15
Der Reisecode des Geheimdienstes funktionierte genauso, wie Mary es gesagt hatte. Meine Hände hatten gezittert, als ich den Zettel vorgezeigt hatte, und ein junger Soldat hatte mich skeptisch von oben bis unten gemustert, aber als ich ihm den Namen Edward Naughton genannt hatte, hatte er mir ein Formular mit meiner Kabinennummer übergeben und mich durchgewinkt.
Am letzten Tag der strapaziösen Schiffsfahrt, vollkommen erschöpft von tagelanger Seekrankheit, begann ich zu fürchten, dass ich die Reise womöglich vergebens unternommen hatte. Selbst wenn ich es rechtzeitig zum Krankenhaus schaffte, würde Westry mich überhaupt sehen wollen? Mehr als ein Jahr war vergangen, seit wir uns in Bora-Bora auf der Landebahn verabschiedet hatten, und er hatte mir nicht ein einziges Mal geschrieben. Sicher, es dürfte angesichts der heftigen Kämpfe in Europa nicht einfach gewesen sein, aber er hätte es wenigstens versuchen können.
»Wir werden in Kürze anlegen«, rief der Steward auf dem Gang. »Halten Sie Ihr Gepäck bereit.«
Ich schaute aus dem winzigen Fenster. Durch den Nebel konnte ich vage den Hafen von Le Havre erkennen. Von dort aus war es nur noch eine kurze Zugfahrt bis Paris. Wieder kamen mir Zweifel. Was machte ich eigentlich hier? Es lag alles ein Jahr zurück. Ein sehr langes Jahr. Jagte ich vielleicht nur einem Traum hinterher, der längst ausgeträumt war? Ich nahm meine Tasche und schüttelte den Gedanken ab. Ich hatte es angefangen, jetzt würde ich es auch zu Ende bringen.
Ich stand auf dem Boulevard Saint Germain und schaute an dem Haus hoch, in dem Mary wohnte – eindrucksvoll, mit kleinen Balkonen, auf denen Blumentöpfe mit hübschen Pflanzen standen. Hinter den Fenstern flackerte Kerzenlicht. Ich fragte mich, was für ein Leben Mary während der Besatzungszeit hier geführt hatte und wie ihre Geschichte mit Edward sich entwickelt hatte. Hatte der Brief alles geändert? Hatte er sich wieder mit ihr versöhnt? Waren sie zusammen glücklich geworden? Es war schon spät, beinahe zehn, aber überall waren Menschen unterwegs, saßen in Cafés und Restaurants. Liebespaare schlenderten Arm in Arm über den Bürgersteig. Dennoch erinnerten hier und da Spuren an den Terror, unter dem die Stadt gelitten hatte. Neben einem Mülleimer lag eine zerrissene, halb verbrannte Naziflagge. Die grüne Markise einer Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite war zerfetzt, und die Fenster waren mit Brettern zugenagelt. An der Tür baumelte ein gelber Davidstern.
Ich betrat das Gebäude und klopfte an Marys Wohnungstür. Einen Augenblick später hörte ich Schritte, die sich näherten, dann wurde die Tür aufgerissen.
»Anne!«, rief Mary. »Da bist du ja!«
Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich meiner alten Freundin um den Hals fiel. »Ich kann es selbst kaum glauben«, sagte ich.
»Du bist bestimmt erschöpft von der langen Reise«, sagte Mary.
Ich holte tief Luft und wappnete mich. »Mary, ich muss es wissen. Wie geht es Westry? Hast du ihn in letzter Zeit gesehen?«
Mary senkte den Blick. »Ich war schon ein paar Tage nicht mehr im Krankenhaus«, antwortete sie leise. »Aber er wurde sehr schwer verwundet. Er hat mehrere Kugeln abbekommen.«
Mir wurde ganz flau. »Ich könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren, Mary.«
Mary legte mir einen Arm um die Schultern. »Komm erst mal rein«, sagte sie. »Deine Tränen kannst du dir für morgen aufheben.«
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie zwei Lampen anschaltete und mir bedeutete, mich aufs Sofa zu setzen. Das Sofa hatte vergoldete Verzierungen, und an den Wängen hingen Seidentapeten.
»Wie schön ihr es habt«, murmelte ich, immer noch mit den Gedanken bei Westry.
Mary zuckte die Schultern. Sie wirkte irgendwie fehl am Platz in dieser Wohnung, wie ein kleines Mädchen im Abendkleid der Mutter. »Ich werde nicht mehr lange hier sein«, erwiderte sie knapp. »Möchtest du ein Sandwich? Ein Croissant?« Mir fiel auf, dass der Verlobungsring an ihrer linken Hand fehlte. Instinktiv bedeckte ich den mit einem großen Diamanten geschmückten Ring an meinem Finger und erinnerte mich plötzlich daran, wie ich ihn auf der Insel versteckt hatte.
»Nein danke«, sagte ich. Irgendetwas war anders an Mary. Sie trug ihr blondes Haar noch genauso wie früher. Beim Lächeln achtete sie immer noch darauf, ihre schiefen Zähne zu verbergen. Aber ihre Augen … ja, ihre Augen hatten sich verändert. Ich entdeckte tiefe Traurigkeit in ihnen und wollte unbedingt Marys Geschichte hören.
»Und was ist mit Edward?« Der Name hallte im Zimmer wider, und kaum hatte ich ihn ausgesprochen, bedauerte ich es auch schon.
»Es gibt keinen Edward«, sagte Mary tonlos und schaute aus dem Fenster auf die glitzernden Lichter der Stadt. »Nicht mehr.« Sie wandte sich mir wieder zu. »Hör zu, ich würde lieber nicht darüber reden, wenn es dir nichts ausmacht.«
Ich nickte. »Ich kann mir denken, dass du hier Schlimmes durchgemacht hast – ich meine, während der Besatzungszeit.«
Mary fuhr sich mit der Hand durch das dünne Haar. »Es war einfach grauenhaft, Anne«, sagte sie. »Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch hier bin, als Amerikanerin. Zum Glück habe ich auf dem College Französisch gelernt. Die Papiere, die Edward …« Sie räusperte sich. »Die Papiere, die Edward für mich hat ausstellen lassen, haben mich geschützt. Ich kann kaum fassen, dass ich nicht geschnappt wurde, wo ich doch die Resistance unterstützt habe.«
»O Gott, das klingt beängstigend! Du bist wirklich sehr mutig, Mary!«
Ihre Augen blickten traurig in die Ferne. »Die Nazis mit ihren ständigen Razzien«, fuhr sie fort, »die unablässige Angst, verhaftet zu werden, wenn man nur ein falsches Wort sagte oder an der falschen Stelle nieste. Und dann die armen Juden, die aus ihren Häusern geholt wurden.« Sie zeigte auf die Tür. »Hier im Haus wohnten drei jüdische Familien. Wir haben versucht, sie zu retten.« Sie hob hilflos die Hände. »Aber wir sind zu spät gekommen. Der Himmel weiß, ob sie je wieder zurückkommen werden.«
Ich schluckte. »Ach, Mary.«
Sie schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerungen zu verscheuchen, dann zog sie ein Taschentuch heraus. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich dachte, mit dir würde ich über das alles reden können, aber ich fürchte … ich fürchte, es tut einfach zu weh.«
Ich nahm ihre Hand. An ihrem Handgelenk fiel mir eine feine, rosafarbene Narbe auf. Erinnerungen an Bora-Bora kamen hoch. »Also gut«, sagte ich, »lass uns nicht über die Vergangenheit reden.«
Mary seufzte. »Ich fürchte, sie wird mich mein Lebtag verfolgen.«
»Aber die Stadt ist verschont geblieben«, sagte ich, um etwas Positives zu äußern.
»Ja«, sagte sie. »Es ist unglaublich. Eine Zeit lang dachten wir, es würde alles in Flammen aufgehen und wir gleich mit.«
»Mary«, fragte ich vorsichtig, »wie bist du überhaupt hier gelandet? Bist du hergekommen wegen … wegen des Briefs, den ich dir gegeben habe, als du Bora-Bora verlassen hast?«
Sie rang die Hände in ihrem Schoß. »Wenn die Antwort so einfach wäre«, sagte sie wehmütig. »Nein, es war dumm von mir hierherzukommen.«
Einen Moment lang wünschte ich, ich hätte ihr den Brief nie gegeben und ihr das alles erspart. Aber ohne den Brief wäre Mary nicht in Paris gewesen. Sie hätte Westry nicht gefunden. Sie hätte mich nicht angerufen.
»Wo willst du denn von hier aus hin?«, fragte ich und hoffte, etwas in ihrem Gesicht würde mir sagen, dass alles gut werden würde – ein Funkeln in den Augen, ein angedeutetes Lächeln.
Aber sie schaute nur ernst aus dem Fenster. »Ich weiß es noch nicht.«
Die Lichter von Paris glitzerten, und mir wurde warm ums Herz, als ich an Westry dachte. Er war irgendwo hier, vielleicht ganz in der Nähe.
»Kommst du morgen mit ins Krankenhaus? Ich bin so furchtbar aufgeregt. Wie es wohl sein wird, ihn nach … all der Zeit wiederzusehen.«
Einen Moment lang hellte Marys Miene sich auf. »Natürlich komme ich mit«, sagte sie. »Stella ist übrigens auch in Paris.«
»Wirklich?«
»Ja. Seit einem Monat.«
»Und Will?«
»Der auch. Sie heiraten in einem Monat.«
»Wie schön!«, rief ich aus. »Ich würde Stella so gern wiedersehen!«
»Die beiden sind mit dem Zug für ein paar Tage in den Süden gefahren«, sagte Mary. »Sie wird enttäuscht sein, wenn sie hört, dass sie dich verpasst hat.«
»Um wie viel Uhr müssen wir uns morgen früh auf den Weg machen?«
Wieder schaute Mary aus dem Fenster. »Die Besuchszeit fängt um neun an. Wir können mit dem Taxi hinfahren. Aber jetzt solltest du dich schlafen legen. Dein Zimmer ist den Flur runter, zweite Tür links.« Sie versuchte zu lächeln, aber ihre Mundwinkel wollten ihr nicht gehorchen.
»Danke, Mary«, sagte ich und nahm meine Tasche.
Ich ließ meinen Blick noch einmal durch das Wohnzimmer wandern. Mary saß reglos auf dem Sofa und schaute aus dem Fenster.
Irgendetwas war hier passiert, hier, in diesen Räumen. Es musste etwas Entsetzliches gewesen sein, ich spürte es ganz deutlich.
Das First U. S. General Hospital erhob sich vor uns, und ich drückte Marys Hand, als wir die imposante Fassade betrachteten. Die Sonne schien, aber die Straßen um das Gebäude herum lagen im Schatten.
Ich schluckte. »Warum wirkt es so …«
»Gruselig?«
»Ja«, sagte ich, während ich die Fenster im obersten Stockwerk absuchte.
»Weil hier schlimme Dinge passiert sind, bevor die Alliierten kamen«, sagte Mary.
Sie erklärte mir, dass das zwölfstöckige Gebäude, in dem früher das Hôpital Beaujean untergebracht war, von den Nazis für ihre Zwecke missbraucht worden war. Nach der Befreiung hatte Major General Paul Hawley, ein Chirurg, die medizinischen Gerätschaften, die die Nazis benutzt hatten, um grauenhafte Experimente vor allem an polnischen Juden durchzuführen, aus dem Gebäude entfernen lassen. Am obersten Stockwerk hatte er ein großes rotes Kreuz an die Wand malen lassen, ein Kreuz, das mich eher an ein Kampfflugzeug erinnerte.
Mary zeigte auf ein Fenster im siebten Stock. »Siehst du das Fenster da?«
Ich nickte.
»In dem Zimmer habe ich eine Polin mit ihrem Säugling gefunden«, sagte sie. »Verhungert. Die Nazi-Ärzte hatten Mutter und Kind für einen Menschenversuch benutzt. Durch ein Fenster haben sie zugesehen, wie die beiden langsam gestorben sind, und den ganzen grausigen Prozess dokumentiert. Die Frau war nach neun Tagen tot, das Kind nach elf.«
Mir lief es eiskalt über den Rücken.
»Aber der Schrecken ist vorbei«, sagte Mary. »General Hawley hat das Krankenhaus säubern und komplett neu einrichten lassen. In den letzten zwei Wochen sind fast tausend Patienten aufgenommen worden, und es kommen jeden Tag mehr dazu.«
Ich konnte den Blick nicht von dem Fenster im siebten Stock abwenden.
»Anne?«
»Ja?«, murmelte ich.
»Meinst du, dass du das verkraftest?«
»Ich hoffe es.«
Gemeinsam betraten wir das Krankenhaus. Drinnen war es düster, und die Luft war stickig. Es war, als hätten die unfassbaren Gräueltaten, die hier verübt worden waren, das Gebäude selbst für alle Zeiten besudelt. Man konnte die Wände schrubben und die Böden scheuern, aber der Geruch des Bösen blieb haften.
Wir stiegen in den Aufzug und fuhren in den neunten Stock hoch. Meine Gedanken rasten, während ich zusah, wie die Ziffern nacheinander aufleuchteten. Erster Stock, zweiter Stock. Würde er bei Bewusstsein sein und mich erkennen? Dritter Stock. Ob er mich noch liebte? Vierter Stock. Wie würde es mit uns weitergehen?
»Ach, Mary«, sagte ich und klammerte mich an sie. »Ich hab solche Angst.«
Sie wischte meine Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Es war richtig, dass du hergekommen bist«, sagte sie. »Egal, was passiert, du wirst Klarheit bekommen.«
Ich seufzte. »Hast du mit Kitty gesprochen?«
Mary wirkte ein bisschen verlegen, woraus ich schloss, dass sie wusste, was sich auf der Insel zwischen Kitty und mir abgespielt hatte.
»Es gibt etwas«, sagte sie nervös, »das ich dir erzählen muss. Nachdem ich dich angerufen habe …«
Der Aufzug hielt im fünften Stock, und ein Arzt und zwei Schwestern stiegen ein, sodass wir nicht weiterreden konnten.
Als wir im neunten Stock ausstiegen, stockte mir der Atem. Mehrere hundert Männer lagen auf Pritschen im Korridor, bedeckt mit grünen Wolldecken.
»Auf dieser Station liegen eine Menge schwere Fälle«, sagte Mary.
Mein Herz pochte. »Wo ist er?«, fragte ich, während ich mich fieberhaft umsah. »Bring mich zu ihm, Mary.«
Eine Schwester, etwa in meinem Alter, kam uns entgegen und nickte Mary mit ernster Miene zu. »Ich dachte, Sie hätten heute frei.«
»Habe ich auch«, sagte Mary. »Ich habe meine Freundin herbegleitet. Sie möchte Mr. Green besuchen.«
Die Schwester schaute erst mich, dann Mary an. »Westry Green?«
Als sie seinen Namen aussprach, lief mir ein Schauder über den Rücken.
»Ja«, sagte Mary. »Westry Green.«
Die Schwester schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Und wer sind Sie?«
»Anne«, stammelte ich. »Anne Calloway.«
»Tja«, sagte sie und schaute Mary vielsagend an. »Ich weiß nicht …« Sie seufzte. »Ich sehe mal nach.«
Als sie außer Hörweite war, fragte ich Mary: »Wieso benimmt die sich so komisch?«
Mary blickte sich um, schaute aus dem Fenster, tat alles, um mich nicht ansehen zu müssen.
»Mary!«, flehte ich. »Was hat das zu bedeuten?«
»Setzen wir uns«, sagte sie und führte mich zu einer Bank an der Wand. Über uns tickte eine Uhr.
»Als ich dich angerufen habe«, sagte Mary, »wusste ich nicht alles. Ich wusste nicht, dass Westry …«
Wir blickten auf, als sich Schritte näherten, und dann erkannte ich das vertraute Gesicht. »Kitty!«, rief ich und sprang auf. Trotz allem, was geschehen war, wollte ich meine alte Freundin in die Arme nehmen und ihr verzeihen.
Aber ich blieb abrupt stehen, als ich ihre Augen sah, die Augen einer Fremden. »Hallo«, sagte sie steif.
Mary stand ebenfalls auf. »Kitty«, sagte sie, »Anne ist um die halbe Welt gereist, um Westry zu sehen. Ich hoffe, dass wir sie zu ihm bringen können.«
Kitty runzelte die Stirn. »Ich fürchte, das ist nicht möglich.«
Ich schüttelte den Kopf. Tränen brannten in meinen Augen. »Aber warum nicht, Kitty?«, fragte ich. »Ist er so schlimm verwundet? Ist er nicht bei Bewusstsein?«
Kitty betrachtete meinen Verlobungsring, und ich wünschte, ich hätte ihn abgestreift. Die Schwester, die uns vorhin angesprochen hatte, kam zurück und gesellte sich zu Kitty. Was verbargen die beiden vor mir?
»Kitty«, flehte ich. »Was hat das zu bedeuten?«
»Tut mir leid, Anne«, sagte sie kühl. »Aber Tatsache ist, dass Westry dich nicht sehen will.«
Alles um mich herum drehte sich, sodass ich mich an Mary festhalten musste. O Gott. Ich war um die halbe Welt für ihn gereist, und jetzt wollte er mich nicht sehen?
»Das verstehe ich nicht«, stammelte ich. Mir war speiübel. »Ich möchte doch nur …«
»Es tut mir leid, Anne«, sagte Kitty noch einmal. »Ich wünsche dir alles Gute.« Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging.
Ich schaute ihr nach, als sie den Krankensaal betrat und dann hinter einem Vorhang verschwand.
»Komm, lass uns gehen, Anne«, flüsterte Mary und nahm mich an der Hand. »Es tut mir so leid. Es war ein Fehler, dich hierherzubringen. Ich hätte es dir erklären müssen …«
»Was hättest du mir erklären müssen?«, schrie ich. »Dass meine … meine beste Freundin mich daran hindern würde, den einzigen Mann zu besuchen, den ich je geliebt habe?« Ich hörte, wie meine Worte von den Wänden widerhallten, und plötzlich wusste ich, dass es die Wahrheit war. Gerard mochte um meine Hand angehalten haben, aber mein Herz würde immer Westry gehören. Ich riss mich von Mary los. »Nein«, sagte ich entschlossen.
Ich betrat den Saal, in dem Kitty verschwunden war. Von überall her war Stöhnen, Murmeln, Weinen und Lachen zu hören – das ganze Spektrum an menschlichen Gefühlen, es war beinahe unerträglich.
Mit schnellen Schritten lief ich an den Betten entlang und betrachtete die Gesichter der Verwundeten. Einige Männer sahen mich voller Hoffnung an, andere starrten nur ins Leere. Wo war er? Wenn ich ihn fand, wenn ich ihm in die Augen schaute, würde er es sich anders überlegen? Er musste mich doch noch lieben! Ich würde nicht zulassen, dass Kitty sich zwischen uns stellte. Ich würde nicht zulassen, dass sie für Westry sprach. Mit klopfendem Herzen ging ich an den Männern vorbei und betete, dass ich die vertrauten haselnussbraunen Augen finden würde, in die ich mich auf der Insel verliebt hatte.
Kurz darauf hatte ich alle Betten abgesucht, aber Westry hatte ich nicht gefunden. Verzweifelt sah ich mich im Saal um. Dann fiel mir ein, dass Kitty hinter einem Vorhang verschwunden war. Befand sich sein Bett dahinter? Ich umklammerte mein Medaillon und durchquerte den Saal, bis ich vor dem grau-weiß gestreiften Vorhang stand. War es möglich, dass der Vorhang das Einzige war, das mich von Westry trennte?
Mit zitternder Hand schob ich den Vorhang gerade so weit zur Seite, dass ich einen Blick dahinter werfen konnte. Ich sah vier Betten, und in jedem lag ein Soldat. Mir stockte der Atem, als ich das Gesicht des Mannes erkannte, der in dem hintersten Bett lag.
Westry.
Meine Knie wurden weich. Er war total abgemagert. Er war unrasiert, aber er sah immer noch so gut aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich zog den Vorhang ein bisschen weiter auf, hielt jedoch inne, als Kitty auftauchte. Sie setzte sich auf einen Stuhl neben Westrys Bett und wischte ihm liebevoll mit einem feuchten Waschlappen das Gesicht ab. Dann streichelte sie seine Wange. Und er schenkte ihr ein Lächeln, das mir den Atem raubte.
Jemand zupfte an meinem Ärmel. »Anne«, flüsterte Mary, »tu dir das nicht an. Lass ihn los.«
Ich schüttelte den Kopf. »Westry«, schluchzte ich und vergrub mein Gesicht an Marys Schulter. »Wie kann sie mir das antun?«
Mary hob mein Kinn an und wischte mir mit einem rosafarbenen Taschentuch die Tränen von den Wangen. »Es tut mir so leid für dich«, sagte sie. »Jetzt komm, lass uns gehen.«
Ich folgte ihr aus dem Saal. Kurz bevor wir den Aufzug erreichten, blieb ich stehen und nahm einen Stift und einen Zettel aus meiner Handtasche.
Mary schaute mich verwirrt an, als ich mich auf die Bank setzte. »Was machst du da?«
Eine Minute später stand ich auf und reichte ihr den zusammengefalteten Zettel.
Sie betrachtete ihn skeptisch.
»Kitty wird jeden Brief abfangen, den ich ihm schreibe«, sagte ich. »Du bist meine einzige Hoffnung.«
»Bist du dir ganz sicher, dass du ihm noch etwas mitteilen willst?«
Ich nickte. »Ich möchte, dass er das liest.«
»Also gut, ich werde dafür sorgen, dass er es bekommt«, sagte sie. »Ich habe morgen Frühschicht, dann kann ich ihm den Zettel geben.«
»Versprochen?«, fragte ich und schaute ihr ängstlich in die Augen.
»Versprochen«, sagte sie leise. Sie wirkte erschöpft. »Ich tue, was ich kann.«
Auch in Seattle musste ich jeden Tag an Westry denken. Mehr als ein Monat war seit meinem Besuch in Paris vergangen, aber trotz aller Ablenkungen und trotz meiner bevorstehenden Hochzeit konnte ich Westry nicht aus meinem Kopf und nicht aus meinem Herzen verbannen. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen, und jeden Morgen saß ich am Fenster und wartete auf den Briefträger. Er würde doch bestimmt schreiben oder anrufen, nachdem er meine Nachricht gelesen hatte, oder?
Dann, als Maxine und ich uns an einem Dienstagmorgen fertig machten, um in die Stadt zu gehen, klingelte es an der Tür. Ich ließ meine Handtasche fallen, ein Lippenstift fiel heraus und rollte über den Boden.
»Ich mache auf!«, rief ich Maxine zu. Draußen stand der Briefträger.
»Guten Morgen, Ma’am«, sagte er. »Sind Sie Miss Calloway?«
»Ja«, sagte ich.
Er reichte mir einen Umschlag. »Telegramm für Sie«, sagte er lächelnd. »Aus Paris. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden.«
Mit klopfendem Herzen unterschrieb ich die Empfangsbestätigung, dann rannte ich nach oben in mein Zimmer und schloss die Tür. Meine Hände zitterten, als ich den Umschlag aufriss. Ein gelbes Blatt mit fünf getippten Zeilen fiel heraus. Ich hielt es ins Licht und holte tief Luft.
Sind früher als geplant nach Paris zurückgekommen STOP
Mary ist tot STOP
Hat sich am 18. September erhängt STOP
Edward hat ihr das Herz gebrochen STOP
Alles Liebe und herzliche Grüße aus Europa von Stella STOP
Ich starrte auf das Telegramm, vor Schreck wie gelähmt. »Nein!«, stöhnte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Nicht Mary. Ich dachte an ihre traurigen Augen, an ihre belegte Stimme. Sie hatte schrecklichen Kummer erlebt, aber dass sie sich umgebracht hatte? Es war unfassbar. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich das Papier zerknüllte und auf den Boden fallen ließ.
Mein Puls raste. O Gott, wann hatte sie sich erhängt? Ich hob das Blatt vom Boden auf. Am 18. September. O nein. Das konnte nicht sein.
Von Entsetzen erfüllt blickte ich auf. Mary war nicht zu ihrer Frühschicht gegangen, nachdem ich abgereist war. Sie war gestorben, ehe sie Westry meine Nachricht hatte überbringen können.
»Bist du so weit?«, fragte Gerard am Morgen unserer Hochzeit zwei Wochen später. Entgegen der Tradition hatte er darauf bestanden, mich abzuholen und mit mir zusammen zur Kirche zu fahren, vielleicht, weil er fürchtete, dass ich andernfalls nicht kommen würde.
Ich schaute ihn an, wie er dort in der Tür stand. Er sah umwerfend gut aus in seinem Smoking, eine weiße Rose im Knopfloch. Die Worte meiner Mutter fielen mir ein: Wenn du mal heiratest, vergewissere dich, dass er dich wirklich liebt.
Ich dachte an Westry und daran, wie liebevoll er Kitty im Krankenhaus in Paris angesehen hatte. Wie naiv von mir zu glauben, dass er mich immer noch liebte. Was für eine Rolle spielte es jetzt noch, ob er meine Nachricht erhalten hatte oder nicht? Plötzlich sah ich Gerard mit ganz neuen Augen. Er liebte mich. Und er würde mich immer lieben. Das reichte für ein ganzes Leben.
»Ja«, sagte ich, schob meinen Schmerz und die Geister der Vergangenheit beiseite und nahm seine Hand.
Als ich aufstand, schaukelte das Medaillon an meiner Halskette.