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Ich geh ein bisschen an den Strand«, verkündete Jennifer am nächsten Morgen. Ich roch den Duft von Kokosshampoo in ihrem frisch gewaschenen Haar, als sie den Kopf zur Tür hinausstreckte. »Soll ich dir irgendwas mitbringen? Ein Croissant? Einen Milchkaffee?«

Ich lächelte. »Nein danke, Liebes.«

Als die Zimmertür hinter ihr ins Schloss fiel, schlug ich Westrys Heft auf und las weiter seine Briefe. Meine Augen wanderten über die vergilbten Seiten, und ich erfuhr, wie er sein Leben ohne mich gelebt hatte, wie er seine Liebe zu mir bewahrt hatte, eine Liebe, die von Jahr zu Jahr gewachsen zu sein schien. Als ich zur letzten Seite kam und den Brief las, den er vor fünf Jahren geschrieben hatte, blieb mir fast das Herz stehen:

23. August 2006

Meine liebste Cleo!

Hier bin ich wieder – ein neues Jahr, ein neuer August –, viel zu alt, um ohne Dich hier zu sein. In diesem Jahr ist es mir nicht gut gegangen. Ich kann nur hoffen, dass Du ein besseres Jahr hattest, wo auch immer Du sein magst.

Erinnerst Du Dich an das Lied, das wir eines Abends in der Hütte im Radio gehört haben? »La Vie en Rose«? Der Text lautet: »Schenk mir dein Herz und deine Seele, dann wird das Leben immer la vie en rose sein.« Für mein Leben trifft das zu. Denn auch ohne dass Du anwesend warst, ohne dass ich Dich berühren konnte, bist Du immer bei mir gewesen. Du hast mir damals Dein Herz geschenkt, und ich habe es immer gehütet.

Egal, ob wir uns jemals wiedersehen oder nicht, das ist das Einzige, was zählt.

La vie en rose, meine Liebste.

In Liebe

Dein Grayson

Genevieve klopfte um drei Uhr an unsere Tür. Jennifer ließ sie herein, und sie stellte ihre Tasche auf dem Schreibtisch ab. »Sie werden nicht glauben, was ich in Erfahrung gebracht habe.«

»Was denn?«, fragte ich begierig.

Genevieve setzte sich auf die Bettkante. »Die Nummer auf dem Messer«, sagte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist eine Registriernummer. Und sie gehört überhaupt nicht zu diesem Lance, von dem Sie sprachen.«

»Mein Gott«, sagte ich. »Zu wem gehört sie dann?«

Sie nahm ihr Notizheft aus der Tasche und schlug es auf. »Das wird Sie vielleicht überraschen«, sagte sie. »Das Messer gehörte Colonel Matthew Donahue, dem befehlshabenden Offizier des Camps.« Sie schaute mich fragend an. »Aber das muss doch ein Irrtum sein, oder?«

O Gott, ich hatte alles falsch verstanden. »Nein, es ist kein Irrtum«, entgegnete ich. Bilder aus der Vergangenheit liefen vor meinem geistigen Auge ab – Kitty, die schluchzend auf ihrem Bett lag, Atea, die an Heiligabend verwirrt in die Kirche gekommen war, Westrys blutiges Gesicht nach seiner Auseinandersetzung mit dem Colonel. Natürlich war es nicht Lance gewesen. Das wurde mir jetzt klar. Hinter allem hatte der Colonel gesteckt.

Genevieve sah mich verständnislos an. »Niemand wird glauben, dass ein befehlshabender Offizier, noch dazu ein Soldat mit gutem Ruf, so ein brutales Verbrechen begangen hat.« Sie blätterte in ihrem Notizheft. »Wir können der Wahrheit nur auf den Grund gehen, wenn wir die amerikanische Lazarettschwester finden, mit der er ein Verhältnis hatte, und versuchen, mit ihr zu reden. Vielleicht ist sie das fehlende Glied. Auf dem Messer lassen sich keine Fingerabdrücke mehr feststellen, und die Einheimischen, die alt genug sind, um etwas wissen zu können, hüllen sich in Schweigen. Glauben Sie mir, ich habe versucht, mit ihnen zu reden.« Sie zuckte ratlos die Schultern. »Was meinen Sie, wie stehen die Chancen, dass wir diese Schwester ans Telefon kriegen? Ziemlich schlecht, nicht wahr?«

»Ich glaube«, sagte ich zögerlich, weil ich nicht recht wusste, ob ich es überhaupt zugeben sollte, »ich kenne die Frau.«

Genevieves Augen weiteten sich. »Wirklich?«

»Ja«, sagte ich. »Zumindest habe ich sie einmal gekannt. Sie war damals meine beste Freundin. Wir sind zusammen hierhergekommen.« Ich betrachtete ihr Gesicht. Sie sah Kitty so ähnlich. Ob die beiden wohl noch eine Chance hatten, einander kennenzulernen?

»Wie heißt die Frau?«

»Kitty. Kitty Morgan.« Ich seufzte. »Natürlich weiß ich nicht, was aus ihr geworden ist. Wir haben uns seitdem nie wiedergesehen. Aber es ist ja alles so unglaublich lange her.«

Genevieves Augen leuchteten auf. »Den Namen kenne ich. Ja, ich habe diesen Namen aus den Dienstplanunterlagen des Lazaretts herausgesucht und mir sogar ihre Telefonnummer notiert, aber dann habe ich sie nie angerufen – es gab einfach keinen Grund dazu.« Sie blätterte in ihrem Heft. »Hier hab ich’s«, sagte sie aufgeregt. »Kitty Morgan Hampton. Wohnt in Kalifornien – also, zumindest bis vor zwei Jahren hat sie dort gewohnt. Würden Sie sie vielleicht anrufen, Anne?«

Mir wurde ganz flau. »Ich?«

»Ja, bitte«, sagte sie und schaute mich erwartungsvoll an.

»Aber das ist doch Ihr Projekt«, widersprach ich. »Sie sollten sie anrufen.«

Genevieve schüttelte den Kopf. »Sie wird bestimmt eher mit Ihnen reden als mit einer … Fremden.«

Wenn sie wüsste.

Ich dachte daran, wie distanziert Kitty während unserer letzten Wochen auf der Insel mir gegenüber gewesen war, wie sie sich Westry gegenüber verhalten hatte – wie sie sich zwischen uns geschoben und unsere Liebe zerstört hatte. Nein, ich konnte nicht mit ihr sprechen.

Jennifer beugte sich zu mir und streichelte meinen Arm. »Die Zeit ändert die Menschen«, flüsterte sie. »Du hast sie einmal sehr gern gehabt. Möchtest du nicht ihre Version der Geschichte hören?«

Ja, ich hatte sie einmal sehr gern gehabt. Und die Erinnerung an sie berührte mich auch jetzt noch. »Also gut«, sagte ich. »Ich rufe sie an.«

Jennifer reichte mir das Telefon, und ich überwand mich, die Nummer einzugeben, die Genevieve mir aus ihrem Notizheft diktierte.

»Hallo?« Kittys Stimme klang rauer als früher, aber ihr Ton war immer noch derselbe. Ich erstarrte und brachte kein Wort heraus.

»Hallo?«, sagte Kitty noch einmal. »Wenn Sie von der Marktforschung sind …«

»Kitty?«, krächzte ich.

»Ja?«

»Kitty«, sagte ich, während mir Tränen über die Wangen liefen. »Ich bin’s, Anne.«

»Anne?«

»Ja!«, rief ich. »Anne Calloway. Anne Godfrey.«

»Ach du lieber Gott, Anne«, sagte sie. »Bist du das wirklich?«

»Ja, ich bin’s wirklich.«

Jennifer gab mir ein Taschentuch, und ich schneuzte mich, während ich Kitty am anderen Ende der Leitung schniefen hörte.

»Anne, ich … ich …« Ihr versagte die Stimme. »Großer Gott, das kann doch nicht wahr sein! Wie geht es dir?«

»Komisch, ich weiß gar nicht, was ich dir darauf antworten soll. Nach all den Jahren … Wo soll ich anfangen?«

»Tja«, sagte Kitty leise. Die Härte, die in Paris in ihrer Stimme gelegen hatte, war verschwunden. Sie klang weicher. Vielleicht war ja auch ihr Herz weicher geworden. »Ich kann damit anfangen, dass ich dich um Verzeihung bitte.«

»Kitty, ich …«

»Nein, lass mich ausreden«, unterbrach sie mich. »Es geht mir nicht gut, Anne. Vielleicht werde ich keine Gelegenheit mehr bekommen, dir zu sagen, was ich dir zu sagen habe, deswegen muss es jetzt sein.« Sie holte tief Luft. »Ich hätte mich schon vor Jahren bei dir melden sollen. Ich weiß auch nicht, warum ich es nicht getan habe. Und ich schäme mich dafür.«

»Ach, Kitty«, sagte ich und wischte mir erneut die Tränen von den Wangen.

»Ich bereue zutiefst, dass ich auf der Insel und später in Paris so gemein zu dir war«, fuhr sie fort. »Nach der Geburt bin ich innerlich zu Stein erstarrt. Es war, als wäre ich in ein schwarzes Loch gefallen. Heute weiß ich, dass ich Depressionen hatte – Kindbettdepressionen, wie meine Tochter mir später erklärt hat. Aber ich …«

Ich schaute Genevieve an, die still auf dem Schreibtischstuhl saß. Sie war Kitty so ähnlich … »Du hast eine Tochter?«, fragte ich.

»Ja, drei – das heißt, eigentlich vier …« Sie seufzte. »Ich habe einen anständigen Mann geheiratet. Ich habe ihn nach dem Krieg in Paris kennengelernt, ein Marine. Wir sind nach Kalifornien gezogen. Wir haben ein schönes Leben zusammen, uns geht es gut.« Sie zögerte. »Geht es dir auch gut, Anne? Ich habe so oft an dich gedacht.«

»Ja, mir geht es gut«, antwortete ich leise. »In fast jeder Hinsicht.«

Kitty seufzte. »Anne, ich muss dir etwas sagen. Über Westry.«

Wie konnte der Name mich immer noch so tief berühren? Mir so einen heftigen Stich versetzen? Ich schloss die Augen ganz fest.

»Er hat unaufhörlich von dir gesprochen, damals in Paris«, fuhr sie fort. »Er hat jeden Tag nach dir gefragt und auf dich gewartet.«

»Ich war da«, sagte ich. »Das weißt du.«

»Ja.« Ich konnte regelrecht spüren, wie sehr Kitty sich schämte. »Ich war neidisch auf das, was ihr miteinander hattet«, sagte sie.

»Und aus dem Grund hast du seine Briefe an mich abgefangen?«

»Das weißt du?«, fragte Kitty entgeistert.

»Ich habe es gerade erst erfahren.«

»Ach, Anne, es tut mir so leid«, sagte sie unter Tränen. »Wenn ich mir vorstelle, dass sich durch mein Verhalten dein ganzes Leben verändert hat. Ich kann den Gedanken kaum ertragen.«

Mit einem Mal war der Groll, den ich all die Jahre gegen sie gehegt hatte, verflogen. »Ich verzeihe dir«, sagte ich. »Du hast gesagt, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich empfinde es genauso.«

»Ich habe immer noch meine Brosche«, sagte Kitty. »Das Gegenstück zu der, die ich dir damals im Cabaña Club geschenkt habe. Ich bewahre sie in meinem Schmuckkästchen auf, Anne. Ich schaue sie mir immer wieder an und denke an dich.«

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem sie mir die Brosche geschenkt hatte, als Unterpfand ewiger Freundschaft. Ich schloss die Augen und sah die kleine Schachtel vor mir, eingewickelt in blaues Papier, mit einer goldenen Schleife. Um uns herum der Zigarettenrauch. Wenn die Brosche doch nur unsere Freundschaft zusammengehalten hätte. Aber vielleicht hatte sie das ja. Ich nahm meine Brosche aus der Tasche und betrachtete die blauen Edelsteine.

»Ich habe meine auch noch, Kitty«, sagte ich. »Ich halte sie gerade in der Hand.«

»Ich würde dich so gern wiedersehen«, sagte sie. »Wo bist du? In Seattle?«

»Nein. Ich bin auf Bora-Bora.«

»Auf Bora-Bora?«

»Ich bin bei einer Frau, die versucht, ein Verbrechen aufzuklären, das während des Kriegs hier auf der Insel begangen wurde. Ein Mord.«

Kitty antwortete nicht gleich. »Du meinst den Mord an Atea, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich. »Du erinnerst dich also.«

»Natürlich erinnere ich mich.«

Ich beschloss, sie lieber nicht zu fragen, woher sie davon wusste. Das spielte jetzt keine Rolle. Aber etwas anderes brannte mir auf den Nägeln. »Ich würde dich gern etwas fragen«, sagte ich vorsichtig. »Wenn es dir nichts ausmacht.«

»Schieß los.«

»Du hast mir nie erzählt, wer der Vater deiner Tochter war«, fuhr ich fort. »Ich dachte immer, es sei Lance, aber jetzt sind Beweise aufgetaucht, die den Schluss nahelegen, dass der Mord an Atea …«

»Von dem Colonel verübt wurde?«

»Ja«, sagte ich. »Du weißt davon?«

»Ja«, erwiderte sie. »Und Westry wusste es auch.«

»Ich verstehe nicht.«

»Er hat mich geschützt, Anne«, sagte sie, »indem er es verschwiegen hat. Vor dem Mord hatte er von meiner Schwangerschaft erfahren, er wusste noch vor dir davon. Er hatte den Colonel und mich am Strand zusammen gesehen und gehört, was wir miteinander geredet hatten. Westry wusste auch, dass der Colonel mehrere Frauen auf der Insel geschwängert hatte. Ich war damals ja so halsstarrig und naiv. Westry hat mich vor dem Colonel gewarnt, aber ich wollte nicht auf ihn hören.«

Ich erinnerte mich daran, wie der Colonel Westry zusammengeschlagen hatte. »Er hat Westry bedroht, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Kitty. »Er hat Westry angedroht, mir etwas Schlimmes anzutun, falls er auf die Idee kommen sollte, ihn bei seinen Vorgesetzten anzuzeigen.«

»Mein Gott, Kitty!«, rief ich aus. »Dann hat er die Wahrheit über den Mord an Atea verschwiegen, um dich zu schützen?«

»Ja«, sagte sie. »Und im Nachhinein glaube ich, dass ich in größerer Gefahr geschwebt habe, als mir damals bewusst war. Und Westry hat mich vor dem Schlimmsten bewahrt.«

Ich seufzte. »Deswegen also hast du dich in ihn verliebt, habe ich recht?«

»Ja«, antwortete Kitty ehrlich. »Nachdem alle Männer in meinem Leben mich so schlecht behandelt hatten, war da endlich einer, der ehrlich und anständig war, der mich beschützte. Und ausgerechnet der liebte meine beste Freundin.«

Ich schaute aus dem Fenster zum Strand hinaus und dachte daran, wie Kitty Westry damals im Krankenhaus angesehen hatte. Ich konnte es ihr nicht verdenken, dass sie ihn geliebt hatte.

»Jedenfalls hat Donahue Atea ermordet, weil sie von ihm schwanger war und sich weigerte, darüber Stillschweigen zu wahren so wie die anderen Frauen.«

»Wie viele andere Frauen waren es denn?«

»Mindestens zwei«, sagte Kitty. »Eine war gerade mal vierzehn.« Sie schluckte. »Ich hätte das schon vor langer Zeit irgendwo melden sollen. Aber mein Leben musste weitergehen. Und nachdem ich gehört hatte, dass er gestorben war, habe ich mir gesagt, dass er sowieso in der Hölle braten würde.«

»Wann ist er denn gestorben?«

»Neunzehnhundertdreiundsechzig«, antwortete sie. »An einem Herzinfarkt, allein in einem Hotelzimmer in San Francisco.«

Ich richtete mich auf, schaute erst Jennifer, dann Genevieve an. »Das bedeutet noch lange nicht, dass es keine Gerechtigkeit geben wird«, sagte ich. »Er war ein hochdekorierter Kriegsveteran. Wir werden die Armee dazu bewegen, ihm postum seinen Rang abzuerkennen. Dafür werde ich sorgen.«

Genevieve nickte. Was würde sie empfinden, wenn sie erfuhr, dass dieser Mann ihr Vater war? Ich holte tief Luft, denn was ich als Nächstes zu sagen vorhatte, würde alles ändern. Für Kitty und für Genevieve.

»Kitty«, sagte ich und bedeutete Genevieve, ans Telefon zu kommen. »Hier ist eine Frau, mit der du sprechen solltest. Sie heißt Genevieve. Ich glaube, euch beide verbindet mehr, als ihr für möglich haltet. Ihre Tochter zum Beispiel … Na ja, wie gesagt, ich finde, ihr solltet euch mal unterhalten.«

Genevieve sah mich verwundert an, nahm jedoch lächelnd das Telefon entgegen. »Ms. Hampton?«

Ich stand auf und gab Jennifer ein Zeichen, mir zu folgen. Wir verließen das Zimmer und schlossen leise die Tür.

»Das ist das Beste, was bei dieser ganzen Sache herauskommen konnte«, sagte Jennifer, als wir im Korridor standen.

Arm in Arm gingen wir die Treppe hinunter und auf die Terrasse hinaus, wo wir uns an einen Tisch setzten und zusahen, wie die Wellen an den Strand krachten und überraschte Sonnenanbeter mit ihren Handtüchern an höher gelegene Stellen flüchteten, wo es trocken war. Was für ein Anblick. Es war, als wüsste die Insel, dass die Gerechtigkeit endlich gekommen war, um ihre Ufer vom Bösen zu befreien.

Ich fuhr mit einem Finger über die Kette, an der mein Medaillon hing, und fragte mich, ob es stimmen konnte, was Tita damals gesagt hatte. War der Fluch jetzt aufgehoben? Das würde die Zeit zeigen.