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August 1942

Kitty Morgan, das hast du jetzt nicht gesagt!« Ich knallte mein Glas mit eiskaltem Pfefferminztee so heftig auf den Tisch, dass es einen Sprung bekam. Meine Mutter würde sich freuen, dass ich keins von ihren Kristallgläsern benutzt hatte.

»O doch, das habe ich gesagt«, erwiderte sie mit einem triumphierenden Grinsen. Kitty hatte ein herzförmiges Gesicht und blonde Locken, die sich auch mit noch so vielen Haarspangen nicht bändigen ließen, und eigentlich konnte man sich mit ihr nicht streiten. Aber mit diesem Thema brachte sie mich auf die Palme.

»Mr. Gelfman ist verheiratet«, sagte ich empört.

»James«, sagte sie betont gedehnt, »ist kreuzunglücklich. Wusstest du, dass seine Frau immer wieder wochenlang verschwindet? Und sie erzählt ihm noch nicht mal, wohin. Die interessiert sich mehr für ihre Katzen als für ihn.«

Ich seufzte und setzte mich auf die Schaukel, die an dem gewaltigen Walnussbaum im Garten meiner Eltern hing. Kitty setzte sich neben mich, so wie früher, als wir noch Schulkinder waren. Ich schaute hoch in die Baumkrone, deren Laub schon leicht gelb verfärbt war, ein Vorbote des Herbstes. Warum musste sich alles ändern? Es kam mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass Kitty und ich Schulfreundinnen waren, Arm in Arm nach dem Unterricht nach Hause gingen, unsere Schulbücher auf dem Küchentisch ablegten und uns auf die Schaukel im Garten setzten, um bis zum Abendessen zu reden und zu kichern und einander unsere geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Jetzt, mit einundzwanzig, waren wir erwachsen. Wir waren junge Frauen im Aufbruch – wohin, wussten wir damals natürlich beide noch nicht.

»Kitty«, sagte ich und schaute sie an. »Kapierst du das nicht?«

»Was soll ich kapieren?« Sie sah aus wie eine zarte Rose in ihrem Kleid mit all den rosafarbenen Rüschen und den blonden Locken, die in der feuchten Nachmittagsluft ihr Eigenleben zu führen schienen. Ich wollte sie vor Mr. Gelfman schützen, besser gesagt, vor jedem Mann, in den sie sich verlieben würde, denn keiner schien mir gut genug für meine beste Freundin – vor allem keiner, der verheiratet war.

Ich räusperte mich. Wusste sie denn nicht, welchen Ruf Mr. Gelfman hatte? Sie musste sich doch an die Scharen von jungen Mädchen erinnern, die ihn auf der Highschool offen angehimmelt hatten, schließlich war er der attaktivste Lehrer der Schule gewesen. Im Englischunterricht hatten alle Mädchen an seinen Lippen gehangen, wenn er ein Gedicht von Elizabeth Barrett Browning vorlas. Okay, damals war es Spiel gewesen. Aber hatte Kitty vergessen, was vor fünf Jahren mit Kathleen Mansfield passiert war? Wie war das möglich? Kathleen – schüchtern, vollbusig, sträflich naiv – war in Mr. Gelfmans Bann geraten. In der Mittagszeit drückte sie sich vor dem Lehrerzimmer herum, und nach dem Unterricht wartete sie auf ihn vor der Schule. Alle tuschelten über die beiden, vor allem, nachdem eine unserer Freundinnen Kathleen und Mr. Gelfman eines Abends zusammen im Park gesehen hatte. Dann kam Kathleen plötzlich nicht mehr zur Schule. Ihr älterer Bruder erzählte, sie sei zu ihrer Großmutter nach Iowa gezogen. Wir alle kannten den Grund.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Kitty, Männer wie Mr. Gelfman haben nur ein Ziel, und ich glaube, wir wissen beide, welches.«

Kitty lief puterrot an. »Anne Calloway! Wie kannst du nur unterstellen, dass James und ich …«

»Ich unterstelle überhaupt nichts«, sagte ich. »Aber du bist meine beste Freundin, und ich möchte nun einmal nicht, dass du dich ins Unglück stürzt.«

Kitty schlenkerte niedergeschlagen mit den Beinen, während wir eine Weile wortlos schaukelten. Heimlich berührte ich den Brief, der sich in der Tasche meines Kleids befand. Ich hatte ihn am Morgen bei der Post abgeholt und konnte es kaum erwarten, mich auf mein Zimmer zu verziehen, um ihn zu lesen. Er war von Norah, einer Freundin von der Schwesternschule, die mir wöchentlich aus dem Südpazifik berichtete, wo sie als Lazarettschwester stationiert war. Norah und Kitty, beide hitzköpfig, hatten sich im letzten Halbjahr unserer Ausbildung zerstritten, und deswegen erzählte ich Kitty lieber nichts von den Briefen. Außerdem scheute ich mich zuzugeben, wie sehr mich alles faszinierte, was Norah mir über den Krieg und die Tropen erzählte. Ihre Briefe lasen sich wie die Kapitel eines Romans, und sie zogen mich so sehr in ihren Bann, dass ich davon träumte, mich als Lazarettschwester im Südpazifik zu bewerben, um dem Leben in Seattle zu entfliehen und die anstehenden Entscheidungen noch ein bisschen aufzuschieben. Natürlich war es nur ein Tagtraum. Schließlich konnte ich auch zu Hause in Washington meinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisten, indem ich ehrenamtlich im Bürgerzentrum arbeitete oder Konservendosen sammelte oder mich als freiwillige Helferin in einem unserer Nationalparks meldete. Kopfschüttelnd verscheuchte ich den Gedanken, mich wenige Wochen vor meiner Hochzeit in ein Kriegsgebiet zu begeben. Ich seufzte, froh, dass ich Kitty nichts von meinen Flausen erzählt hatte.

»Du bist ja bloß neidisch«, bemerkte Kitty schließlich.

»Quatsch«, entgegnete ich und schob Norahs Brief noch tiefer in meine Tasche. Die Sonne, die hoch am Spätsommerhimmel stand, ließ den kleinen Brillanten an dem Ring an meiner linken Hand aufblitzen und erinnerte mich daran, dass ich verlobt war. Gekauft und bezahlt. »Gerard und ich heiraten in drei Wochen«, sagte ich. »Ich bin glücklich und zufrieden.«

Kitty legte die Stirn in Falten. »Möchtest du nicht etwas mehr von der Welt sehen, ehe du« – sie zögerte, als würde es ihr schwerfallen, die folgenden Worte auszusprechen – »ehe du Mrs. Gerard Godfrey wirst?«

Ich schüttelte den Kopf. »Zu heiraten bedeutet doch nicht, Selbstmord zu begehen.«

Kitty wandte sich ab und betrachtete einen Rosenstrauch. »Aber so gut wie«, murmelte sie.

Ich seufzte und ließ mich auf der Schaukel zurücksinken.

»Verzeih mir«, flüsterte sie. »Ich möchte nur, dass du glücklich bist.«

Ich nahm ihre Hand. »Ich werde glücklich sein, Kitty. Ich wünschte, du würdest das einsehen.«

Ich hörte Schritte, und als ich aufblickte, sah ich unser Hausmädchen Maxine mit einem Tablett auf uns zukommen. Trotz ihrer hohen Absätze überquerte sie den Rasen mit sicheren Schritten und brauchte nur eine Hand, um ein vollbeladenes silbernes Tablett zu tragen. Mein Vater hatte einmal bemerkt, sie bewege sich graziös, und er hatte recht. Es war beinahe, als würde sie schweben.

»Möchtet ihr noch etwas trinken?«, fragte sie. Sie hatte eine wunderschöne Stimme und sprach mit einem starken Akzent. Ihr Erscheinungsbild hatte sich kaum verändert seit meiner Kindheit. Sie war zierlich gebaut, hatte weiche Züge, große, grüne Augen und Wangen, die nach Vanille dufteten. Ihr allmählich ergrauendes Haar trug sie zu einem strengen Nackenknoten zusammengefasst, aus dem keine einzige Strähne hervorlugte. Um ihre schmale Taille hatte sie eine blütenweiße, frisch gestärkte Schürze gebunden. Viele Familien in unserem Viertel hatten damals Dienstboten, aber wir waren die einzigen mit einem französischen Hausmädchen, eine Tatsache, die meine Mutter gern bei Bridge-Abenden hervorhob.

»Nein, danke, Maxine, wir brauchen nichts«, sagte ich.

»Aber für mich könnten Sie etwas tun«, sagte Kitty in verschwörerischem Ton. »Sie können Anne überreden, Gerard nicht zu heiraten. Sie liebt ihn nämlich gar nicht.«

»Stimmt das, Antoinette?«, fragte Maxine. Ich war fünf Jahre alt, als sie zu uns kam, und nachdem sie mich einmal gründlich gemustert hatte, hatte sie verkündet: »Du siehst nicht aus wie eine Anne, ich werde dich Antoinette nennen!« Ich fühlte mich damals sehr geschmeichelt.

»Nein, natürlich stimmt das nicht«, sagte ich hastig. »Kitty hat mal wieder ihre Anwandlungen.« Ich warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Ich habe das große Los gezogen, denn ich heirate Gerard Godfrey.«

Und ich konnte mich wirklich glücklich schätzen. Gerard war hochgewachsen und sah unglaublich gut aus mit seinem markanten Kinn, dem dunklen Haar und den braunen Augen. Außerdem war er ziemlich wohlhabend – nicht dass mir das etwas bedeutet hätte. Aber meine Mutter erinnerte mich immer wieder daran, dass er mit siebenundzwanzig der jüngste Vizepräsident war, den die First Marine Bank je gehabt hatte, was bedeutete, dass er ein Vermögen verdienen würde, sobald er den Posten seines Vaters übernahm. Keine Frau, die ihre fünf Sinne beisammenhatte, würde einen Heiratsantrag von Gerard Godfrey ablehnen, und als er unter ebendiesem Walnussbaum um meine Hand angehalten hatte, hatte ich, ohne zu zögern, genickt.

Meine Mutter war außer sich vor Glück gewesen, als ich ihr die Neuigkeit berichtet hatte. Natürlich hatten sie und Mrs. Godfrey die Ehe schon geplant, als ich noch in den Windeln lag. Die Calloways vermählten sich mit den Godfreys. Es war wie ein Naturgesetz.

Maxine füllte unsere Gläser mit frischem Eistee.

»Antoinette«, sagte sie langsam, »habe ich dir jemals die Geschichte von meiner Schwester Jeannette erzählt?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich wusste nicht mal, dass du eine Schwester hast, Maxine.« Mir wurde bewusst, dass ich überhaupt nicht viel über sie wusste.

»Ja«, sagte sie nachdenklich. »Sie hat einen jungen Mann geliebt, einen jungen Bauern aus Lyon. Die beiden waren ganz vernarrt ineinander. Aber unsere Eltern haben darauf gedrungen, dass sie sich einem anderen zuwandte, einem, der in der Fabrik ordentlich verdiente. Also hat sie den Bauern verlassen und den Fabrikarbeiter geheiratet.«

»Gott, wie traurig«, sagte ich. »Hat sie den Bauern jemals wiedergesehen?«

»Nein«, erwiderte Maxine. »Und sie ist schrecklich unglücklich geworden.«

Ich stand auf und glättete mein Kleid aus blauem Crêpe de Chine, zu dem ich einen Gürtel trug, der ein bisschen zu eng saß. Meine Mutter hatte mir das Kleid aus Europa mitgebracht. Sie hatte ein Händchen dafür, mir Sachen zu kaufen, die mir zu klein waren. »Das ist wirklich traurig. Deine arme Schwester. Aber das hat nichts mit meinem Leben zu tun. Ich liebe Gerard. Für mich gibt es keinen anderen.«

»Natürlich liebst du Gerard«, sagte Maxine und bückte sich, um eine Serviette aufzuheben, die ins Gras gefallen war. »Ihr seid zusammen aufgewachsen. Er ist wie ein Bruder für dich.«

Bruder. Das Wort klang irgendwie unheimlich, vor allem, wenn es sich auf den Mann bezog, den ich heiraten wollte. Mich schauderte.

»Liebes«, fuhr Maxine fort und lächelte mich an. »Es ist dein Leben und dein Herz. Und wenn du sagst, es gibt keinen anderen für dich, dann mag das stimmen. Ich sage nur, dass du dir vielleicht nicht genug Zeit gelassen hast, um ihn zu finden.«

»Ihn?«

»Den Richtigen«, erwiderte sie. »Deine große Liebe.« Sie sagte das so leichthin, als wartete die große Liebe auf jeden, der sich auf die Suche nach ihr machte.

Mich fröstelte, was ich auf die Brise zurückführte, die eben aufgekommen war. Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Märchen oder an Märchenprinzen. Ich glaube, dass Liebe etwas mit Entscheidung zu tun hat. Man lernt jemanden kennen, er gefällt einem, man entscheidet sich, ihn zu lieben. So einfach ist das.«

Kitty verdrehte die Augen. »Gott, wie unromantisch«, sagte sie.

»Und du, Maxine«, sagte ich. »Was ist mit dir? Hast du dich nie verliebt?«

Sie wischte das Tablett mit einem Küchentuch ab. »Doch«, antwortete sie, ohne aufzublicken.

Vor lauter Neugier kam ich gar nicht auf die Idee, dass die Erinnerung an den Mann für sie schmerzhaft sein könnte. »War er Amerikaner oder Franzose? Warum hast du ihn nicht geheiratet?«

Maxine antwortete nicht gleich, und ich bereute meine Frage bereits. Doch dann sagte sie: »Ich habe ihn nicht geheiratet, weil er bereits verheiratet war.«

Auf der Terrasse ertönten die Schritte meines Vaters. Eine Zigarre paffend, überquerte er den Rasen und kam auf uns zu. »Hallo, Kleine«, sagte er und lächelte mich an. »Ich hatte dich erst am Dienstag erwartet.«

Ich erwiderte sein Lächeln. »Kitty hat mich überredet, früher zu kommen.«

Ich hatte meine Kurse an der Portland State University im Frühjahr abgeschlossen, aber Kitty und ich waren noch zwei Monate länger geblieben, um eine Schwesternausbildung zu absolvieren, was unsere Eltern mit großer Sorge erfüllte, denn sie befürchteten, wir könnten unsere Ausbildung tatsächlich dazu benutzen, uns einen entsprechenden Job zu suchen.

Gerard dagegen fand es amüsant, mit einer ausgebildeten Krankenschwester verlobt zu sein. Weder unsere Mütter noch andere Frauen, die wir kannten, arbeiteten. Er zog mich immer damit auf, dass der Chauffeur, der mich zur Schicht im Krankenhaus fahren müsste, mehr kosten würde, als ich je verdienen könnte, aber wenn es mein Herzenswunsch sei, eine weiße Haube zu tragen und Kranke zu pflegen, würde er mich unterstützen.

In Wirklichkeit hätte ich überhaupt nicht sagen können, was mein Herzenswunsch war. Ich hatte die Schwesternausbildung gemacht, weil sie ein willkommenes Kontrastprogramm bildete zu allem, was ich an den Frauen in meiner Umgebung so verachtete – an meiner Mutter etwa, die sich für nichts als Dinnerpartys und die neueste Mode interessierte, und an meinen Schulfreundinnen, die nach dem Abschluss der Highschool monatelang in Paris oder Venedig im Luxus geschwelgt und sich einzig darum gesorgt hatten, ob sie einen reichen Ehemann finden würden, der ihnen den Lebensstil bot, den sie von klein auf gewohnt waren.

Nein, in diese Schublade passte ich nicht. Sie raubte mir die Luft zum Atmen. Mich faszinierte der Beruf der Krankenschwester mit all seinen unappetitlichen Begleiterscheinungen. Er sprach eine Seite in mir an, die ich bis dahin nie hatte ausleben können, das Bedürfnis, anderen Menschen auf eine Weise zu helfen und beizustehen, die nichts mit Geld zu tun hatte.

Maxine räusperte sich. »Ich wollte gerade gehen«, sagte sie zu meinem Vater und hob das Tablett auf. »Kann ich Ihnen irgendetwas bringen, Mr. Calloway?«

»Nein, danke, Maxine«, sagte er, »im Moment nicht.« Es gefiel mir, wie höflich er immer mit ihr umging, nicht so forsch und ungeduldig wie meine Mutter.

Maxine nickte und ging zurück ins Haus.

Kitty schaute meinen Vater besorgt an. »Mr. Calloway?«

»Ja, Kitty?«

»Ich habe gehört, dass wieder Männer zum Kriegsdienst eingezogen werden«, sagte sie und schluckte. »Ich habe es im Zug in der Zeitung gelesen. Wissen Sie vielleicht, ob auch Männer aus Seattle betroffen sind?«

»Tja, es ist noch ein bisschen früh, um das zu sagen, Kitty Cat«, antwortete mein Vater. Den Spitznamen hatte er ihr gegeben, als wir in die Grundschule gingen. »Aber so wie die Dinge sich derzeit in Europa entwickeln, schätze ich, dass wir noch einige Männer in den Krieg schicken werden. Eben habe ich zufällig Stephen Radcliffe in der Stadt getroffen und von ihm erfahren, dass die Larson-Zwillinge am Donnerstag aufbrechen.«

Ich spürte, wie es mir die Brust zuschnürte. »Terry und Larry?«

Mein Vater nickte ernst.

Die Zwillinge, ein Jahr jünger als Kitty und ich, zogen in den Krieg. Krieg. Unvorstellbar. Hatten sie mich nicht erst gestern in der Grundschule an den Zöpfen gezogen? Terry war schüchtern und hatte ein sommersprossiges Gesicht. Larry war ein bisschen größer, hatte weniger Sommersprossen und war der geborene Clown. Sie waren beide rothaarig und beinahe unzertrennlich. Ich fragte mich, ob man ihnen erlauben würde, nebeneinander auf dem Schlachtfeld zu stehen. Ich schloss die Augen und versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, aber es gelang mir nicht. Schlachtfeld.

Mein Vater las meine Gedanken. »Falls du befürchtest, dass Gerard eingezogen wird, kann ich dich beruhigen«, sagte er.

Ich konnte mir Gerard, obwohl er groß und kräftig war, beim besten Willen nicht anders vorstellen als in einem eleganten Anzug in der Bank. Aber sosehr ich ihm auch wünschte, dass ihm der Kriegsdienst erspart blieb, so sehnte ich mich andererseits danach, ihn in Uniform zu sehen und zu erleben, dass er für etwas anderes als Geld kämpfte.

»Seine Familie spielt eine zu wichtige Rolle in der Gemeinde«, fuhr mein Vater fort. »George Godfrey wird dafür sorgen, dass sein Sohn nicht eingezogen wird.«

Ich geriet in einen inneren Konflikt, der mir unangenehm war – einerseits erleichterte es mich zu wissen, dass Gerard durch den Einfluss seines Vaters geschützt war, andererseits empörte es mich. Es war nicht recht, dass die Männer aus den armen Familien für die Nation in den Krieg ziehen mussten, während die wenigen privilegierten aus nichtigen Gründen vom Kriegsdienst verschont blieben. Sicher, George Godfrey war, wenn er auch inzwischen alt und krank war, ein mächtiger Bankier und ehemaliger Senator, und Gerard würde bald seinen Posten in der Bank übernehmen. Trotzdem war es ein quälender Gedanke, dass die Larson-Zwillinge mitten im Winter irgendwo in Europa in einem Bunker hockten, während Gerard in einem geheizten Büro in einem bequemen Ledersessel saß.

Mein Vater sah mir meine Gefühle an. »Bitte, mach dir keine Sorgen«, sagte er.

Kitty betrachtete ihre Hände, die sie auf dem Schoß verschränkt hatte. Ich fragte mich, ob sie gerade an Mr. Gelfman dachte. Würde er auch eingezogen werden? Er war höchstens achtunddreißig, sicherlich jung genug, um als Soldat zu kämpfen. Ich seufzte und wünschte, ich könnte den Krieg mit reiner Willenskraft beenden. Die beunruhigenden Nachrichten aus Europa überschatteten alles, selbst den schönsten Sommernachmittag.

»Deine Mutter geht heute Abend aus, Anne«, sagte mein Vater und schaute zum Haus hinüber. In seinen Augen lag ein Anflug von Besorgnis, der aber wieder verschwunden war, als unsere Blicke sich begegneten. »Würdet ihr beiden jungen Damen mir beim Dinner Gesellschaft leisten?«

Kitty schüttelte den Kopf. »Ich habe schon etwas vor«, sagte sie vage.

»Tut mir leid, Papa«, sagte ich. »Ich bin mit Gerard zum Abendessen verabredet.«

Er nickte und wirkte plötzlich wehmütig. »Aber natürlich, schließlich seid ihr erwachsen und selbstständig. Dabei kommt es mir so vor, als hättet ihr noch vor ein paar Wochen hier draußen mit euren Puppen gespielt.«

Wenn ich ehrlich war, vermisste ich die sorglosen Zeiten, die wir mit Puppenspielen und Verkleiden im Garten verbracht hatten. Ich knöpfte mir gegen den kühler gewordenen Wind die Strickjacke zu – den Wind der Veränderung.

»Komm, lass uns ins Haus gehen«, sagte ich und nahm Kittys Hand.

»Okay«, erwiderte sie. Und plötzlich waren wir wieder kleine Mädchen.

Mir brannten die Augen von dem Zigarettenqualm, der wie eine düstere Wolke über unserem Tisch hing. Die Beleuchtung war schummrig im Cabaña Club, wo die Jugend von Seattle samstags zum Tanzen hinging. Ich kniff die Augen zusammen.

Kitty schob eine in blaues Papier gewickelte Schachtel zu mir herüber. Sie war mit goldenem Geschenkband verschnürt.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Für dich«, sagte sie grinsend.

Ich schaute sie fragend an, dann löste ich das goldene Band und wickelte das blaue Papier ab. Ich hob den Deckel von der weißen Schmuckschachtel und nahm die Watte heraus, unter der etwas Glitzerndes zum Vorschein kam.

»Kitty!«

»Es ist eine Brosche«, sagte sie, »eine Freundschaftsbrosche. Erinnerst du dich noch an die Freundschaftsringe, die wir als Kinder hatten?«

Ich nickte. Ich wusste nicht, ob das Brennen in meinen Augen vom Rauch herrührte oder von den Erinnerungen an glückliche Tage.

»Ich finde, wir brauchen etwas, das besser zu Erwachsenen passt«, sagte sie und schob sich eine Haarsträhne von der Schulter, sodass ich die Brosche an ihrem Kleid sehen konnte. »Siehst du? Ich hab auch eine.«

Ich betrachtete die silberne Scheibe mit einer Rose aus winzigen blauen Steinen, die im gedämpften Licht des Clubs glitzerten. Auf der Rückseite befand sich eine Gravur: Für Anne, in Liebe, Kitty.

»Sie ist wunderschön«, sagte ich und steckte sie mir ans Kleid.

Kitty lächelte. »Sie soll ein Symbol unserer Freundschaft sein und uns daran erinnern, dass wir nie Geheimnisse voreinander haben und nicht zulassen werden, dass die Zeit oder die Umstände etwas zwischen uns ändern.«

Ich nickte. »Ich werde sie immer tragen.«

Sie lächelte. »Ich auch.«

Wir nippten an unserem Sodawasser und ließen den Blick durch den vollen Club wandern, wo unsere Freunde, Schulkameraden und Bekannten ausgelassen einen Samstagabend begingen, der womöglich ihr letzter war, ehe das Schicksal sie in alle Winde zerstreute, in den Krieg führte, in die Ehe, ins Unbekannte. Ich schluckte schwer.

»Sieh dir Ethel und David Barton an«, flüsterte Kitty mir ins Ohr und zeigte unauffällig auf die beiden, die eng umschlungen am Tresen saßen. »Er kann seine Finger gar nicht bei sich behalten«, sagte sie und schaute ein bisschen länger als nötig hin.

»Sie sollte sich was schämen«, sagte ich kopfschüttelnd. »Wo sie doch mit Henry verlobt ist. Er studiert irgendwo, oder?«

Kitty nickte. Aber anstatt wie ich den Kopf zu schütteln, konnte sie sich gar nicht vom Anblick des Pärchens losreißen. »Wünschst du dir nicht, jemand würde dich so sehr lieben?«, fragte sie sehnsüchtig.

Ich zog die Nase kraus. »Das ist doch keine Liebe.«

»Klar ist das Liebe«, widersprach Kitty und stützte das Kinn in die Hand. Die beiden standen von ihren Barhockern auf und gingen Hand in Hand auf die Tanzfläche. »David ist ganz vernarrt in sie.«

»Vernarrt vielleicht«, sagte ich. »Aber lieben tut er sie nicht.«

Kitty zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall ist es Leidenschaft.«

Ich nahm meinen Gesichtspuder aus der Handtasche und puderte mir die Nase. Gerard würde bald da sein. »Leidenschaft ist was für Narren«, sagte ich und klappte das Döschen zu.

»Kann sein«, erwiderte Kitty. »Aber davon werde ich mich nicht abschrecken lassen.«

»Kitty!«

»Ja?«

»So darfst du nicht reden!«

»Wie darf ich nicht reden?«

»Wie ein Flittchen.«

Kitty kicherte. In dem Augenblick kam Gerard an unseren Tisch, zusammen mit Max, einem Kollegen aus der Bank – ziemlich klein, mit lockigem Haar, einem unscheinbaren Gesicht und Augen nur für Kitty.

»Lass uns mitlachen, Kitty«, sagte Gerard grinsend. Ich mochte sein charmantes, selbstbewusstes Lächeln. Er stand in seinem grauen Anzug an unserem Tisch und rückte sich eine Manschette zurecht. Max stand neben ihm und machte Stielaugen.

»Sag du’s ihm, Anne.« Kitty knuffte mich in die Rippen.

Ich räusperte mich verlegen. »Na ja, also, Kitty meinte eben, sie und Max würden ein besseres Tanzpaar abgeben als wir beide.« Ich warf Kitty einen triumphierenden Blick zu. »Unglaublich, oder?«

Gerard grinste, und Max’ Augen leuchteten auf. »Also, die Herausforderung nehmen wir doch gerne an, oder?« Er warf einen Blick in Richtung Tanzfläche und streckte seine Hand aus. »Wollen wir?«

Die Band begann zu spielen, und Max strahlte übers ganze Gesicht. Kitty warf mir einen vernichtenden Blick zu und stand auf, um Max’ Hand zu nehmen.

Gerard legte mir sanft und elegant einen Arm um die Taille. Ich liebte seinen festen Griff, sein selbstbewusstes Auftreten.

»Gerard?«, flüsterte ich ihm ins Ohr.

»Ja, Liebes?« Er war ein hervorragender Tänzer – in seinen Bewegungen ebenso präzise wie in seinem Beruf als Bankier.

»Empfindest du …« Ich überlegte, wie ich es formulieren sollte. »Empfindest du Leidenschaft für mich?«

»Leidenschaft?«, wiederholte er und unterdrückte ein Lachen. »Du Dummerchen. Natürlich empfinde ich Leidenschaft für dich.« Er zog mich ein bisschen fester an sich.

»Echte Leidenschaft?«, insistierte ich, enttäuscht von der Antwort.

Er blieb stehen und drückte liebevoll meine Hände an sein Kinn. »Du zweifelst doch nicht an meiner Liebe, oder? Du musst doch inzwischen wissen, dass ich dich über alles liebe, mehr als alles auf der Welt.«

Ich nickte und schloss die Augen. Kurz darauf war das Stück zu Ende, und die Band spielte eine langsamere Nummer. Ich schmiegte mich enger an Gerard, so eng, dass ich seinen Herzschlag spürte und er meinen. Wir wiegten uns zu der verführerischen Melodie der Klarinette, und mit jedem Schritt redete ich mir ein, dass wir Leidenschaft füreinander empfanden. Natürlich taten wir das. Gerard liebte mich heiß und innig und ich ihn auch. Warum war ich plötzlich so verunsichert? Das war Kittys Schuld. Kitty. Ich sah sie lustlos mit Max tanzen. In dem Augenblick erschien wie aus heiterem Himmel Mr. Gelfman auf der Tanzfläche. Er ging auf Kitty zu, sagte etwas zu Max und nahm sie in die Arme, woraufhin Max sich enttäuscht verzog.

»Was macht Kitty denn mit Mr. Gelfman?«, fragte Gerard stirnrunzelnd.

»Das gefällt mir nicht«, sagte ich, während ich zusah, wie Mr. Gelfman Kitty wie eine Puppe umherwirbelte. Seine Hände lagen zu tief auf ihren Hüften, seine Arme umschlangen sie zu fest. Ich dachte an die arme Kathleen und bekam ein mulmiges Gefühl.

»Lass uns gehen«, sagte ich zu Gerard.

»Jetzt schon?«, fragte er. »Wir haben doch noch gar nicht gegessen.«

»Maxine hat uns ein paar Sandwiches in den Kühlschrank gestellt«, erwiderte ich. »Ich hab keine Lust mehr zu tanzen.«

»Ist es wegen Kitty?«, wollte er wissen.

Ich nickte. Ich wusste, dass Kitty nicht mehr zu bremsen war, sie hatte sich klar genug ausgedrückt. Aber ich wollte verdammt sein, wenn ich zusah, wie meine beste Freundin ihr Herz und ihre Würde an einen Mann – einen verheirateten Mann – verschenkte, der sie nicht verdient hatte. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das mein Kopf noch nicht wahrhaben wollte, obwohl mein Herz es wusste: Ich beneidete Kitty. Ich wollte spüren, was sie spürte. Und ich fürchtete, dass mir das nie vergönnt sein würde.

Der Portier reichte mir meinen blauen Samtmantel, und ich hakte mich bei Gerard unter. Bei ihm fühlte ich mich sicher und beschützt. Ich redete mir ein, dass ich ein Glückspilz war.

Auf dem Heimweg fragte mich Gerard, ob wir lieber eine Wohnung in der Stadt kaufen sollten oder ein Haus in Windermere, dem vornehmen Viertel, wo unsere Eltern wohnten und wo wir aufgewachsen waren. Eine Wohnung in der Stadt würde näher an der Bank liegen, sagte er. Und es wäre bestimmt aufregend, auf der Fifth Avenue zu wohnen. Andererseits würden die Buskirks im Herbst ihre große Villa verkaufen, die könnten wir erwerben und renovieren, einen Flügel für das Dienstpersonal anbauen und ein Kinderzimmer einrichten. Kinderzimmer.

Gerard redete immer weiter, und die Luft im Auto wurde warm. Zu warm. Die Straße verschwamm vor meinen Augen, und ich sah die Straßenlaternen doppelt. Was war bloß los mit mir? Warum bekam ich plötzlich keine Luft mehr? Mir wurde schwindlig, und ich hielt mich am Türgriff fest.

»Alles in Ordnung, Liebling?«

»Ich glaube, ich muss ein bisschen frische Luft schnappen«, sagte ich und kurbelte das Fenster herunter.

Er tätschelte mir den Arm. »Tut mir leid, Schatz, das ist wohl alles zu viel auf einmal.«

»Ein bisschen«, sagte ich. »Es müssen so viele Entscheidungen getroffen werden. Können wir sie uns eine nach der anderen vornehmen?«

»Selbstverständlich«, antwortete er. »Für heute haben wir genug über Wohnungen und Häuser geredet.«

Er bog ab, und wir fuhren zwischen den mächtigen, von Scheinwerfern angestrahlten Säulen hindurch, die die Einfahrt nach Windermere flankierten, ein exklusives, vornehmes Viertel, wo Gärtner täglich Stunden damit zubrachten, riesige Rasenflächen und Blumenbeete in Schuss zu halten und wo adrett gekleidete Kinder von Gouvernanten betreut wurden. Wir fuhren an Gerards Elternhaus vorbei, der grauen Villa mit den vielen Giebeln in der Gilmore Avenue, dann am Haus der Larsons, einem weißen Herrenhaus im Kolonialstil mit sauber geschnittenen Buchsbaumhecken und aus Italien importierten Amphoren aus Marmor. Was war los mit mir? Dieser Mann liebte mich und war bereit, mir ein schönes, bequemes Leben zu bieten, ein Leben, wie ich es gewohnt war.

Gerard hielt vor unserem Haus, wir stiegen aus und gingen direkt in die Küche. »Maxine hat sich wahrscheinlich schon schlafen gelegt«, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr. Halb zehn. Maxine ging immer um neun in ihr Zimmer im Souterrain.

»Möchtest du ein Sandwich?«, fragte ich Gerard.

»Nein danke«, erwiderte er und schaute auf seine Armbanduhr, eine Rolex, die ich ihm zum fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte.

Hinter uns erklangen Schritte.

»Papa?«, sagte ich und schaute in die Eingangshalle. Eine weibliche Gestalt kam im Dunkeln die Treppe herunter.

»Mama?« Ich schaltete das Licht ein und sah, dass ich mich geirrt hatte.

»Deine Mutter ist noch nicht zurück«, sagte Maxine. »Ich habe dir ein paar frische Handtücher ins Bad gelegt. Francesca war heute nicht hier.«

»Ach, Maxine«, rief ich aus. »Dass du dir so spät am Abend noch Gedanken über meine frischen Handtücher machst. Was für ein Unsinn! Geh schlafen. Du arbeitest zu viel.«

Als sie sich umdrehte, um nach der Uhrzeit zu sehen, hatte ich den Eindruck, dass ihre Augen feucht waren. Hatte sie geweint, oder war es die Erschöpfung?

»Ja, ich glaube, ich sage für heute Gute Nacht«, sagte sie und nickte. »Wenn es recht ist.«

»Selbstverständlich«, erwiderte ich. »Wir brauchen dich nicht mehr. Gute Nacht, Maxine.« Ich umarmte sie, wie ich es als Kind getan hatte, und roch den Vanilleduft an ihren Wangen.

Nachdem sie gegangen war, gab Gerard mir einen flüchtigen Kuss. Warum küsste er mich nicht länger? »Es ist schon spät«, sagte er. »Ich mache mich besser auf den Weg.«

»Musst du schon gehen?«, fragte ich, zog ihn an mich und schaute vielsagend zum Sofa im Wohnzimmer hinüber. Warum musste Gerard immer so praktisch denken?

»Wir brauchen unseren Schlaf«, sagte er kopfschüttelnd. »Morgen ist ein großer Tag.«

»Ein großer Tag?«

»Die Party«, sagte er und sah mich argwöhnisch an. »Hast du das etwa vergessen?«

Das hatte ich tatsächlich. Gerards Eltern richteten für uns einen Verlobungsempfang aus, auf dem weitläufigen Rasen hinter ihrem Haus, der so makellos geschnitten war, dass er mich immer an den Golfplatz des Country-Clubs meines Vaters erinnerte. Eine Band würde aufspielen, es würde ein Croquet-Turnier geben, Eisskulpturen würden aufgestellt, und livrierte Diener würden Platten mit winzigen Kanapees herumtragen.

»Zieh dir einfach ein hübsches Kleid an und sei pünktlich um zwei Uhr da«, sagte er lächelnd.

»Mach ich«, antwortete ich und lehnte mich an den Türrahmen.

»Gute Nacht, mein Schatz«, sagte er und ging.

Ich schaute seinem Auto nach und blieb in der Tür stehen, bis das Motorengeräusch von der dunklen Nacht verschluckt wurde.