Garth holte tief Atem, beugte sich vor und faßte den Gefangenen an den Händen. »Wagt den Traum, Maximilian, und fordert Euren Thron. Dann mag der Manteceros entscheiden, ob Euer Anspruch berechtigt ist oder nicht.«
Maximilian wehrte sich nicht, als Garth seine schmutzverkrusteten Hände mit den eigenen umschloß. Die Tränen liefen ihm über die Wangen und hinterließen tiefe Spuren in der Glommschicht. Er zitterte an allen Gliedern.
»Ertränkt in Kristall mich«, flüsterte er, dann versagte ihm die Stimme, und er schwankte zwischen Lachen und Weinen. »O
ihr Götter! Ich könnte wahrhaftig ein Bad vertragen!«
Vorstus nahm einen Atemzug, der wie ein Schluchzen klang.
Seine Gefühle drohten ihn zu überwältigen. Nur ein Prinz und Thronerbe konnte wissen, worauf sich die Zeile bezog.
»Maximilian«, sagte er, »wir sind hier, um Euch nach Hause zu bringen.«
Dann stand er auf und blickte zum Hangenden empor.
»Ravenna!«
Sie huschte unbemerkt durch den undurchdringlichen Meeresnebel. Er war im Lauf des Vormittags ständig dichter geworden. Nun wagten sich die Menschen über Tage kaum noch auf die Straßen – oder nur mit hoch erhobenen Laternen, deren Licht von den feuchten Schwaden zurückgeworfen wurde und die Augen blendete.
Ravenna hatte die Kapuze ihres roten Wollmantels abgestreift, das schwarze Haar fiel ihr offen über die Schultern.
Sie ging barfuß.
Als sie sich anschickte, ihren Zauber zu wirken, wich die Farbe immer mehr aus ihren grauen Augen.
Lächelnd sprang sie über den Pfad auf den Förderturm über dem Hauptschacht zu und begann zu singen:
»Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein, Ein Schritt, ein Sprung, in die Hand hinein.«
Ihre Stimme klang klar und rein, und sie warf mit beiden Händen den Mantel zurück, bis er ihr wie zwei mächtige rote Vogelschwingen um die Schultern flatterte.
Die Männer an den Eisengerüsten und in den Gebäuden über dem Bergwerk bewegten sich langsamer und rieben sich die Augen. Einige gähnten, andere spähten neugierig, aber ohne Angst in den Nebel – hatte er nicht einen bläulichen Ton angenommen? Doch schließlich sanken alle in sich zusammen, verschränkten die Arme über oder unter den Köpfen, schlossen die Lider und begannen zu träumen.
»Ein Schritt, ein Sprung, ganz frank und frei, Ein Schritt, ein Sprung, fliegst du herbei.«
In seiner Schreibstube ließ Furst den Kopf auf den Tisch sinken und begann rasselnd zu schnarchen.
»Ein Schritt, ein Sprung, zum Himmel hoch, Ein Schritt, ein Sprung, du zögerst noch?«
Jetzt stand Ravenna vor dem Schacht und sah in den schwarzen Abgrund hinab.
Um sie herum wogte lautlos der Nebel, und in seinen Tiefen bewegten sich seltsame Gestalten.
Über den Adern war alles still. Immer tiefer versanken die Männer in ihren Träumen.
Lange Nebelfinger senkten sich in den Schacht hinab, Ravenna lächelte.
»Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein, Ein Schritt, ein Sprung, ins Herze mein.«
Ihre Augen waren ganz weiß geworden.
Vorstus wartete, bis die ersten Schwaden des magischen Nebels in die Höhle schwebten, dann schritt er zur Tat.
Er reichte Joseph einen Hammer und bedeutete Garth, die Hacke aufzuheben, die Maximilian in den Staub und das Geröll zu ihren Füßen hatte fallen lassen.
Dann drehte er sich kurz zu den Wärtern um. »Kettet ihn los!« befahl er. Doch Jack und die vier anderen ließen nur müde die Köpfe hängen.
Garth sah seinen Vater an. Joseph hatte die Lippen fest zusammengepreßt, sein Blick verriet Entschlossenheit. »Die Hacke!« fuhr er seinen Sohn an. Der wußte nicht gleich, wie er das Werkzeug handhaben sollte, doch dann schob er die eiserne Spitze in ein Glied der Kette, mit der Maximilians linker Knöchel an den Fuß seines Nebenmannes gefesselt war.
Maximilian fuhr noch einmal in die Höhe, die anderen Sträflinge waren ebenso wie die Wärter in tiefen Schlaf gefallen. »Nein«, murmelte er, als Joseph den Hammer hob.
Sein Herz raste. »Nein.«
Joseph schlug mit aller Kraft auf die Hacke ein. »Es muß sein, Maximilian. Wir müssen Euch hier herausholen!« Er hob den Hammer ein zweites Mal.
Wieder zuckte Maximilian, und Garth fürchtete schon, er wolle seinen Knöchel wegziehen. Er sah ihn flehentlich an.
Doch der Prinz, obwohl sichtlich bestürzt, hielt den Fuß still.
Joseph schlug noch fester zu und trieb die Spitze der Hacke weiter durch das Kettenglied. Noch einmal, und die Kette wäre gesprengt.
Garth blinzelte. Zunächst glaubte er, sein Blick hätte sich getrübt, doch dann sah er, daß die kleine Höhle, in der sie kauerten, von dichtem Meeresnebel erfüllt war.
Ravenna.
Er warf einen kurzen Blick zum Hangenden empor und lächelte. Ohne sie gäbe es für Maximilian keine Hoffnung.
Und für alle anderen ebensowenig.
Joseph führte den letzten Schlag, und die Kette fiel ab.
Maximilian wimmerte und schaute mit weit aufgerissenen Augen angstvoll zwischen Joseph und Garth hin und her.
»Bitte, laßt mich nicht allein zurück. Nicht hier in dieser Dunkelheit.«
»Wir bringen Euch nach oben, Maximilian.« Vorstus war wieder aufgetaucht. »Ist er frei? Gut. Maximilian, kommt, stützt Euch auf mich.«
»Nach oben?« murmelte Maximilian und ließ sich von Vorstus auf die Beine helfen. »Wohin nach oben?«
Garth lachte übermütig vor Erleichterung. »Über das Hangende, Maximilian.«
»Nein.« Maximilian schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war wieder müde und traurig geworden. »Nein, über dem Hangenden gibt es nichts. Nein. Laßt mich nicht allein im Dunkeln… ich bitte Euch!«
»Wir müssen uns beeilen, Junge.« Vorstus ächzte, als sich der Prinz mit dem ganzen Gewicht auf seine Schulter lehnte.
»Habt Ihr den Plan noch im Kopf?«
Garth nickte. »O ja. Wir folgen Euch mit Jack und den beiden Wärtern, die mit uns herunterfuhren, bis zu der Höhle vor dem Schacht. Dort bringt Ihr – zusammen mit Morton und Gustus –
Maximilian an die Oberfläche und in ein vorbereitetes Versteck. Mein Vater und ich bleiben hier unten.«
Joseph kniff die Augen zusammen. Wenn er erst mit Garth allein war, hatte ihm der Junge einiges zu erklären.
»Die Wirkung des Traumnebels läßt in zwei bis drei Stunden nach«, fuhr Garth fort. »Jack wird aufwachen – und mit ihm alle anderen, die davon betäubt wurden. Er wird glauben, wir wären eben erst heruntergefahren, und er wird uns auf Sohle zweihundertfünf bringen, damit wir die Gefangenen auf die Pilzseuche hin untersuchen können… Auf halbem Weg dorthin werden uns sicherlich einige von den Wärtern entgegenlaufen, die dieser Kolonne zugeteilt sind… um zu melden, daß einer von den Sträflingen geflohen ist.«
»Gut. Wir treffen uns sobald wie möglich – aber seht Euch vor! Ich möchte nicht, daß auf Euch oder Euren Vater ein Verdacht fällt. An die Wärter, die heute da waren und morgen verschwunden sind, wird sich niemand erinnern.«
»Wie lange habt ihr das alles geplant?« fragte Joseph, als sie durch den Stollen zurückgingen. Hinter ihnen schoben Gustus und Morton den Wärter Jack und seine beiden Kameraden vor sich her. Die Männer schliefen praktisch mit offenen Augen.
Vor ihnen ging Vorstus mit Maximilian, der sich schwer auf ihn stützte. Der Prinz vermißte die acht Männer, die an sein linkes Bein gefesselt gewesen waren, er war verstört und wie benommen.
»Lange genug«, antwortete Garth. »Hör zu, Vater, es tut mir leid, daß ich dir nicht früher davon erzählt habe… aber wenn Vorstus mit Maximilian hinauffährt und wir hier warten, bis die Wärter aufwachen, sollst du alles erfahren. Das verspreche ich dir.«
Joseph schüttelte den Kopf. Eigentlich war er seinem Sohn böse, aber wie Garth war er überglücklich, daß sie Maximilian gefunden hatten, und hätte am liebsten laut gejubelt. Außerdem war der Persimius-Orden mit im Spiel! Das beruhigte ihn.
Hätte Garth sich den Plan allein ausgedacht, sein Vater hätte wohl am Verstand seines Sohns gezweifelt.
Joseph beobachtete den Nebel, der durch den Stollen zog.
Das konnte nur Zauberei sein. Er betrachtete Vorstus’ Rücken mit sehr viel mehr Respekt als zuvor. Viel wußte er nicht über den Persimius-Orden – außer daß er der königlichen Familie treu ergeben war und verschiedene geheime Künste beherrschte. Wenn die Mönche allerdings über solche Fähigkeiten verfügten, mußten sie weit mächtiger sein, als er gedacht hatte.
Als sie den Schacht erreichten – der Aufzug wartete noch –, hockte der Wachposten zusammengesunken am Boden und schlief. Garth war erleichtert. Inzwischen lag sicherlich das ganze Bergwerk in tiefem Schlummer!
Sie mußten lange warten, bis die anderen nachkamen. Garth grinste in sich hinein. Die Sträflinge sollten sich ruhig einmal richtig ausschlafen. Am liebsten hätte er sie alle befreit, aber er sah ein, daß nicht jeder hier unten so unschuldig war wie Maximilian (manche allerdings schon; wie viele Männer mochten bequemerweise in den Adern ›verschwunden‹ sein?).
Außerdem kam ein Massenausbruch einfach nicht in Frage.
Nein, oberstes Ziel für alle Beteiligten mußte es sein, Maximilian so schnell wie möglich so weit wie möglich von den Glomm-Minen fortzubringen.
Endlich trafen auch Morton und Gustus ein. Die Wärter, die sie behutsam vor sich hergeschoben hatten, sanken in den Glommstaub und träumten ungestört weiter.
Vorstus wandte sich an Garth. »Ihr wißt, wo wir zu finden sind?«
Garth nickte.
»Gut.« Der Mönch legte sich Maximilians Arm fester über die Schulter. Morton öffnete die Aufzugtüren. »Kommt nach, sobald Ihr könnt.«
Er zerrte Maximilian in den Aufzug. Der Prinz wehrte sich nicht. Morton und Gustus stiegen hinter den beiden ein. Die Aufzugtür schlug zu, dann rasselten die Ketten, die Räder schwirrten, und der Korb raste in wilder Fahrt der Welt über dem Hangenden entgegen.
Als letztes hörte Garth Maximilians erschrockenen Aufschrei.
Während er noch in den schwarzen Schacht hinaufstarrte, spürte er die Hand seines Vaters auf der Schulter.
»Garth. Ich nehme an, du hast mir einiges zu erklären.«
Ravenna ging auf und ab, auf und ab, und nagte unruhig an ihrer Unterlippe. Den Mantel hielt sie am Hals so fest zusammen, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Der Aufzug kam mit lautem Getöse nach oben gerast.
Sie war fast krank vor Sorge. War alles gutgegangen?
Vorstus berührte kurz ihr Bewußtsein und versicherte ihr, alles sei in bester Ordnung, aber es konnte noch immer so vieles fehlschlagen.
Wie mochte es Maximilian ergehen? Würde man ihn wieder einfangen? Würde es ihnen gelingen, diesem verfluchten Ort mit heiler Haut zu entkommen?
»Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein«, murmelte sie. Ihre Augen bekamen allmählich ihren natürlichen Grauton zurück.
Der Aufzug ratterte weiter dem Förderturm entgegen.
Morton öffnete die Tür, bevor er noch richtig zum Stehen gekommen war, und half Vorstus, mit Maximilian auszusteigen. Ravenna trat vor. Sie zitterte vor Rührung. Eine Hand hielt sie sich vor den Mund, die andere streckte sie Maximilian entgegen.
»Ist er…?«
»Er wird sich erholen, Ravenna«, sagte Vorstus, doch bevor er weitersprechen konnte, hob Maximilian den Kopf.
Er war wie vom Donner gerührt. Sein Körper wurde stocksteif vor Entsetzen, die Augen quollen ihm aus den Höhlen.
Was war das für eine Hölle, in die man ihn da schleppte?
Der Nebel hatte sich nahezu aufgelöst. Diese Weite, die Luft, die ihm über Gesicht und Körper strich… Maximilian konnte es nicht fassen; er hatte nicht nur vergessen, wie sich das anfühlte, sondern erst recht, daß man es Wind nannte.
Verzweifelt sah er sich um. In diesem Augenblick lichteten sich die Wolken, und der Himmel lag offen vor ihm.
Diese Unendlichkeit… es war zuviel – wo war das Hangende, das ihm Sicherheit bot?
»Neiiiin!« schrie er und wollte sich aus Vorstus’ Griff befreien.
»Morton! Gustus! Helft mir!« Der Mönch umschlang Maximilian mit beiden Armen und hielt ihn mit aller Kraft fest.
Erst zu dritt gelang es ihnen, den Tobenden zu bändigen.
Ravenna sah hilflos zu und mußte weinen. Zu schrecklich waren die Qualen des Prinzen.
»Kommt«, sagte Vorstus, als Maximilian sich endlich beruhigt hatte. »Ich hätte nicht erwartet, daß der Schock so heftig wäre. Wir müssen uns beeilen. Ravenna, ist der Weg frei?«
Sie holte tief Atem und nickte, dann drehte sie sich um und entfernte sich vom Förderturm. Die anderen folgten ihr so rasch und leise, wie sie nur konnten. Die Frist lief ab, und sie wußten nicht, wieviel Zeit sie schon vergeudet hatten. Wann würde es ringsum wieder lebendig werden? Dunst und Wolken hatten sich inzwischen verzogen, auch wenn die Wirkung des magischen Nebels sicher noch eine Weile vorhalten würde.
Die Sonne schien hell vom klaren Himmel. Wenn die Minen aus ihrem Zauberschlaf erwachten, solange sie alle noch im Freien waren, würde man sie binnen weniger Minuten fassen.
Ravenna nahm einen Weg, der längst stillgelegt war. Die Mönche des Persimius-Ordens bewachten die Adern seit fast zwei Jahren und hatten außerhalb der Bergwerksanlage mehrere Verstecke eingerichtet. Zu einem davon, dem geheimsten von allen, führte Ravenna die Flüchtlinge.
Immer wieder schaute sie ängstlich über die Schulter. War da ein leises Geräusch in der Ferne zu hören? Waren das Stimmen? Ratterte der Aufzug durch den Schacht? Folgten ihnen Schritte? Sie sah Vorstus fragend an.
»Nur Mut, Mädchen!« stieß der Mönch hervor, und sie wandte den Blick wieder nach vorn.
Als sie ein Hügelchen erreichten, atmete Ravenna erleichtert auf. Sie hatten das Bergwerksgelände verlassen, doch auch hier war der Boden mit einer dünnen Schicht Glommstaub bedeckt, und Ravenna und alle, die ihr folgten, traten vorsichtig auf, um keine Spuren zu hinterlassen. Morton ging den anderen her und verwischte mit einem leeren Sack auch die leiseste Andeutung eines Fußabdrucks.
»Hier ist es«, murmelte Ravenna und kauerte neben einem großen Felsen nieder, der aus dem Hang hervorragte. Ohne Zögern klopfte sie erst einmal, dann viermal an den Stein, dann hielt sie kurz inne und klopfte noch zweimal.
Der Felsen rollte beiseite, und aus der Öffnung dahinter spähte ein besorgtes Gesicht heraus.
»Den Göttern sei Dank, da seid Ihr ja!« rief der Mönch, der schon auf sie gewartet hatte. Und alle flüchteten sich wieder in den Schoß der Erde. Der Felsen schob sich lautlos vor die Öffnung und verbarg ihre Geheimnisse.
Es war höchste Zeit gewesen. Als sich der Felsen schloß, begannen überall in den Adern die Lider der Schlafenden zu zucken. Jack regte sich murmelnd und erwachte. Garth und Joseph standen schweigend vor ihm und warteten.
»Was gibt es?« brummte Jack und kam langsam auf die Beine. Auch die beiden anderen Wärter und der Posten rappelten sich gähnend auf.
»Ihr wolltet uns auf Sohle zweihundertfünf führen«, sagte Joseph freundlich. In den zwei Stunden, seit die drei Mönche mit Maximilian in den Aufzug gestiegen waren, hatte er Garth einem strengen Verhör unterzogen, und dabei war die ganze erstaunliche Geschichte ans Licht gekommen. Joseph war stolz auf seinen Sohn, auch wenn er Garth nicht ganz verzeihen konnte, daß der ihn nicht früher ins Vertrauen gezogen hatte.
Aber er hatte Zweifel, ob jemand von den Beteiligten die Früchte dieses Abenteuers würde ernten können. Wer immer Maximilian hier unten eingekerkert hatte, wäre nicht erfreut, wenn er erfuhr, daß der Prinz entkommen war.
»Sohle zweihundertfünf?« Jack runzelte die Stirn, dann hellte sich seine Miene auf. »Ach ja, natürlich. Die Pilzseuche. Dann kommt mit!«
Und er betrat ohne ein weiteres Wort den Stollen.
Joseph und Garth eilten ihm nach, ohne sich anmerken zu lassen, daß sie diesen Weg heute schon zum zweiten Mal gingen. Die beiden anderen Wärter rieben sich den Schlaf aus den Augen und folgten ihnen verwirrt.
Keiner dachte mehr daran, daß drei Fremde mit ihnen im Aufzug gefahren waren.
Auf halbem Weg zu Sohle zweihundertfünf kam ihnen einer der Bewacher der Sträflingskolonne in heller Aufregung entgegengelaufen.
»Ein Sträfling ist ausgebrochen!« keuchte er, und Jack drehte sich um und rief mit lauter Stimme durch den Stollen.
»Schlagt Alarm!«
In seiner Schreibstube schreckte Furst mitten im Schnarchen schuldbewußt hoch und sah sich wie gehetzt nach allen Seiten um.
Maximilian wurde ruhiger, sobald sie wieder unter der Erde waren. Doch als der Mönch sie in eine hellerleuchtete Grotte führte, kniff er die Augen zu und drehte den Kopf zur Seite.
Man hatte den Hügel innen ausgehöhlt und mit den dabei anfallenden Steinen die Wände verkleidet. So war ein großer, luftiger Raum entstanden. Schmale Belüftungsschächte führten ins Freie – die Öffnungen waren hinter Sträuchern gut versteckt – und an den Wänden brannten acht oder neun Lampen. Es gab nur wenige, aber sehr bequeme Möbel, und einige bunte Kissen und Teppiche sorgten für Behaglichkeit.
Ravenna und Vorstus legten Maximilian auf ein Bett und deckten ihn zu. Er drehte sich wortlos zur Wand und schloß die Augen.
»Ich hole Wasser«, sagte Ravenna leise. »Wir wollen doch wissen, wie der Prinz unter der Schmutzschicht wirklich aussieht.«
Dann legte sie den Kopf zurück und lachte. Es kam so unerwartet, daß Maximilian sich wieder umdrehte und sie anstarrte.
Sie senkte den Blick. »Und wenn wir Euch vom Schmutz befreit haben, Prinz Maximilian, könnt Ihr Euch frei bewegen, denn wer sollte dann noch den entflohenen Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig erkennen?«
Ihr Lächeln erlosch, und sie berührte ihn mit zarter Hand.
»Der Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig wird mit dem Schmutz verschwinden, Maximilian. Glaubt mir.«
Männer rannten vom Gebäude zum Förderturm und wieder zurück. Wärter sammelten sich und liefen zum Aufzug. Im Verladehafen durften keine Schiffe auslaufen und keine neuen Schiffe anlegen. In den Adern kettete man die Sträflinge kolonnenweise an die Wände, um sie hastig zu zählen.
Furst verließ seine Schreibstube, stürmte zum Eingang des Schachts und schnappte sich den ersten Wärter, der den Aufzug verließ. »Wer ist es?«
»Sohle zweihundertfünf«, keuchte der Wärter, und Furst erbleichte. »Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig.«
»Findet ihn!« tobte Furst. Überall auf dem Gelände schrillten die Alarmglocken. »Findet ihn!«
Er gab den Wärter frei und wandte sich nach Süden, als wolle er geradewegs ins Herz von Ruen schauen.
Cavor lag in seinem Palast mit den roten Mauern in seinem Bett und zerwühlte die seidenen Laken. Er hatte sich nach der Mittagsmahlzeit hingelegt, um sich vor den Schmerzen seiner eiternden Armwunde in den Schlaf zu flüchten. Doch dann suchten ihn Träume heim, die schlimmer waren als die Qualen, die ihm das verfluchte Königsmal bereitete.
Eine Weile warf er sich murmelnd hin und her. Dann schrie er »Nein!« und krallte die Finger in die Seide, bis sie zerriß.
»Nein!«
Dunkelheit umfing ihm, anheimelnd und vertraut, doch er wurde von grausamen Händen gepackt und in einen Eisenkäfig geschoben, der ihn himmelwärts trug. Aus den Wolken schaute eine Hexe zähnefletschend auf ihn herab, und die Sonne stach ihm in die Augen.
»Nein!«
Die Peiniger packten sein Bein. Ihre Hände glitten immer tiefer hinab. Cavor konnte nichts tun, um sich ihrem Griff zu entwinden. Der eine hatte eine Hacke in den Händen, der andere einen Hammer. Er hörte lautes Gelächter, dann hoben sie die Werkzeuge und ließen sie krachend auf seinen Knöchel niedersausen.
»Neiiiin!« schrie Cavor in seinem Schlafgemach und kämpfte sich endlich aus dem Traum frei.
Schweratmend setzte er sich auf und starrte auf sein Bein nieder.
Um den Knöchel zog sich ein nässender roter Streifen, als hätte man ihn mit einem heißen Eisen verbrannt.
Und das Mal auf seinem Arm brannte plötzlich wie Feuer.
Wieder schrie Cavor, diesmal so laut, daß seine Diener herbeieilten.