Als die Verderbnis von ihm abfiel und seine Erinnerungen wie ein rauschender Strom die Leere füllten, hatte Maximilian wie von selbst die Haltung und das Benehmen eines Prinzen angenommen. War er seit seiner Befreiung aus den Minen (und wohl auch schon viele Jahre vorher) mit hängenden Schultern und unsicheren Schritten dahergeschlurft, so hielt er sich jetzt aufrecht und bewegte sich bei aller Gemessenheit kraftvoll und zielstrebig.

Sein Gesicht, bis vor kurzem gezeichnet von hilfloser Qual, zeigte immer noch die Spuren überstandener Schmerzen (und das wird wohl bis ans Ende seiner Tage so bleiben, dachte Vorstus), doch jetzt wirkte es gefaßt und ruhig und strahlte trotz der aufwühlenden Erinnerungen einen eigentümlichen Frieden aus.

Joseph wußte freilich, daß der Prinz schon in jungen Jahren gelernt hatte, seine Gefühle tief in sich zu verschließen.

Er selbst konnte die Tränen nicht zurückhalten. Dieser Mann war noch der Junge, den er einst gekannt hatte, doch jetzt war er in die ererbte Rolle hineingewachsen. Wer wollte noch daran zweifeln, daß er königlichen Geblüts, daß er zum Prinzen geboren war?

Maximilian hatte die Schale geleert, stellte sie neben das Feuer und wandte sich den drei Männern und der jungen Frau aus den Sümpfen zu. »Wollt Ihr mich anhören?« fragte er, und alle nickten.

Maximilian rutschte auf seinem Hocker hin und her, bis er eine bequeme Stellung gefunden hatte. »Boroleas, der Jagdhund, den ich zu meinem vierzehnten Geburtstag bekommen hatte«, begann er, und sein Blick ging in die Ferne,

»war ein Geschenk der Falschheit.« Sein Blick wanderte zum Fenster, als wäre der Weg, der ihn in sein Unglück geführt hatte, noch immer zu sehen. »Er war darauf abgerichtet, einem Pfeifensignal zu folgen, und an einem festgesetzten Tag lockte die Pfeife ihn und mich tief in den Wald hinein zu einer Lichtung voller Verräter. Sie hatten die Tat sorgfältig geplant und wahrscheinlich mehr als ein Jahr allein damit verbracht, Boroleas zu dressieren.«

Es zuckte um seine Mundwinkel, und er schaute auf seine Hände hinab. »Sie kannten mich. Sie wußten, ich könnte der Versuchung, den Hirsch allein zu stellen, nicht widerstehen.«

Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. »Zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Männer warteten auf dieser Lichtung. Männer ohne Gesicht, ohne Namen und bis auf zwei auch ohne Stimme.«

»Habt Ihr deren Stimmen erkannt?« fragte Vorstus leise.

Maximilian blickte auf, überrascht, aber nicht verärgert.

»Nein. Der Anführer hatte einen auffallend starken Akzent, wahrscheinlich stammte er aus einem der Reiche des Ostens.«

Er zuckte noch in der Erinnerung zusammen. »Er war ein harter Mann, der eine derbe Sprache führte.«

»Ein Söldner«, rief Ravenna empört, »nur für dieses Vorhaben angeheuert!«

Maximilian sah sie kurz an. »Mag sein, schöne Frau. Mag sein.«

»Und die zweite Stimme?« fragte Vorstus.

»Gehörte einem Mann namens Furst«, erklärte Maximilian.

»Hinter… hinter einem der Bäume brannte ein Feuer – es wurde von Furst geschürt. Dorthin schleppten sie mich… und dann mußten wir warten, bis die Eisen heiß genug waren…«

»Ihr braucht nicht weiterzuerzählen, Maximilian«, sagte Joseph. Der nackte Schmerz in den Augen des Prinzen bereitete ihm Sorgen.

»Es muß aber sein, Joseph«, antwortete der Prinz. »Es muß sein.« Er holte tief Atem. »Während wir also warteten, daß die Eisen heiß würden, wurde viel gelacht, ein Krug mit Wein ging herum, und irgendwann erklärte mir der Anführer, ich wäre ein Wechselbalg.« Wieder ein tiefer Atemzug, doch diesmal klang er wie ein Schluchzen. »Er lachte und sagte, meine Mutter habe einen toten Sohn zur Welt gebracht, so klein und unfertig wie eine gehäutete Eidechse. In ihrer Verzweiflung habe sie ihre Zofe beauftragt, ganz Ruen nach einem neugeborenen Knaben von hochgewachsenen Eltern mit blauen Augen und schwarzem Haar abzusuchen.«

Maximilian hielt kurz inne, und als er fortfuhr, klang seine Stimme wie tot. »Er sagte, ich sei der Sohn eines Schmieds, für den Amboß bestimmt und nicht für den Thron. Und ich glaubte ihm.«

»Warum?« fragte Garth, tiefes Mitgefühl im Blick wie in der Stimme.

»Warum?« Maximilian schüttelte leicht den Kopf. »Wie soll ich das erklären? Ich fürchtete mich… ich war zu Tode verängstigt. Vielleicht dachte ich, sie würden mich gehen lassen, wenn ich ihnen glaubte. Es war ein schrecklicher Alptraum… hätten sie behauptet, ich sei eine Kröte in den Gewändern eines Prinzen, ich hätte ihnen auch das abgenommen. Und später, als ich einsam in der Finsternis saß, glaubte ich weiter.«

»Glaubt Ihr ihnen auch jetzt noch?« fragte Vorstus. Im Schein des Feuers war sein Gesicht so ausdruckslos wie eine Maske.

Maximilian sah ihn fest an. »Nein, Vorstus. Jetzt will ich es nicht mehr glauben. Als Garth meinen Arm heilte, beschwor Ravenna uns beide, an uns zu glauben. Auf uns selbst zu vertrauen. Und mit dem Zeichen auf meinem Arm kehrte auch der Glaube an mich selbst zurück.« Seine Stimme bebte vor innerer Kraft. »Vorstus, ich weiß, wer ich bin… und ein Wechselbalg bin ich gewiß nicht.«

Vorstus nickte. Er war zufrieden. Erleichtert.

Maximilian sah zu Boden und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Als… als die Eisen endlich heiß waren, da fanden sie wohl, sie hätten lange genug ihr Spiel mit mir getrieben.« Seine Hand kroch den Arm hinauf, die Finger strichen leicht, wie unbewußt über das Mal des Manteceros.

»Und dann… dann fing der Alptraum erst richtig an.«

Nun wurde es lange still. Endlich stand Ravenna auf und schenkte jedem ein Glas Wein ein. Bei Maximilian hielt sie kurz inne und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er sah mit einem Lächeln zu ihr auf und drückte ihr dankbar die Hand.

Sie setzte sich wieder, und Maximilian fuhr fort.

»Irgendwann hörte ich meine Peiniger lachen. Sie tranken noch mehr Wein, und zuletzt warfen sie mich in einen großen Eisenkäfig auf Rädern und ketteten mich mit Fußeisen am Boden fest.« Er verstummte, nahm aber den Faden bald wieder auf. »An die nächste Woche erinnere ich mich kaum. Die Brandwunde begann zu eitern – über dem Ellbogen kräuselte sich das Fleisch und sonderte stinkende Säfte ab. Der Schmerz…«

Garth erinnerte sich an das grauenhafte Fuhrwerk, das ihnen zwischen Ruen und Myrna entgegengekommen war, und schüttelte sich vor Entsetzen.

»Dann wurde alles schwarz. Finsternis und Schmerz, eine Ewigkeit lang, bis…« Er hob die Augen und warf Garth sein strahlendes Lächeln zu. »… bis Ihr kamt und mit Euren Worten Licht ins Dunkel meiner Welt brachtet, Garth. ›Was habt Ihr unter dem Hangenden zu suchen, Maximilian?‹ habt Ihr mich gefragt. ›Euer Platz ist doch über Tage!‹«

»Und so ist es auch!« rief Garth.

Maximilian lächelte über seinen Eifer. »Und so ist es«, wiederholte er.

Das Strahlen in seinen Augen erlosch. »Joseph. Ich werde überschwemmt von Erinnerungen, aber nur von Erinnerungen an die Geschehnisse vor meiner Gefangenschaft in den Adern.

Danach verschwimmt alles zu einer einzigen Hölle. Wie lange…? Seht mich an. Ich bin ein erwachsener Mann, doch als man mich in die Finsternis stieß, war ich ein Junge, dem noch kein Bart sprießte. Ich weiß es genau. Und Ihr? Joseph, ich kannte Euren Vater. Und Ihr seht heute fast genauso alt aus wie er. Joseph?« Maximilian beherrschte sich eisern, aber seine Stimme schwankte verdächtig. »Wie lange war ich da unten?«

Joseph stand auf und kauerte sich neben den Prinzen. »Ihr wart siebzehn Jahre verschollen, Maximilian. Siebzehn lange Jahre.«

Maximilian sah ihn verständnislos an, dann kam Bewegung in sein starres Gesicht. »Siebzehn Jahre? Ich habe siebzehn Jahre verloren?«

Joseph nickte. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Er beugte sich vor und nahm den Prinzen in seine starken Arme.

»Aber jetzt seid Ihr zurückgekehrt, Maximilian. Ihr seid wieder unter uns.«

Nun brach auch Maximilian zusammen. Er klammerte sich an Joseph, die letzte Verbindung zu dem Leben, das er verloren hatte, und weinte bitterlich.

Er hockte fünfzig Schritt entfernt und beobachtete aufmerksam die Hütte im Felsen. Die Fährte war nur schwach gewesen, aber er hatte sie doch entdeckt und war ihr nach kurzem Zögern gefolgt. Vielleicht ein oder zwei Männer von diesem geheimnisvollen Orden – sie wären nicht zum ersten Mal hier.

Aber diesmal kamen sie nicht allein. Zwei Pferde, ein Jüngling und ein Mann, schwerverletzt oder behindert, begleiteten sie.

Und eine Frau, die dahinschwebte wie ein Feenkind – ihr Schritt war so leicht, daß er der Gruppe eine volle Stunde lang gefolgt war, bis er auch ihre Spur entdeckte.

Wen wollte der Orden hier in den Schatten verbergen, obwohl es jedem Laien bei Todesstrafe verboten war, auch nur einen Fuß in diesen Wald zu setzen?

Wenn er an die Hütte dachte, mußte er lächeln. Sie war geschickt getarnt, aber nicht geschickt genug für ihn. Er hatte sie schon vor fünf Jahren gefunden. Und als er heute morgen die Fährte entdeckte, hatte er sofort gewußt, wohin sie führte.

Sein Gesicht wurde wieder ernst. Er wollte wissen, was hier gespielt wurde. Was hatte das Versteckspiel zu bedeuten? Wen hatte der Orden in diesen geheimen Unterschlupf gebracht?

Und warum war er selbst immer noch hier, anstatt Hilfe zu holen und die unbefugten Eindringlinge zu melden?

Wie von selbst wanderte seine Hand in die kleine Tasche seiner Kniehose.

»Meine Eltern?« fragte Maximilian lange später. »Euer Vater starb achtzehn Monde nach Eurem Verschwinden«, sagte Joseph sanft. »Und Eure Mutter folgte ihm drei Wochen danach.«

Maximilian nickte und legte seinen Gefühlen mit einem tiefen Atemzug die Zügel an. Es war so lange her… er hatte nicht ernsthaft geglaubt, sie könnten noch am Leben sein. »Der Thron«, sagte er plötzlich. Der Gedanke kam ihm erst jetzt.

»Wer sitzt auf dem Thron?«

Alle sahen ihn schweigend an. Maximilians Augen wurden schmal. »Wer?«

»Cavor«, antwortete Vorstus ruhig. »In meiner Eigenschaft als Abt des Persimius-Ordens habe ich ihn eigenhändig gezeichnet, und ich war auch sein Zeuge, als er seine Forderung vorbrachte.«

Maximilian saß für einen Augenblick ganz still, dann nickte er. »Natürlich. Cavor. Er war der nächste in der Thronfolge.«

Er lächelte. Die anderen sahen es mit Bestürzung. »Ich mag Cavor gut leiden. Er war immer freundlich zu mir, als ich noch ein Kind war. Ich beneidete ihn um sein siegessicheres Auftreten, und weil er so gut mit Waffen umgehen konnte.«

Das Lächeln wurde zu einem jungenhaften Grinsen.

»Manchmal dachte ich, er hätte eher das Zeug zum Prinzen als ich.«

»Er dachte das wohl auch«, murmelte Joseph. Die vier hatten in den vergangenen Tagen, wenn Maximilian am Lagerfeuer schlief, Beobachtungen und Vermutungen ausgetauscht; inzwischen waren sie alle überzeugt, daß Maximilian auf Cavors Veranlassung hin entführt und in die Adern verschleppt worden war – warum sonst hätte der König gerade Fennon Furst zum Aufseher bestellt? Warum sonst hätte man so gewaltige Anstrengungen unternommen, um einen einzelnen Sträfling wieder einzufangen?

Maximilian sah der Reihe nach in die Gesichter. »Was ist?«

fragte er leise, aber jeder Zoll ein Gebieter. »Was gibt es?«

Vorstus machte sich zum Sprecher der Gruppe. »Maximilian, wir glauben, daß Cavor es war, der Euch verschleppen und in die Glomm-Minen werfen ließ.«

»Nein!« Maximilian sprang auf und stellte sich vor das Feuer, damit die anderen sein Gesicht nicht sehen konnten.

»Nein! Das will ich nicht glauben!«

»Maximilian«, sagte Vorstus streng, »der Persimius-Orden hielt Euch viele Jahre lang für tot und trauerte um Euch. Doch dann rief man mich ans Sterbebett von« – er zögerte, entschied sich dann aber, den Namen preiszugeben – »Baron Norinum, dessen Besitzungen östlich von Harton liegen.«

Maximilian drehte sich um. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. »Ich kenne… ich kannte ihn.«

»Nun«, fuhr Vorstus fort, »Norinum verlangte, daß ihm der Abt unsers Ordens die Beichte abnehme, denn die Sünde, die ihm auf der Seele liege, betreffe uns am meisten. Maximilian, Norinum war einer der Männer ohne Gesicht und ohne Namen, die Euch an jenem Tag vor langer Zeit umzingelten.«

Maximilians Schultern sanken nach vorn. »Nein!«

»Viel verriet er uns nicht«, fuhr Vorstus erbarmungslos fort.

»Aber es war genug. Der Mann, der ihn für diese Tat angeworben – oder dazu erpreßt – hatte, sei von edler Geburt.

So edel, daß Norinum nicht einmal auf dem Sterbebett wagte, seinen Namen zu nennen. Und Ihr wißt so gut wie ich, daß Norinum und Cavor enge Freunde waren.«

»Cavor leidet seit vielen Jahren unter seinem Königsmal«, nahm Joseph den Faden auf. »Es bereitet ihm Höllenqualen.

Und als die Gefahr drohte, Garth und der Persimius-Orden könnten das Geheimnis lüften, fing es von neuem zu schwären an.« Er zuckte die Achseln. »Das kann ein Zufall sein, vielleicht aber auch nicht.«

»Und wer sonst hätte Fennon Furst zum Aufseher der Adern gemacht, Prinz?« fragte Garth und beugte sich vor. »Und warum?«

»Ich will es nicht glauben«, wehrte Maximilian störrisch ab.

»Cavor war mein Freund.«

»Wird er das immer noch sein, wenn Ihr seinen Thronsaal betretet, Maximilian Persimius?« fragte Ravenna leise. »Wird er sich über Eure Rückkehr freuen? Eure Forderung begrüßen?«

Maximilian sah sie nur vorwurfsvoll an und wandte sich wieder dem Feuer zu. »Ich will es nicht glauben«, wiederholte er.

Schweigen. »Aber Ihr werdet den Thron fordern«, sagte Vorstus endlich. Es war keine Frage.

Diesmal dauerte das Schweigen noch länger. Nur das gleichgültige Prasseln des Feuers war zu hören.

»Euer Vater ist tot«, stellte Joseph fest. Er betonte jedes Wort. »Ihr seid der rechtmäßige König von Escator.«

»Verdammt!« schrie Maximilian und fuhr herum. »Was kläfft Ihr wie die Höllenhunde und schnappt nach meinen Fersen? Ja! Ja, verdammt! Ich werde den Thron fordern. Seid Ihr jetzt zufrieden?«

»Gut«, sagte Vorstus so ruhig, als hätte Maximilian nie die Stimme erhoben. »Dann wird der Orden Eure Forderung unterstützen und alle hier Anwesenden werden Eure Zeugen sein.«

Maximilians Zorn war so schnell verflogen, wie er gekommen war. Er setzte sich wieder und lächelte verschämt.

»Vergebt mir, daß ich Euch als Höllenhunde beschimpft habe«, sagte er. »Ich verdanke Euch mein Leben und mehr als nur das.«

»Es sei Euch verziehen«, lächelte Joseph. Garth konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, aber er grinste, um seinen Worten den Stachel zu nehmen.

»Seit ich Euch gefunden habe, mußte ich mich daran gewöhnen, von Euch angebrüllt zu werden.«

Maximilians Verlegenheit wuchs. »Dann müßte mich mein Vater wegen meiner schlechten Manieren tadeln, meine Freunde. Kein König kann es sich erlauben, gerade die Menschen schlecht zu behandeln, die ihm ihre Treue und Freundschaft so deutlich bewiesen haben.«

Er warf einen Blick auf Ravenna, und sie nickte ihm ernst zu.

»Mich habt Ihr noch nie angebrüllt, Maximilian Persimius.«

»Und das werde ich auch niemals tun, Ravenna«, versprach er ebenso feierlich. Dann sah er Vorstus an.

»Aber wie kann ich den Thron fordern, Abt Vorstus, ohne« –

er drohte dem Abt mit dem ringlosen Finger seiner rechten Hand – »den Ring meiner Väter und Vorväter? Er wurde mir an jenem Schreckenstag von der Hand gezogen und fortgeworfen. Seither ist er verschwunden. Ihr wißt so gut wie ich, daß meine Forderung ohne diesen Ring jeder Grundlage entbehrt.«

Vorstus war erschüttert. Er hatte nie daran gedacht, sich nach dem fehlenden Ring zu erkundigen. Doch bevor er etwas sagen konnte, wurde der Frieden des Raumes drastisch gestört.

Jemand hämmerte heftig an die Tür, und eine laute Stimme rief:

»Öffnet die Tür, ihr Flüchtlinge! Sofort!«

Alle sprangen auf. Garth zog Ravenna an die hintere Wand und deckte sie mit seinem Körper. Joseph und Vorstus traten unschlüssig erst einen Schritt vor, dann wieder einen Schritt zurück, als übten sie einen halb vergessenen Tanz. Maximilian faßte an die Seite, und als er dort kein Schwert fand, betrachtete er verwundert die Hand, die ein so langes Gedächtnis hatte.

»Öffnet, auf der Stelle!« In der Mitte der Tür tat sich ein langer Riß auf. Wer immer da draußen stand, hatte eine Waffe und war bereit, sie zu gebrauchen.

»Ich höre nur eine Stimme«, flüsterte Vorstus aufgeregt.

»Und wir sind zu fünft. Es sollte doch…«

Die Tür brach auseinander, und ein Hüne mit breiten Schultern und kraftvollen Armen trat ein. In einer Hand schwenkte er eine Axt. Er trug die wetterfeste Kleidung eines Waldbewohners, aber aus seinen Augen strahlte – von finsterem Argwohn überschattet – wachsame Klugheit. Sein grauer Schnurrbart verriet, daß er nicht mehr jung war, dennoch bewegte er sich mit der leichtfüßigen Anmut eines geübten Schwertkämpfers.

Beide Seiten starrten sich zunächst fassungslos an, dann trat Vorstus zögernd einen Schritt nach vorn. »Waldhüter Alaine?

Ich… wir bedauern, den Frieden Eurer Wälder zu stören. Aber als Angehöriger des Persimius-Ordens bin ich sehr wohl berechtigt, mich hier aufzuhalten und…«

Der Fremde hatte den Blick nicht von Maximilian gewandt.

Nun unterbrach er den Abt: »Gegen Eure Anwesenheit habe ich nichts, Mönch; aber mich dünkt, Eure Freunde wandeln auf verbotenen Pfaden.« Sein Blick wurde noch mißtrauischer.

»Und ich frage mich, ob nicht am Ende einer von ihnen daran schuld ist, daß König Cavor über Nord-Escator eine so strenge Ausgangssperre verhängt hat. Neuerdings werden sogar die Katzen verhört, wenn sie des Nachts auf den Straßen angetroffen werden.«

»Ich bin der Mann, den Cavor sucht«, sagte Maximilian, und Joseph hörte die leise Kränkung in seiner Stimme. »Ich bin vor einigen Tagen aus den Adern ausgebrochen.«

»Ein Sträfling!« Alaine der Waldhüter spuckte aus und hob seine Axt. »Elender! Ich… ihr Götter! Was habt Ihr da an Eurem Arm?«

Er hatte schon die Axt gehoben, um Maximilian niederzustrecken, doch während er noch ausholte, begann sein Arm zu zittern, der Griff entglitt seiner Hand, und die Waffe fiel klirrend zu Boden. Joseph zögerte kurz, dann bückte er sich, hob sie auf und legte sie außer Reichweite des Waldhüters ab.

Maximilian wich dem bestürzten Blick Alaines nicht aus.

»Das ist der Manteceros, mein Freund!«

»Aber Ihr seid doch tot!« flüsterte der Waldhüter. »Ein Bär hat Euch geholt!«

»Was?« stieß Vorstus hervor.

»Schweigt still!« befahl Maximilian ruhig und hob mahnend die Hand. »Wir wollen hören, was unser Freund zu sagen hat.«

»Zwei Jahre nach Eurem Verschwinden«, der Waldhüter stockte kurz vor dem Wort Eurem, »fand ich nicht weit von hier vor einer Bärenhöhle die Reste Eurer Gebeine.«

»Und wieso dachtet Ihr, es seien meine Gebeine?« fragte Maximilian. Innerlich trauerte er um den namenlosen Jüngling, der sein Leben hatte lassen müssen, damit der Schein gewahrt bliebe.

»Deshalb, mein Prinz.« Der Waldhüter hatte sich etwas beruhigt. Nun fiel er vor Maximilian auf die Knie. »Deshalb.«

Und Alaine streckte ihm bebend den Persimius-Ring entgegen.