17

Am frühen Morgen machte ich es mir in meinem Korbsessel auf dem Balkon bequem. Jennifer war nach draußen gegangen, um eine Runde zu joggen, und würde in ungefähr einer Stunde zurück sein. Ich schlug Westrys Notizbuch auf und begann zu lesen:

23. August 1959

Meine liebste Cleo!

Dies ist der erste Brief, den ich Dir schreibe, seit wir uns auf der Insel verabschiedet haben, damals, als uns zwei Flugzeuge in entgegengesetzte Richtungen davongetragen haben. Ich bin heute auf die Insel zurückgekehrt – am 23. August, dem Tag, an dem wir uns vor so langer Zeit zum ersten Mal begegnet sind – in der Hoffnung, Dich hier anzutreffen oder wenigstens eine Erinnerung an Dich vorzufinden, denn fast zwanzig Jahre sind inzwischen vergangen, in denen ich nie aufgehört habe, an Dich zu denken und Dich zu lieben. Es wird Dich freuen zu erfahren, dass die Hütte immer noch steht. Alles ist noch so, wie wir es damals zurückgelassen haben. Die Vorhänge bauschen sich immer noch im Wind, der Schreibtisch und der Stuhl sind noch da, das Bett, alles. Nur Du fehlst.

Ich wünschte mir so sehr, Du wärst jetzt hier bei mir, mein Liebling. Ich wünschte mir so sehr, ich könnte Dich wie damals in meinen Armen halten. Ich weiß, Du lebst irgendwo Dein Leben, und dieses Leben möchte ich nicht durcheinanderbringen. Dennoch sehne ich mich nach Dir. Und das wird sich niemals ändern. Deswegen werde ich von jetzt an jedes Jahr an unserem Tag hierher zurückkehren in der Hoffnung, dass sich unsere Wege irgendwann noch einmal kreuzen. Ich werde dieses Notizbuch in unseren »Briefkasten« legen. Und auf einen Brief von Dir warten. Und auf Dich.

In Liebe

Dein Grayson

Ich legte das Notizbuch in meinen Schoß und dachte über den Brief nach, der fünfzig Jahre gebraucht hatte, um mich zu erreichen. Er liebte mich immer noch. Gott, er liebte mich noch. Genauso, wie ich ihn vor so langer Zeit geliebt hatte und wie ich ihn noch immer liebte. Und die Hütte – er hatte sie offenbar genauso vorgefunden, wie wir sie hinterlassen hatten. Aber warum hatte er das Gemälde nicht erwähnt? Ich blätterte um und las weiter:

23. August 1960

Meine liebste Cleo!

Ich muss gestehen, dass ich schrecklich aufgeregt war, als ich den Briefkasten geöffnet habe, um dieses Heft herauszunehmen. Ich hatte gehofft, einen Eintrag von Dir in dem Heft zu finden. Noch lieber hätte ich natürlich Dich persönlich hier angetroffen. Aber ich habe all die Jahre gewartet, also kann ich auch noch ein weiteres warten. Ich werde geduldig sein, das verspreche ich Dir, mein Liebling.

Über die Jahre hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich frage mich immer wieder, warum Du nicht auf die Briefe geantwortet hast, die ich Dir aus dem Krankenhaus in Paris geschrieben habe, und warum Du nicht gekommen bist, um mich dort zu besuchen. Kitty hat mir erzählt, Du hättest geheiratet, aber ich habe ihr nicht geglaubt, jedenfalls nicht zu Anfang. Wie hättest Du heiraten können, wo wir uns doch so sehr liebten?

Jedenfalls habe ich mit all dem meinen Frieden gemacht. Trotz allem jedoch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Du irgendwann zurückkehrst, dass wir eines Tages wieder vereint sein werden. Ich weiß, dass das Leben weitergehen muss, aber ich werde erst dann wirklich leben, wenn ich wieder mit Dir zusammen bin.

Bis nächstes Jahr, mein Liebling,

Grayson

Ich klappte das Heft zu und umklammerte es ganz fest, zu aufgewühlt von Westrys Zeilen, um weiterzulesen. Kitty hatte mich angelogen, damals im Krankenhaus in Paris. Sie hatte seine Briefe an mich abgefangen. Warum? Wenn ich Westrys Briefe bekommen hätte, wäre mein Leben dann anders verlaufen?

Ich drehte mich um, als ich hörte, wie Jennifer das Hotelzimmer betrat. »Was für ein herrlicher Morgen, Grandma«, sagte sie. »Du solltest ein bisschen an die frische Luft gehen.«

Ich stand auf, legte Westrys Heft in meinen Koffer und nahm Genevieve Thorpes Brief heraus.

»Wir sollten sie jetzt anrufen«, sagte ich. Noch nie war ich mir meiner selbst so sicher gewesen.

Jennifer setzte sich neben mich aufs Bett, als ich die Nummer ins Telefon eingab und auf den Rufton lauschte. Es klingelte dreimal.

Dann meldete sich eine Frau und sagte etwas auf Französisch, das ich nicht verstand. »Hallo«, sagte ich. »Hier spricht Anne Call… Anne Godfrey. Ich möchte mit Ms. Genevieve Thorpe sprechen.«

Die Frau wechselte mühelos ins Englische. »Ich bin Genevieve Thorpe.«

»Ich bin hier«, sagte ich etwas zögerlicher als beabsichtigt. »Ich bin auf Bora-Bora.«

»Was für eine Überraschung! Als ich Ihnen geschrieben habe, war ich mir nicht sicher, ob ich je von Ihnen hören würde, ganz zu schweigen davon, dass Sie herkommen würden. Könnten wir uns vielleicht treffen, ehe Sie wieder abreisen?«

»Ja«, erwiderte ich. »Darum bin ich hier.«

»Ginge es noch heute, oder würden Sie lieber erst …?«

»Nein«, fiel ich ihr ins Wort, »das wäre mir sogar sehr recht. Wir wohnen im Hotel Outrigger Suites. Könnten Sie vielleicht hier vorbeikommen?«

»Ja, gern«, sagte sie.

Ich legte auf und hoffte, dass ich keinen Fehler gemacht hatte.

»Ein Tisch für zwei?«, fragte die Kellnerin, als wir das Restaurant betraten.

»Nein, wir erwarten noch jemanden«, sagte ich. In dem Augenblick erhob sich eine Frau von einem der Barhocker und winkte uns zu. Sie war auffallend hübsch für ihr Alter, klein und zierlich, mit rosigen Wangen und hellbraunen Locken, die mit einer goldfarbenen Spange zusammengehalten wurden.

»Hallo«, begrüßte sie Jennifer und mich. Sie war etwa im Alter meiner Söhne, vielleicht Mitte sechzig. »Sie müssen Anne sein.«

»Ja«, sagte ich und versuchte das merkwürdige Gefühl einzuordnen, das mich überkam, als ich ihr die Hand schüttelte. »Und das ist meine Enkelin Jennifer.«

»Ich bin Genevieve.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich. »Wollen wir uns setzen?« Sie hatte eine große, blau-weiß gestreifte Segeltuchtasche bei sich.

»Ja, gern«, sagte sie.

Die Kellnerin führte uns an einen Tisch am Fenster. Ich bestellte eine Flasche Weißwein.

Genevieve lächelte. »Ich kann es noch gar nicht glauben, dass Sie hier sind«, sagte sie kopfschüttelnd. »Sie waren für mich immer eine Art mythische Figur. Ich meine, Ihr Name stand auf der Registrierungsliste der Lazarettschwestern, die im Krieg hier waren, aber trotzdem kamen Sie mir vor wie … wie eine Figur in einem Märchen.«

Wir schwiegen, als die Kellnerin den Wein brachte und unsere Gläser füllte. Ich trank einen Schluck und spürte, wie mich der Alkohol wärmte. »Ich nehme an, Sie kennen die Hütte, die einen knappen Kilometer von hier entfernt am Strand steht«, sagte Genevieve und schaute Jennifer an. »Es ist eine kleine Hütte. Man findet sie nur, wenn man danach sucht.«

Ich nickte. »Ja, ich kenne sie.«

»Komisch«, sagte Genevieve, trank einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. »Die Einheimischen wagen sich nicht in die Nähe der Hütte. Sie behaupten, es liege ein Fluch auf ihr. Sie ist mir mein Leben lang unheimlich gewesen, vor allem als Kind. Mein Bruder und ich haben die Hütte zufällig entdeckt, als wir mit unseren Eltern am Strand gepicknickt haben, aber wir haben uns nicht hineingetraut.« Sie zuckte die Schultern. »Irgendwann war dann wohl die Neugier stärker. Vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren bin ich durch ein Fenster in die Hütte gestiegen und habe mich darin umgesehen. Und ob Sie’s glauben oder nicht – eine Woche später habe ich erfahren, dass mein Mann eine Affäre und meine Mutter Brustkrebs hatte.«

»Das tut mir leid«, sagte Jennifer und füllte unsere Gläser noch einmal.

»Sie glauben also an den Fluch?«, fragte ich.

Genevieve ließ den Wein in ihrem Glas kreisen. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Einerseits ja, andererseits habe ich das Gefühl, dass die Hütte auch ihr Gutes hat. Ich habe es gespürt, als ich dort war.« Sie lächelte. »Klingt merkwürdig, oder?«

»Nein, nein, ganz und gar nicht«, entgegnete ich. »Mir geht es genauso. Ich habe viel Zeit allein in der Hütte verbracht.«

Sie nahm einen kleinen, weißen Briefumschlag aus ihrer Tasche.

»Hier«, sagte sie lächelnd. »Das habe ich in einer Ecke der Hütte auf dem Boden gefunden. Ich glaube, es gehört Ihnen.«

Ich holte tief Luft, dann öffnete ich den Umschlag. Ich langte hinein und spürte etwas Hartes, Kaltes. Die blauen Edelsteine glitzerten im Sonnenlicht. Meine Brosche. Die Brosche, die Kitty mir geschenkt hatte. Mir stockte der Atem, als ich auf der Rückseite die Gravur las, die aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Meine Augen füllten sich mit Tränen, sodass ich nur noch verschwommen sehen konnte.

»Es gibt doch bestimmt ein Dutzend Frauen auf der Insel, die Anne heißen«, sagte ich. »Wie sind Sie darauf gekommen, dass die Brosche mir gehört?«

»Ich habe Nachforschungen angestellt«, erwiderte Genevieve lächelnd.

»Sind Sie bei Ihren Nachforschungen zufällig auch auf den Namen Westry gestoßen?« Ich schaute Jennifer an. »Westry Green?«

Genevieve nickte. »Ja. Ich habe ein Buch gefunden, das einmal ihm gehört hat. In der Schreibtischschublade, in der Hütte.«

»Ein Buch?«

»Ja«, sagte sie. »Ein Roman aus den dreißiger Jahren. Sein Name stand darin.«

Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie sehr Westry bemüht gewesen war zu verhindern, dass unsere Namen mit der Hütte in Verbindung gebracht wurden.

»Es hat sehr lange gedauert«, fuhr Genevieve fort, »aber ich habe ihn schließlich gefunden. Vor einigen Jahren habe ich sogar mit ihm gesprochen. Bevor ich mit dem Projekt angefangen habe, das ich in meinem Brief an Sie erwähnte. Seitdem versuche ich, ihn zu erreichen, leider vergeblich.« Sie seufzte. »Die Telefonnummer, die er mir damals gegeben hat, existiert nicht mehr, und niemand scheint zu wissen, was aus ihm geworden ist.«

Ich senkte den Blick und faltete meine elfenbeinfarbene Serviette einmal und noch einmal.

»Verzeihen Sie«, sagte Genevieve. »Ich wollte damit nicht andeuten, dass er …«

»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte Jennifer, bemüht, dem Gespräch eine sachliche Wende zu geben.

Genevieve schaute an die Decke, als versuchte sie, sich an die genauen Einzelheiten zu erinnern. »Es hörte sich an wie aus einem Liebesroman«, sagte sie. »Er hat mir erzählt, dass er Sie einmal sehr geliebt hat und dass er Sie immer noch liebt.«

»Warum hat er mich dann nicht angerufen oder mir geschrieben?«, fragte ich kopfschüttelnd.

Genevieve hob die Schultern. »Er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Er war ein wenig exzentrisch. Aber ich nehme an, so sind Künstler eben.«

Ich runzelte die Stirn. »Künstler

»Ja«, erwiderte Genevieve. »Ich habe zwar keine seiner Arbeiten gesehen, aber ich weiß, dass er über eine umfangreiche Sammlung seiner eigenen Werke verfügte – Gemälde, Skulpturen. Er hat nach dem Krieg in Europa Kunst studiert und später in den USA an einer Universität im Mittelwesten als Dozent gearbeitet.«

»Genevieve«, fragte ich, »warum sagen Sie, er verfügte über eine eindrucksvolle Sammlung seiner Werke?«

»Er hat alles verschiedenen Museen gestiftet«, antwortete sie. »Er hat mal zu mir gesagt, Kunst sei für die Menschen da, man dürfe sie nicht bunkern.«

Ich lächelte. »Klingt genau nach dem Westry, den ich gekannt habe.«

Jennifer räusperte sich. »Genevieve, Sie haben eben angedeutet, dass Westry auch Skulpturen geschaffen hat«, sagte sie. »Wissen Sie, mit welchem Material er gearbeitet hat? Mit Ton? Vielleicht mit Bronze?«

Ich wusste sofort, worauf sie hinauswollte. Die Insel brachte einen dazu, Zusammenhänge zu vermuten, wo gar keine waren.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Genevieve. »Er hat kaum über seine Arbeit gesprochen. Ich könnte mich auch komplett irren. Es ist alles so lange her, und mein Gedächtnis ist auch nicht mehr, was es einmal war.«

Sie nahm ein gelbes Notizheft aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch.

»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

»Selbstverständlich«, sagte ich.

»Ich habe ja bereits in meinem Brief erwähnt, dass vor langer Zeit hier auf der Insel eine junge Frau ermordet wurde«, sagte sie. »Ich versuche, den Fall aufzuklären, um der jungen Frau von damals Gerechtigkeit zu verschaffen.«

Jennifer und ich tauschten einen Blick aus.

»Soviel ich weiß«, sagte Genevieve, »haben Sie während des Kriegs hier als Lazarettschwester gearbeitet, und an dem Abend, als der Mord geschah, hatten Sie dienstfrei.« Sie beugte sich vor. »Haben Sie damals irgendetwas gehört oder gesehen? Können Sie mir irgendetwas über das Verbrechen sagen? Dieser Mord ist so geheimnisumwittert. Es ist, als wäre die Frau von der Insel verschluckt worden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Sie sind meine letzte Hoffnung in dieser Sache.«

»Ja«, erwiderte ich. »Ich kann Ihnen tatsächlich etwas sagen.«

Genevieve klappte ihr Notizheft auf und schaute mich erwartungsvoll an.

Ich verschränkte die Hände in meinem Schoß und dachte daran, dass ich Westry fest versprochen hatte, mit niemandem über den Mord zu sprechen. Aber obwohl ich all die Jahre immer und immer wieder darüber nachgedacht hatte, konnte ich nach wie vor nicht verstehen, was ihn zu seinem Verhalten bewogen hatte und wen er damit hatte schützen wollen. Wenn ich half, die Sache ans Tageslicht zu bringen, würde ich vielleicht die Antworten bekommen, nach denen ich mich sehnte.

»Atea«, sagte ich. »Sie hieß Atea.«

Genevieves Augen weiteten sich. »Ja«, sagte sie. »Das stimmt.«

Jennifer drückte meine Hand.

»Sie war sehr schön«, fuhr ich fort. »Ich habe sie nur kurz gekannt, aber sie strahlte Natürlichkeit und Herzensgüte aus.«

Genevieve nickte und legte ihren Stift weg. »Viele Einheimische haben ihren Tod nie verwunden«, sagte sie. »Bis heute nicht. Diejenigen, die alt genug sind, um sich zu erinnern, sprechen davon, dass sie dem Bösen zum Opfer gefallen ist, das ihre Insel damals heimgesucht hat. Deswegen habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, für Gerechtigkeit zu sorgen. Für Atea, aber auch für alle Inselbewohner.«

»Ich kann Ihnen dabei helfen«, sagte ich. »Dazu muss ich Sie an einen bestimmten Ort führen. Ich weiß von einem Beweisstück, mit dessen Hilfe Sie für Gerechtigkeit sorgen können.«

Die Sonne war fast untergegangen. Am Horizont waren nur noch ein paar orangerote und violette Streifen zu sehen. »Heute ist es leider schon zu spät«, sagte ich. »Können wir uns morgen früh am Strand vor dem Hotel treffen?«

»Natürlich«, antwortete Genevieve mit einem dankbaren Lächeln. »So früh Sie wollen.«

»Sagen wir, um halb zehn?«

»Perfekt. Ich kann’s kaum erwarten.«

Am Abend saß ich auf dem Balkon und sah zu, wie die Wellen sanft an den Strand rollten. Der zunehmende Mond spiegelte sich auf der gekräuselten Wasseroberfläche. Jennifers Handy klingelte in ihrer Handtasche. »Liebes«, rief ich, »dein Handy!«

Sie kam in einem grünen Schlafanzug auf den Balkon und kramte in ihrer Tasche. »Ist ja ein Ding«, murmelte sie vor sich hin. »Ich hätte nie gedacht, dass ich hier Empfang haben würde.«

Sie nahm das Gespräch an. »Hallo?« Ich hörte mit halbem Ohr zu. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte sie. Eine ganze Weile stand sie da und lauschte. »Ach.« Irgendetwas schien sie zu irritieren. Doch dann lächelte sie. »Danke. Vielen, vielen Dank. Ich melde mich, sobald ich wieder in Seattle bin.«

Jennifer beendete das Gespräch und setzte sich in den Korbsessel neben mir. »Das war die Frau aus dem Archiv«, sagte sie. »Sie haben ihn gefunden. Den Künstler, meine ich.«

Ich blinzelte und musste an die Frage denken, die sie Genevieve gestellt hatte. Konnte es möglich sein? »Es ist doch nicht etwa …?« Wider besseres Wissen hatte ich mich von Jennifers Fantasie anstecken lassen.

»Tut mir leid, Grandma«, sagte sie. »Es ist nicht Westry.«

Ich nickte. »Natürlich nicht«, sagte ich und kam mir reichlich albern vor.

Sie schaute in die Nacht hinaus. »Der Künstler ist vor vier Jahren gestorben«, sagte sie.

»Das tut mir leid, Liebes.«

»Ist nicht so schlimm.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Jedenfalls ist das Rätsel jetzt gelöst – na ja, immerhin teilweise. Jetzt, wo ich seinen Namen kenne, kann ich vielleicht mit seinen Angehörigen reden.«

»Genau«, sagte ich. »Ich wünschte, wir hätten eine Flasche Sekt.«

»Wozu?«

»Na, zum Anstoßen!«

Jennifer schaute mich verdutzt an.

»Schließlich hast du endlich deinen Künstler gefunden!«

Sie legte den Kopf an meine Schulter. »Und du wirst deinen auch finden«, sagte sie. »Ich habe das Gefühl, dass alles gut wird.«

»Vielleicht«, sagte ich. Ich hoffte, dass sie nicht merkte, wie skeptisch ich war, denn mein Herz sagte mir, dass es zu spät war.

Am nächsten Morgen trafen wir uns wie verabredet nach dem Frühstück mit Genevieve am Strand. »Guten Morgen!«, sagte sie und kam lächelnd auf uns zu. Sie trug einen Rucksack und hatte ihre Locken unter einen Sonnenhut geschoben.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie aufregend es für mich ist, der Lösung des Rätsels ein Stück näher zu kommen«, sagte sie, als wir uns auf den Weg machten.

»Ich hoffe, dass ich Ihnen wirklich helfen kann«, erwiderte ich und wappnete mich für das, was vor mir lag. »Erzählen Sie mir, was Sie bisher über das Verbrechen wissen.«

»Na ja«, sagte Genevieve und rückte ihren Rucksack zurecht. »Ich weiß eigentlich nur, was die Einheimischen wissen oder zu wissen glauben – nämlich dass der Mann, der den Mord begangen haben soll, mehrere Frauen auf der Insel geschwängert hat, darunter eine amerikanische Lazarettschwester.«

Kitty.

Ich nickte. »Ich habe sein Gesicht nicht erkannt«, sagte ich. »Dazu war es zu dunkel. Aber der Einzige, der es gewesen sein kann, ist ein gewisser Lance.«

»Lance?«

»Ja«, sagte ich. »Meine beste Freundin hatte damals ein Verhältnis mit ihm. Er hat sie in eine schreckliche Lage gebracht – sie war schwanger von ihm, und er hat sie sitzen lassen. Und er hat ständig einheimischen Frauen nachgestellt.«

Genevieve blieb stehen und schaute mich an. »Wenn Sie das die ganze Zeit gewusst haben«, fragte sie, »warum haben Sie dann geschwiegen? Warum haben Sie den Mann nicht angezeigt?«

Ich seufzte und hob entschuldigend die Hände. »Ich kann mir vorstellen, dass das schwer zu verstehen ist, aber es ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint.« Wir waren in der Nähe der Hütte angekommen. Ich zeigte auf ein Stück Treibholz am Strand. »Setzen wir uns eine Weile.«

Wir setzten uns auf das vom Meerwasser glatt geschliffene Holz. »Dort«, sagte ich und zeigte auf eine Stelle hinter uns, »hat er ihr die Kehle durchgeschnitten. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

Genevieve schlug sich die Hand vor den Mund.

»Ich habe zwischen den Bäumen gewartet, bis er weg war, dann bin ich zu ihr gerannt. Ich habe sie in den Armen gehalten, als sie nach Luft rang.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich konnte nichts für sie tun. Sie lag im Sterben. Dann kam Westry. Ich dachte an das Morphium in meiner Tasche. Wir Lazarettschwestern hatten damals immer etwas Morphium dabei. Damit konnten wir Atea von ihren Schmerzen befreien. Erst hat es mir widerstrebt, aber als ich sie röcheln hörte, wurde mir klar, dass es die einzige Lösung war. Das Morphium reichte aus, um sie von ihrem Elend zu erlösen. Sie ist in meinen Armen gestorben.«

Genevieve tätschelte mir den Arm. »Sie haben das Richtige getan«, sagte sie. »Jeder hätte in Ihrer Situation das Gleiche getan.«

Ich wischte mir eine Träne von der Wange. »Das sage ich mir seit damals auch immer wieder, aber in meinem Herzen weiß ich, dass ich mehr hätte tun können.«

»Sie meinen, indem Sie den Mord angezeigt hätten?«, fragte Genevieve.

»Ja.«

»Erzählen Sie mir, warum Sie es nicht getan haben.«

Ich nickte. »Westry hat mich gebeten zu schweigen. Er meinte, es sei zu unserem eigenen Besten, er glaubte, man würde uns den Mord anhängen. Aber ich glaube nicht, dass das der wahre Grund war. Wenn Westry den Mord nicht anzeigen wollte, dann muss er einen sehr triftigen Grund dafür gehabt haben.« Ich schaute aufs Meer hinaus und dachte daran, wie er damals mit mir gesprochen hatte. So selbstsicher, so entschlossen. Er hatte irgendetwas gewusst, was er mir verheimlicht hatte. »Er hat etwas davon erwähnt, dass er jemanden schützen wollte«, sagte ich. »Er meinte, wenn wir unsere Vorgesetzten informierten, würde etwas Schreckliches passieren. Und ich habe ihm vertraut.«

»Können Sie sich vorstellen, was er damit gemeint haben könnte?«

»Nein«, sagte ich und zuckte ratlos die Schultern. »Glauben Sie mir, ich zerbreche mir seit siebzig Jahren den Kopf darüber, und ich weiß heute genauso wenig wie damals.«

Genevieve seufzte.

»Aber wie ich Ihnen gestern Abend schon gesagt habe, gibt es etwas, das ich Ihnen zeigen möchte«, fuhr ich fort. »Ein Beweisstück. Ich habe es am Abend des Mordes versteckt in der Hoffnung, es könnte eines Tages, wenn die Wahrheit ans Licht käme, von Nutzen sein. Vielleicht ist es ja jetzt so weit.«

Wir standen auf.

»Soll ich Sie zu der Stelle führen?«

»Ja bitte!«, erwiderte Genevieve erwartungsvoll.

Jennifer stützte mich, als wir uns durch das Dickicht kämpften. Ich betete, dass ich die Stelle wiederfinden würde.

Ich schaute mich um und versuchte, mich zu erinnern. »Dort«, sagte ich. »Dort müsste es sein.«

Natürlich sah alles ganz anders aus, aber als ich die riesige Palme entdeckte, die alle anderen Bäume überragte, wusste ich, dass ich mich nicht irrte. Ich ging mit klopfendem Herzen voraus. Vor der Palme kniete ich mich hin und begann, mit den Händen in der weichen, feuchten Erde zu graben.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Genevieve.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab’s gleich.« Schwarze Erde klebte mir an den Händen und unter den Fingernägeln. Früher hätte mich das vielleicht gestört, aber jetzt war mir das alles egal. Noch nie war ich der Wahrheit so nah gewesen.

Kurz darauf berührten meine Finger etwas Hartes. Fieberhaft scharrte ich die Erde beiseite. Dann hielt ich den Atem an.

»Grandma, alles in Ordnung?«, flüsterte Jennifer besorgt und hockte sich neben mich.

»Ja«, antwortete ich und zog das Päckchen aus der Erde, das ich vor all den Jahren hier vergraben hatte. Ich wickelte den Stoffstreifen, den ich damals von meinem Kleid abgerissen hatte, beziehungsweise was nach der Zersetzung durch Feuchtigtkeit und Insekten noch davon übrig war, auseinander, und zum Vorschein kam das Messer.

»Das ist die Mordwaffe«, sagte ich zu Genevieve. »Ich habe gesehen, wie er das Messer nach der Tat in den Dschungel geworfen hat. Als er weg war, habe ich es gesucht und vergraben in der Hoffnung, es wiederzufinden, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre.«

Wie eine professionelle Kriminalistin nahm Genevieve eine Plastiktüte aus ihrem Rucksack und ließ das Messer vorsichtig hineingleiten. Dann reichte sie mir ein feuchtes Tuch, damit ich mir die Hände säubern konnte. »Es ist der richtige Zeitpunkt«, sagte sie. »Ich danke Ihnen.«

»Sie müssen mir nicht danken«, entgegnete ich ernst. »Sorgen Sie einfach für Gerechtigkeit, für Atea.«

»Das werde ich«, versprach Genevieve, während sie das Messer in der Plastiktüte betrachtete. »Diese Gravur, diese Nummern, die haben bestimmt irgendeine Bedeutung.«

»Ja«, sagte ich. »Die Nummern werden Sie zu Lance führen.«

Sie verstaute das Messer in ihrem Rucksack. »Das kann ich mithilfe meiner Freunde bei der Historical Society der Armee überprüfen. Die haben Unterlagen über die Kriegsjahre. So habe ich Sie ja schließlich auch gefunden.«

Ich lächelte in mich hinein, als wir schweigend den Strand entlanggingen. Endlich war die Wahrheit heraus. Ich fühlte mich unendlich erleichtert.

Genevieves Handy klingelte in ihrem Rucksack, und Jennifer und ich gingen ans Ufer, wo ich meine Hände ins Wasser hielt, um die Reste von Erde und die Spuren des Bösen abzuwaschen, die an dem Messer geklebt hatten.

»Ich bin stolz auf dich, Grandma«, sagte Jennifer. »Das war wirklich mutig.«

»Danke, Liebes«, erwiderte ich und trocknete mir die Hände an der Hose ab. »Aber ich hätte es schon viel, viel früher tun sollen.«

Wir gingen zu Genevieve zurück, die immer noch telefonierte. »Ja, Liebes«, sagte sie gerade. »Ich versprech’s dir, ich bin rechtzeitig zum Abendessen zu Hause.« Sie lauschte einen Moment. »Ich dich auch, Adella.«

Ich bekam eine Gänsehaut. Dieser Name … Ich hatte ihn nicht mehr gehört, seit … seit … Ich drehte mich zu Jennifer um, und ihr Gesichtsausdruck sagte mir, dass sie zu demselben Schluss gekommen war wie ich.

»Verzeihen Sie«, sagte ich etwas später zu Genevieve. Wir waren fast am Hotel angekommen, und ich hörte die Leute am Swimmingpool lachen. »Ich habe eben gehört, wie Sie jemanden Adella genannt haben.«

»Ja, richtig«, antwortete sie. »Das war meine Tochter am Telefon.«

»Was für ein schöner Name«, sagte ich. »Den hört man nicht oft.«

»Stimmt«, erwiderte sie. »Ich kenne außer meiner Tochter keine Adella. Es ist mein Zweitname. Ich wurde adoptiert, wissen Sie, und angeblich hatte meine leibliche Mutter den Namen für mich ausgesucht.«

Ich wandte mich ab, damit sie mir nicht ansah, wie sehr mich ihre Worte schockierten.

»Meine Eltern fanden, sie waren es meiner leiblichen Mutter schuldig, mir den Namen zu geben«, fuhr sie fort. »Und als meine Tochter geboren wurde, kam für mich kein anderer Name infrage.«

Sie schaute mich besorgt an. »Alles in Ordnung, Anne?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich, nachdem ich mich wieder gefasst hatte. »Haben Sie Ihre leibliche Mutter je kennengelernt oder versucht, sie zu finden?«

»Versucht habe ich es«, antwortete sie, »glauben Sie mir. Meine Eltern wollten mir nichts von ihr erzählen.« Eine Weile wirkte sie nachdenklich, dann lächelte sie. »Eine Lehrerin hat mir mal gesagt, meine Mutter müsse Französin sein, weil ich eine echte französische Nase hätte. Aber ich werde es wohl nie erfahren. Die Unterlagen über die Adoption sind schon vor Jahren verloren gegangen.«

Kittys Tochter. Sie stand leibhaftig vor mir. Das Kind, bei dessen Geburt ich geholfen hatte.

»Tja«, sagte Genevieve und verschränkte die Hände. Jetzt, wo ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass sie Kittys Augen hatte. »Aber Sie wollen sich jetzt bestimmt ausruhen. Es war ein langer Vormittag, der eine Menge Gefühle aufgewühlt hat. Was halten Sie davon, wenn ich morgen noch einmal herkomme? Vielleicht habe ich dann schon etwas über das Messer in Erfahrung gebracht. Sagen wir, morgen Nachmittag?«

Ich nickte. »Ja, das klingt gut«, sagte ich. Mir schwirrte der Kopf.

»Wir werden eine Menge zu bereden haben«, sagte Genevieve.

»Allerdings«, stimmte ich ihr zu und schob ihr eine Locke hinters Ohr, wie ich es bei Kitty getan hätte, wenn sie vor mir gestanden hätte.