3
Kitty stieß mir in die Rippen, und ich öffnete stöhnend die Augen. »Kuck mal aus dem Fenster!«, rief sie aufgeregt. »Wir sind fast da!«
Wir befanden uns auf einem fünfundvierzigminütigen Flug von einer weiter nördlich gelegenen Insel, wo wir per Schiff eingetroffen waren. Ich war vier Tage lang seekrank gewesen und sehnte mich danach, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich sah mich in dem kleinen Flugzeug um. Alles war grau und funktional. Ein Ort für Männer. Aber abgesehen von den Piloten im Cockpit und einem Soldaten, einem großen, schlaksigen Kerl mit flachsblondem Haar und frisch gebügelter Uniform, der von einem Genesungsurlaub zurückkehrte, befanden sich nur Krankenschwestern an Bord.
»Schau dir das an!«, rief Kitty aus und schlug sich mit der Hand auf die Brust. »Hast du schon mal so was Schönes gesehen?«
Ich beugte mich über Kittys Schoß, um besser aus dem winzigen Fenster sehen zu können. Mir stockte der Atem, als ich die Landschaft unter uns erblickte – blaues Wasser, weiße Strände und smaragdgrüne Hügel. Mit so einem atemberaubenden Anblick hatte ich nicht gerechnet. Das heißt, eigentlich wusste ich gar nicht, womit ich gerechnet hatte. Sicher, Norah, die inzwischen mit einem Schiff in Richtung Heimat unterwegs war, hatte mir immer wieder vom Reiz der Insel erzählt, aber die Zeitungsartikel, die ich gelesen hatte, berichteten von gnadenloser tropischer Hitze, von Dreck und Unrat, von Männern, die in mückenverseuchten Sümpfen kämpften, die sie als »Hölle auf Erden« bezeichneten. Aber was ich durch das Fenster sah, passte überhaupt nicht zu dieser Beschreibung. Nein, diese Insel war etwas ganz anderes.
Ich musste an Gerard denken und daran, wie er mir nachgeschaut hatte, als ich ins Flugzeug gestiegen war – traurig, verunsichert, ein bisschen ängstlich. Er hatte bewundernswert reagiert, als ich ihm am Tag nach der Verlobungsparty eröffnete, dass ich mich entschlossen hatte, in den Südpazifik zu gehen. Aber er hatte auch besorgt gewirkt.
Natürlich hatte er versucht, mir meinen Entschluss auszureden, aber schließlich hatte er mir die Hand gedrückt und sich ein Lächeln abgerungen. »Ich werde für dich da sein, wenn du zurückkommst. Daran wird sich nichts ändern«, sagte er.
Nach einem langen Gespräch hatten wir uns darauf geeinigt, unsere Hochzeit um ein Jahr zu verschieben. Meine Mutter war am Boden zerstört, als sie davon erfuhr, und hatte sich schluchzend in ihrem Zimmer eingeschlossen. Was mein Vater von der Sache hielt, war nicht so leicht zu durchschauen. Ich wartete bis zum Abend nach der Party bei den Godfreys, dann, kurz vor dem Abendessen, ging ich zu ihm ins Arbeitszimmer, wo er sich gerade einen Whisky genehmigte. Winzige Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Bist du dir ganz sicher, dass du das tun willst, Liebes?«
»Ja, ich bin mir ganz sicher«, erwiderte ich. »Es fühlt sich einfach richtig an. Anders kann ich es dir nicht erklären.«
Er nickte, zündete sich eine Zigarre an und blies den Rauch zum offenen Fenster hin. Seine Augen glänzten. »Ich wünschte, ich hätte deinen Mut.«
»Papa …«
»Tja, dann ist das wohl so«, sagte er abrupt, drückte seine Zigarre wieder aus und erstickte damit jedes weitere Gespräch. »Wir wollen nicht zu spät zum Abendessen kommen. Maxine macht heute Croque Monsieur.« An dem Abend hatte mein Vater kaum einen Bissen herunterbekommen.
Ich strich mein Kleid glatt. Wieso war meins so zerknittert, während Kittys aussah wie frisch gebügelt? Ich runzelte die Stirn. War es ein Fehler gewesen herzukommen? Ich verschränkte die Hände auf meinem Schoß und betrachtete die Landschaft unter uns – meine neue Heimat, zumindest für den Großteil des kommenden Jahres.
Constance Hildebrand, die Oberschwester, die auf der Insel unsere Vorgesetzte sein würde, ging nach vorn ins Flugzeug und schaute uns junge Schwestern mit strenger Miene an. Sie war eine stämmige Frau mit grauem Haar, das sie unter ihrer Schwesternhaube mit Klammern derart fest zusammengesteckt hatte, dass es aussah, als müsste es wehtun. Falls sie auch eine weiche Seite hatte, hielt sie sie gut unter Verschluss. »Wir werden bald auf der Insel sein«, sagte sie. Es war furchtbar laut im Flugzeug, und obwohl sie beinahe schrie, verstand ich ihre Worte nur, wenn ich zusätzlich von ihren Lippen las. »Lassen Sie sich nicht von der Schönheit der Natur täuschen, diese Insel ist kein Ort des Luxus«, fuhr sie fort. »Sie werden härter arbeiten und mehr schwitzen, als Sie es sich vorstellen können. Die Hitze ist extrem. Die Feuchtigkeit ist erdrückend. Und wenn die Moskitos sich nicht über Sie hermachen, dann werden es die Eingeborenen tun. Diejenigen, die an der Küste leben, sind friedlich, aber begeben Sie sich nie ins Landesinnere. In der Nähe der Basis leben immer noch Kannibalen.«
Ich warf einen Blick auf die Frauen in meiner Nähe, die Schwester Hildebrand mit ängstlich geweiteten Augen zuhörten. »Ich weiß, dass Sie alle erschöpft sind, aber es wartet bereits Arbeit auf sie.« Schwester Hildebrand räusperte sich. »Sie werden sich Ihre Zimmer zeigen lassen, sich frisch machen und sich um vierzehn Uhr bei mir im Lazarett einfinden. Und noch etwas: Eine Menge Männer werden Sie bei Ihrer Ankunft beobachten, Männer, die seit langer Zeit keine Frau mehr zu Gesicht bekommen haben, außer den dortigen wahine.« Sie schenkte uns einen bedeutungsvollen Blick. »Lassen Sie sich auf keinen Blickkontakt mit den Männern ein. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir von ihnen erwarten, sich wie Gentlemen zu benehmen.«
Eine Frau in der Reihe vor uns kramte ihr Schminktäschchen heraus, puderte sich die Nase und zog ihre Lippen nach.
Kitty beugte sich grinsend zu mir herüber. »Auf der Insel sind zweitausend Männer«, flüsterte sie. »Und wir sind fünfundvierzig.«
Ich sah sie stirnrunzelnd an. Während ich versuchte, Schwester Hildebrands warnende Worte zu verdauen, dachte Kitty an Männer? »Glaubst du, es gibt wirklich Kannibalen auf der Insel?«
»Ach was«, sagte Kitty. »Die will uns nur Angst einjagen.«
Ich versuchte, mich zu beruhigen. »Außerdem«, fügte ich hinzu, »hat Norah in ihren Briefen nichts von Moskitos erwähnt.«
Kitty nickte. »Meredith Lewis – die Schwester von Jillian, erinnerst du dich? – war auf einer anderen Insel hier in der Nähe stationiert. Sie kam mit den ersten Soldaten hier an, und sie sagt, das mit den Kannibalen ist ein Märchen.«
Aber anstatt mich zu beschwichtigen, trafen Kittys Worte mich wie Granatsplitter. Meredith Lewis war auf der Highschool im selben Jahrgang wie Gerard gewesen. Ihr Foto befand sich neben seinem im Jahrbuch, und bei der Erinnerung daran sehnte ich mich nach zu Hause. Plötzlich fühlte ich mich zutiefst verunsichert. Aber die Gedanken verflüchtigten sich, als das Flugzeug zu ruckeln und rumpeln begann.
Kitty und ich hielten uns an der Hand, als die Maschine unsanft aufsetzte und über eine Landebahn raste, die gefährlich dicht am Meer zu liegen schien. Einen Moment lang sah es so aus, als würden wir wie ein Torpedo ins Wasser schießen. Ich bekreuzigte mich und sprach ein Stoßgebet.
»Da wären wir also«, flüsterte ich, als wir uns kurz darauf zusammen mit den anderen Krankenschwestern zum Aussteigen bereit machten.
Kitty legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter. »Danke, dass du mitgekommen bist«, flüsterte sie. »Du wirst es bestimmt nicht bereuen!«
Eine nach der anderen stiegen wir die Stufen hinunter und betraten schließlich die Landebahn. Ein heißer, feuchter Wind wehte uns entgegen, und als ich tief einatmete, fühlte es sich an, als würde meine Lunge sich mit Dampf füllen. Das Gesicht der jungen Frau, die sich kurz vor der Landung die Nase gepudert und die Lippen nachgeschminkt hatte, wirkte jetzt teigig, und ich sah, wie ihr ein Schweißtropfen über die Wange lief. Ich widerstand dem Impuls, meine Puderdose aus meiner Handtasche zu nehmen, indem ich mich daran erinnerte, dass es keine Rolle spielte, wie ich aussah. Schließlich war ich verlobt.
Ich ließ meinen Blick schweifen und stellte fest, dass Schwester Hildebrand recht gehabt hatte – zumindest in Bezug auf die Männer. Es wimmelte nur so von Soldaten in dunkelgrünen Uniformen. Ein paar Draufgänger pfiffen hinter uns her, andere standen an Armeelaster gelehnt, rauchten und glotzten.
»Man sollte meinen, die hätten noch nie eine Frau gesehen«, bemerkte Kitty und zwinkerte einem Soldaten in der ersten Reihe zu, der selbstbewusst lächelte. »Netter Typ«, sagte sie ein bisschen zu laut.
Schwester Hildebrand drehte sich zu uns um. »Meine Damen, ich möchte Ihnen Colonel Donahue vorstellen«, sagte sie und wandte sich dann an einen Mann in Uniform, an dessen Brust mindestens ein Dutzend Orden und Medaillen prangten. Als er das Rollfeld überquerte, nahmen seine Männer Haltung an. Alle verstummten, und wir Schwestern sahen ihm fasziniert entgegen. Der Colonel war um die vierzig, braun gebrannt, mit dunklem, leicht grau meliertem Haar und eindrucksvollen Augen. Er wirkte gebieterisch in seiner Uniform, ja sogar ein bisschen Furcht einflößend, dachte ich.
»Schwester Hildebrand, meine Damen«, sagte er und salutierte kurz. »Ich möchte Sie offiziell auf Bora-Bora willkommen heißen. Wir sind Ihnen dankbar für den Dienst, den Sie fürs Vaterland leisten, und ich kann Ihnen versichern, dass die Männer, die hier auf der Insel stationiert sind, mich eingeschlossen, Ihre Arbeit sehr zu schätzen wissen.« Dann drehte er sich zu den Soldaten um und brüllte: »Rührt euch!« Die Männer applaudierten.
»Was für ein Gentleman«, hauchte Kitty, die ihre Augen gar nicht mehr von dem Colonel abwenden konnte.
Ich zuckte die Schultern. Es schien noch heißer geworden zu sein. Die Hitze strahlte auch vom Asphalt ab, sodass sie uns umwaberte wie in einem Backofen. Kitty wankte leicht neben mir. Zuerst dachte ich, sie bewegte sich zu dem Song von Ella Fitzgerald, der in einem in der Nähe geparkten Jeep im Radio lief, aber als ich sie anschaute, sah ich, dass sie kreidebleich war und ihre Arme schlaff herunterhingen.
»Kitty«, sagte ich, »alles in Ordnung?«
Ihre Lider flatterten, und im nächsten Augenblick gaben die Beine unter ihr nach. Ich konnte sie gerade noch auffangen, aber eigentlich sorgte ihre mit viel zu eleganten Kleidern vollgestopfte Reisetasche dafür, dass sie nicht härter aufschlug. Reglos blieb sie auf dem Asphalt liegen, den Kopf in meinem Schoß.
»Kitty!«, rief ich, während ich instinktiv an ihrem Kleid zupfte, um ihre Beine zu bedecken.
»Riechsalz!«, befahl Schwester Hildebrand und bahnte sich ihren Weg zwischen den Schwestern hindurch, die sich um uns herumdrängten. Sie hielt Kitty ein grünes Glasfläschchen unter die Nase. »Das ist die Sonne«, kommentierte sie trocken. »Sie wird sich dran gewöhnen.«
Colonel Donahue war herbeigeeilt. »Eine Trage!«, bellte er. »Schnell!«
»Colonel Donahue«, sagte Schwester Hildebrand, »das ist nichts weiter als eine vorübergehende Kreislaufschwäche. Die Frau wird sich gleich wieder erholen.«
Er betrachtete Kitty mit einem besitzergreifenden Blick. »Trotzdem. Ich möchte sichergehen, dass sie gut versorgt ist.«
»Wie Sie wünschen«, erwiderte Schwester Hildebrand.
Kurz darauf kamen zwei Männer mit einer Trage und hoben Kitty, die wieder zu sich gekommen war, darauf.
»Anne«, sagte Kitty und sah mich benommen an, »was ist passiert?«
Ehe ich antworten konnte, war Colonel Donahue zur Stelle. »Es sind immer die Hübschesten, die in den Tropen in Ohnmacht fallen«, sagte er grinsend.
Mir gefiel sein Ton nicht, aber Kitty strahlte. »Gott, wie peinlich. War ich lange weg?«
Der Colonel erwiderte ihr Lächeln. »Nur lange genug, um nicht mitzubekommen, dass wir heute einen Tanzabend veranstalten, um Ihre Ankunft gebührend zu feiern.« So wie der Colonel das sagte, hörte es sich an, als wäre der Tanzabend allein Kitty zu Ehren geplant.
Kitty lächelte etwas zu kokett, wie ich fand. »Ein Tanzabend?«, murmelte sie matt.
»Ja«, sagte er, »ein Tanzabend.« Er wandte sich an die Soldaten. »Ihr habt richtig gehört, Männer. Heute Abend um zwanzig Uhr.«
»Danke«, gurrte Kitty immer noch lächelnd.
»War mir ein Vergnügen«, erwiderte der Colonel galant. »Ich möchte Sie nur um einen Gefallen bitten.«
»Alles, was Sie wollen«, sagte Kitty strahlend.
»Dass Sie mir einen Tanz gewähren.«
»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete Kitty verträumt, als die Männer die Trage wegrollten.
Kitty hatte schon immer gewusst, wie man einen Auftritt inszenierte.
Die Menge begann sich aufzulösen. Ich warf einen Blick auf meinen Koffer und Kittys riesige Reisetasche und stöhnte. Die Männer hatten sich verzogen, und jetzt stand ich mit dem Gepäck allein da.
»Nicht zu fassen«, sagte jemand hinter mir. Als ich mich umdrehte, stand eine der Schwestern vor mir. Ihr braunes Haar, das ihr in weichen Locken auf die Schultern fiel, erinnerte an das von Rita Hayworth auf den Fotos im Life-Magazin, aber das war auch schon die einzige Ähnlichkeit.
»Wie bitte?«, sagte ich, denn ich wusste nicht, was sie meinte.
»Die Schau, die Ihre Freundin da eben abgezogen hat, war wirklich bühnenreif«, antwortete sie grinsend. Ein Stückchen Spitze ragte am Ausschnitt ihres Kleids heraus. Ich fragte mich, ob das Absicht war.
Eine Schwester mit glänzendem, schwarzem Haar und einem schüchternen Lächeln, anscheinend eine Freundin der anderen, gesellte sich zu uns und nickte zustimmend.
»Nein, nein, nein«, sagte ich. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Kitty absichtlich ohnmächtig geworden ist?«
»Genau das glaube ich«, erwiderte die Schwester mit den Locken. »So heiß ist es nun auch nicht. Das war volle Absicht.«
»Was für ein Unsinn!«, widersprach ich. »Sie sind doch nur eifersüchtig.«
Die Dunkelhaarige schaute mich entgeistert an, aber die andere zuckte nur selbstbewusst mit den Schultern. »Eines Tages werden Sie uns noch mal dankbar sein«, bemerkte sie schnippisch.
»Wofür?«, fragte ich.
»Dafür, dass wir Ihnen die Augen geöffnet haben in Bezug auf Ihre Freundin. Ich würde sie nicht in die Nähe meines Freundes lassen.«
Ich schüttelte den Kopf, schnappte mir den Koffer und die Reisetasche und ging so schnell los, wie ich es mit dem schweren Gepäck schaffte.
»Wie unhöflich von uns«, sagte die Schwester mit den Locken. Aber anstatt sich zu entschuldigen, wie ich es erwartet hatte, fuhr sie fort: »Fast hätte ich vergessen, uns vorzustellen. Ich bin Stella, und meine Freundin heißt Liz.«
Ich ging wortlos weiter.
»Und Sie sind?«
»Anne«, fauchte ich, ohne mich umzudrehen.
Unsere Zimmer im Schwesterntrakt waren einfach, um nicht zu sagen dürftig eingerichtet: zwei grob gezimmerte Betten, eine Kommode und ein Wandschrank, an der Wand ein ovaler Spiegel. Die dünnen, blassgelben, von der Sonne ausgebleichten Baumwollvorhänge schienen weder ausreichenden Schutz gegen das Sonnenlicht noch gegen die Blicke der Männer zu bieten. Als ich ankam, stand Kitty gerade auf einem der Betten und schlug einen Nagel in die Wand. »Findest du, dass das eine gute Stelle für ein Bild ist?«, fragte sie. »Ich wollte ein Foto von meinen Eltern aufhängen.«
Ich ließ ihre Reisetasche fallen und wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Meinetwegen«, sagte ich tonlos. »Wie ich sehe, geht’s dir schon wieder besser.«
»Ja«, erwiderte sie. »Tut mir leid, dass du das Gepäck allein herschleppen musstest. Aber Colonel Donahue hat sich einfach nicht abwimmeln lassen.«
Es ging mir schon auf die Nerven, auch nur den Namen des Colonels aus ihrem Mund zu hören, doch ich ließ mir nichts anmerken. »Ich bin nur froh, dass es dir wieder gut geht«, sagte ich.
Kitty hüpfte aufgeregt in unserem kleinen Zimmer herum und redete davon, wie wir es uns gemütlich einrichten könnten. Aus einem Extra-Betttuch könnten wir uns eine hübsche Tagesdecke machen, meinte sie, und bestimmt könnten wir irgendwo einen kleinen Tisch auftreiben. Und die Wände hätten so eine beruhigende Farbe, meinte sie. Ja, dachte ich, Krankenhausbeige – sehr beruhigend.
Ich fand das Zimmer feucht und wenig einladend. Die beiden blau-weiß gestreiften Matratzen waren von Flecken übersät. Am Fußende jedes Betts lag ein Stapel fadenscheiniger Laken. Ich sehnte mich nach Maxine, auch wenn ich mir dabei kindisch vorkam. Sie hätte sofort die Betten bezogen und uns eine Tasse Tee aufgebrüht.
Aber jetzt war ich auf mich selbst gestellt.
»Anne, kannst du es glauben, dass heute ein Tanzabend stattfindet? Und Colonel Donahue hat gesagt, er will mit mir tanzen!«
Schon wieder dieser Name. Warum machte mir das so viel aus? Zweifelte ich an seinen guten Absichten? Waren meine Gefühle unangebracht? Ich musste daran denken, was Stella und Liz gesagt hatten. Sie waren neidisch auf Kitty, redete ich mir ein. Es widerstrebte mir anzunehmen, dass ich es ebenfalls war.
Kitty hatte eine Art, Männer um den kleinen Finger zu wickeln, wie ich es nie können würde. Ich dachte an Gerard und spielte an meinem Verlobungsring. Meine Finger waren von der Hitze ganz geschwollen.
»Ja, schön, dass es einen Tanzabend gibt«, sagte ich, bemüht, begeistert zu klingen.
»Ich ziehe mein gelbes Kleid an«, verkündete Kitty und öffnete ihre Reisetasche. Gelb stand ihr gut, und in dem Kleid, das sie jetzt hochhielt, würde sie umwerfend aussehen. Ich hatte sie schon mehrmals darin gesehen – zuletzt in den Armen von Mr. Gelfman. Komisch, es hatte ihr das Herz gebrochen, sich von ihm zu trennen, als wir von Seattle aufgebrochen waren, aber die Insel schien ihre Erinnerung ausgelöscht zu haben. Ich schwor mir, dass mir das nicht passieren würde.
Kitty trat vor den Spiegel und hielt sich das Kleid an. Sie versuchte, die Knitterfalten zu glätten, die die feuchte Luft hier sowieso bald verschwinden lassen würde. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich doch lieber das blaue anziehen, das wir letztes Frühjahr bei Frederick & Nelson gekauft haben. Das ist ein bisschen zurückhaltender.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich und dachte an Stella und Liz. Ich war entschlossen zu beweisen – zumindest mir selbst –, dass ich nicht neidisch war, dass ich Kitty eine gute Freundin war. Deswegen war ich schließlich mit ihr hierhergekommen. »Zieh das gelbe an. Darin siehst du fantastisch aus.«
Kitty würde die Schönste des Abends sein. Sie würde sich königlich amüsieren. Und ich würde mich für sie freuen.
Im Lazarett, einem weißen Bau mit einem aufgemalten roten Kreuz über dem Eingang, roch es nach Seife und Desinfektionsmitteln. Kitty und ich trafen am Nachmittag als Letzte ein und schoben uns zwischen die anderen Frauen, denen Schwester Hildebrand gerade am Arm einer Schwester vorführte, wie man in den Tropen eine Wunde verband. Ein Verband, erklärte sie, müsse gegen den Uhrzeigersinn gewickelt werden, nicht zu fest, aber fest genug, um die Blutung zu stoppen. »Die Wunde muss atmen«, sagte sie. »Zu viel oder zu wenig Luft, und sie infiziert sich.« Sie warf einen Blick aus dem Fenster, durch das man die Hügel in der Ferne sehen konnte. »Vor allem hier an diesem gottverlassenen Ort.«
Den ganzen Nachmittag über wickelten wir schmale Streifen Leinen zu kleinen, festen Rollen auf und verstauten sie in den Kisten, die das Flugzeug mitgebracht hatte. Ich legte die riesigen Bahnen aus grauem Leinen auf den Tisch und bemühte mich, nicht an die Wunden zu denken, die wir damit einmal verbinden würden. Kitty fasste am einen Ende an, ich am anderen, und gemeinsam breiteten wir den Stoff aus. Nach einer Stunde taten mir die Finger weh.
Wir arbeiteten schweigend, hauptsächlich aus Angst vor Schwester Hildebrand, denn uns allen brannte eine Menge auf den Nägeln. Als sie in die Offiziersmesse ging, um etwas zu erledigen, fanden wir unsere Sprache wieder.
»Schwester Hildebrand ist furchtbar streng«, bemerkte eine Frau zu unserer Linken. Sie war ein paar Jahre älter als Kitty und ich, hatte strohblondes Haar, viele Sommersprossen und freundliche Augen. Wenn sie lächelte, kamen ihre schiefen Zähne zum Vorschein, die sie vergeblich hinter ihren Lippen zu verbergen suchte.
»Allerdings«, stimmte ich ihr zu. »Ich verstehe gar nicht – wenn sie diesen Ort hier dermaßen verabscheut, warum hat sie sich dann freiwillig zum Dienst gemeldet?«
»Es hat irgendetwas mit ihrer Vergangenheit zu tun«, sagte die Frau.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich weiß nur, was eine andere Schwester mir auf dem Festland erzählt hat«, sagte sie und senkte die Stimme. »Sie war schon mal hier, vor langer Zeit. Und da ist irgendwas Schlimmes vorgefallen.«
»Was denn?«
»Das weiß ich nicht genau. Irgendein Skandal.«
»Das heißt doch nicht etwa, dass sie eine Kriminelle ist?«, rief Kitty aus.
Die Frau zuckte die Schultern. »Wer weiß? Ich würde mich jedenfalls besser nicht mit ihr anlegen«, erwiderte sie. »Ich heiße übrigens Mary«, fügte sie mit einem Nicken hinzu.
»Ich bin Anne.«
»Und ich bin Kitty.«
Mary legte einen aufgerollten Verband in die Kiste auf dem Tisch. »Was hat Sie hierhergeführt?«
Kitty öffnete den Mund, aber ich kam ihr zuvor. »Dienst am Vaterland«, sagte ich.
Mary grinste. »Sagen wir das nicht alle? Nein, warum sind Sie wirklich hier? Wir sind doch alle entweder auf der Flucht vor oder auf der Suche nach irgendetwas. Was ist es bei Ihnen?« Sie betrachtete meinen Verlobungsring, vielleicht, weil ich daran herumspielte.
Aber diesmal war Kitty schneller. »Anne war verlobt«, setzte sie an, aber ich fiel ihr ins Wort.
»Ich bin verlobt«, stellte ich richtig.
»Ja, Anne ist verlobt, aber sie hat ihre Hochzeit verschoben, um mich zu begleiten.« Kitty rieb ihre Schulter an meiner, wie um sich zu bedanken. »Ich hatte eine unglückliche Beziehung hinter mir, und ich wollte nur noch weg.«
»Ich auch«, sagte Mary und hielt ihre linke Hand hoch. »Mein Verlobter hat die Verlobung gelöst. Er ist eines Tages vorbeigekommen und hat mir erklärt, dass er mich nicht liebt. Wie hat er sich noch ausgedrückt?« Sie schaute zur Decke und überlegte. »Ah ja«, fuhr sie fort. »Er hat gesagt: ›Hallo, Schatz, ich mag dich, aber ich liebe dich nicht.‹ Und als hätte das noch nicht gereicht, hat er auch noch verkündet, dass er meine beste Freundin heiraten würde. Anscheinend waren sie schon seit Monaten zusammen. Ehrlich gesagt, das war so furchtbar, dass ich fast durchgedreht bin. Als ich wieder halbwegs vernünftig denken konnte, war mir klar, dass ich wegmusste. Ich wollte in den hintersten Winkel der Welt, um den Schmerz zu lindern. Unsere Hochzeit war für den Herbst geplant, im Hotel Cartwright in San Francisco.« Sie betrachtete ihre Hände und seufzte. »Es sollte ein rauschendes Fest werden.«
»Das tut mir leid«, sagte ich.
»Danke«, erwiderte sie. »Inzwischen macht es mir nichts mehr aus, darüber zu reden.« Sie nahm sich den nächsten Verband vor. »Wir wollten nach Paris ziehen«, fuhr sie fort. »Er wollte – na ja, er will – in den diplomatischen Dienst eintreten.« Sie schüttelte wehmütig den Kopf. »Ich hätte mich nie in Edward verlieben dürfen. Meine Mutter hatte von Anfang an recht. Er sah viel zu gut aus für mich.« Sie zuckte die Schultern und überspielte ihren Kummer, indem sie sich praktischen Dingen zuwandte. »Tja, und jetzt bin ich also hier. Und Sie?« Sie schaute mich an. »Lieben Sie den Mann, den Sie heiraten werden?«
»Natürlich«, antwortete ich ein bisschen empörter als gewollt.
»Und warum sind Sie dann hier und nicht zu Hause bei ihm?«
Warum war ich dort und nicht bei ihm? War die Antwort wirklich so einfach? Ich dachte eine Weile über die Frage nach. Suchte ich das Abenteuer, so wie Kitty? Oder hatte ich mir Maxines Worte zu Herzen genommen und wollte die Chance nutzen, noch etwas – oder jemand – Neues kennenzulernen, ehe ich mich für mein Leben band? Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. Nein, ich war wegen Kitty hier. So einfach war das.
»Weil meine Freundin mich braucht«, sagte ich.
»Das ist aber lieb«, sagte Mary. »Sie beide haben Glück, dass Sie einander haben, wissen Sie das? So eine Freundin habe ich nicht.«
Kitty, großzügig wie immer, lächelte Mary an. »Wie wär’s mit uns?«
Mary entblößte ihre schiefen Zähne. »Keine schlechte Idee«, sagte sie und legte die nächste Verbandrolle in die Kiste. Wir hatten inzwischen mindestens hundert Rollen gewickelt. Es war keine große Sache, und dennoch war ich stolz auf unsere Leistung. Ein Berg Verbände an unserem ersten Tag auf Bora-Bora. Wir taten etwas. Das war das wirkliche Leben.
Die Kantine war in einem schlichten Flachbau untergebracht, und von den vielen langen Tischen, die dort aufgereiht standen, waren zwei für uns Schwestern reserviert. Wir würden nicht mit den Männern zusammen essen, erklärte Schwester Hildebrand. Trotzdem beobachteten wir sie ebenso wie sie uns. Ihre Blicke verfolgten jede unserer Bewegungen, während wir aßen – Dosenfleisch mit Bohnen.
»Das Zeug ist ungenießbar«, sagte Mary, spießte eine grüne Bohne mit der Gabel auf und hielt sie ins Licht. »Seht euch das an, die ist ja schon versteinert!«
»Wir werden rank und schlank nach Hause zurückkehren«, bemerkte Kitty, optimistisch wie immer.
Stella und Liz saßen uns gegenüber, aber nach allem, was sie am Vormittag über Kitty vom Stapel gelassen hatten, ignorierte ich sie. »Seht mal da drüben«, sagte Stella mit theatralischer Miene und zeigte auf einen Ecktisch, an dem drei Männer saßen. »Nicht übel.«
Mary und Kitty, die nichts von meinem Groll ahnten, drehten sich um. »Der sieht ja aus wie Clark Gable«, sagte Kitty. »Kennt ihr ihn?«
»Er heißt Elliot«, sagte Stella. »Der Corporal, der mir meinen Koffer abgenommen hat, hat uns einander vorgestellt. Ist er nicht süß?«
Mary nickte. »Sehr«, sagte sie und schob sich ein Stück Dosenfleisch in den Mund.
»Nur leider heißt es, dass er eine Frau in der Heimat liebt«, fügte Stella hinzu. »Eine verheiratete Frau.«
Wir machten große Augen.
»Hier könnte er sich eine aussuchen«, fuhr Stella kopfschüttelnd fort. »Aber stattdessen erzählt man sich, dass er seine freien Tage damit verbringt, Tagebuch zu schreiben und an seine Braut zu denken.«
»Wie romantisch«, murmelte Kitty.
Ich nickte. »Ein Mann, der eine Frau so sehr liebt, ist eine Seltenheit.«
»Oder ein Trottel«, bemerkte Stella. Während sie sich darüber ausließ, wie sie Elliots Aufmerksamkeit zu erregen gedachte, stocherte ich in meinem Essen herum.
Ich schaute noch einmal zu dem Tisch hinüber, an dem dieser Elliot saß. Er sah Clark Gable tatsächlich ähnlich. Er hatte dunkle Augen und dichtes, schwarzes Haar, eine Stirnlocke. Aber mein Blick wurde von einem anderen Mann angezogen, der links neben Elliot saß. Groß, weniger kräftig gebaut, helleres, feineres Haar, sonnengebräunte Haut, Sommersprossen. Mit der linken Hand schob er sich sein Essen in den Mund, während er mit der rechten ein Buch hielt, in dem er konzentriert las. Er blätterte eine Seite um und blickte auf. Unsere Blicke begegneten sich, und er lächelte mich an. Hastig wandte ich mich ab. Was war bloß in mich gefahren? Ich bereute meinen Verstoß gegen die Schicklichkeit auf der Stelle.
Mit glühenden Wangen würgte ich ein Stück Dosenfleisch hinunter. Stella hatte den Blickwechsel mitbekommen und grinste spöttisch, aber ich wandte mich ab, entschlossen, meine Fassung wiederzugewinnen.
Die Nächte in den Tropen waren erträglicher als die Tage, trotz der Moskitos. Es war einfach angenehm, von der Sonne verschnaufen zu können. Die Luft war lau, vom Meer her wehte kühler Nebel herauf, und die Sterne wirkten so nah, als könnte man nach ihnen greifen.
Kitty und ich gingen Arm in Arm über den Schotterweg zu dem Platz in der Mitte des Camps, wo der Tanzabend stattfinden sollte, sie in ihrem gelben Kleid, ich in meinem roten. Kitty hatte mich gedrängt, etwas Gewagteres anzuziehen, und zum Schluss hatte ich nachgegeben.
Es war nicht weit, vielleicht fünfhundert Meter, aber in Stöckelschuhen wollte der Weg gar kein Ende nehmen. Als wir am Lazarett vorbeigingen, sahen wir, dass drinnen Licht brannte. War Schwester Hildebrand noch bei der Arbeit? Wir gingen ein bisschen schneller. Als wir an den Unterkünften der Soldaten vorbeikamen, taten wir so, als würden wir die Pfiffe der Männer nicht hören, die draußen standen und rauchten.
In sicherer Entfernung zupfte Kitty an meinem Arm. »Sieh mal«, sagte sie und zeigte auf einen großen Strauch, der übersät war von herrlichen Blüten.
»Wie schön!«, rief ich aus. »Was ist das für ein Strauch?«
Sie pflückte eine der roten Blüten. »Ein Hibiskus«, sagte sie, steckte sich die Blüte hinter das rechte Ohr und pflückte noch eine für mich. »In Französisch-Polynesien trägt eine Frau, deren Herz schon vergeben ist, eine Hibiskusblüte hinter dem linken Ohr«, erklärte sie mir, »und eine Frau, deren Herz noch frei ist, trägt sie hinterm rechten Ohr.«
»Woher weißt du das?«
Sie grinste. »Ich weiß es einfach.«
Ich betrachtete die riesige Blüte in meiner Hand, die zarten, tiefroten Blütenblätter. »Dann muss ich meine hinters linke Ohr stecken«, sagte ich.
»Schau mal, wie romantisch«, rief sie aus und zeigte auf den Tanzboden, den die Männer aus Brettern zusammengezimmert hatten. »Sie haben sogar Lichterketten!«
Kleine weiße Lampen baumelten unter einem Dach aus Palmwedeln. Am Rand der Tanzfläche standen Männer in Gruppen und unterhielten sich leise. Einige schauten zu einer Gruppe Schwestern hinüber, die näher kamen. Auf der Bühne waren fünf Männer dabei, ihre Instrumente zu stimmen, während ein sechster ans Mikrofon trat.
»Wir möchten das Schwesternkorps auf unserer kleinen Insel herzlich willkommen heißen«, verkündete der Mann. »Sorgen wir dafür, dass sie sich amüsieren, Jungs!«
Alle jubelten und klatschten Beifall, dann begann die Band zu spielen, aber niemand rührte sich. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte Kitty so dicht an meinem Ohr, dass ihr Atem mich kitzelte.
»Nichts«, erwiderte ich und wünschte, ich wäre mit einem Buch in unserem Zimmer geblieben.
Stella und Liz traten ein paar Schritte vor, woraufhin zwei Männer sofort auf sie zugeschossen kamen. »Darf ich um diesen Tanz bitten«, sagte der eine zu Stella, ein junger Mann mit Südstaatenakzent und wichtigtuerischer Miene, während der andere Liz seinen Arm anbot. Dann gingen die Paare auf die Tanzfläche.
»Sieh sie dir an«, sagte ich zu Kitty. »Die können’s wohl nicht abwarten.«
Kitty war viel zu abgelenkt, um mir zuzuhören. Ich wusste genau, nach wem sie Ausschau hielt. Dann kam plötzlich ein Mann auf uns zu – das heißt, er kam auf Kitty zu. Ich erkannte ihn vom Vormittag wieder, als wir aus dem Flugzeug gestiegen waren. »Ich habe Ihre Blüte gesehen«, sagte er und verbeugte sich übertrieben galant. Kitty gegenüber ließen sich die Männer zu den merkwürdigsten Dingen hinreißen. »Ich bin Lance«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Sie reichte ihm die ihre, und er tat so, als würde er ihr einen Handkuss geben.
Ich verdrehte die Augen. Der Soldat war groß und kräftig, hatte braunes Haar, kantige Züge und ein anzügliches Lächeln, das ihn mir sofort unsympathisch machte.
»Ich bin Kitty«, sagte Kitty, die sich offensichtlich geschmeichelt fühlte.
Lance grinste. »Möchten Sie tanzen?«
Kitty nickte. Im nächsten Augenblick waren sie auf der Tanzfläche, und ich blieb allein am Rand stehen. Ich wippte mit dem Fuß im Takt zur Musik. Es war eine gute Band – die mitten in der Wildnis spielte. Ich bekam eine Gänsehaut, als eine Klarinette die ersten Takte von »A String of Pearls« spielte. Dieses Stück von Glenn Miller hatte ich zuletzt auf dem Rasen der Godfreys gehört. Auf meiner Verlobungsparty. Ich seufzte, denn plötzlich fühlte ich mich sehr allein. Einsam und verlassen. Ich zupfte an meinem Kleid. Ich zog eine verrutschte Spange aus meinem Haar und befestigte sie neu. Wo war Mary? Ich schaute mich um, sah jedoch nur fremde Männer, die mich musterten. Gott sei Dank hatte ich mir die Blüte hinters linke Ohr gesteckt.
Ungeachtet des Rings an meinem Finger und der Blütenbotschaft kam ein Mann auf mich zu. Sein Hemd war zerknittert, und ich roch seine Alkoholfahne, noch ehe er den Mund aufmachte. »Wollen Sie tanzen?«, fragte er.
»Nein danke«, antwortete ich höflich. »Im Moment nicht.«
»Sie sind viel zu hübsch, um das Mauerblümchen zu spielen«, insistierte er. »Außerdem hab ich keine Lust mehr auf die wahine hier. Ich will mit einer richtigen Amerikanerin tanzen.« Er packte meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche.
»Hören Sie«, sagte ich entgeistert, »ich möchte wirklich nicht.«
»Unsinn«, entgegnete er grinsend und zog mich an sich. Er stank nach Bier.
Er presste mir sein stoppeliges Kinn an die Wange. »Sie sind bezaubernd«, sagte er, als die Band zu spielen begann. Bitte kein langsames Stück, flehte ich innerlich. Seine Hände lagen feucht und warm auf meinem Kleid, und ich hatte das Gefühl, als würde er mich erdrücken, aber ich machte gute Miene zum bösen Spiel. Schließlich konnte ich hier keine Szene machen. Bis zum Ende des Stücks musste ich durchhalten.
Aber als das Stück zu Ende war, kam zu meinem Entsetzen ein zweiter Mann dazu, wahrscheinlich ein Freund meines Tanzpartners, und als die Musik schneller wurde, wirbelten sie mich abwechselnd herum, sodass ich mich mal in den Armen des einen, mal in den Armen des anderen wiederfand. Ich kam mir vor wie ein Pingpongball. Verzweifelt hielt ich nach Kitty Ausschau, bis ich sie in Lance’ Armen entdeckte. Sie schien sich großartig zu amüsieren. Jetzt bloß keine Szene machen. Ich spürte, wie eine Hand meine Brust streifte. Wer war das? Ich erstarrte, auch wenn meine Beine sich weiterbewegten. Während ich mich panisch umschaute, kniff mich eine Hand in die Taille. Alles um mich herum schien sich zu drehen. Überall waren Männer. Lüstern, verschwitzt. Die Luft war heiß und feucht. Ich wollte schreien, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich entstand ein Gedränge, und dann hörte ich ein lautes Geräusch. Jemand war zu Boden gefallen. Die Musik brach ab, und alle drängten sich um den Mann, der mich auf die Tanzfläche gezerrt hatte. Er lag bewusstlos am Boden. Blut lief ihm aus der Nase.
Ich schob mich durch die Menge und flüchtete mit gesenktem Kopf von der Tanzfläche. Ich fühlte mich schuldig, obwohl ich nichts getan hatte. Ich wollte nicht, dass mir jemand folgte. Eilig ging ich in Richtung unserer Unterkunft und fiel in einen Laufschritt, als ich an der Baracke der Männer vorbeikam. Meine Augen füllten sich mit Tränen, während der Wind durch die Palmen über mir heulte. Es klang so fremd, so seltsam. Ich sehnte mich nach dem Walnussbaum in unserem Garten in Seattle. Ich sehnte mich nach zu Hause.
Ein Geräusch im Gebüsch erschreckte mich, und instinktiv bog ich ab in Richtung Lazarett. Ohne Kitty an meiner Seite kamen mir der kaum erleuchtete Weg und die tropische Nacht auf der Insel schrecklich gefährlich vor. Kitty. Plötzlich machte ich mir Sorgen, weil ich sie allein dort zurückgelassen hatte. Aber nein, ihr würde schon nichts passieren, redete ich mir ein. Dieser Lance schien ein anständiger Kerl zu sein.
Im Lazarett brannte Licht, und ich rechnete damit, Schwester Hildebrand an ihrem Schreibtisch anzutreffen. Stattdessen saß dort ein Mann, und zwar derselbe, der mir beim Mittagessen in der Kantine aufgefallen war.
Schüchtern erwiderte ich sein Lächeln.
»Hallo«, sagte er. »Erschrecken Sie nicht. Ich suche nur nach einem Verband. Ich dachte, ich könnte hier einen finden, aber Sie scheinen sie gut versteckt zu haben.«
Ich kniff die Augen zusammen und sah, dass seine Hand blutete. Ich ging zu der Kiste mit den Verbänden, die wir am Nachmittag aufgerollt hatten. »Hier«, sagte ich und nahm einen heraus. »Ich helfe Ihnen.«
Ich unterdrückte meine Verlegenheit. Schließlich war ich Krankenschwester, und er war ein Patient. Es gab überhaupt keinen Grund, die Situation peinlich zu finden, es unschicklich zu finden, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit mit diesem Mann allein in dem Raum war.
»Wie ist das passiert?«, fragte ich, während ich die Wunde mit Alkohol desinfizierte.
Er zuckte zusammen, aber das Lächeln blieb. »Haben Sie das nicht gesehen?«
»Was denn?«
»Ich konnte es nicht mit ansehen, wie Randy Connors Sie auf der Tanzfläche begrapscht hat«, sagte er.
»Mich begrapscht? Also wirklich …«
»Na ja, er konnte seine Hände jedenfalls kaum von Ihnen lassen.«
Er hatte nur gesagt, was für alle sichtbar gewesen war, aber ich senkte peinlich berührt den Kopf.
Der Soldat hob mein Kinn an. »Deswegen habe ich ihn niedergeschlagen.«
Ich lächelte. »Ich verstehe«, sagte ich, um Fassung bemüht. Ich hoffte inständig, dass er die Tränen in meinen Augen nicht sah. »Sie waren das also. Dann bin ich Ihnen wohl Dank schuldig.«
»Sie dürfen das den Männern nicht übel nehmen«, sagte er. »Die haben seit Monaten, manche noch länger, keine Frau wie Sie mehr gesehen. Wir sind schon viel zu lange auf dieser Insel hier.«
Mir fiel das Wort wieder ein, das der Soldat benutzt hatte, wahine. Es hatte ziemlich ordinär geklungen.
»Wissen Sie zufällig, was wahine bedeutet?«, fragte ich.
Seine Augen funkelten. »Natürlich«, sagte er. »Das ist das tahitianische Wort für Frau.«
Ich nickte. »Tja, meinetwegen können diese Kerle seit hundert Jahren keine Frau mehr gesehen haben. Das ist kein Grund, so grob zu werden.«
»Natürlich nicht«, sagte er. »Deswegen halte ich mich nach Möglichkeit von den meisten fern. Aber es gibt hier auch ein paar anständige Männer. Sie müssen lernen, den Soldaten gegenüber ganz direkt zu sein. Zu Hause können Sie sich schüchtern geben, da können Sie mit Anstand und guten Manieren rechnen. Aber hier ist das anders. In den Tropen werden wir alle zu Wilden. Die Insel nimmt einem die Hemmungen. Sie verändert einen. Warten Sie’s nur ab.«
»Na ja«, murmelte ich, während ich den Verband so anlegte, wie ich es gelernt hatte. »Ich glaube, dass man nur verändert werden kann, wenn man das auch will. Vielleicht haben Sie schon mal etwas vom freien Willen gehört.«
»Sicher«, erwiderte er amüsiert. »Ich sage nur, dass dieser Ort die Wahrheit über die Menschen zum Vorschein bringt und dazu führt, dass wir uns zeigen, wie wir wirklich sind.«
Ich befestigte den Verband mit einer Aluminiumklammer und atmete tief aus. »Tja, da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich. »So, der Verband ist fertig.«
»Ich bin Westry«, sagte er und streckte mir seine verbundene Hand entgegen. »Westry Green.«
»Anne Galloway«, erwiderte ich und schüttelte ihm vorsichtig die Hand.
»Wir sehen uns.« Er ging zur Tür.
»Wir sehen uns«, sagte ich und sah etwas Rotes in seiner Hand aufscheinen. Als die Tür sich hinter ihm schloss, fasste ich mir ins Haar. Die Hibiskusblüte war weg.