Auf dem Geviert
Der große Platz von Ruen war achteckig, wurde aber von jeher nur ›das Geviert‹ genannt. Vom königlichen Palast und seinen Gebäuden nur durch eine breite Allee getrennt, diente er verschiedenen Zwecken: Er war Markt (selbst die zweimal wöchentlich stattfindenden Markttage mit ihren vielen Besuchern und Händlern vermochten die riesige Fläche nicht zu füllen), Vergnügungsgelände, Exerzierplatz, Begegnungsstätte oder, wie heute, auch Richtstätte.
Ob es an den Gerüchten lag, die der Waldhüter Alaine –
vielleicht mit Unterstützung des Persimius-Ordens – so eifrig verbreitet hatte, oder an dem an sich schon ungewöhnlichen Fall – schließlich ging es nicht nur um Hochverrat (was seit mehr als einer Generation nicht mehr vorgekommen war), sondern auch um den Heiler Baxtor und dessen Sohn –
jedenfalls war das riesige Geviert heute bis auf den letzten Platz gefüllt.
Trotz der vielen Menschen war es ungewöhnlich still. Garth kannten nur wenige, aber Joseph war – wie vor ihm sein Vater und sein Großvater – beim einfachen Volk von Ruen beliebt und deshalb unvergessen geblieben. Alle Baxtors verfügten in hohem Maß über die Gabe der ›heilenden Hände‹, ohne sich deshalb ihre Dienste mit Wucherpreisen bezahlen zu lassen.
Wenn sie wußten, daß sich der Patient oder seine Familie in Geldnöten befanden, verzichteten sie sogar oft genug mit einem Lächeln auf jegliches Entgelt.
Und Joseph hatte dem alten König und seinem Sohn Maximilian sehr nahe gestanden. Wie oft waren Joseph Baxtor und der junge Prinz Seite an Seite fröhlich lachend über diesen Platz geschritten und hatten jeden, der bei ihnen stehenblieb, freundlich begrüßt!
Maximilian. Die Menge wartete gespannt. In den letzten Tagen hatten sonderbare Gerüchte die Stadt in Unruhe versetzt. Niemand wußte, woher sie kamen und inwieweit sie der Wahrheit entsprachen.
Maximilian. Mit vierzehn Jahren entführt. Zur Sklavenarbeit in die Adern verbannt. Dank seiner unerschütterlichen Willenskraft mit Hilfe mächtiger Zauberer befreit.
Würde er zurückkommen und Anspruch auf Escators Thron erheben? Wann? Und was würde dann aus Cavor? Da und dort wurde gemunkelt, Cavor selbst hätte die Verschleppung des jungen Prinzen geplant. Doch darüber wurde nur im Flüsterton im engsten Familienkreis gesprochen.
Der Prozeß gegen die Baxtors (wenn man dieses Scheinverfahren überhaupt so nennen konnte) bestätigte nach Meinung vieler Cavors Schuld – insbesondere dann, als neue Gerüchte auftauchten, wonach Garth Baxtor bei Maximilians Befreiung eine Schlüsselrolle gespielt hätte.
Maximilian. Wo war er? Gab es ihn tatsächlich? Oder waren die Gerüchte nur ein grausamer Scherz, ein Mittel, wie Cavor behauptete, um Unruhen zu schüren und einen Bürgerkrieg zu entfachen?
Niemand wußte Genaueres.
Aber irgendwo mußte es doch jemanden geben, der alle Fragen beantworten konnte.
Die Menschen reckten die Köpfe und scharrten ungeduldig mit den Füßen. Ballten die Fäuste und öffneten sie wieder. Ein Tuscheln und Raunen lief durch die Menge.
Egalion unterdrückte seine Bedenken, so gut es möglich war (nur er allein wußte, wie viele Stunden er in den letzten Nächten deshalb wachgelegen hatte), und marschierte an der Spitze des bis an die Zähne gepanzerten
Hinrichtungskommandos auf den Platz zu. Inmitten der Soldaten, auf jeder Seite von mindestens acht Gardisten bewacht, befanden sich Garth und Joseph.
Inzwischen hatte sogar Garth etwas von seiner unerschütterlichen Zuversicht eingebüßt. Er hatte fest damit gerechnet, daß Maximilian im Gerichtssaal vortreten und Cavor den Fehdehandschuh hinwerfen werde. Aber nichts war geschehen. Gewiß, ein oder zwei Stimmen hatten den Namen des Prinzen gerufen, aber er selbst hatte sich nicht blicken lassen.
Und die peinlichen Fragen aus dem hinteren Teil des Saals hatten Cavor nicht davon abgehalten, ihn, Garth Baxtor, und seinen Vater zum Tod auf dem Geviert zu verurteilen.
Garth stolperte, und Joseph faßte ihn am Ellbogen und sah ihn besorgt an. Auch aus seinen dunklen Augen sprach wachsendes Entsetzen.
»Es ist schon gut, Vater«, murmelte Garth. Eigentlich hätten ihn die Gardisten dafür bestrafen müssen, aber sie hielten die Gesichter abgewandt und ließen ihre Waffen, wo sie waren.
Vermutlich waren die beiden Baxtors in ihren Augen ohnehin schon so gut wie tot, da kam es auf ein paar Worte zum Abschied auch nicht mehr an.
Josephs Griff wurde fester. »Noch besteht Hoffnung, Garth.
Gib nicht auf.«
Garth wollte lächeln, seinem Vater zuliebe, aber es gelang ihm nicht.
Und die Gardisten trieben sie unbarmherzig weiter.
Die Menge wurde unruhig, als das Hinrichtungskommando das Tor zum Palast durchschritt und auf das Geviert zumarschierte.
Soldaten hatten den Weg freigehalten, und die Truppe strebte mit forschem Schritt der Richtstätte zu – einer Plattform auf zwei mannshohen Stützen –, die man in aller Eile an einer Seite des Platzes errichtet hatte. Das Gerüst überragte die Menge, zudem hatte man davor eine große Fläche freigehalten, so daß jedermann das Geschehen gut verfolgen konnte.
Hinter dem Kommando ritt Cavor persönlich auf einem prächtigen Schimmel. Er trug immer noch das blaue Richtergewand, aber jetzt hatte er es nach hinten zurückgeschlagen, um den Brustharnisch und das Schwert an der Hüfte besser zur Geltung zu bringen. Dazu hatte er die Krone von Escator aufgesetzt. Sein Gesicht war hart und unerbittlich und verriet keine Spur von Zweifel oder Schuldbewußtsein; wer ihn sah, mußte sich fragen, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprachen – einem König, der so selbstbewußt und feierlich auftrat, konnte man schwerlich zutrauen, finstere Ränke geschmiedet und Prinz Maximilian um seinen Thron betrogen zu haben.
Die Nachhut bildeten weitere Soldaten, die mit ihren schweren Stiefeln einen gnadenlosen Trauermarsch trommelten.
Das Hinrichtungskommando hatte die Richtstätte erreicht, und Egalion befahl einigen Gardisten, die Baxtors hinaufzuführen. Die anderen umstellten in zwei Reihen das Gerüst, um jeden törichten Rettungsversuch abzuwehren. Doch trotz dieser Übermacht ließ Egalion immer wieder neugierig und besorgt zugleich den Blick über die Menge schweifen.
Noch wollte er sich selbst nicht eingestehen, wonach er suchte.
Cavor wartete, bis Joseph und Garth, denen man jetzt die Hände hinter den Rücken gefesselt hatte, hinter den beiden –
nach jahrelangem Gebrauch von Axthieben und dunklen Flecken gezeichneten – Richtblöcken standen, dann gab er seinem Pferd die Sporen und ritt an. Die Menge stob auseinander.
»Meine geliebten Untertanen!« rief Cavor und stellte sich in die Steigbügel. »Ihr habt Euch hier versammelt, um mit anzusehen, wie zwei der abscheulichsten Verbrecher, die dieses Reich jemals hervorgebracht hat, für ihre Taten mit dem Tode büßen!« Er wiederholte die Anschuldigungen, die er schon im Gerichtssaal vorgetragen hatte (er hatte sie im Geist so oft wiederholt, daß er jetzt beinahe selbst daran glaubte), und beobachtete mit Genugtuung, wie die Menge dies aufnahm. Als vorhin im Saal Maximilians Name gerufen wurde, war er für einen Moment wankend geworden. Waren ein Schauprozeß und eine öffentliche Hinrichtung wirklich ratsam? Doch jetzt war er zufrieden. All jene, die zersetzende Gerüchte über Maximilian gehört hatten, würden gleich sehen, was sie erwartete, wenn sie ihnen Glauben schenkten.
Mit Garth und Joseph Baxtors Hinrichtung würden nicht nur zwei Verbrecher zum Schweigen gebracht, sondern wahrscheinlich auch ein Volksaufstand im Keim erstickt, bevor er sich zum Flächenbrand auswachsen konnte.
Und wenn ich Maximilian finde, dachte Cavor kalt, wenn ich ihn finde, werde ich dafür sorgen, daß solche Gerüchte nie wieder entstehen. Ich werde nachholen, was ich vor siebzehn Jahren versäumt habe. Niemand soll je wieder mein Recht auf diesen Thron in Trage stellen. Das Königsmal soll ihn nicht schützen. Er muß sterben!
»Henker!« rief er und wendete sein Pferd, bis er den Richtblock vor Augen hatte. »Seid Ihr bereit?«
Ein schwarzgekleideter Mann mit einer Maske vor dem Gesicht trat an den Rand der Plattform. »Sire, ich bin bereit.«
Zwei Gardisten packten Garth und Joseph und zwangen sie, sich vor die Blöcke zu knien. Garth sah seinen Vater ein letztes Mal lange an, dann richtete er den Blick nach innen und beschwor den Frieden, den er brauchte, um dem Tod in Würde zu begegnen.
Ein kaltes Lächeln spielte über Cavors Gesicht. Er hob die behandschuhte Hand hoch in die Luft. »Dann…«
»Ich lege Widerspruch ein gegen Euren Befehl und Euer Urteil, Cavor«, ließ sich einige Schritte entfernt aus der Menge eine klare Stimme vernehmen. »Und ich spreche Euch grundsätzlich das Recht ab, diese Gewänder und diese Krone zu tragen.«
Die Menge teilte sich, und ein Mann in der derben Kleidung eines Waldhüters trat vor.
Cavor hielt immer noch die Hand erhoben. Sein Pferd tänzelte unruhig unter ihm. Der König starrte ungläubig in das Gesicht von Maximilian Persimius.
Als die Soldaten Garth und Joseph umzingelten, hatte sich Ravenna mit einem stummen Gebet bei Drava für die Störung entschuldigt und sich dann mit Maximilian und Vorstus in das Reich der Träume versetzt. Ihre Angst war so groß, daß sie ihr ungeahnte Kräfte verlieh.
Maximilian sah empört, wie sich die Nebel um ihn schlossen.
»Was habt Ihr getan? Sie brauchen doch meine Hilfe!«
Ravenna war so erschöpft, daß sie Vorstus die Antwort überließ. »Und was wollt Ihr gegen sechzig Männer ausrichten, Prinz? Ihr habt nicht einmal das Zeremonialschwert bei Euch.«
Maximilian war so wütend, daß er auch auf ihn losging.
»Ich…«
Vorstus ließ ihn nicht ausreden. »Sie würden auch Euch festnehmen, Maximilian, und diesmal würde Euch Cavor in ein finsteres Loch sperren, aus dem keine Flucht mehr möglich wäre. Wir können nur hoffen, daß Egalion die beiden Baxtors in Ruhe läßt, bis sie Ruen erreichen. Denn dort… nun, dort könnte unser Plan gelingen.«
Maximilian war tief bestürzt über die Gefangennahme seiner beiden Freunde, aber er sah ein, daß Vorstus recht hatte. So folgte er Ravenna ohne Widerspruch über die Pfade des Traumreichs. Vorstus zeigte ihnen den Weg zu einem geheimen unterirdischen Raum im Haupthaus des Persimius-Ordens in Ruen. Dort entstiegen sie den Nebeln am gleichen Tag, an dem Garth und Baxtor von Egalion an Cavor übergeben wurden.
Im Haus des Ordens schmiedeten sie mit allen in Ruen anwesenden Mitgliedern sowie mit Alaine und etlichen seiner engsten und zuverlässigsten Vertrauten bis tief in die Nacht vor Garths und Josephs Prozeß hinein ihre Pläne.
Irgendwann hob Maximilian den Kopf und sah alle im Raum Versammelten fest an. »Ich bin bereit«, sagte er ruhig.
»Aber…«
Maximilian richtete seine tiefblauen Augen auf den Abt.
»Der Plan wird niemals so vollkommen sein, wie Ihr ihn gern hättet, Vorstus, aber eine Gelegenheit wie das morgige Spektakel kommt nicht wieder. Wenn ich es morgen nicht schaffe, dann schaffe ich es nie und nimmer.«
Cavor war bleich geworden und ließ die Hand langsam sinken.
Sein Herz schlug so hart, daß es schmerzte, doch irgendwie half ihm der Anblick des Mannes, der alles einzureißen drohte, was er in den vergangenen siebzehn Jahren aufgebaut hatte, sich zu beruhigen und seine Gedanken zu sammeln.
Sein Erzfeind war hier, er brauchte ihm nur die Stirn zu bieten.
»Nehmt ihn fest!« befahl er dem Gardehauptmann.
Maximilian drehte den Kopf und sah Egalion fest an.
Der wußte plötzlich genau, was er zu tun hatte. Sein Blick huschte zu Cavor und wieder zurück zu Maximilian.
»Vielleicht solltet Ihr Euer Anliegen vortragen«, sagte er dann zu dem Prinzen. Cavor zuckte empört zusammen. Das war Insubordination!
»Ich hatte befohlen…«, begann er wütend. Seine Stimme klang heiser vor Zorn. Aber Maximilian unterbrach ihn.
»Mein Anliegen?« Er hob den Kopf. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, alle lauschten ihm. Das ganze Geviert schien den Atem anzuhalten. Er sah Cavor fest in die Augen. »Ich bin Maximilian Persimius, Prinz von Escator… und der rechtmäßige König.«
Seine Stimme klang klar und sicher. Ein erschrockenes Aufatmen ging über den Platz.
»Mein Anliegen?« wiederholte Maximilian und zog spöttisch eine Augenbraue in die Höhe. Zwei vermummte Gestalten lösten sich leise aus der Menge und stellten sich hinter ihn.
»Ich will Euch den Thron streitig machen, Cavor. Ich beschuldige Euch, mich entführt und widerrechtlich gefangen gehalten zu haben. Ich werfe Euch vor, den Thron unter falschen Voraussetzungen gefordert und bestiegen zu haben.«
Er hielt inne. »Werdet Ihr abdanken, Cavor? Werdet Ihr aufgeben, was Ihr Euch mit betrügerischen Mitteln erschlichen habt?«
Garth, der Maximilian und Cavor vom Richtblock aus genau beobachten konnte, mußte den König unwillkürlich bewundern.
Cavor lehnte sich im Sattel zurück und lachte laut und herzlich. Es klang vollkommen echt. »Ich soll also zugunsten eines Möchtegernprinzen abdanken? Eure Entschlossenheit verdient Anerkennung, aber Euer Sinn für Gerechtigkeit und Wahrheit ist bedauerlich schwach entwickelt.« Wieder stellte er sich in die Steigbügel und wandte sich der Menge zu. Garth spürte, daß die Spannung kurz vor dem Siedepunkt stand, der nächste Aufschrei konnte in der Menge einen Aufruhr entfesseln, der nicht mehr zu bändigen wäre.
Gegen wen er sich richten würde, konnte er allerdings nicht erkennen.
»Hört mich an!« rief Cavor mit ebenso klarer, sicherer Stimme wie vorher der Prinz. »Hier steht ein Mann, der von sich behauptet, Maximilian Persimius zu sein, der Sohn des verstorbenen Königs und seiner Gemahlin.
Seht, er hat sogar das schwarze Haar, die blauen Augen eines Persimius. Aber, geliebte Untertanen« – jetzt klang Cavors Stimme unsagbar traurig –, »die Wahrheit sieht leider anders aus. Die tote Königin, die Götter mögen ihr gnädig sein, war eine schwache Frau. Sie konnte keinen Erben gebären. Die einzige Leibesfrucht, die jemals ihrem Schoß entglitt, war bereits tot. In heller Verzweiflung – was sonst hätte sie zu solch einer Tat bewegen können? – tauschte sie das tote Kind gegen den neugeborenen Sohn eines Schmieds, der trotz seiner niedrigen Herkunft die edlen Züge und die richtige Haar-und Augenfarbe hatte, um selbst die schärfsten Beobachter zu täuschen. Dann…«
»Ich bin von ehelicher Geburt und von reinem Geblüt, Cavor«, rief Maximilian, »und diese guten Leute brauchen sich Eure Lügen nicht noch länger anzuhören! Laßt die Götter entscheiden! Was ist, nehmt Ihr meine Forderung an?«
Garth sah, daß Cavors Worte viele in der Menge beeindruckt hatten, aber Maximilian in seiner Waldhütertracht stand stolz und aufrecht da. Kein Zweifel spiegelte sich in seinem Gesicht
– und wer wollte diesen Zügen ihre edle Herkunft absprechen?
Cavor löste den Blick von der Menge. »Ein Zweikampf auf Leben und Tod, Thronräuber? Ist das Euer Begehr?«
Maximilian lächelte kalt. »Ich fürchte Euch nicht, Cavor.«
»Eines solltet Ihr wissen, Cavor.« Einer der Vermummten hinter Maximilian schlug seinen Mantel zurück. »Der Persimius-Orden steht in dieser Sache auf seiten Maximilians.«
Cavor war so verblüfft, daß er fauchte wie eine Katze. Vor ihm stand Vorstus, angetan als Abt des Persimius-Ordens.
Dann höhnte der König: »Was hat Euch der Thronräuber geboten, Vorstus, daß Ihr die Wahrheit so bereitwillig verratet?
Ihr habt einst meine Forderung unterstützt, Ihr habt meinen Arm gezeichnet. Warum stellt Ihr Euch jetzt gegen mich?«
»Weil Maximilian Persimius lebendig begraben war und wiederauferstanden ist, Cavor, und weil ich im Gegensatz zu den guten Leuten hier auf dem Geviert sehr genau weiß, wer für sein grausames Schicksal verantwortlich ist!«
Cavor starrte Vorstus drohend an, dann heftete sich sein Blick auf Maximilian. »Kommt und stellt Euch, Thronräuber«, sagte er sehr leise, aber so deutlich, daß ihn in der unnatürlichen Stille auf dem großen Platz fast jeder verstehen konnte. »Ich sehe schon: Nur ein Zweikampf auf Leben und Tod vermag diese Lügen für immer zum Verstummen zu bringen.«
»Ach«, ließ sich über der Menge eine unbeschreiblich traurige Stimme vernehmen, »da wäre ich mir nicht so sicher.«
Zum ersten Mal zuckte die nackte Angst über Cavors Gesicht. Doch er beherrschte sich sofort. Er hatte gewußt, daß Maximilian im Pavillon den Thron gefordert hatte, hatte durch sein Königsmal gespürt, wie der Prinz die Umrisse des Manteceros nachzeichnete. Was jetzt geschah, war eigentlich zu erwarten gewesen. Dennoch erschreckte ihn das Erscheinen des Manteceros mehr als alles, was ihm vorausgegangen war.
Nun mußte die Prüfung entscheiden, und plötzlich fürchtete Cavor sich sehr. Für einen Moment glaubte er ein gespenstisches Echo der Schreie über den Platz hallen zu hören, die einst aus der Kehle des vierzehnjährigen Maximilian durch die Waldlichtung gegellt hatten.
Der Manteceros war genau in der Mitte der Menschenmenge aufgetaucht, ohne jemanden zu verdrängen. Wie das zugegangen war, wußte niemand zu sagen.
Die Menschen wurden unruhig und begannen zu tuscheln.
Doch die Überraschung war nicht allzu groß. Dies war ein Tag, der alle Glaubenssätze und Treuebindungen auf den Kopf stellte, und der Auftritt des sagenhaften Manteceros verstärkte nur noch den Eindruck von Unwirklichkeit und Zauberei. Die Menge teilte sich, und das plumpe blaue Wesen trat vor.
Cavor blieb im Sattel, aber er verneigte sich tief. »Sei mir willkommen, Manteceros, auch wenn mich dein Erscheinen überrascht. Hat der Thronräuber auch dich getäuscht?«
Der Manteceros hielt vor ihm an. Aus seinen traurigen Zügen sprach Entschlossenheit. »Er hat seine Forderung gestellt, Cavor, und das muß ich respektieren. Nun ficht er dein Recht auf den Thron an. Auch das muß ich respektieren. Ich hätte es vielleicht vorgezogen, er hätte beides nicht getan, aber sein Anspruch könnte berechtigt sein, und so werde ich mich vor der Prüfung weder so noch so äußern.«
»Und diese Prüfung«, fragte Cavor erwartungsvoll, »wie wird sie aussehen? Wirst du nur den Sieger des Zweikampfes prüfen oder uns beide?«
Der Manteceros seufzte. »Nein, nein, Cavor. Ich denke, ihr habt beide nicht verstanden, worum es bei dieser Forderung geht. Maximilian brauchte dir lediglich seinen Anspruch vorzutragen. Das genügte, um mich zu zwingen, hier zu erscheinen und die Prüfung durchzuführen – die an sich keine Gefahr für Leib und Leben darstellt. Ihr braucht nicht mit klirrenden Schwertern aufeinander loszugehen, und es braucht kein Blut zu fließen.«
Cavor kräuselte verächtlich die Lippen – das klang ja ziemlich harmlos – und sah Maximilian an. »Ich sehe, Ihr habt den Manteceros mit Euren jämmerlichen Ängsten angesteckt, Thronräuber. Wenn es Euch für einen Kampf – einen Zweikampf Mann gegen Mann – an Mut gebricht, so sagt es jetzt. Die hier Versammelten werden schon wissen, was sie davon zu halten haben.«
Maximilian warf einen raschen Blick auf die Gesichter der Umstehenden. Wenn er jetzt klein beigäbe, könnte er niemals die Achtung dieser Menschen erringen, auch wenn er die mysteriöse Prüfung des Manteceros bestünde. Er würde immer der Mann bleiben, der zu feige gewesen war, es mit Cavor aufzunehmen. Der es nicht gewagt hatte, das Schwert entscheiden zu lassen.
»Ich hatte immer die Absicht, mein Recht nicht nur mit Worten zu fordern, sondern auch mit dem Schwert, Cavor. Ein Zweikampf auf Leben und Tod, so soll es sein.«
»Ach!« rief der Manteceros verärgert. Warum mußten die beiden so störrisch darauf beharren, mit Schwertern zu kämpfen anstatt mit Worten? »Da wäre ich mir wirklich nicht…«
Maximilian wandte sich an den Manteceros. »Begreifst du denn nicht, daß ich so handeln muß?« fragte er leise. »Ich habe meine Forderung vorgetragen. Jetzt kann ich nicht mehr zurück.«
Der Manteceros sah ihn fest an und fügte sich mit einem kurzen Nicken in das Unvermeidliche. »Ich kann es nicht billigen, aber ich kann es verstehen.« Seine blauen Augen streiften erst Cavor, dann Maximilian. »Aber den beiden Bewerbern sollte klar sein, daß ich mir die Prüfung ebensowenig werde ausreden lassen wie sie sich ihren Zweikampf. Habt ihr das verstanden?«
Beide Männer beantworteten die scharfe Frage mit einem knappen Nicken.
Nun ging die zweite vermummte Gestalt, die hinter Maximilian gestanden hatte, auf den Manteceros zu und streichelte ihm liebevoll den Hals, bis er sich entspannte.
Cavor beobachtete sie neugierig.
Doch allzu viel Zeit, sich mit ihr zu beschäftigen, blieb ihm nicht. »Ihr seid der Herausforderer«, sagte er zu Maximilian,
»damit habe ich das Recht, die Waffen zu bestimmen.«
Maximilian neigte zustimmend den Kopf.
Cavor lächelte. Maximilian war noch ein Junge gewesen, als man ihn in die Adern brachte, und hatte seine Ausbildung im Umgang mit Waffen sicher noch nicht abgeschlossen.
Außerdem konnte man in siebzehn Jahren vieles verlernen, was man einmal beherrscht hatte.
»Ich wähle das Langschwert, Wunschträumer.« Cavor lächelte siegesgewiß. Das Langschwert verlangte nicht nur außergewöhnliche Körperkräfte, sondern auch viel Übung und Geschicklichkeit. Selbst wenn Maximilian das Schwert schwingen konnte, hätte er nicht genug Erfahrung, um Cavors ersten Hieb zu überleben.
Maximilian wußte genau, warum sein Gegner gerade diese Waffe ausgesucht hatte, aber er widersprach nicht. »Die Wahl des Ortes steht dann wohl mir zu«, sagte er statt dessen, und Cavor nickte ungeduldig. »Gewiß doch.«
Maximilians Lächeln stand dem Lächeln des Königs an Kälte in nichts nach. »Dann wähle ich die Adern, Cavor. Wir werden unter dem Hangenden kämpfen.«
Schweigen. Langes Schweigen. Als Cavor endlich sprach, war seine Stimme so rauh wie ein arktischer Staubsturm. »Ich wähle Egalion zu meinem Waffengefährten.«
Der Gardehauptmann war verblüfft. Cavor hätte allen Grund gehabt, ihm zu zürnen, immerhin hatte er sich geweigert, seinen Befehl auszuführen und Maximilian festzunehmen.
Aber er faßte sich rasch. Besser, er war dabei. Er nickte.
Maximilian überlegte, doch auch er entschied sich rasch. Er hob den Kopf, sah zur Plattform hinauf und ließ sein strahlendes Lächeln aufscheinen, das so gar nicht zu der herrschenden Stimmung paßte. »Garth, wollt Ihr mir als mein Waffengefährte den Rücken freihalten?«
Garth war noch überraschter als Egalion, aber auch er nickte.
Dann lachte er. »Falls ich noch einen Kopf auf den Schultern habe.«
Ehe Cavor oder Maximilian darauf antworten konnten, trat der Manteceros vor. »Cavor, du hast diese beiden Männer unter der Voraussetzung angeklagt und verurteilt, daß Maximilian nur ein elender Thronräuber sei. Doch solange die Entscheidung darüber noch aussteht, müssen sie auf freien Fuß gesetzt werden.«
Cavor warf den beiden Baxtors einen haßerfüllten Blick zu, aber er nickte.
»Nun zu euch beiden«, fuhr der Manteceros fort. »Man wird euch freilassen, aber ihr müßt versprechen, euch Cavors Urteil zu unterwerfen, sollte er am Ende Sieger bleiben.«
Zum ersten Mal seit Tagen konnte Joseph wirklich aufatmen.
»Ja, Manteceros. Das versprechen wir.« Er sah seinen Sohn an und grinste. Was konnte den Jubel, die überschäumende Lebensfreude eines Menschen dämpfen, der soeben um Haaresbreite der Axt des Henkers entronnen war?
»Gut«, sagte der Manteceros zu Cavor und Maximilian.
»Glaubt ja nicht, ihr könnt einfach ohne mich losziehen. Wenn es denn sein muß, werde ich auch euren Schwertern ausweichen. Die Prüfung findet auf jeden Fall statt. Und jetzt…« Er wandte sich an die vermummte Gestalt an seiner Seite. »Ravenna, wenn jeder sich für diesen Unsinn einen Gefährten wählen kann, dann will ich nicht zurückstehen.
Willst du mich begleiten?«
»Mit Freuden, geliebtes Wesen«, sagte sie und küßte ihn auf die Nase. Dabei fiel ihr die Kapuze vom Kopf. »Mit Freuden.«
Erst gegen Abend – nachdem auch noch die Zeit für den Zweikampf vereinbart worden war und die Menschen sich längst verlaufen hatten, um am heimischen Herd, den gefüllten Bierkrug in der Hand, die Ereignisse dieses Tages noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen – gelangten Cavor und Maximilian unabhängig voneinander zu der Erkenntnis, daß sie noch immer keine Ahnung hatten, worin die Prüfung des Manteceros bestehen sollte.
Cavor starrte eine Stunde lang angestrengt in die Asche seines Kaminfeuers, während Maximilian, der im Haupthaus des Persimius-Ordens auf einem Stuhl saß, den Kopf zur Seite drehte und… lächelte.
Eine sehr, sehr traurige Geschichte
Vor dem Zweikampf in den Adern blieb den beiden Gegnern eine Frist von einer Woche, und jeder nützte die Zeit so, wie er es für richtig hielt, um einen Sieg zu gewährleisten.
Maximilian schlief in den Nächten tief und ruhig. Untertags lag er auf den Knien und betete oder meditierte, oder er unterhielt sich leise mit Ravenna, deren Gesellschaft er sehr schätzte.
Cavor tat nichts von alledem; dafür führte er stundenlange vertrauliche Gespräche mit Fennon Furst – der zwei Tage vor ihm und Maximilian zu den Adern aufbrach – oder ließ bei Waffenübungen im Innenhof des Palastes sein Langschwert durch die Luft pfeifen.
Der Manteceros zeigte sich nicht, aber niemand zweifelte daran, daß er erscheinen würde, wenn die Zeit gekommen war.
Vier Tage nach der abgebrochenen Hinrichtung auf dem Geviert machten sich die beiden Männer nach letzten Vorbereitungen (getrennt voneinander) auf den Weg zu den Glomm-Minen. Cavor brach früh am Morgen auf. Ein großer Teil von Escators Soldaten begleitete ihn.
Maximilian verließ Ruen erst gegen Mittag. Seine Eskorte bestand nur aus den Menschen, die fest genug an ihn geglaubt hatten, um ihn aus der Gefangenschaft unter dem Hangenden zu retten. Die Mönche des Persimius-Ordens folgten in bequemen Reisewagen.
Nach ihnen kamen in respektvollem Abstand von etwa zweihundert Schritten die ersten von fast vierzehntausend Bürgern von Ruen und Umgebung. Die Menschen ahnten, daß bei dem Zweikampf in den Adern nicht nur über einen Thron entschieden, sondern auch eine Legende geboren würde, und das wollten sie sich nicht entgehen lassen.
Indessen schufteten weiterhin Tausende von Männern in den Adern. Ihre Körper glänzten vor Schweiß, Glomm und Verzweiflung, und sie ahnten nichts von dem Drama, das in ihrer Mitte zu Ende gehen sollte.
An den Küsten und in den unterirdischen Höhlen und Schächten toste, wachsam und gierig wie ein Raubtier, das Meer… und wartete, wartete, wartete…
Myrna drohte zu bersten. Die Menschen mit ihren lauten Stimmen, die Gerüchte, die leise von Mund zu Mund weitergetragen wurden, erfüllten die trostlose kleine Stadt mit nie gekanntem Leben: Anya und ihre Mädchen sperrten die Tür ihres Hauses zu – wer dachte an Geschäfte, wenn Ereignisse von solcher Tragweite in der Luft lagen? –, rissen die Fenster weit auf, lehnten sich hinaus und beobachteten und kommentierten staunend das Geschehen. Der leichte Wind, der vom Meer hereinkam, fächelte ihre Gesichter wie ein Vorbeistreifen bunter Tücher.
Das Heer schlug sein Lager rings um Myrna und die Adern auf. Dahinter richteten sich die vielen Tausend, die zu Fuß von Ruen gekommen waren, häuslich ein. Zu ihnen gesellten sich Hunderte von Bürgern, die aus dem Norden angereist waren.
Als Cavor mit seinem Gefolge eintraf, quartierte er sich bei Fennon Furst ein; Maximilian zog mit den Baxtors, Ravenna und drei oder vier Mönchen des Persimius-Ordens in das Haus der Heiler. Am zweiten Tag nach der Ankunft handelten Vermittler im Namen beider Parteien die Bedingungen aus, unter denen der Zweikampf stattfinden sollte; am dritten Tag sollten Cavor und Maximilian in die Minen einfahren.
Cavor ließ sich von Egalion den Schwertgurt um die Hüften schnallen und bat ihn dann, draußen auf ihn zu warten. Als der Hauptmann den Raum verließ, überprüfte Cavor umständlich die Riemen seiner leichten Rüstung und rückte den Schwertgurt zurecht. Das beruhigende Gewicht des Langschwerts an seinem linken Bein entlockte ihm ein dünnes Lächeln. Seit nahezu vierzig Jahren übte er mit dieser Waffe, und noch nie war er so gut in Form gewesen wie jetzt; seit Maximilian im Pavillon den Thron gefordert hatte, war das Mal auf seinem Arm vollständig verheilt. Reine Kraft strömte durch seine Adern. Er würde sich als der Stärkere erweisen, auch im erstickenden Gestank der Minen. Sein Lächeln wurde breiter.
Fennon Furst hatte in einer dunklen Ecke gewartet, doch als er das Lächeln sah, trat er vor. »Ihr werdet siegen, Sire.«
Cavors Züge verhärteten sich. »Mit welchen Mitteln auch immer, Furst. Habt Ihr…?«
Furst verneigte sich leicht. »Alles ist bereit, Sire.«
Cavor war beruhigt. »Gut. Dann laßt uns gehen. Wir werden uns diesen Wunschträumer ein für allemal vom Halse schaffen.«
Maximilian bereitete sich ähnlich vor wie auf das Ritual am Teich. Nur Garth war bei ihm. Nach dem Aufstehen verbrachte er eine Stunde im Gebet, dann verzehrte er ein leichtes Frühstück und nahm ein Bad. An Kleidern wählte er nur eine leichte Leinenhose. Sogar auf Schuhe verzichtete er.
Garth beobachtete ihn nicht ohne Besorgnis. »Maximilian, äh, Prinz…« Er wußte noch immer nicht recht, wie er ihn ansprechen sollte.
Maximilian rieb sich Arme und Schultern mit einem dünnen Öl ein. Nun hielt er inne. »Nenn mich Maximilian und du, Garth«, lächelte er. »Gerade von dir erwarte ich keinen Titel.«
»Nun ja… dann also Maximilian. Bist du sicher, daß du mit mir als Waffengefährten die beste Wahl getroffen hast? Ich meine, einer von den Wärtern vielleicht… auf jeden Fall jemand, der sich mit Waffen auskennt…«
Maximilian fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, faßte es im Nacken und band es zusammen. »Ich brauche einen Freund im Rücken, Garth. Nicht jemanden, der mir ständig Anweisungen zuruft, wie ich das Schwert zu führen habe.«
Garths Blick glitt zu dem Langschwert, das in seiner Scheide auf dem Tisch lag. »Maximilian«, fragte er leise, »kannst du damit umgehen?«
Der Prinz wurde ernst und ließ die Hände sinken. »Ich hatte seit Jahren kein Schwert mehr in der Hand, Garth.
Seit vielen Jahren nicht mehr. Und damals als Vierzehnjähriger hatte ich gerade erst angefangen, mit dem Langschwert zu üben.« Ein spöttisches Lächeln glitt über sein Gesicht. »Ich wünschte, Cavor hätte die Glommhacke gewählt.«
Trotz seiner Bedenken mußte Garth schallend lachen. »Er weiß vermutlich nicht einmal, wie eine Glommhacke aussieht, Maximilian. Ich schätze, er hat keine Ahnung, wie die Sträflinge das Glomm aus dem Fels holen.«
Maximilian trat an den Tisch, griff nach dem Schwertgurt und hielt ihn lange in der Hand. Dann hob er die schwere Waffe scheinbar mühelos auf und schnallte sie sich um die Hüften. »Cavor wird bald mehr über die Adern erfahren, als er jemals wissen wollte«, bemerkte er dabei.
Garth musterte ihn mit sachlichem Blick. Maximilian war sogar in der leichten Hose und ohne Hemd jeder Zoll ein König. Er trug den Kopf hoch erhoben, das kühne Adlergesicht wirkte ruhig, fast feierlich. Im gedämpften Licht schimmerte seine Haut wie Elfenbein, auf dem rechten Oberarm kräuselte sich die blaue Manteceros-Tätowierung, und sein Haar glänzte bläulichschwarz. Maximilian mochte seit vielen Jahren kein Schwert mehr geführt haben, dennoch ging er mit der Waffe um, als wäre sie ein Teil von ihm.
Garth reichte ihm die Hand, ohne recht zu wissen, warum er das tat. Der Prinz umfaßte sie mit beiden Händen. Ihre Blicke fanden sich.
»Ich vertraue dir«, flüsterte Garth. Seine Finger verströmten flüssiges Feuer. »Und ich glaube an dich.« Was durch seine Hände ging, war keine heilende Kraft, sondern reines Gefühl.
Maximilian bekam feuchte Augen.
»Ich weiß es«, antwortete er. »Deshalb habe ich dich erwählt.
Bei diesem Kampf jemanden hinter mir zu haben, der an mich glaubt, ist mehr, als ich erwarten konnte.«
Sie verharrten kurz in dieser Stellung, dann ließen sie die Hände sinken und schämten sich ein wenig, ihre Gefühle so offen gezeigt zu haben.
»Was ist?« fragte Maximilian. »Wollen wir gehen?« Garth lächelte siegesgewiß und ließ ihm mit einer Handbewegung den Vortritt. Doch innerlich fragte er sich, wie schwer es Maximilian wohl fallen mochte, unter das Hangende zurückzukehren. Dann schüttelte er seine Bedenken ab und folgte dem Prinzen. Maximilian hatte mit seiner Entscheidung mehr Mut bewiesen, als er, Garth, sich überhaupt vorstellen konnte.
Sie trafen sich zu Mittag am Hauptschacht. Es war ein schöner, sonniger Tag, doch die Luft war so durchsetzt vom Grau der Adern, daß alles kühl und trübe wirkte. Fünfzig oder sechzig Schritte entfernt waren Wärter und Soldaten in strammer Haltung angetreten; hinter ihnen warteten zu Tausenden die einfachen Leute von Escator.
Alle schwiegen und zeigten ernste Gesichter.
Garth und Ravenna schritten stumm hinter Maximilian her –
Vorstus und Joseph warteten neben der ersten Reihe von Soldaten. Sie sahen sich unruhig an – wo blieb der Manteceros?
Cavor stand bereits am Schacht. Ihn kümmerte der Manteceros wenig. Er hatte das Fabelwesen und die merkwürdige Prüfung, auf der es so hartnäckig bestand, schon fast vergessen. Cavor hatte nur eines im Sinn: Er wollte Maximilian endlich sein Schwert in die Brust stoßen. Danach, das wußte er, würde ihn das Mal nie wieder quälen.
Er lächelte kalt, als Maximilian, der junge Baxtor und dieses schöne, aber etwas eigenartige junge Mädchen unter den Förderturm an den Schacht traten – was fiel dem Narren nur ein, nur mit einer Hose zu erscheinen? Beinahe hätte Cavor laut gelacht. Die Sache würde noch einfacher werden, als er gedacht hatte.
»Ruft den Aufzug!« befahl er knapp, und Egalion, der selbst nur ein kurzes Hemd und eine Hose trug, nickte Jack zu, der an den Schaltern stand.
Garth betrachtete sich den Wärter etwas genauer. Jack ging neuerdings gebückt und trug überall frische Narben. Ohne ihn anzusehen, legte er einen Hebel um.
Aus den Tiefen des Schachts ließ sich ein Grollen vernehmen, und der Aufzug kam mit furchterregendem Quietschen nach oben gerast. Garth vergaß Jack und wandte sich Maximilian zu. Gesicht und Körperhaltung des Prinzen strahlten Gelassenheit aus, doch in seinen Augen entdeckte Garth eine leise Unruhe.
Das Quietschen wurde lauter, nun kam noch ein gespenstisches Wimmern hinzu. Hinter einer Eisenstrebe trat Fennon Furst hervor, den bisher weder Garth noch Ravenna bemerkt hatten. Er hatte sein rotes Haar so stark eingeölt, daß es ihm wie eine glänzende Kappe am Schädel klebte.
»Willkommen zu Hause, Achthundertneunundfünfzig!«
höhnte er.
Maximilian konnte nicht verhindern, daß ihm ein Zucken über das Gesicht lief, und Cavor lachte siegesgewiß. »Diesmal werde ich dafür sorgen, daß Ihr mir nicht mehr entwischt, Thronräuber!«
Cavor hatte schreien müssen, um sich über den Lärm des Aufzugs hinweg verständlich zu machen, und er hatte kaum geendet, als der Korb auch schon gegen das Eisengerüst krachte. Die riesigen Räder über ihren Köpfen kamen knirschend zum Stehen, und die dicken Ketten verdrehten sich mit schrillem Kreischen.
Mit dem Aufzug war der abscheuliche Schwefelgestank des Glomm aus dem Schacht emporgestiegen und hing nun wie eine Wolke unter dem Turm.
Garth erschauerte. Wie konnte Maximilian das nur ertragen?
Furst trat vor und öffnete die Tür. Dann fuhr er erschrocken zurück.
Im Aufzugkorb stand der Manteceros, und sein Gesicht war so finster wie die Glomm-Minen selbst.
Ravenna tänzelte in den Käfig und streichelte dem Wesen die Nase. »Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein«, lächelte sie, und das Antlitz des Manteceros hellte sich ein wenig auf.
Er wandte sich den draußen Stehenden zu. »Es ist soweit«, sagte er. »Endlich ist es soweit.«
»Wurde auch Zeit«, dröhnte Cavor und schob sich am Manteceros vorbei in den Aufzug. Hinter ihm zwängten sich Egalion, dann Maximilian, Garth und schließlich Furst, der lauthals verkündete, er werde den Mechanismus bedienen und beim Korb bleiben, in die enge Kabine.
Ravenna war zwischen Cavor und dem dicken, rostigen Eisengitter eingeklemmt. Sie konnte eine Grimasse des Abscheus nur mit Mühe unterdrücken. Der Mann preßte sich noch fester an ihren Körper als nötig.
Die Türen schlossen sich, und die Gruppe stürzte schweigend ihrem Schicksal entgegen.
Furst ließ den Aufzug nicht bei Sohle zweihundertfünf halten, wie Garth erwartet hätte, sondern fuhr noch mehrere Sohlen weiter. Als alle – bis auf Furst – ausstiegen, erkannte der Junge auch den Grund dafür. Die erste Höhle und die Stollen, die davon abzweigten, waren viel höher und breiter als auf Sohle zweihundertfünf.
Damit hätten die beiden Gegner mehr Raum für ihre Schwerter.
»Seid Ihr bereit, Thronräuber?« fragte Cavor streitlustig. Jetzt hörte man erstmals eine leise Anspannung aus seiner Stimme.
In diesem gottverlassenen Loch herrschte ein bestialischer Gestank.
Maximilian sah ihn kurz an. »Nicht hier«, antwortete er ruhig. »Ich sagte, in den Adern, Cavor, nicht in der Vorhalle.«
Ohne sich noch einmal umzusehen, betrat er einen der Stollen.
Den anderen blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. Der Manteceros bildete mit Ravenna die Nachhut.
Garth sah erschüttert, daß in den Minen immer noch gearbeitet wurde. Konnte Furst nicht wenigstens für diesen einen Tag die Förderung ruhen lassen?
Doch der Aufseher war wohl fest entschlossen, sein Glomm-Soll zu erfüllen. Ob Zweikampf oder nicht, die Männer arbeiteten und starben – stumm und hoffnungslos. Eine Kolonne um die andere ließ in gebückter Haltung, mit stumpfem, teilnahmslosem Blick, die seltsame Prozession an sich vorüberziehen.
Maximilian schritt immer weiter in den Stollen hinein, ohne die Sträflinge zu beachten. Bald sah man kaum noch die Hand vor den Augen, die Fackeln flackerten heftig und spendeten wenig Licht, und die Schwärze der Stollenwände schien alles, was sich bis in diese Tiefen vorwagte, verschlingen zu wollen.
Wenige Minuten nachdem sie an einer Gruppe von Sträflingen vorübergekommen waren, die in einer der seltenen und viel zu kurzen Pausen auf dem Boden kauerten, sagte Maximilian endlich: »Hier.«
Cavor sah sich um. Man merkte ihm nicht an, ob er Bedenken hatte – sein Gesicht war in den tiefen Schatten ohnehin kaum zu erkennen. »Ein guter Platz zum Sterben, Thronräuber. Seid Ihr bereit?«
Er zog rasselnd sein Schwert aus der Scheide, und Maximilian tat es ihm nach. Egalion und Garth zogen sich hastig einige Schritte hinter die Gegner zurück.
»Ihr Männer«, mahnte der Manteceros und schlurfte unerschrocken einen Schritt näher, »noch ist es Zeit, diesen sinnlosen Zweikampf abzusagen. Mit einer einfachen Geschichte läßt sich entscheiden, wer…«
»Schweig, du lästiger Trauerkloß!« fauchte Cavor und drohte ihm mit seinem Schwert; Ravenna griff hastig in die steife Mähne und zog den Manteceros aus der Gefahrenzone.
Cavor hatte Maximilian unterschätzt. Verglichen mit seinem eigenen muskulösen Körper, wirkte der Prinz eher hager, man sah ihm nicht an, welche Kräfte er sich in siebzehn Jahren zermürbender Arbeit in den Minen erworben hatte. Er nahm Cavors ersten Hieb an, parierte ihn und ging dann seinerseits zum Angriff über. Doch Cavor wehrte sich mit grimmiger Entschlossenheit, und wenig später mußte Maximilian erst einen, dann einen zweiten und schließlich drei weitere Schritte zurückweichen.
Cavor lächelte.
Er hatte einen Anfangserfolg errungen, doch bald kam Maximilian seine überlegene Ortskenntnis zugute. Das Dunkel war sein Freund, das Hangende sein Verbündeter. Die Finsternis war ihm vertraut wie eine Geliebte, und er setzte sie ein wie eine zweite Waffe. Er verschwand in den Schatten, schoß unversehens wieder hervor, übersprang geschickt die Steine, über die Cavor stolperte – und einmal beinahe stürzte –, und ließ sich wieder von der Dunkelheit einhüllen, trösten und wiegen wie schon so viele Jahre zuvor.
Während er eins wurde mit Schatten und Finsternis, kämpfte Cavor fluchend dagegen an und bekam dabei den klebrigen Glommstaub in den Mund, den er ausspucken mußte, um nicht zu ersticken.
Bald wurde ihm klar, warum Maximilian nur die leichte Hose angezogen hatte. Ihm lief der Schweiß in Bächen über den Körper und sammelte sich in kleinen Pfützen unter dem Harnisch. Mit der Zeit wurde die Haut wundgescheuert, und das schmerzte. Cavor war ein kräftiger Mann, daran gewöhnt, in voller Rüstung zu kämpfen, doch selbst der leichte Brustpanzer wurde ihm bald so schwer, als hätte man ihm Felsblöcke auf Rücken, Schultern und Arme geschnallt.
Maximilian hatte dagegen noch kaum einen Tropfen Schweiß vergossen.
Cavor trat atemlos zurück und pumpte verzweifelt Luft in die brennenden Lungen, nur um sie sofort wieder mit einem einzigen Wutschrei zu vergeuden und sich abermals auf Maximilian zu stürzen.
»Nein, wirklich!« murmelte der Manteceros und rieb den Kopf an Ravenna. Das Gesicht des Mädchens war bleich und glänzte vor Schweiß; Maximilian hielt sich wacker, aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß er sich tatsächlich als der Stärkere erweisen sollte.
»Meine Liebste«, sagte der Manteceros leise, »ich muß die Prüfung durchführen. Das Schwertergerassel bringt uns nicht weiter – und am Ende kommt dabei noch der wahre König ums Leben.«
Ravenna riß den Blick nur widerwillig von Cavor und Maximilian los. War das soeben ein versteckter Hinweis gewesen, daß der Manteceros auf Maximilians Seite stand?
»Egalion steht zwischen mir und den beiden Männern, Ravenna. Könntest du ihn vielleicht nach hinten ziehen?
Danach mußt du dich neben mich stellen, mit einer Hand fest in meine Mähne fassen und mit der anderen meinen Hals streicheln, damit ich den Mut für die Prüfung aufbringe. Sie ist nämlich sehr schmerzhaft.«
»Aber du sagtest doch, du würdest ihnen kein Leid zufügen!«
rief Ravenna.
»Ihnen nicht«, entgegnete der Manteceros, und Ravenna sah, daß er den Tränen nahe war. »Aber die Prüfung ist so traurig, daß sie mir wie ein Schwert durchs Herz gehen wird. Und jetzt tu, was ich dir sage.«
Zaghaft zupfte Ravenna Egalion am Ärmel. Der Mann zuckte zusammen. Er hatte nur auf die beiden Kämpfer geachtet.
»Bitte«, murmelte das Mädchen und bedeutete ihm, hinter sie und den Manteceros zu treten.
Egalion blinzelte. Er drehte sich noch einmal nach Maximilian und Cavor um, dann sanken seine Schultern müde herab. Er stand zwar hinter Cavor, beobachtete das Duell aber so, als wäre er Maximilians Waffengefährte. Er wollte nicht, daß der Prinz den Tod fand.
Noch einmal prallten die beiden Klingen heftig aufeinander.
Ravenna zuckte zusammen, dann trat sie mit dem Manteceros so dicht wie möglich an die beiden Gegner heran.
Der Manteceros hustete und räusperte sich.
Die Männer beachteten ihn nicht.
»Der wahre König kann nur durch die Prüfung bestimmt werden«, sprach der Manteceros leise und nahm alle seine Kräfte zusammen, um zu tun, was getan werden mußte. »Nicht durch diesen sinnlosen Zweikampf.«
Er hob den Kopf, aber seine Stimme blieb leise. »Gebt acht.
Ich muß euch eine traurige Geschichte erzählen. Hört gut zu.
Lebt mit.«
Die Männer beachteten ihn immer noch nicht. Cavor hatte Maximilian mit einer Hiebfolge auf die Knie gezwungen, die gefährlicher war als alle bisherigen Schläge. Ravenna schrie leise auf. Maximilian hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Zum ersten Mal hatte es den Anschein, als ließen die Kräfte des Prinzen nach.
»Hört gut zu«, wiederholte der Manteceros. »Ihr müßt die Geschichte erleben.« Seine Augen waren in weite Fernen gerichtet, auf etwas, das viel trauriger war als der Kampf der beiden Bewerber um den Thron.
»Es war einmal eine Frau in Ruen, die heiratete einen Schmied. Es dauerte nicht lange, und ihr erging es wie den meisten Ehefrauen. Ihr Leib schwoll an, und eines Tages nahte die Stunde, da sie ihr Kind gebären sollte. Ihr Mann schickte nach der Wehmutter, aber die hatte anderswo zu tun, und so kam die Hebamme aus dem nächsten Sprengel. Sie war kleingewachsen, aber kräftig, hatte eine schiefe Schulter und einen verkrüppelten Arm und schielte stark. Als sie das Zimmer betrat, schrie die Wöchnerin entsetzt auf, und die Hebamme war gekränkt.«
Die Schwerter prallten so wütend aufeinander, daß ein Funkenschauer aufsprühte. Ravenna hatte nicht den Eindruck, als hätte einer der Männer den Manteceros gehört. Sie dagegen… sie stand mit im Geburtszimmer bei der Frau, aus deren Schoß sich das neue Leben ans Licht kämpfte.
»Zur Strafe lehnte sich die Hebamme nur untätig zurück, als die Frau des Schmieds zu bluten begann. Der Lebenssaft verrann und sammelte sich im Bett zu großen Pfützen, die allmählich erkalteten. Endlich hob sie aus dem Blut ein kleines Mädchen heraus. Die Mutter tat noch einen letzten Atemzug, erschauerte und starb. ›Ich verfluche dich‹, schrie die Hebamme den Säugling an, ›zu einem Leben voller Jammer!‹
Dann nahm sie ihre Instrumente, legte das Kind neben die tote Mutter und verließ den Raum.«
Der Manteceros hielt inne, und Ravenna kehrte in die Gegenwart zurück und sah, daß auch Maximilian und Cavor innegehalten hatten. Vielleicht hörten sie ja doch zu?
Doch schon klirrten wieder die Schwerter, und jeder bemühte sich nach Kräften, dem anderen das Leben zu nehmen.
»Der Schmied trauerte um seine Frau, denn sie war ihm nützlich gewesen, und gab seiner kleinen Tochter die Schuld an ihrem Tod. Er brachte sie zu einer Amme, mißgönnte ihr aber jede Münze, die er bezahlen mußte, damit sie an den Brüsten der Frau saugen durfte. Als sie vier Jahre alt war, ließ er sie widerwillig in sein Haus zurückkehren. Der Schmied hatte bereits drei ältere Söhne und wollte die Tochter nicht haben, aber er mußte nun einmal für sie sorgen.«
Der Manteceros schluchzte tief auf. Ravenna hörte durch die Nebel, die ihr Bewußtsein umfingen, wie Maximilian leise aufschrie. War er verletzt?
»Das Kind wuchs heran, aber der Fluch der Wehmutter erfüllte sich, und sein Leben war voller Jammer. Vater und Brüder behandelten es mit einer Kälte und Gleichgültigkeit, in die sich oft genug auch Feindseligkeit mischte.
Das Mädchen diente ihnen tagein, tagaus, niemals verließ es das Haus oder die Schmiede gleich daneben, niemals hob es den Kopf, niemals lächelte es. Es hatte ja auch keinen Grund dazu.«
Die Bewegungen der beiden Männer waren langsamer geworden, nun standen sie gebückt, als trügen sie eine gewaltige Last. Ravenna hatte das Gesicht in die Mähne des Manteceros gedrückt, und ihre Schultern zuckten.
Der Manteceros fuhr fort, doch auch ihm rollten dicke Tränen aus den Augen und über die Wangen. Ravenna drückte sich noch fester an ihn, streichelte und liebkoste ihn, um ihn zu trösten, und fand ihrerseits Trost in der Wärme seines Körpers.
»Bald war aus dem Mädchen eine junge Frau geworden, doch ihre Tage blieben so grau und gleichförmig wie in ihrer Kinderzeit. Ihr einziges Glück waren einige Bücher, die ihr die Mutter hinterlassen hatte. Sie bewahrte sie unter ihrem Bett auf und holte sie nur heraus, um darin zu lesen, wenn alle anderen im Hause schliefen. Außer den Büchern hatte sie keine Freunde. Bis… bis eines Tages ein junger Mann in die Schmiede kam, weil sein Pferd ein Hufeisen verloren hatte. Er entdeckte die Frau, die sich im Schatten versteckte, und es gelang ihm sogar, ihr ein paar Worte zuzuflüstern. Das machte ihr Mut. In den nächsten Wochen stahl sie sich immer wieder für einige Minuten aus dem Haus und traf sich mit ihm dahinter in der Gasse. Dann redeten sie über ihre Hoffnungen und ihre Träume. Und die junge Frau lernte zu lächeln – zum ersten Mal in ihrem Leben.«
Der Manteceros zögerte, und als er fortfuhr, war seine Stimme heiser vor Schmerz. »O weh!«
Maximilian und Cavor stolperten und riefen ebenfalls: »O
weh!«
»O weh! Schließlich faßte sie den Entschluß, mit dem jungen Mann zu fliehen. Sie verabredeten sich eines Nachts in einem nahe gelegenen Wirtshaus. Dort wollten sie ihre Liebe besiegeln, um dann voller Hoffnung in die Welt hinaus zu ziehen. Doch unsere junge Frau war nicht vorsichtig genug.
Sie hatte es so eilig, dem väterlichen Haus den Rücken zu kehren, daß sie es unterließ, das Geschirr, das sie nach dem Abendessen gespült hatte, noch abzutrocknen. Ihre Brüder waren über diese Nachlässigkeit so erbost, daß sie ihr folgten.
Sie fanden sie genau in dem Moment, als die Lippen ihres Geliebten zum ersten Mal ihren Mund berührten.«
Der Manteceros schluchzte auf. König und Prinz senkten für einen Augenblick die Schwerter. Beide waren vor Entsetzen grau im Gesicht.
Die Geschichte des Manteceros nahm sie so gefangen, daß sie einander kaum noch wahrnahmen.
»Mit wütendem Gebrüll packten sie ihn und warfen ihn zu Boden. Es waren starke Männer, sie hätten ihn schnell töten können, aber sie ließen sich Zeit und quälten ihn. Seine Schreie schallten durch die Nacht, doch alle Läden blieben geschlossen, und niemand öffnete ein Fenster, um nachzusehen, was da vorging. Niemand. Als er tot war, nahmen sie sich ihre Schwester vor. Zwei hielten sie fest, und der dritte stach ihr mit seinem Messer die Augen aus, auf daß sie nie wieder einen Mann ansehen könne.«
»O ihr Götter«, flüsterte Maximilian. Beinahe wäre ihm das Schwert entglitten. Cavor griff sich stöhnend an die Stirn.
Doch beide erholten sich rasch und nahmen ihren Kampf wieder auf.
»Nun konnte sie nicht einmal mehr in ihren geliebten Büchern lesen. Nachts saß sie stundenlang in ihrem Bett und blätterte die Seiten um. Der Schmerz verwüstete ihr tränenloses Antlitz. Nichts war ihr mehr geblieben.« Der Manteceros hielt kurz inne, um sich zu fassen, dann fuhr er fort: »Ihr Vater wurde alt und starb, die Brüder heirateten und brachten ihre Frauen mit ins Elternhaus. Sie blieb für alle die Magd. Blind tastete sie sich durch die Räume, nicht immer konnte sie es vermeiden, sich an den Möbeln zu stoßen, die man ihr absichtlich in den Weg stellte, nicht immer entging sie den Knüffen und Püffen ihrer Schwägerinnen. Nichten und Neffen wurden geboren, wuchsen heran und wurden so hart und grausam wie ihre Eltern. Die Frau lernte, Schläge und Stöße mit gesenktem Kopf über sich ergehen zu lassen und sich in ihr Schicksal zu fügen.«
Cavor fing an zu weinen, rang schluchzend nach Luft und schwenkte sein Schwert ziellos in der Luft herum. Maximilian erging es nicht besser; er stützte sich mit zuckenden Schultern auf seine Waffe und bedeckte mit einer Hand die Augen.
Garth beobachtete sie mit wachsender Sorge – was hatte das zu bedeuten?
Der Manteceros fuhr gnadenlos fort: »Nach einigen Jahren gewahrte sie hinten in der Gasse ein Wesen, von dem ihr Zuneigung entgegenschlug. Es war ein großer, zottiger Hund, ein herrenloses Tier, das jemand ausgesetzt hatte. Mit der Zeit gewöhnte er sich an sie, fraß ihr die Abfälle aus der Hand, die sie ihm vorsichtig reichte, und leckte ihr hinterher dankbar die Finger. Er war ihr einziger Freund, und irgendwie kam sie auf den sonderbaren Gedanken, mit ihm sei die Seele ihres Geliebten zu ihr zurückgekehrt. Die Vorstellung tröstete sie in ihrem Unglück. Eines Tages streunte der Hund umher, wie Hunde es gern tun, und fing ein tollwütiges Eichhörnchen, das sich in Ruens Gassen verirrt hatte. Das Eichhörnchen biß ihn, der Hund jaulte überrascht auf und ließ es los. Zwei Tage später brach auch bei ihm die Tollwut aus.«
Im Stollen war es totenstill geworden. Cavor und Maximilian hatten, von Trauer überwältigt, die Köpfe gesenkt, doch sonst waren alle Augen auf den Manteceros gerichtet.
»Die Frau war froh, als sie den Hund an der Tür kratzen hörte, und eilte sofort hinaus, um ihn zu streicheln und zu umarmen. Doch als sie sich über ihn beugte, knurrte er und biß sie in die Hand. Mit einem Aufschrei riß sie sich los. Die Brüder, ihre Frauen und die zahlreichen Kinder kamen angelaufen, zerrten sie ins Haus, ohrfeigten sie für ihre Torheit und traten den Hund tot.
Doch es war schon zu spät. Sie bekam Fieber, qualvolle Krämpfe schüttelten ihren Körper. Von ihren Schwägerinnen bekam sie gerade soviel Pflege, daß sie am Leben blieb, doch als sie sich endlich wieder vom Krankenlager erhob, wünschten die Frauen, sie hätten nichts getan. Das Fieber hatte ihr den Rücken krummgebogen, und ein Bein war verkrüppelt und kürzer als das andere. Jetzt war sie nicht einmal mehr als Magd zu gebrauchen.«
Maximilian war auf die Knie gesunken und hielt sich nur an seinem Schwert noch aufrecht. Cavor hatte sich dem Manteceros zugewandt.
»Die Geschichte ist fast zu Ende«, sagte das Wesen, und ein seltsames Leuchten trat in seine Augen. »Ihre Verwandten jagten sie aus dem Haus, fortan erbettelte sie sich ihr Essen auf den Straßen und schlief in den Hauseingängen, wenn man es ihr erlaubte. Sie wurde von all jenen gequält, die sich an den Schwachen und Hilflosen schadlos halten, aber sie nahm es hin, denn sie wußte, daß das Ende nahe war. Der Winter stand bevor, und wer obdachlos und ohne Freunde ist, der hat von ihm keine Gnade zu erwarten.«
Der Manteceros richtete sich zu voller Größe auf. »Also legte sie sich mit ihren Lumpen in einen Winkel und suchte nach einem Ausweg aus ihrer Not. Es gab nur einen einzigen Ausweg, und ich frage euch jetzt« – seine Stimme dröhnte gebieterisch durch den Stollen –, »wie lautete er? Was konnte sie noch tun in ihrem Leid?«
Cavor vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten.
»Die Antwort ist der Tod«, flüsterte er. »Welch anderen Ausweg gäbe es sonst aus diesem Elend?«
Der Manteceros sah ihn durchdringend an. »Du irrst dich, Cavor. Die Antwort ist falsch.« Seine Stimme war von richterlicher Strenge. Er faßte den zweiten Gegner ins Auge.
»Maximilian?«
Maximilian hob langsam den Kopf, und als Ravenna den Schmerz in seinen Augen sah, hätte sie fast aufgeschrien. Sah er sein eigenes Leben gespiegelt im jammervollen Dasein dieser armen, zu ewigem Unglück verfluchten Frau?
Doch dann, es war unglaublich, ließ Maximilian sein wundersames Lächeln erstrahlen, und der Schein der Hoffnung erhellte seine Züge. »Sie lachte«, sagte er, und dann lachte er selbst, ein herzliches, wohlklingendes Lachen, das durch den Stollen schallte. »Sie lachte. Es war das einzige, was ihr noch übrigblieb.«
»Richtig!« sagte der Manteceros, und Ravenna spürte, wie seine Haut unter ihren Fingern zuckte. Sie runzelte die Stirn.
Er fühlte sich heiß an, fast so, als hätte er selbst Fieber.
»Genau!«
Er wandte sich wieder an Cavor. »Deine Antwort war falsch, Cavor, denn du hast zugegeben, keine Hoffnung mehr zu haben. Das täte ein wahrer König niemals. Du bist ein Mann ohne Hoffnung, und deshalb stoße ich dich hiermit von Escators Thron.«
»Nein!« schrie Cavor und hob das Schwert hoch über den Kopf, um den knienden Maximilian mit einem gewaltigen Strich zu fällen.
Doch sein Zorn schlug jäh um in Verwirrung. Jemand hielt die Waffe mit starker Hand fest.
Die Klinge war über ihn in das Glomm gefahren und hing nun im Hangenden fest. Cavor zerrte mit aller Kraft daran, seine Muskeln schwollen an, aber sie bewegte sich nicht von der Stelle.
Alle starrten ihn an, doch gerade als Egalion vortreten wollte, um ihn vollends zu entwaffnen, stieß der Manteceros einen lauten Schrei aus.
Ravenna wurde wie von einer mächtigen Welle aus Kraft und Hitze an die Stollenwand geschleudert und schrie ebenfalls auf. Maximilian kroch auf Händen und Knien zu ihr und zerrte sie zurück vor der flimmernden Lichtkugel, die den Manteceros umgab.
Auch Garth hatte schon zum Sprung angesetzt, doch ehe er Maximilian und Ravenna erreichen konnte, trat aus dem blauen Schein ein hochgewachsener, gutgebauter Mann mit kobaltblauem Haar und feurigen blauen Augen. Er wirkte fast durchsichtig, und seine edlen Züge waren von großer Schönheit.
Er sah Maximilian lange an und sagte leise, aber mit einer Eindringlichkeit, der niemand sich entziehen konnte:
»Wer fordert den Thron? Wer wagt den Traum? Wagt ihn und…«
Maximilian hielt dem Blick stand und nahm die Herausforderung an. »Wagt ihn und… lacht«, ergänzte er den Vers, der nicht nur Garth und Ravenna, sondern vor ihnen schon Generationen von Historikern in Verwirrung und Ratlosigkeit gestürzt hatte.
Der blauhaarige Mann nickte. »Ja. Er lacht.« Ein Lächeln, strahlend und unglaublich liebenswert, erhellte sein Gesicht.
»Wer lacht, der braucht Mut, denn wer lacht, trotzt dem Schicksal und dem Leid und der Last allen Unrechts. Du bist wahrhaft königlichen Geblüts, Maximilian, und ich erkläre dich hiermit zum wahren König von Escator. Willkommen in deinem Reich!«
Cavor ließ endlich das Schwert los, sein Arm sank langsam hinab, und er blickte verständnislos um sich. Das Schwert hing immer noch über ihm. Doch plötzlich schlug seine Stimmung um.
»Genießt Euren Sieg, solange Ihr könnt«, zischte er Maximilian an, dann drehte er sich um und flüchtete durch den Stollen.
Niemand achtete auf ihn.
»Wer bist du?« flüsterte Garth. »Wer?«
Über dem Hangenden
Cavor stürmte durch den Stollen. Jedesmal wenn er stolperte, zischte er einen Fluch, und als er zweimal tatsächlich stürzte und blind auf Händen und Knien weiterkriechen mußte, schrie er seine Wut hemmungslos hinaus.
Doch er kam immer wieder auf die Füße und rannte weiter.
Wenn Wärter und Sträflinge ihm den Weg zu versperren drohten, stieß er sie mit Gewalt beiseite. Einen Mann, der ihm nicht schnell genug Platz machte, schlug er sogar mit der Faust ins Gesicht.
Er hatte diesem Manteceros noch nie getraut, nein, wahrhaftig nicht. Und Maximilian – der hatte sich natürlich mit einem Schwindel aus der Affäre gezogen. Woher hätte er die Antwort auf die Frage des Manteceros wissen sollen?
Woher? Die beiden mußten das Ganze vorher geplant haben.
Es konnte nicht anders sein.
Und so betrachtet war Cavors Vorhaben eigentlich kein Betrug mehr… sondern eher so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit… ja, das war es. Ausgleichende Gerechtigkeit.
Endlich erreichte er die Höhle vor dem Schacht. Furst erwartete ihn bereits, die Aufzugtür stand einladend offen.
Der schmale Mund des Aufsehers verzog sich zu einem kalten Lächeln. »Habt Ihr ihn besiegt, Sire?«
Cavor fluchte aus Leibeskräften und schob Furst in den Korb.
»Ist alles bereit?«
Der Aufseher senkte den Kopf. »Gewiß, Sire.«
»Dann los!« schrie Cavor. »Bringt mich von diesem Alptraum weg!«
»Wenn Ihr das schon für einen Alptraum haltet«, murmelte Furst, »dann könnt Ihr froh sein, daß Ihr nicht mehr da unten im Stollen seid.« Kurz vor der Aufzugtür bückte er sich und griff nach einigen Drähten, die in den Schacht führten.
»Wird es denn gelingen?« fragte Cavor kleinlaut. Seine Wut war vergessen, er wollte nur noch fort, um zu guter Letzt doch noch Sieger zu werden.
Furst antwortete nicht gleich, doch dann richtete er sich auf und zeigte ein zufriedenes Gesicht. »Geschafft, Sire. Gewiß doch, es wird gelingen. Wir brauchen nur noch in die Sonne hinaufzufahren.«
Damit schlug er die Aufzugtür zu und legte rasch den Hebel um.
Der Aufzug schoß zur Oberfläche hinauf.
Über dem Hangenden brodelte, lauernd wie ein gieriges Raubtier, das Meer… und nagte, nagte, nagte…
»Wer bist du?« wiederholte Garth. Die Antwort gab Ravenna. Sie kämpfte sich hoch, ohne den neben ihr auf den Knien liegenden Maximilian zu beachten, und verneigte sich tief vor dem Fremden. »Drava«, flüsterte sie, »Herr des Traumreichs, ich grüße dich.«
Nun zogen die Drähte an Hebeln, die bereitwillig auf-oder zuschnappten. Fachmännisch ausgelegte Feuersteine sprühten in jäher Wut ihre Funken.
Die Explosionen begannen in den äußeren Kreisen und setzten sich im Abstand von Augenblicken nach innen fort, bis sie die Ladung im Zentrum erreichten und ebenfalls entzündeten. Einen Herzschlag später flog die Felswand auseinander.
Minutenlang sah man nichts als Staub und Finsternis, dann zwängte sich ein grünes Rinnsal durch einen winzigen Spalt und kroch zaghaft über den Schutthaufen. Ein zweites gesellte sich dazu, dann ein drittes, und dann zertrümmerte eine zweite schwere Detonation den Rest der Felswand. Diesmal wurde kein Staub mehr aufgewirbelt. Das Wasser brach mit lautem Triumphgebrüll herein, füllte den ganzen Stollen aus und arbeitete sich schäumend und kochend immer weiter nach oben vor.
Die Sprengung und der Wassereinbruch waren eher zu spüren als zu hören. Maximilian mühte sich auf und legte die Hand an die Stollenwand.
Sie zitterte unter seinen Fingern.
Drava legte neugierig den Kopf zur Seite. »Hört ihr?« fragte er leise. »Das Meer ist eingedrungen.«
Jetzt spürten sie das Beben nicht nur unter den Füßen, sondern hörten es auch wie fernen Donner… und plötzlich stieg ihnen zu ihrem Entsetzen der Geruch von Salzwasser in die Nase und verdrängte den Glommgestank.
Garth wünschte sich die schützende Gestankwolke sehnlich zurück.
»Es ist schlimm«, flüsterte Maximilian. »Sehr schlimm.« Er hielt inne, und als er weitersprach, klang seine Stimme seltsam flach. »Wir sind verloren. Vor dieser Katastrophe gibt es kein Entrinnen mehr.«
Drava faßte Ravennas Hand noch fester. Sie war bei Maximilians Worten näher an ihn herangerückt, und er spürte, wie sie zitterte. »Oh«, lächelte er, »da wäre ich mir nicht so sicher.«
Sein Ton wurde schärfer. »Maximilian!« Er klopfte mit der anderen Hand dem König auf die Schulter. »Bist du bereit, den Traum zu wagen?«
Maximilian starrte den Herrn des Traumreichs an. »Wie meinst du das?«
»Hast du den Mut?« Dravas Stimme war hart und fordernd geworden.
Maximilian richtete sich auf und nahm die Schultern zurück.
»Ja, Drava. Ich habe den Mut.«
»Willst du dem Hangenden entkommen?«
»Ja.« Maximilian zögerte. »Drava, hier unten sind noch andere Menschen gefangen. Tausende. Wärter und Sträflinge.
Was sie auch verbrochen haben mögen, so zu sterben hat keiner verdient.«
Drava zog eine blaue Augenbraue hoch. »Verbrecher, Maximilian? Du willst Verbrecher retten?«
Maximilian wich seinem Blick nicht aus. »Ich bin auch für sie verantwortlich, Drava – und wenn es für mich Hoffnung gibt, dann will ich sie in diese Hoffnung mit einschließen.«
Drava nickte bedächtig. Maximilian war nicht nur der wahre König, er würde auch ein guter König sein. »Wie du willst.« Er wandte sich ab und sah lächelnd zu Ravenna hinab. Dann faßte er ihre Hand, und ihre Finger griffen ineinander. »Ravenna, willst du mir helfen?«
Sie lächelte zurück. Drava brauchte keine Hilfe… aber es war schön, daß er gefragt hatte. »Gewiß, Herr.«
»Dann«, flüsterte der Herr des Traumreichs, und in seinen Augen flackerte es grünlich auf, »laßt uns den Traum wagen.«
Im Stollen erlosch auch das letzte Licht; Garth, der dicht neben Egalion stand, hörte die keuchenden Atemzüge des Hauptmanns, und er hörte auch den eigenen Atem rasselnd durch die Kehle streichen. Das Donnern der See klang jetzt näher… sehr viel näher, so nahe, daß der Tunnelboden unter seinen Füßen schwankte.
Cavors Schwert löste sich aus dem Hangenden und fiel klirrend zu Boden. Alle erschraken. Ein Regen aus kleinen Steinen prasselte hernieder.
Schweigend drängte sich die Gruppe dichter zusammen, und Garth spürte, wie Maximilian ihm und Egalion eine Hand auf die Schulter legte. »Nur Mut«, flüsterte der König. »Glaubt an den Traum.«
»Glaubt daran«, beschwor sie auch Drava, und dann stockte allen bis auf den Herrn des Traumreichs selbst vor Staunen der Atem. Ein zartes grünes Licht war an die Stelle der Finsternis getreten.
Über und unter ihnen zogen sich Tausende von dünnen smaragdgrünen Linien wie Spinnennetze durch den Fels. Vor den Augen der verblüfften Zuschauer wanderten sie vom Hangenden herab und vom Liegenden hinauf, bis der ganze Stollen in ein zuckendes Geflecht aus feinen smaragdgrünen Fäden gehüllt war.
Sprünge. Zehntausende.
Garth erinnerte sich an seine Träume von der berstenden Felswand und konnte einen Schauer des Entsetzens nicht unterdrücken.
»Nur Mut«, wiederholte Maximilian, und Garths Anspannung löste sich, als er die Zuversicht in der Stimme seines Königs hörte.
Das Smaragdnetz verdichtete sich, die Sprünge breiteten sich weiter aus. Binnen weniger Minuten war der ganze Stollen zu trübem smaragdgrünem Glas geworden. Garth spürte Maximilians Hand noch auf der Schulter, dennoch zuckte er überrascht zusammen – denn hinter den milchigen Wänden wogte schattengleich die See.
»Willkommen im Traum«, sagte Drava.
»Wieso dauert das so lange?« murrte Cavor und krallte sich mit einer Hand am Gitter des Aufzugkorbs fest. »Nach unten ging es doch sehr viel schneller!«
Furst warf einen empörten Blick auf die niedrige Decke, als könnte das helfen, sie rascher nach oben zu tragen. Der Aufzug schien sich ja mit ausreichender Geschwindigkeit zu bewegen, er ächzte und quietschte und schaukelte, als tue er sein Bestes.
»Nach unten geht es immer schneller als nach oben, Sire. Habt Geduld.«
Aber Cavor hörte den Zweifel in seiner Stimme. »Ich will von hier weg, Furst.«
Furst grinste gehässig. Natürlich. Das konnte er sich schon denken.
Cavors Lippen wurden schmal, als er Fursts Mienenspiel bemerkte. »Wir sitzen beide im selben Boot«, begann er, doch dann unterbrach er sich verwirrt. »Was war das?«
Furst fuhr herum. Der Aufzug schwankte noch heftiger. Der Aufseher hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen.
Schwaches smaragdgrünes Licht sickerte durch Eisengerüst und Drahtgitter.
Im nächsten Augenblick hatte Furst das Licht vergessen, denn Cavor stöhnte laut auf und fiel um wie ein gefällter Baum. Als er wieder aufstehen wollte, waren seine rechte Schulter und der rechte Arm wie festgenagelt. Er konnte sie nicht mehr vom Boden lösen.
»Das Mal«, keuchte Cavor, und der Schmerz grub tiefe Falten in sein Gesicht. »Es wird schwer… so schwer.« Wieder versuchte er ächzend, sich zu erheben, doch dann schrie er auf und drehte sich zappelnd um die Stelle, wo Arm und Schulter festsaßen. »Stein! Das Mal verwandelt sich in Stein!«
Der Aufzug verlangsamte seine Fahrt.
Garths Bestürzung schlug um in staunende Verwunderung. Die Smaragdwände wurden rasch klarer, und dahinter tummelten sich Fische und andere Meerestiere. Er drehte sich langsam um sich selbst und wußte nicht, wohin er zuerst schauen sollte.
Maximilian beobachtete ihn lächelnd, dann suchte er Dravas Blick. Der Herr des Traumreichs nickte ihm zu, und Maximilian schritt an ihm vorbei tiefer in den Stollen hinein.
Drava und Ravenna folgten, immer noch Hand in Hand, und Garth und Egalion, beide wie betäubt von den Bildern, die auf sie einstürmten, eilten hinterher.
Der Stollen hatte immer noch so viele Windungen wie früher.
An der dritten Biegung traf Maximilian auf die erste Sträflingskolonne. Gefangene und Wärter kauerten mit glasigen Augen am Boden und wußten nicht, ob sie noch lebten oder, ohne es zu merken, bereits gestorben waren.
Im zarten Licht der Smaragdwände wirkte der Schmutz, in dem sie lebten, noch erniedrigender, noch menschenunwürdiger als im flackernden Schein der Fackeln.
Maximilian trat mit aufmunterndem Lächeln auf die Gruppe zu und hockte sich nieder. Die Männer starrten ihn aus großen, entsetzten Augen an, aber sie regten sich nicht.
»Drava«, fragte Maximilian ruhig, ohne die Kolonne aus den Augen zu lassen, »willst du mir helfen?«
»Natürlich«, antwortete Drava.
»Erkennt Ihr mich?« fragte Maximilian die Männer.
Schweigen. Dann stieß einer der Sträflinge mit heiserer Stimme hervor. »Ihr seid Maximilian, der verschollene Prinz.«
Maximilian zeigte sein strahlendes Lächeln, und die Männer wurden sichtlich ruhiger. »Ja, ich bin Maximilian, der verschollene Prinz. Ich hatte mich unter das Hangende verirrt… wußtet Ihr das?«
Diesmal antwortete einer der Wärter: »Ich… wir hatten Gerüchte gehört.«
»Ich hatte mich unter das Hangende verirrt, aber ich fand wieder heraus, und das könnt auch Ihr. Sagt mir, wollt Ihr wieder über Tage zurück?«
»Und was erwartet uns über Tage?« rief ein Mann mit rauher Stimme. »Wir sind verurteilte Verbrecher. Ausgestoßene.«
Maximilian schwieg lange. »Es sieht so aus«, sagte er endlich sehr leise, »als wäre ich jetzt König. Und deshalb möchte ich Euch die gleiche Strafe auferlegen, die man über mich verhängt hat.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen und nahm seinen Worten die Strenge. »Ich verurteile Euch, dem Reich zu dienen. Ich brauche eine Ehrengarde. Jemand, der mir den Rücken deckt und meine Leibfahne trägt. Wollt Ihr zu dieser Garde gehören? Wollt Ihr mir und mir allein die Treue schwören?«
»Ihr wollt solche wie uns haben?« fragte ein Mann.
»Ihr vergeßt, daß ich einer von Euch war«, antwortete Maximilian, und seine Stimme schwankte vor Rührung. »Ich wäre stolz darauf, Männer wie Euch bei mir zu haben. Was ist, wollt Ihr mir nun die Treue schwören?«
Nun gab es kein Halten mehr. »Ja!« schrie erst ein Mann, dann ein zweiter, und schließlich stimmten auch alle anderen ein.
Mit schrillem Klirren fielen ihnen die Ketten ab.
»Ich danke dir, Drava«, flüsterte Maximilian und streckte die Hand aus. Alle Männer, Wärter und Sträflinge gleichermaßen, küßten sie und leisteten ihm den Treueid.
Garth stand daneben und war überwältigt. Endlich erhoben sich die Männer. Jetzt hielten sie sich stolz aufrecht, und in ihren Augen leuchtete neue Hoffnung. Einige lächelten sogar.
Maximilian ging weiter, und sie reihten sich hinter Garth und Egalion ein.
»Egalion«, rief Maximilian, »ich überlasse es Euch, so etwas wie eine Marschordnung herzustellen! Ich nehme an, daß bald weitere Männer zu uns stoßen werden.«
»Nein!« schrie Furst, krallte die Finger in das Drahtgeflecht und rüttelte wie wild an der Tür. »Nein! Es war nicht meine Schuld! Warum soll ich dafür sterben!«
Cavors Augen waren starr vor Entsetzen; sein rechter Arm ließ sich nicht mehr bewegen, und die Hand, die unter dem Ärmel seines Wamses hervorschaute, war weiß und von Adern durchzogen wie edelster Marmor. Die linke Hand scharrte hilflos wie eine betrunkene Spinne auf dem Boden umher.
Der Aufzug setzte sich langsam, ganz langsam in Bewegung und glitt abwärts. Mit jedem Moment wurde er schneller.
Und Cavors Arm wurde schwerer.
Hinter jeder Biegung in dem herrlichen Tunnel stießen sie auf weitere Sträflingskolonnen. Mehr, als in diesem Stollen eigentlich sein dürften, dachte Garth. Aber dies war ein Traum, und in Träumen waren auch Ungereimtheiten erlaubt.
Vor jeder Gruppe – alle ohne Ausnahme kauerten, entsetzt über das unerklärliche Geschehen, am Boden – hockte Maximilian sich auf die Fersen, um in aller Ruhe mit den Männern zu sprechen und sie zu überreden, ihm die Treue zu schwören und ihr Leben in seine Hände zu geben.
Sie taten es ohne Zögern, kein einziger weigerte sich.
Bald folgte Garth ein geordneter Zug von unübersehbarer Länge. Die Männer marschierten zuversichtlich und hoch erhobenen Hauptes hinter ihrem König her. Egalion hatte seine Überraschung endgültig überwunden, ging eifrig die Reihen auf und ab und formierte die ehemaligen Sträflinge zu fast schon militärischen Einheiten.
Garth drehte sich gelegentlich um und stellte fest, daß es ohne die Ketten kaum möglich war, die ehemaligen Sträflinge von den Wärtern zu unterscheiden. Mit den Fesseln waren Unterwürfigkeit, Hoffnungslosigkeit und Überheblichkeit –
sowie ein großer Teil des schmutzigen Glommstaubs – von den Männern abgefallen. Mit jedem Schritt, den der Zug tat, verflüchtigte sich mehr von der abscheulichen schwarzen Kruste, bis endlich die gesunde weiße Haut zum Vorschein kam.
Garth blieb kopfschüttelnd stehen. Maximilian hatte wieder eine Kolonne erreicht, war es die vierzigste oder schon die fünfzigste? Er hatte den Überblick verloren.
Der Korb stürzte in die Tiefen der Adern hinab. Neben Cavors verzweifeltem Geheul war nur noch das Kreischen des gemarterten Metalls zu hören. Wir hätten schon längst auf dem Boden aufschlagen müssen, dachte Furst – Was geht hier vor?
Mit welchen Zauberkünsten hält man uns in diesem Alptraum gefangen?
Das grüne Licht umfing sie wie ein weiches Tuch, doch jenseits der Käfiggitter huschten fremdartige dunkle Schatten vorüber.
Maximilian bemerkte sie als erster. Er hatte wieder einmal vor einer Sträflingskolonne gesessen und ihr den Treueid abgenommen. Nun erhob er sich und betrachtete nachdenklich die seltsamen Schemen hinter den Glaswänden: Sie waren nicht Teil des Ozeans – die Fische waren viel weiter entfernt –, sondern schienen im Innern des Glases eingeschlossen zu sein.
Maximilians Augen füllten sich mit Tränen. Die Schatten verdichteten sich, Gliedmaßen, Rümpfe und Köpfe entstanden.
Augen, in denen das Feuer der Verzweiflung brannte, starrten von draußen zu den Menschen im Schacht herein.
»Was ist das?« fragte der Hauptmann leise von hinten. »Wer ist das?«
»Die Seelen derer, die in den Adern ihr Leben ließen, Egalion«, erwiderte Maximilian. »Deren Leiber in irgendein Loch geworfen wurden, wo sie unbeweint verwesten. Ich… ich weiß nicht, was ich für sie tun kann.«
Drava starrte die Erscheinungen lange an – die vielen zuckenden Schatten hinter dem Glas verdunkelten das Licht im Schacht. Dann ließ er unvermittelt Ravennas Hand los, legte die Stirn in angestrengte Falten und stemmte sich mit beiden Händen gegen das Hangende.
»Sie haben dich beobachtet, Maximilian«, sagte er langsam.
»Sie haben dir beim Sterben zugesehen, und sie haben verfolgt, wie du von den Toten auferstanden bist und dein Lachen wiedergefunden hast.« Seine Züge wurden weicher.
»Nun wollen sie das gleiche Wunder erleben.«
Maximilian hob hilflos die Hände. »Die Toten sind unerreichbar für mich, Drava. Ich kann nicht… ich weiß nicht…«
»Nein«, unterbrach Drava. »Nein. Du kannst ihnen nicht helfen… aber ich kann etwas für sie tun.« Er drehte den Kopf leicht zur Seite. »Ravenna, würdest du dich neben mich stellen und mir die Hand auf die Schulter legen?«
Garth beobachtete mit einem Anflug von Eifersucht, wie Ravenna zu Drava trat und tat, was er verlangte. Auch Maximilian hatte sich eingehend mit Ravenna beschäftigt, doch das hatte ihn nicht gestört – es schien nicht mehr als recht und billig zu sein –, aber dieses übernatürliche Wesen wurde ihm allmählich etwas zu vertraulich.
»Ravenna«, sagte Drava, »die verlorenen Seelen möchten wieder leben und lachen, aber ihre menschliche Gestalt kann ich ihnen leider nicht zurückgeben. Das übersteigt meine Fähigkeiten.«
»Sie sehnen sich nach dem Meer«, bemerkte Ravenna leise.
»Das Meer ist für sie gleichbedeutend mit Freiheit.«
»Was schlägst du also vor, du, meine Herrin des Traumreichs?«
Sie lächelte, dann beugte sie sich über Drava und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er lachte entzückt, und seine Finger auf dem Hangenden zuckten, als wolle er in die Hände klatschen.
Die Schatten bewegten sich ungeduldig.
»Es soll geschehen«, flüsterte Drava, plötzlich ernst geworden, »wie du es willst.«
Die Schatten erstarrten, und die gefangenen Seelen schauten mit großen, verwunderten Augen in den Stollen herein…
… und veränderten sich allmählich, ganz allmählich.
Die Körper wurden breiter und noch dunkler. Die Beine wuchsen zusammen, die Arme verdickten und verkürzten sich.
Die Köpfe wurden gedrungener, Gesichtszüge verschwammen und flossen ineinander. Die Augen rundeten und vergrößerten sich und füllten sich mit abgeklärtem Humor.
»Seehunde!« rief Garth erstaunt. »Sie verwandeln sich in Seehunde!«
»Kennst du eine bessere Lösung?« rief Drava. »Als Seehunde genießen sie grenzenlose Freiheit. Sie können lachen und vor Freude in ihre Flossen klatschen und den Himmel anbellen, oder sie können lautlos ins Wasser gleiten, um sich mit den Delphinen in den schattigen Tiefen zu tummeln. Ein Leben voller Heiterkeit und Glück. Ich kann mir kein schöneres vorstellen.«
»Ich auch nicht«, sagte Maximilian leise, und die Tränen rannen ihm über das Gesicht. »Ich auch nicht.«
Cavors Schreie waren verstummt, aber Furst wußte, daß er nicht tot war. Die Augen eines Toten konnten nicht so viel Schmerz aussenden.
Doch bis auf diese Augen und ihre Qual war Cavor vollends zu weißem Marmor geworden.
Sein Gewicht riß den Aufzug unaufhaltsam in die Tiefe.
Sie zogen weiter. Zu Hunderten, ja zu Tausenden erhoben sich die Männer und leisteten Maximilian den Treueid.
Eine Ehrengarde ohnegleichen, dachte Garth. Er war inzwischen leicht benommen.
Bevor er vor Erschöpfung umsinken konnte, ließ Maximilian endlich anhalten. Sie hatten schon nicht mehr geglaubt, das Ende des Stollens noch zu erreichen. Nun lag der Schacht vor ihnen, aber der Aufzugkorb war nicht mehr da.
Maximilian trat an den Rand und blickte nach oben. »Ich sehe eine Leiter!« rief er. Die Schachtwände warfen seine Stimme zurück. »Und über uns leuchtet die Sonne – es sind höchstens fünfzig oder sechzig Schritte.«
Unmöglich, dachte Garth müde. Aber sie waren immer noch in diesem Traum befangen, und darin war alles möglich.
Maximilian setzte den Fuß auf die Leiter und stieg rasch empor. Schon im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Garth stieß einen Seufzer aus und folgte ihm. Hinter ihm kam Egalion. Die ersten der vielen tausend Gefolgsleute schlossen sich an.
Ein Mann nach dem anderen kletterte die Leiter hinauf. Nach einer Weile faßte Drava nach Ravennas Hand und zog sie sanft beiseite.
»Manchmal«, sagte er leise, »fühlt sich der Herr der Träume in seinem Reich sehr einsam. Und wer einsam ist, wird oft auch traurig.«
Sie schwieg und regte sich nicht, aber sie zog auch ihre Hand nicht zurück.
»Und du, Ravenna, bist du nicht manchmal deiner Sümpfe überdrüssig und glaubst, die Tage nähmen nie ein Ende?«
Sie schwieg noch immer und ließ die Augen nicht von den Männern, die an ihnen vorbei zum Schacht zogen, doch sie rückte näher an ihn heran, und er spürte, wie sie ein leichtes Zittern durchlief.
»Herrin«, flüsterte er kaum hörbar, »willst du mit mir über die Traumpfade der Nacht wandeln? Wollen wir gemeinsam den Traum wagen?«
Ravenna hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Dann lächelte sie. »Mit Freuden.«
Niemand bemerkte, wie aus dem Nichts blaue und grüne Nebelfäden entstanden, den Herrn und die Herrin des Traumreichs umschlangen und sie zurückführten in die Finsternis. Nur ein flüchtiger Schatten und der Anflug eines Lächelns blieben zurück.
Die Männer erreichten das Ende der Leiter und sahen die Sonne wieder. Die Zurückgebliebenen empfingen sie tief besorgt.
»Was ist geschehen?« zischte Joseph und zog Garth aus dem Schacht. Vorstus stand dicht hinter ihm. »Wir hörten von unten das Donnern der See… wie… was ist geschehen? Wo ist Cavor?« Er drehte sich etwas zur Seite. »Maximilian – habt Ihr gesiegt?«
Maximilian klopfte sich den Staub ab und lächelte müde.
»Das ist eine lange Geschichte, Joseph, aber… ja, ich bin Sieger geblieben.«
Als sich der Heiler wieder dem Schacht zuwandte, blieb ihm vor Staunen der Mund offenstehen. »Und wer sind alle diese Männer?«
Garth nahm seinen Vater am Arm, führte ihn ein paar Schritte abseits und bemühte sich, ihm das Unbegreifliche zu erklären.
Daß Drava und Ravenna nicht mit aus dem Schacht gekommen waren, bemerkten sie erst viel später.
Furst sank erschöpft zu Boden und wartete auf den – Tod. Daß er ihn holen würde, stand für ihn fest, er fragte sich nur, warum es so lange dauerte.
Cavor war jetzt bis auf die Augen versteinert, und Furst war sicher, daß auch er den Tod herbeisehnte.
Plötzlich überschritt das Kreischen des Aufzugs die Grenze des Erträglichen. Furst schrie auf und preßte sich die Hände an die Ohren.
Im nächsten Augenblick durchbrach der Korb den gläsernen Boden des Schachts und stürzte in die aufgewühlten Tiefen des Ozeans.
Er brauchte sehr, sehr lange, um den Grund des Meeres zu erreichen.