen, dass sie beide in dem Kuss versanken, ließ zu, dass sie beide bis ins Innerste von dem süßen Lustgefühl durchdrungen wurden.

Behielt seine Hand dabei aber weiterhin eisern an ihrer Taille und weigerte sich standhaft, sie aufwärts- oder abwärtsgleiten zu lassen.

Als Martin den Kuss schließlich beendete, den Kopf hob und seine Hand von Amandas Wange fortzog, kostete ihn das erheblich mehr Anstrengung, als er erwartet hatte. Ihm war regelrecht schwindelig, und er musste ein paar Mal blinzeln, um wieder zu sich zu kommen, während er in Amandas weit aufgerissene Augen hinabblickte.

»Aufregend genug?« Er hörte den rauen Klang seiner Stimme und fragte sich, an wen die Frage wohl gerichtet war.

Amanda blinzelte benommen, dann erschien allmählich ein Ausdruck des Begreifens in ihren Augen.

Sie senkte den Blick, starrte auf seine Lippen und fühlte, wie ihre eigenen noch immer von seinem leidenschaftlichen Kuss brannten. Spürte noch immer die prickelnde Erregung, als seine Zunge in ihren Mund eingedrungen war, und all die anderen Empfindungen, die darauf gefolgt waren. Spürte - und erkannte - ihren Hunger nach mehr. Wusste, dass sie dieses Mehr nicht haben konnte. Noch nicht.

»Fürs Erste.« Sie wunderte sich über ihren Ton - ein verführerisches, noch immer recht selbstsicheres Schnurren, das sie nicht hätte übertreffen können, selbst wenn sie es versucht hätte.

Sie schaute wieder auf, begegnete Martins Blick. Sah einen nachdenklichen Ausdruck in dem dunkler gewordenen Grün. Hastig schaute sie zur Seite, um ihre Befriedigung zu verbergen, während sie ihre Finger an seinem Arm hinuntergleiten ließ zu der Hand, die noch immer an ihrer Taille lag, und diese sanft wegschob.

Martin richtete sich auf und straffte die Schulter, als Amanda aus seinem Schatten heraustrat. Der Walzer im Ballsaal war gerade erst verklungen; noch hatten sich keine anderen Paare zu ihnen in der Galerie gesellt.

Amanda strebte in Richtung Tür. »Du hast dich übrigens geirrt.«

»In welcher Beziehung?«

Sie verlangsamte ihren Schritt, blickte zu Martin zurück. Er hatte sich zwar umgedreht, um ihr nachzuschauen, stand aber noch immer dicht am Fenster. »Ich muss wirklich nach Richmond fahren.« Sie hielt seinen Blick einen kurzen Moment lang fest, dann wandte sie sich wieder ab und hielt abermals auf die nächste Tür zu.

»Amanda.«

Sie blieb stehen, drehte sich dann erneut zu ihm um. Sah ihm quer durch den Raum hindurch wortlos in die Augen.

Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge.

»Wann?«

Sie bedachte seinen Ton - ausdruckslos, unversöhnlich. »Über das Wann können wir morgen früh noch sprechen. Im Park.«

Damit wandte sie sich um und öffnete die Tür, bevor sie ein letztes Mal zu Martin zurückschaute. »Schickst du wieder deinen Stallknecht, so wie letztes Mal?«

Er betrachtete sie schweigend. Als ihre Nerven fast zum Zerreißen angespannt waren, nickte er endlich. »Wie letztes Mal.«

Mit einem anmutigen Nicken entschwand Amanda in den Ballsaal. Es dauerte keine Minute, und schon spürte sie wieder Martins Blick im Rücken. Mit raschen, entschlossenen Schritten - zu rasch und zu entschlossen, als dass es jemand gewagt hätte, sie abzufangen - verließ sie den Ballsaal, bahnte sich einen Weg zur Treppe und lief, ohne noch einmal zurückzublicken, in die Eingangshalle hinunter. Ein Lakai brachte ihr eilfertig ihren Umhang, ein anderer Bediensteter hastete auf die Straße hinaus, um eine Mietdroschke für sie herbeizurufen. Und die ganze Zeit über wusste sie, dass Dexter sie beobachtete.

Erst als die Droschke in die Upper Brook Street einbog, ließ ihre innere Anspannung endlich so weit nach, dass sie sich an ihrem Erfolg ergötzen konnte.


In der frühmorgendlichen Kälte vor Sonnenaufgang saß Martin auf seinem Rotschimmel unter dem Baum im Park und beobachtete, wie Amanda in seine Richtung geritten kam. Die großen Häuser von Mayfair bildeten den Hintergrund und unterstrichen noch die Tatsache, dass Amanda im Begriff war, ihre reglementierte Welt zu verlassen, um in die weniger geregelte, dafür aber um einiges gefährlichere und aufregendere Welt vorzustoßen, die unter den Bäumen auf sie wartete.

Er schaute zu, wie sie die Park Lane überquerte, fühlte ein mittlerweile vertrautes Beschleunigen seines Pulses. Der Rotschimmel tänzelte ungeduldig auf der Stelle; Martin zog die Zügel an und tätschelte dem riesigen Tier den Hals, um es zu beruhigen.

Die letzte Runde hatte Amanda in allen Punkten gewonnen. Er saß in der Falle, dennoch bezweifelte er, dass sie das wusste, geschweige denn, dass sie verstände, warum. Er war sich ja noch nicht einmal sicher, ob er selbst den Grund verstand; er hatte allerhöchstens eine schwache Ahnung von den Hintergründen. Und was er zum Beispiel definitiv nicht begriff, war, wie er eigentlich überhaupt in diesen Schlamassel hatte hineingeraten können.

Nachdem er nun über ihr Vorhaben informiert war, konnte er unmöglich zulassen, dass Amanda einfach abschwirrte und mit anderen Männern auf Vergnügungstour ging, zumal er nur zu gut wusste, dass einen solchen Weg einzuschlagen mit ziemlicher Sicherheit in ihr Verderben führen würde. Und er konnte es auch deshalb nicht erlauben, weil er nun einmal der Typ Mann war, der er war; und weil er der absoluten, tiefsitzenden Überzeugung war, dass er - wenn er nun schon die Kraft und die Fähigkeit besaß, sie zu schützen und vor Schaden zu bewahren -, dann auch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit hatte, genau das zu tun.

Alles das war ihm vollkommen klar. Er wusste schon lange um seine beschützerische Veranlagung, und er akzeptierte sie, akzeptierte sich selbst, so wie er war. Was er nicht verstand, war, wie Amanda es geschafft hatte, an seinen Beschützerinstinkt zu appellieren, ihn mittels seiner eigenen Überzeugungen als Geisel festzuhalten, ohne - so schien es zumindest - es überhaupt jemals darauf angelegt zu haben.

Er musterte prüfend ihre Züge, als sie auf ihn zugeritten kam, doch er sah nichts außer Fröhlichkeit und guter Laune und ihrer üblichen Freude darüber, ihn zu treffen. Sie machte auf ihn nicht den Eindruck, als ob sie vorhätte, mehr von ihm zu verlangen, erweckte nicht den Anschein, als ob sie in irgendeiner Weise berechnend wäre. Sie schien ganz einfach nur in der Aussicht auf ihren gemeinsamen Ausritt zu schwelgen.

Amanda dirigierte ihre Stute neben den Rotschimmel, legte den Kopf schief und blickte Martin forschend ins Gesicht. Ihr Lächeln war ein klein wenig neckend. »Bist du morgens immer so finster gelaunt, oder gibt es außer unserem Ausritt noch etwas anderes, das dich beschäftigt?«

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Martin sie einen Moment lang durchdringend an, dann zeigte er mit einer schroffen Handbewegung den Park hinunter. »Ich schlage vor, wir setzen uns in Bewegung.«

Ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter, doch sie willigte mit einem Kopfnicken ein. Sie trieben ihre Pferde zum Trab an und hielten auf den Sandpfad zu.

Martin betrachtete Amanda, während sie nebeneinanderher ritten. Es war ihm sozusagen ein inneres Bedürfnis, unablässig den Blick auf ihr ruhen zu lassen - ohne dass er hätte sagen können, woher genau dieses Bedürfnis rührte. Sie ritt gut, ihr Griff um die Zügel war fest und sicher, ihre Körperhaltung entspannt, und sie war sich anscheinend überhaupt nicht bewusst, dass Martin sie beobachtete.

Genau wie bei ihrem ersten Ausritt, so war der Park auch an diesem Morgen vollkommen still und wie ausgestorben; wie bei ihrem ersten Ausritt, so trieben sie auch diesmal ihre Pferde zu einem wilden Galopp an, kaum dass sie den Sandpfad erreicht hatten. Seite an Seite rasten sie durch den Morgen, die Luft scharf und beißend, während sie im gestreckten Galopp dahindonnerten, sodass Amandas Wangen sich röteten und ihre Augen vor schierem Vergnügen blitzten. Als sie ihre Tiere schließlich wieder zügelten, tänzelte die Stute unruhig, begierig auf mehr. Amanda schaffte es jedoch mühelos, ihr Pferd zu beruhigen, und trieb es neben Martins Rotschimmel.

Sie kehrten wieder um und ritten zurück durch den Park zu der Stelle, wo der Stallbursche unter einem Baum wartete. Noch immer war Martin damit beschäftigt, Amanda zu betrachten, bis in seine Fingerspitzen hinein zu spüren, wie ungeheuer lebendig sie war, nun, da das Licht der aufgehenden Sonne ihrem Haar wieder seinen satten Goldton verlieh und das Blau ihrer Augen noch leuchtender machte. Sie war der Inbegriff vitaler Weiblichkeit - und er war sich deutlich bewusst, wie sehr es ihn zu ihr hinzog, wie sehr er im Banne jener ungeheuren Anziehungskraft stand, die von ihr ausging.

Sie schaute zu ihm hinüber. Er erwiderte ihren Blick, sah in ihre Augen, die geradezu sprühten vor Leben, erfüllt von einem beinahe noch kindlich zu nennenden Vergnügen an all den schönen Dingen, die das Leben zu bieten hatte, an all den Freuden, ganz gleich, wie klein sie auch sein mochten, ganz gleich, wie einfach und bescheiden. Ganz gleich, wie geheim.

Martin wandte den Blick wieder nach vorn. »Richmond. Heute Abend würde es mir ausgezeichnet passen.« Er sah Amanda flüchtig von der Seite an. »Meinst du, du kannst dich wieder unbemerkt aus dem Haus stehlen?«

»Heute Abend?« Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe, ging im Geiste rasch die Liste ihrer Verabredungen und Verpflichtungen durch. »Meine Eltern gehen zu dem Dinner bei den Devonshires, aber Amelia und ich haben abgesagt.«

»Amelia?«

»Meine Schwester. Wir gehen in letzter Zeit oft zu unseren eigenen Verabredungen, deshalb kann ich mich heute Abend auch ohne Probleme freimachen.«

Martin zügelte seinen Wallach. »Sehr schön. Dann also heute Abend. Aber ich habe eine Bedingung.«

Sie sah ihn forschend an. »Was denn für eine Bedingung?«

»Dass du niemandem erzählst, wo oder mit wem du deinen Abend verbringst. Des Weiteren«, er blickte Amanda eindringlich an, »erkläre ich mich dazu bereit, dich auch zu deinen anderen ausgewählten Unternehmungen zu begleiten, allerdings nur unter der Bedingung, dass du deine Liste in dieser Saison nicht noch erweiterst, und dass du zu keiner Zeit irgendjemandem von diesen Unternehmungen erzählst oder gar von deiner Beziehung zu mir.«

Amanda antwortete nicht sofort, denn sie war zu intensiv damit beschäftigt, seinen Vorschlag zu bewerten, zu intensiv damit beschäftigt, sich ein überaus entzücktes, überaus siegessicheres Lächeln zu verkneifen. Als sie sicher war, dass sie beides im Griff hatte, erwiderte sie Martins Blick. »In Ordnung. Ich bin einverstanden.«

Der Rotschimmel warf nervös den Kopf hoch, und Martin tätschelte dem Pferd den Hals. »Dann treffen wir uns an der Ecke North Audley und Upper Brooks Street. Dort wird eine schwarze Kutsche auf dich warten.«

»Eine geschlossene Kutsche?«

»Auf jeden Fall. Später, sobald wir aus dem Blickfeld der vornehmen Welt verschwunden sind, werden wir in meine Karriole umsteigen.«

Amanda lächelte, ließ ihren Blick einen Moment lang auf Martin ruhen, dann erklärte sie vertrauensvoll: »Es ist doch wirklich eine Erleichterung, in der Obhut von jemandem zu sein, der sich auskennt.«

Seine Augen verengten sich zu grimmig anmutenden Schlitzen. Sie aber lächelte nur noch vergnügter und salutierte. »Dann also bis heute Abend. Um welche Uhrzeit?«

»Um neun. Dann, wenn alle anderen am Dinnertisch sitzen.«

Amanda gestattete sich, ihr Lächeln noch eine Spur breiter werden zu lassen, lachte Martin mit ihren Augen an, dann gab sie ihrem Pferd mit den Zügeln ein Zeichen und ritt rasch davon in Richtung Parktor - bevor ihr Erfolg sie zu übermütig werden ließ und sie sich womöglich noch verriet.


»Es klappt perfekt! Absolut perfekt - er ist ganz einfach machtlos!«

»Wie kommt’s?« Amelia kletterte auf Amandas Bett und ließ sich neben ihrer Zwillingsschwester in die Kissen fallen. Es war später Nachmittag, eine Tageszeit, zu der sie beide häufig eine Stunde allein miteinander verbrachten.

»Er ist unseren Cousins wirklich enorm ähnlich, genau wie ich von Anfang an vermutet hatte. Er kann einfach nicht anders, als mich zu beschützen.«

Amelia runzelte verwirrt die Stirn. »Beschützen? Wovor denn? Du tust doch wohl nichts wirklich Gefährliches, oder?«

»Natürlich nicht.« Amanda warf sich mit Schwung auf den Rücken, um Amelias forschendem Blick auszuweichen. Auf der Soiree des russischen Konsuls zu erscheinen war das Riskanteste, was sie jemals in ihrem Leben getan hatte; und sie war sich dessen auch vollkommen bewusst gewesen, als sie mit Leopold Korsinsky geplaudert und im Stillen darum gebetet hatte, dass Dexter ihr zu Hilfe kommen würde. Reggie hatte sich nämlich geweigert, sie dorthin zu begleiten, aber sie hatte einfach hingehen müssen. Amelia hatte derweil ihr, Amandas, Verschwinden aus Lady Cavendishs Salon mit plötzlichen Kopfschmerzen erklärt, und dank Dexter, dank der Genauigkeit und Richtigkeit, mit der sie ihn eingeschätzt hatte, war auf der Soiree dann auch tatsächlich alles gutgegangen. Solange er im selben Raum mit ihr war, würde sie niemals in Gefahr sein. »Es geht eher darum, überhaupt erst mal das Potenzial für Gefahren zu schaffen, zumindest in seiner Vorstellung. Für ihn reicht das schon vollauf.«

»Also, dann erzähl doch mal - was genau machst du denn so alles?«

»Das darf ich dir nicht verraten. Er hat es zur Bedingung gemacht, dass ich niemandem sage, was wir vorhaben. Ich darf noch nicht einmal sagen, dass er derjenige ist, der mich begleitet. Aber das weißt du ja bereits.«

Amelias Miene wurde noch eine Idee besorgter, doch dann glättete ihre Stirn sich wieder. »Na ja, nach all den Jahren solltest du eigentlich wissen, was du tust.« Sie kuschelte sich tiefer in die Kissen.

»Wie geht es denn mit deinem Plan voran?«, wollte Amanda nun ihrerseits wissen.

»Leider nur langsam. Mir war überhaupt nicht klar, wie viele mögliche Ehemänner in unseren gesellschaftlichen Kreisen existieren, wenn man mal die Frage außer Acht lässt, ob sie sich auch gerade eine Ehefrau zulegen wollen oder nicht.«

»Ich dachte, du hättest bereits einen Gentleman im Visier.« Amanda glaubte auch beinahe schon zu wissen, wer dieser Gentleman war.

Amelia stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das habe ich auch, aber leicht wird es nicht werden.«

Amanda erwiderte nichts; wenn es tatsächlich der war, den sie im Verdacht hatte, dann war »nicht leicht« noch ziemlich untertrieben.

»Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass ich mir sicher sein muss, einhundertprozentig und absolut zweifelsfrei sicher, dass er derjenige ist, den ich wirklich will. Schließlich wird es mich noch einige Mühe kosten, ihn mir zu angeln.« Amelia hielt einen Moment inne und fügte dann noch hinzu: »Und dann kann es trotzdem durchaus sein, dass es mir unter Umständen sogar misslingen wird.«

Amanda sah ihre Zwillingsschwester von der Seite an, wusste jedoch auch keinen Rat.

Die Minuten verstrichen, und die beiden Schwestern lagen einfach nur da, zufrieden damit, sich gegenseitig Gesellschaft zu leisten, während jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war, ihren Hoffnungen, ihren Plänen - all jenen Dingen, über die sie nie sprachen, außer miteinander. Amanda war gerade darin vertieft, sich auszumalen, was wohl bei ihrer Spritztour nach Richmond herauskommen würde, als Amelia sie fragte: »Bist du dir wirklich sicher, dass es ungefährlich ist, Dexter in seinem Beschützerinstinkt auch noch zu bestärken?«

»Ungefährlich?« Amanda schaute sie verwirrt an. »Was meinst du damit?«

»Ich meine Folgendes: Wenn du dir mal all das ins Gedächtnis zurückrufst, was wir von Honoria und Patience und den anderen gehört haben, dann geht dieser Beschützerinstinkt, mit dem du da spielst, Hand in Hand mit einer ziemlich tyrannischen Liebe. Und es handelt sich dabei nicht bloß um irgendeine Feld-, Wald- und Wiesentyrannei. Zumindest nicht bei unseren Cousins.«

Amanda überlegte. »Aber das ist doch eigentlich genau das, was ich will, nicht wahr?«

Amelias Stimme unterbrach ihre Gedanken. »Bist du dir da wirklich absolut sicher?«