13

Du hast uns gefehlt, Kleines«, sagte mein Vater, als ich ins Auto stieg, dankbar, dass Maxine nicht auf der Rückbank saß. Auch wenn ich Monate Zeit gehabt hatte, um die Nachricht von der Affäre der beiden, die meine Familie zerstört hatte, zu verdauen, ergab das alles für mich immer noch keinen Sinn.

Ich lehnte mich seufzend auf dem weichen Ledersitz des Buick zurück, während mein Vater den Motor anließ und zurücksetzte. Hier gab es keine Jeeps, keine Schotterstraßen und keine Schlaglöcher.

»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein«, sagte ich und atmete genüsslich die milde Luft von Seattle ein. Die Rückreise war sehr anstrengend gewesen, mit mehreren Zwischenlandungen und einer viertägigen Fahrt auf dem Schiff. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, Zeit, mir über viele Dinge klar zu werden, die mich verwirrten, und doch hatte ich vor lauter Ungewissheit am ganzen Körper gezittert, als ich in Seattle aus dem Flugzeug gestiegen war.

»Gerard ist zu Hause«, sagte mein Vater vorsichtig, als wollte er die Lage sondieren.

Ich betrachtete meine Hände in meinem Schoß, Hände, die Westry geliebt hatten, die ihn immer noch liebten. Hände, die Verrat begangen hatten.

»Möchte er mich sehen?«, fragte ich.

»Natürlich möchte er dich sehen, Liebes«, sagte mein Vater. »Aber vielleicht lautet die eigentliche Frage, ob du ihn sehen möchtest.«

Er spürte genau, was mit mir los war. Das war schon immer so gewesen. »Ich weiß es nicht, Papa«, murmelte ich und begann zu weinen. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich will.«

»Komm her, Liebes«, sagte er. Ich rückte näher an ihn heran auf der Sitzbank, sodass er seinen Arm um mich legen konnte. »Es wird alles gut«, sagte er. Ich wünschte nur, ich hätte daran glauben können.

Windermere wirkte wie unberührt von der Zeit und vom Krieg. Aber als wir an den vertrauten Häusern vorbeifuhren, wurde mir bewusst, dass der Schein trog. Im Vorgarten der Larsons war der Rasen wie immer tadellos gepflegt, in der Mitte plätscherte der Springbrunnen mit den Putten, und marmorne Amphoren standen zu beiden Seiten der Haustür, aber ich wusste, dass Trauer über allem lag. Die Zwillinge waren nicht aus dem Krieg heimgekehrt. Terry war bei Marseille gefallen, und Larry war zwei Tage später bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen – er war auf dem Weg nach Hause gewesen, um seine Mutter zu trösten.

Auch die Villa der Godfreys sah so elegant aus wie immer, aber in ihren Mauern war ebenfalls nichts mehr wie früher. Als wir daran vorbeifuhren, hielt ich den Atem an. Ich musste an die Verlobungsparty denken, an Kittys Gesicht und daran, wie wir draußen auf dem Bordstein gehockt und Zukunftspläne geschmiedet hatten. Wenn wir damals gewusst hätten, wie sich alles entwickeln würde, wären wir trotzdem gefahren?

Die Erinnerungen schmerzten, und ich wandte mich hastig ab.

»Er ist am Freitag heimgekehrt«, sagte mein Vater. »Man hat ihn früher nach Hause geschickt, weil er verwundet wurde.«

Ich zuckte zusammen. »Verwundet?«

»Ja«, sagte mein Vater. »Eine Kugel hat ihm die Schulter zerschmettert. Seinen linken Arm wird er womöglich nie wieder richtig gebrauchen können, aber im Vergleich zu anderen Kriegsverletzungen ist das gewiss keine Tragödie.«

Widersprüchliche Gefühle wallten in mir auf. Mein Vater hatte recht. Viele Soldaten wurden verstümmelt, Zigtausende fielen. Eine Schulterverletzung war vergleichsweise harmlos, aber aus irgendeinem Grund machte mich die Neuigkeit unglaublich traurig.

»Nicht weinen, Liebes«, sagte mein Vater und streichelte mir den Kopf. »Er wird sich wieder erholen.«

»Ja«, schniefte ich. »Bestimmt. Aber …«

»Es ist schwer zu verkraften«, sagte er. »Ich weiß.«

»Dieser Krieg«, sagte ich, »hat alles verändert. Er hat uns alle verändert.«

»Ja, da hast du recht«, sagte mein Vater ernst und bog in unsere Einfahrt ein. Alles sah noch genauso aus wie am Tag meiner Abreise. Und doch war alles anders. Und es würde nie wieder so werden, wie es einmal gewesen war.

Es klopfte leise an meiner Tür. Wo war ich? Ich setzte mich auf und versuchte, mich zu orientieren. Die alten Spitzengardinen. Das große Bett. Ja, ich war zu Hause. Aber wie spät war es? Welcher Tag war es? Es war dunkel draußen, es musste also schon spät sein. Wie spät? Wie lange hatte ich geschlafen? Der Regen trommelte aufs Dach, und ich schloss die Augen. Ich dachte an die Gewitter in den Tropen, daran, wie Westry und ich am Strand im strömenden Regen geduscht hatten. Ich spürte immer noch seine Arme, roch immer noch die Seife auf seiner Haut. Ich blinzelte. War es nur ein Traum gewesen?

Ich schlug die Decke fester um mich. Wieder klopfte es an der Tür, diesmal lauter, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich wollte Maxine nicht sehen. Noch nicht. Ich wünschte, sie würde wieder gehen und mich meinen Erinnerungen überlassen.

Kurz darauf wurde ein Zettel unter der Tür durchgeschoben. Ich versuchte, ihn nicht zu beachten, wie er da auf dem Holzboden lag, aber er schien wie ein helles Licht zu pulsieren, ein Licht, von dem ich den Blick nicht abwenden konnte. Schließlich überwand ich mich und hob ihn auf.

Ich hielt den Bogen beigefarbenes Briefpapier in der Hand und seufzte, als ich die vertraute Handschrift erkannte.

Meine liebe Antoinette!

Ich weiß, dass Dich das alles schmerzt. Mir geht es genauso. Bitte, lass mich Dich trösten.

Maxine

Ich legte meine Hand um den kalten Türknauf, drehte ihn ganz langsam und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Maxine stand im Flur, das Haar wie immer streng im Nacken zusammengefasst, um die Taille eine frisch gestärkte weiße Schürze. In den Händen hielt sie ein Tablett. Darauf standen ein Teller mit Sandwiches, eine kleine Blumenvase mit einer einzelnen rosafarbenen Rose und eine dampfende Henkeltasse. Der Duft von Earl Grey stieg mir in die Nase.

Ich machte die Tür ganz auf. »Maxine!«, rief ich aus.

Sie stellte das Tablett auf meinem Nachttisch ab und nahm mich in die Arme. Ich brach in Tränen aus und konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen.

»Lass deinen Tränen freien Lauf«, flüsterte Maxine. »Halt nichts zurück.«

Als ich mich allmählich beruhigte, gab Maxine mir ein Taschentuch und reichte mir die Teetasse. Ich lehnte mich gegen das Kopfteil meines Betts und zog unter meinem rosafarbenen Baumwollnachthemd die Knie bis unters Kinn.

»Du brauchst nichts zu sagen«, sagte Maxine leise, »wenn du nicht möchtest.«

Ich schaute ihr zum ersten Mal in die Augen und sah, dass sie Seelenqualen litt.

»Es tut mir so leid, dass ich dir geschrieben habe«, sagte sie. »Das hätte ich nicht tun sollen. Ich hätte es deinem Vater überlassen sollen, dir alles zu erzählen. Es stand mir nicht zu.«

Ich nahm ihre Hand. Ihre Finger fühlten sich kalt an. »Du bist mir gegenüber immer ehrlich gewesen«, sagte ich. »Es war richtig, mir zu schreiben.«

»Wirst du mir je verzeihen können?« Aufgrund ihres starken Akzents klangen ihre Worte noch verzagter. »Wirst mich je wieder so lieb haben wie früher?«

Ich holte tief Luft. »Ich habe nie aufgehört, dich lieb zu haben, Maxine.«

Ihre Augen leuchteten vor Glück. »So«, sagte sie, »jetzt iss dein Frühstück und erzähl mir vom Südpazifik. Ich spüre doch, dass du eine Geschichte zu erzählen hast.«

Ich biss in ein Sandwich und nickte, begierig, ihr alles anzuvertrauen. Oder zumindest fast alles.

Am nächsten Tag ließ der Regen nach, und als nach einer Weile die Sonne zwischen den Wolken hervorkam, fühlte ich mich schon besser.

»Morgen, Antoinette«, rief Maxine aus der Küche. »Frühstück ist fertig.«

Ich setzte mich lächelnd zu meinem Vater an den Tisch und betrachtete meinen Teller: frisches Obst, gebutterte Toastscheiben und ein Omelett – ein opulentes Mahl im Vergleich zu dem, was man uns auf der Insel vorgesetzt hatte.

Maxine hängte ihre Schürze an einen Haken an der Wand und setzte sich zu uns. Mein Vater gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ich hatte zwar akzeptiert, dass die beiden ein Paar waren, aber ich spürte, dass ich noch eine Weile brauchen würde, um mich daran zu gewöhnen. Wie meine Mutter wohl damit zurechtkam?

»Papa«, fragte ich vorsichtig, »hast du von Mama gehört?«

Maxine legte ihre Gabel ab und senkte den Blick.

»Ja«, sagte mein Vater. »Sie wohnt jetzt in New York, Liebes. Aber das weißt du ja. Ich nehme an, dass sie dir geschrieben hat.« Er zog einen Zettel aus der Tasche seines Jacketts. »Sie hat mich gebeten, dir diese Nummer zu geben, damit du sie anrufen kannst. Sie möchte, dass du sie besuchst.« Er schluckte. »Wenn du so weit bist.«

Ich faltete den zerknitterten Zettel zusammen und legte ihn neben meinen Teller. Zweifellos ging sie in elegante Geschäfte und auf Modenschauen. Aber ob sie glücklich war?

»Gerard hat heute Morgen angerufen«, sagte mein Vater, um das Thema zu wechseln.

»Ach?«

»Er würde gern heute Nachmittag vorbeikommen.«

Instinktiv griff ich nach meinem Medaillon. In der Hoffnung, es würde mir ein Zeichen geben.

»Ja«, antwortete ich und schaute Maxine Hilfe suchend an. »Das würde mich freuen.«

Maxines Lächeln sagte mir, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Der erste Schritt hin zu einem vernünftigen Umgang mit meiner neuen Wirklichkeit bestand darin, Gerard zu treffen und mit ihm über das gemeinsame Leben zu reden, das wir geplant hatten. Ich rieb mir den Finger, an dem ich einmal den Verlobungsring getragen hatte, und seufzte.

»Gut«, sagte mein Vater, der angefangen hatte, die Zeitung zu lesen. »Ich habe ihn gebeten, gegen zwei herzukommen.«

Von meinem Zimmer aus hörte ich, wie Gerard vor unserem Haus hielt, aus dem Auto stieg und die Stufen zur Haustür hochging. Ich erstarrte. Was sollte ich ihm sagen? Wie sollte ich mich verhalten?

Maxine steckte den Kopf zur Tür herein und zeigte auf die Treppe. »Er ist da, Antoinette«, sagte sie leise. »Bist du so weit?«

Ich glättete mein Haar und ging zur Treppe. »Ja«, sagte ich und holte tief Luft.

Erste Stufe, zweite Stufe. Ich hörte Gerard im Wohnzimmer mit meinem Vater reden. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Dritte Stufe, vierte Stufe. Stille. Fünfte Stufe, sechste Stufe. Und dann stand er da, am Fuß der Treppe, und schaute mich so liebevoll an, dass ich meinen Blick nicht mehr von ihm abwenden konnte.

»Anne!«, sagte er.

»Gerard!« Mir versagte beinahe die Stimme. Sein linker Arm ruhte in einer Schlinge.

»Willst du noch lange da stehen bleiben, oder meinst du, dass ein verwundeter Soldat zur Begrüßung einen Kuss verdient hat?«

Ich lächelte und flog ihm an den Hals. Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, und einen Moment lang fühlte es sich so an, als wären wir nie getrennt gewesen.

Mein Vater räusperte sich und nickte Maxine zu. »Wir lassen euch zwei dann mal allein«, sagte er lächelnd. »Ihr habt euch bestimmt eine Menge zu erzählen.«

Gerard nahm mich an der Hand und führte mich zum Sofa im Wohnzimmer. Dann schloss er die doppelflügelige Tür. »Ach, Anne, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr du mir gefehlt hast«, sagte er und setzte sich neben mich.

Ich hatte ganz vergessen, wie unglaublich gut er aussah. »Tut mir leid, dass ich nicht öfter geschrieben habe«, erwiderte ich.

»Das macht nichts«, sagte er liebevoll. »Ich weiß doch, dass du viel zu tun hattest.«

Wenn ihm der wahre Grund bekannt wäre, würde er mir auch dann verzeihen?

»Dein Arm«, sagte ich und berührte vorsichtig seine Schulter. »Ach Gerard, mein Vater sagt, du wirst ihn vielleicht nie wieder richtig gebrauchen können.«

Er verzog verächtlich den Mund, dann sagte er: »Ich hätte auch sterben können.« Er senkte den Blick. »Alle um mich herum wurden niedergemetzelt. Ich begreife gar nicht, warum ich davongekommen bin.«

Ich sah, dass Gerard ebenso wie ich eine schwere Last mit sich trug. Allerdings eine ehrenvollere.

Er nahm meine Hand, die linke. Er sah, dass der Verlobungsring fehlte.

»Gerard, ich …«

Er schüttelte den Kopf. »Du brauchst mir nichts zu erklären«, sagte er. »Ich bin einfach nur froh, dich wiederzuhaben.«

Ich legte den Kopf an seine Schulter.

September 1944

»Ist es nicht unfassbar, dass ich tatsächlich bald heirate?«, sagte ich zu Maxine, während ich mein weißes Brautkleid bewunderte, das meine Mutter vor dem Krieg aus Frankreich geschickt hatte.

»Du siehst wunderschön aus, Antoinette«, sagte Maxine und befestigte eine Nadel an meiner Korsage. »Wir sagen der Schneiderin, sie soll es hier ein bisschen enger machen. Hast du abgenommen?«

Ich zuckte die Schultern. »Das sind die Nerven.«

»Liegt dir etwas auf der Seele, Liebes? Du weißt, dass du es mir sagen kannst.«

Ehe ich ihr eine Antwort geben konnte, klingelte das Telefon. »Ich gehe ran«, sagte ich und lief nach unten in die Küche. »Das wird Gerard sein.«

»Hallo«, sagte ich fröhlich und ein bisschen außer Atem. »Rate mal, was ich gerade anhabe!«

Es knackte in der Leitung. »Anne?«, fragte eine vertraute weibliche Stimme. »Anne, bist du das?«

»Ja«, antwortete ich. »Mit wem spreche ich?«

»Ich bin’s, Mary!«

Ich schnappte nach Luft. »Mary! Mein Gott, wie geht es dir?«

»Gut«, sagte sie. »Ich habe nicht viel Zeit, deswegen fasse ich mich kurz. Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.«

Ich spürte, wie ich erbleichte. Mary. Schlechte Nachrichten. »Was ist passiert?«

»Ich bin in Paris«, fuhr sie fort. »Ich bin hier wegen Edward, aber das erzähle ich dir ein andermal. Du hast bestimmt gehört, dass die Alliierten die Stadt befreit haben.«

»Ja«, sagte ich, noch immer ganz fassungslos, Mary in der Leitung zu haben.

»Es ist unglaublich, dass die Alliierten hier sind, Anne. Es ist ein Wunder. Wir hatten kaum noch zu hoffen gewagt, dass es dazu kommen würde.« Sie zögerte. »Aber was ich dir sagen wollte … Heute habe ich Kitty im Lazarett getroffen und …«

Ich hatte oft an Kitty gedacht, vor allem in letzter Zeit, wo der Tag meiner Hochzeit näher rückte. Und jetzt ihren Namen zu hören, versetzte meiner gekränkten Seele erneut einen Stich.

»Geht es ihr gut?«

»Ja«, sagte Mary. »Ihr ja. Aber … Es geht um Westry.«

Ich setzte mich, als alles um mich herum sich zu drehen begann.

»Anne, bist du noch da?«

»Ja«, sagte ich schwach. »Ich bin noch da.«

»Er ist verwundet«, sagte sie. »Ziemlich schwer. Eine Kugel hat ihn erwischt. Er gehörte zu der Infanteriedivision, die die Stadt gestürmt hat. Aber sein Bataillon wurde aufgerieben. Die meisten sind gefallen. Er hat irgendwie durchgehalten.«

»Mein Gott, Mary, wie schlimm ist es?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, antwortete sie. »Aber es sah nicht gut aus, Anne.«

»Ist er bei Bewusstsein?«

Wieder knackte es in der Leitung.

»Mary, bist du noch da?«

»Ja«, sagte sie. Sie war kaum noch zu verstehen, und ich fürchtete, dass die Verbindung jeden Augenblick abbrechen würde. »Du musst herkommen. Du musst ihn besuchen, bevor er …«

»Wie soll ich das denn anstellen?«, rief ich verzweifelt. »Die Reisemöglichkeiten sind eingeschränkt, vor allem nach Europa.«

»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte Mary. »Hast du was zum Schreiben?«

Ich öffnete die Küchenschublade und suchte nach Stift und Schreibblock. Auf dem obersten Blatt stand eine Notiz in der vertrauten Handschrift meiner Mutter, was mir wieder zu Bewusstsein führte, wie sehr sie mir fehlte. Ich war schon seit einem Jahr wieder zu Hause und hatte sie immer noch nicht in New York besucht. »Schieß los«, sagte ich.

»Schreib dir folgenden Code auf«, sagte Mary. »A5691G9NQ.«

»Was bedeutet das?«

»Das ist ein geheimdienstlicher Reisecode«, sagte Mary. »Du kannst ihn benutzen, um ein Schiff zu nehmen, das in vier Tagen von New York nach Paris fährt. Wenn du hier bist, komm in meine Wohnung: Boulevard Saint Germain Nummer 349.«

Ich schrieb mir die Adresse auf, dann schüttelte ich den Kopf. »Glaubst du wirklich, dass das funktioniert?«

»Ja«, versicherte sie mir. »Und falls du in Schwierigkeiten geraten solltest, beruf dich auf Edward Naughton.«

Ich umklammerte den Hörer. »Danke, Mary.« Aber die Verbindung war bereits unterbrochen, und es rauschte nur noch in der Leitung.

»Gerard, ich muss dir etwas erzählen«, sagte ich am Abend beim Essen und schob meinen Teller weg. Ich hatte nichts herunterbekommen, obwohl es gedünsteten Lachs mit neuen Kartoffeln gab.

»Du hast ja fast nichts gegessen«, sagte er stirnrunzelnd.

Er sah gut aus in seinem grauen Anzug. Durch den Krieg war der Cabaña Club, der früher immer verraucht und voller Trubel gewesen war, fast verwaist. Auf der Bühne spielte gerade ein Saxophonist. In gewisser Weise fühlte es sich an wie Verrat, hier zu sein, Verrat an jenen, die ihr Leben gelassen hatten oder verstümmelt in Lazaretten lagen. Ich schluckte schwer.

»Was ist los, mein Schatz?«, fragte Gerard und betupfte sich die Mundwinkel mit einer weißen Stoffserviette.

Ich holte tief Luft. »Als ich im Südpazifik war, da … gab es einen Mann. Ich … ich …«

Gerard schloss die Augen. »Erzähl’s mir nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Bitte.«

Ich nickte. »Ich verstehe dich. Aber es gibt etwas, das ich unbedingt tun muss. Vor der Hochzeit.«

»Was denn?«

»Ich muss für eine Weile wegfahren«, sagte ich.

Gerard schaute mich traurig an, aber er protestierte nicht. »Und wenn du zurückkommst, wirst du dann wieder du selbst sein?«

Ich schaute ihm tief in die Augen. »Genau deswegen muss ich fort«, sagte ich. »Um das herauszufinden.«

Er wandte sich ab. Meine Worte hatten ihm wehgetan, und das tat mir schrecklich leid. Sein linker Arm hing kraftlos herunter. Er mochte es nicht, die Schlinge zu tragen, wenn wir ausgingen. »Anne.« Er räusperte sich. Ihm versagte die Stimme, und er holte tief Luft, um sich zu sammeln. Gerard weinte nie. »Wenn es sein muss. Wenn die Chance besteht, dass du mir wieder dein ganzes Herz schenkst, werde ich auf dich warten.«