Der Pavillon
Anders als im Traumreich bestand der Pavillon hier aus festem, aber seltsam durchscheinendem weißem Stein. Die hohen Säulen, zwölf an der Zahl, trugen eine smaragdgrüne Kuppel, die einen dunklen Schatten auf den kreisrunden Boden warf.
Maximilian trat mit ruhigem, sicherem Schritt ein. Genau in der Mitte sank er auf die Knie und senkte den Kopf zum Gebet. In dieser Stellung verharrte er lange.
Endlich richtete er sich auf, holte tief Atem und zog sich den Ring seiner Väter vom Finger. Er faßte ihn so, daß der schwarze Stein nach unten zeigte, beugte sich zum mosaikbelegten Boden hinab und fuhr ohne Zögern die Linien nach, die dort mit durchsichtigen blauen Steinchen vorgezeichnet waren.
Cavor vertrieb sich den Nachmittag im Salon der ›Schönen Damen‹ in Myrna. Obwohl die Soldaten bei der Suche nach Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig keine Fortschritte machten, wirkte der König erstaunlich unbekümmert. Gegen Abend versicherte er Egalion (der geduldig draußen wartete), er werde die Königliche Garde an einen anderen Ort in Marsch setzen – wo sie mit größter Wahrscheinlichkeit fündig würde.
Doch gerade als die jüngste und liebreizendste von Anyas
›Damen‹ ihre schwellenden Lippen seinem Mund näherte, stieß Cavor einen Schrei aus, der ganz und gar nichts mit Liebeslust zu tun hatte, und schob sie unsanft beiseite.
Sein Mal brannte, als stünden die Linien in Flammen.
Maximilian zeichnete langsam, aber ganz vertieft in sein Tun, so lange weiter, bis das Bild vollendet war. Dann atmete er erleichtert auf und trat zurück, ohne den Blick vom Boden zu heben.
Der Boden war mit dunkelgrünen Kacheln gefliest, in die mit etwas dickeren blauen Mosaiksteinchen das gleiche Motiv eingelegt war, das auch auf Maximilians Arm prangte.
Nun begann das Grün zu flimmern, die blauen Linien erzitterten, und Maximilians eigenes Mal brannte wie Feuer.
Er nahm es kaum wahr.
Die blauen Linien wurden lebendig, Stein wurde zu Bein, und bald stand eine plumpe Gestalt im Raum.
Cavor wehrte Anyas besorgte Fragen ab, stolperte auf die Veranda hinaus und packte Egalion an der Schulter. Der überraschte Hauptmann nahm rasch Haltung an.
»Holt mir mein Pferd«, flüsterte der König heiser, »und trommelt Eure verdammten Schwadronen zusammen! Wir reiten in die Königlichen Wälder. Sofort!«
Der Manteceros schüttelte sich mit einem tiefen Seufzer. Der Wechsel aus dem Traumreich hierher war – wie immer – kein reines Vergnügen. In dieser Welt gab es nichts als Ärger und Schwierigkeiten, und diesmal mußte er damit rechnen, in die größte Streitfrage seiner ganzen Geschichte hineingeraten zu sein.
Lange sah er sich mit seinem traurigen Gesicht und den schwermütigen Augen im Pavillon um. Endlich richtete sich sein Blick auf den Mann, der vor ihm stand. »Wer fordert den Thron?« fragte er. »Wer wagt den Traum?«
»Ich«, sagte der Mann ruhig und mit einem unbewußten Stolz, der dem Manteceros nicht entging.
»Und wer bist du…?«
Maximilian richtete sich hoch auf. Welch erstaunliches Geschöpf! Aber er hatte keine Angst, selbst seine Scheu hielt sich in Grenzen. Schließlich war er vierzehn Jahre lang auf diesen Augenblick vorbereitet worden.
Der Prinz stellte sich mit allen seinen Titeln vor. »Ich bin Maximilian Persimius, Prinz von Escator, Statthalter von Ruen, Herr über die Häfen und Protektor der Ebenen. Und ich bin der Erbe des Throns von Escator.«
»Ach, da wäre ich mir nicht so sicher«, murmelte der Manteceros und trat unruhig von einem Bein auf das andere.
»Warum hast du mich gerufen?« fragte er lauter, aber nicht weniger skeptisch. Er kannte ja den Grund – aber es galt, die Form zu wahren.
»Ich fordere den Thron von Escator.«
Die Erregung des Manteceros wuchs. »Du wagst es, den Thron zu fordern? Du…«
»Ich wage es«, unterbrach ihn Maximilian leise. Die Augen des Manteceros wurden schmal. »Ich fordere den Thron.«
»Das ist bedauerlich«, stellte der Manteceros fest. »Sehr bedauerlich. Denn der Thron ist nicht verwaist.«
Maximilian schwieg, sah aber das Wesen aus seinen blauen Augen unverwandt an.
»Hm«, machte der Manteceros und stieß einen tiefen Seufzer aus, der eher einem Schnauben glich. »Und warum jetzt?
Warum hast du so lange gewartet?«
»Ich wurde getäuscht und gewaltsam daran gehindert, meine Forderung zur rechten Stunde vorzubringen.« Maximilian hielt inne. »Nun sitzt der falsche Mann auf dem Thron.«
»Seine Forderung war überzeugend«, rechtfertigte sich der Manteceros.
Maximilian ließ sich nicht beirren. »Dennoch ist er der falsche Mann.«
Der Manteceros erinnerte sich, was Garth ihm erzählt hatte, und schürzte die Lippen. »Man hört, du hältst dich für einen Wechselbalg«, reizte er den Bewerber.
»Mit dieser Lüge suchte man mich zu fesseln und zu knebeln.
Doch ich bin reinen Geblüts, ich bin der Erstgeborene, und ich wurde zum Prinzen erzogen.« Maximilians Ton wurde schärfer. »Der Thron steht allein mir zu.«
Der Manteceros schlug mit dem Schwanz, und ein Zucken überlief seinen Rücken. »Du weißt, daß ich euch beide der Prüfung unterziehen muß.«
Maximilian schwieg und sah das Wesen nur an.
»Du bist dir deiner Sache sehr sicher«, bemerkte der Manteceros, und in seine Augen trat ein seltsames Leuchten.
»Aber bist du dir auch sicher genug, um die Prüfung zu wagen? Hast du die Kraft und den Mut, die Sache bis zum Ende durchzustehen?«
»Mir bleibt keine Wahl«, antwortete Maximilian. Doch der Ausdruck in den Augen des Manteceros gab ihm zu denken.
»Wirst du meine Forderung zulassen?«
»Mir bleibt keine Wahl«, entgegnete der Manteceros trocken.
»Und die Prüfung? Wann wirst du sie durchführen?«
Der Manteceros sah den hartnäckigen Störenfried starr an.
»Cavor sitzt auf dem Thron. Trag ihm deine Forderung vor, dann kann die Prüfung stattfinden.«
Ein blauer Blitz zuckte auf, so grell, daß Maximilian die Augen schließen und zurücktreten mußte, und der Manteceros war verschwunden.
»Zu spät!« zischte Cavor und parierte sein Pferd abrupt durch.
Sie waren auf der Straße nach Osten. »Ich habe mich zu lange in diesem schwarzen Dreckloch aufgehalten!«
»Sire?« murmelte Egalion verwirrt. Die Kolonne hinter ihm kam mühsam zum Stehen.
Cavor sah den Hauptmann wütend an. »Nehmt Euch drei Schwadronen und reitet in die Wälder, Egalion. Sucht jeden Winkel ab, wo sich der Flüchtling verstecken könnte. Ich…«
Jetzt sprach er so leise, daß Egalion sich vorbeugen mußte, um ihn zu verstehen. »Ich reite nach Ruen. Nach Hause. Um den Thron zu schützen. Und zu warten. Irgendwann wird er kommen.«
Was heißt ›den Thron schützen‹? dachte Egalion, aber er sprach die Frage nicht aus. »Wie Ihr befehlt, Sire.« Er rief die entsprechenden Kommandos, und bald hatten sich hinter ihm drei Schwadronen formiert.
S ie verbrachten den Nachmittag und den ganzen nächsten Tag in der Hütte im Fels. Maximilian war still und in sich gekehrt, und die anderen warteten auf ein Zeichen von ihm, wie es weitergehen sollte.
Am Abend des Tages, der dem gefolgt war, an dem er seine Forderung vorgebracht hatte, hob Maximilian den Blick vom Feuer zu den vier Menschen, die still um ihn herumsaßen, und sagte nur ein Wort: »Ruen.«
Am nächsten Morgen brachen sie auf. Geheimnisvolle Stille lag über den Wäldern. Selbst das Gezwitscher der Vögel klang gedämpft, doch Maximilian hatte mit seiner Nachdenklichkeit auch die anderen angesteckt, und so fragte sich niemand, warum das so war.
Garth und Joseph ritten auf ihren Pferden vor dem kleinen Zug her. Fünfzehn oder zwanzig Schritt hinter ihnen ging, in Geheimnisse gehüllt wie in einen dicken Mantel, Ravenna. Ihr folgten in zehn Schritten Abstand Maximilian und Vorstus.
Der Prinz hatte die Kleider abgelegt, in denen er seine Forderung erhoben hatte, und trug nun die graubraune Tracht eines Waldhüters – aber Garth fand, daß die Erhabenheit seiner Bestimmung selbst dieses grobe Gewebe durchstrahlte.
Niemand hätte ihn übersehen können.
Maximilian und Vorstus erörterten leise den sichersten Weg nach Ruen (durch die Wälder, so lange es möglich war, dann im Schutz der Dunkelheit über die Ebenen) und die wesentlich heiklere Frage, wie sie sich verhalten sollten, wenn sie dort eintrafen. Um Cavor den Thron streitig zu machen, mußte der Prinz irgendwie in den Palast gelangen. Wie stellte man das am besten an? Vorstus faßte Maximilian am Arm, und seine Stimme wurde noch leiser.
Der Morgen war klar und, soweit Garth durch die dichten Äste sehen konnte, auch sonnig. Er saß in lässiger Haltung im Sattel und beschloß, sich keine Sorgen mehr zu machen, solange sie noch so weit von Ruen entfernt waren. Joseph sah lächelnd zu ihm herüber, richtete aber den Blick gleich wieder auf den Pfad; das Sonnenlicht zeichnete helle Flecken auf das tote Laub, das den Boden bedeckte. Staunend spürte der Heiler den tiefen Frieden, von dem dieser Wald durchdrungen war.
Zu seiner Rechten raschelte es leise. Er drehte den Kopf zur Seite. Vielleicht ein Dachs, der das Unterholz durchstöberte.
Doch statt dessen sah er blanken Stahl aufblitzen.
Und der Friede des Waldes war jäh zerstört.
Zehn Minuten zuvor hatten die Kundschafter gemeldet, ein Stück weiter vorn bewege sich etwas. So hatte der kampferfahrene Egalion genügend Zeit gehabt, vor einer besonders schattigen Stelle den Hinterhalt aufzubauen, bevor die beiden Reiter auftauchten. Egalion hatte sich am Hof aufgehalten, als Joseph Baxtor vor fast zwei Wochen Cavors Wunde behandelt hatte, und erkannte die beiden sofort.
Und er wußte auch, daß sie verdächtigt wurden, den Ausbruch des Sträflings geplant und durchgeführt zu haben.
Egalion gab mit einem knappen Handzeichen den Befehl zum Angriff – weder der Heiler noch sein Sohn konnten noch entkommen. Wenige Herzschläge später waren sie von Schwertern umringt. Sie wurden bleich vor Schreck, und ihre Pferde warfen verstört die Köpfe.
Die Fußgänger, die hinter den Baxtors kamen, bemerkte Egalion zu spät.
Zuerst sah der Hauptmann die junge Frau – sie fuhr herum und stemmte sich mit beiden Händen gegen einen hoch gewachsenen schwarzhaarigen Mann, der beim Anblick der umzingelten Reiter nach vorn stürmen wollte.
Der Mann war auffallend blaß, seine großen blauen Augen sprühten vor Zorn, und er öffnete den Mund, um den Soldaten etwas zuzurufen.
Ein zweiter Mann, älter und mit einer kleinen Mönchsglatze, packte ihn von hinten an den Armen und bemühte sich ebenfalls, ihn zurückzuhalten.
Egalion gab seinem Pferd die Sporen und sprengte an den Soldaten vorbei, die nun alle die Baxtors umdrängten. Diesen Mann mußte er sich schnappen, bevor er entkommen konnte.
Es konnte kein anderer als der Sträfling sein – wen sonst sollten die Baxtors in diesen Wäldern verstecken? –, und er durfte ihm nicht durch die Lappen gehen, denn ohne ihn hätte auch die Gefangennahme der beiden Baxtors keinen Wert.
Wegen des Mädchens und des Mönchs machte sich Egalion weiter keine Gedanken; das Mädchen war zu zart und der Mönch zu alt, sie konnten einem gepanzerten Reiter nicht ernsthaft gefährlich werden. Und keiner von beiden trug eine Waffe.
Egalion hatte bereits sein Schwert gezückt, da hielt er inne.
Das Gesicht des Mannes – des Sträflings – kam ihm bekannt vor, und das verwirrte ihn. Sein Auftreten, seine rechtschaffene Empörung in einem Moment, da jeder andere gezittert hätte, paßten eher zu einem Adligen als zu einem Verbrecher, der sich eigentlich beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten im Schatten hätte verkriechen müssen.
Egalion stand hoch in den Fünfzigern und konnte sich noch gut an den früheren König erinnern.
Und auch – wie kam er gerade jetzt darauf? – an den jungen Prinzen, der einst hier in diesem Wald verschwunden war.
»Maximilian!« schrie die junge Frau und legte die Arme um den Mann. »Nein!«
Wie aus dem Nichts entstanden Nebelfäden und schlangen sich um den Mönch und das Mädchen. Beide klammerten sich weiter an den Sträfling und suchten ihn davon abzuhalten, nach vorn zu stürmen und den Baxtors zu Hilfe zu kommen.
Maximilian? Egalions Verwirrung wuchs.
Sein Pferd spürte seine Unsicherheit und stockte. Das verschaffte Ravenna die Frist, die sie brauchte, um Maximilian aus der Falle zu befreien. Sie drückte ihn fest an sich und hüllte ihn und Vorstus in einen Nebel, der sich rasch verdichtete. Dann vollzog sie mit letzter Kraft den Übergang in die Welt der Träume.
Egalion hörte von hinten Reiter heransprengen… aber es war zu spät… viel zu spät. Eben hatten die drei Gestalten noch mitten auf dem halbdunklen Pfad miteinander gerungen und ihn alle – jetzt auch die junge Frau – mit einem Ausdruck trotziger Empörung angestarrt, dann hatte sich ein unheimlicher Nebel um sie gelegt, und bevor der Hauptmann noch wußte, wie ihm geschah, waren sie plötzlich verschwunden.
Sein Pferd erreichte die Stelle, wo sie gestanden hatten, und überschritt sie, ohne auf Widerstand zu stoßen. Egalion riß an den Zügeln, wendete das Tier und suchte fieberhaft Gestrüpp und Bäume ab.
Doch seine Suche blieb ohne Erfolg, und als seine Männer den Wald im näheren Umkreis durchstöberten, scheuchten sie nur ein Dutzend Vögel und eine Eidechse auf. Der Hauptmann mußte unverrichteter Dinge nach Ruen zurückkehren. Cavor würde sich mit den beiden Baxtors begnügen müssen, um seine Rachegelüste zu befriedigen.
Unterwegs ging Egalion ein Name nicht mehr aus dem Kopf.
Maximilian? Maximilian?
Im Gerichtssaal war es kalt. Das lag, dachte Joseph, nicht nur an den steinernen Mauern und Fußböden. In diesem Raum wurde seit Jahrhunderten Vergeltung geübt, und deshalb hing die Angst darin wie ein eisiger Hauch.
Der Heiler war mehrfach hier gewesen, zweimal als Zuschauer bei einem Prozeß und einmal als Zeuge, aber er hätte sich niemals träumen lassen, daß er irgendwann einmal selbst auf der Anklagebank sitzen könnte.
Ohne Rücksicht auf das warnende Knurren des hinter ihm postierten Gardisten warf er einen raschen Blick zu Garth hinüber, der wie versteinert neben ihm saß.
Der Junge war blaß, wirkte aber gefaßt. Joseph schaute wieder nach vorn. Er hätte sich mit Freuden geopfert, um damit das Leben seines Sohnes zu retten, aber es war nicht anzunehmen, daß Cavor auch nur einen von ihnen verschonen würde.
Egalion hatte sie in aller Eile aus dem Wald heraus und geradewegs nach Ruen geführt. Sie wurden schwer bewacht, aber in keiner Weise mißhandelt. Manchmal bemerkten Garth und Joseph, wie Egalion sie nachdenklich betrachtete, und wunderten sich darüber.
Der Hauptmann hatte seinen Untergebenen jede Unterhaltung mit den Gefangenen streng verboten, und ließ auch nicht zu, daß Vater und Sohn miteinander sprachen. Er selbst saß am Abend meist schweigend und in Gedanken versunken am Lagerfeuer.
Mit Egalions strenger, aber achtsamer Behandlung war es jedoch vorbei gewesen, als sie Ruen erreichten und Cavor selbst die Sache in die Hand nahm. Joseph und Garth wurden in kalte, finstere Einzelzellen geworfen und blieben dort zwei Tage lang, ohne daß jemand zu ihnen gekommen wäre oder mit ihnen gesprochen hätte. Joseph wurde allerdings den Verdacht nicht los, daß Cavor mehrmals höchstpersönlich in die Verliese hinabstieg, um sich vor die Eisentüren zu stellen und durch die Gucklöcher zu spähen.
Bisweilen spürte er hinter der Tür seiner Zelle soviel Zorn und Haß, daß er sich fröstelnd abwandte.
Selbst hier im Gerichtssaal waren sie von einer Mauer des Schweigens umgeben, denn Cavor wollte natürlich vermeiden, daß jemand erfuhr, wem die beiden Baxtors zur Flucht verholfen hatten.
Dennoch war der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt.
Unmittelbar vor dem Podest, auf dem Cavor Gericht zu halten pflegte, und neben der Anklagebank saß eine ganze Horde von Schreibern mit gespitzten Federkielen und gefüllten Tintenfässern. Sie warteten auffallend regungslos, doch ihren scharfen Augen entging nichts.
Dahinter drängten sich mehrere hundert Zuschauer. Zumeist waren es Adlige, doch Joseph erkannte auch etwa zwei Dutzend Honoratioren und reiche Kaufleute der Stadt Ruen und hinter ihnen eine bunte Mischung aus kleinen Händlern und Handwerkern. Noch weiter im Hintergrund lauerten drei oder vier Langfinger und Taschendiebe – um der Verhandlung beizuwohnen oder sich zu bereichern? Joseph wußte es nicht, und es war ihm auch herzlich gleichgültig.
Die Menge war umringt von Soldaten, mindestens vier Schwadronen von Egalions erfahrensten Leuten. Sie verzogen keine Miene, aber jeder Muskel ihres Körpers war angespannt.
Egalion selbst stand an einer Seite des Podests und wartete, schweigend wie alle anderen, auf Cavor.
Den Angeklagten gegenüber stand die leere Geschworenenbank. Joseph fand den Anblick nicht gerade ermutigend, aber Verhandlungen wegen Hochverrats wurden schließlich immer ohne Geschworene geführt.
Er ließ eine Hand unauffällig sinken und berührte mit sanftem Druck die Hüfte seines Sohnes. Erfreut spürte er, wie sich dessen Muskeln ein wenig entspannten. Bevor seine Bewacher es sehen und den Kontakt unterbrechen konnten, ließ er alle Liebe durch seine Finger strömen, die er zu geben hatte.
Daß Garth in diese Falle geraten war, belastete ihn mehr als alles andere. Der Junge war noch viel zu jung, um zu sterben.
Im nächsten Augenblick wurden alle Anwesenden aus ihren wie auch immer gearteten Gedanken gerissen. Cavor betrat durch eine Tür am hinteren Ende den stillen Saal und ging mit forschen Schritten auf das Podest zu. Er trug das blaue Gewand mit dem Bärenfell, die Amtstracht des Obersten Richters. Darunter sah Joseph einen blanken Harnisch mit dem Wappen des Manteceros aufblitzen.
Der Heiler verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.
Hatte Cavor es wirklich nötig, sich vor Maximilians Rückkehr hinter einer Rüstung zu verstecken?
Doch das Lächeln erlosch gleich wieder. Joseph hatte erhebliche Zweifel, daß Maximilian selbst mit Unterstützung durch Ravennas und Vorstus’ übernatürliche Kräfte imstande wäre, ihn und seinen Sohn vor dem Untergang zu retten.
Im Gegensatz zu seinem Vater war Garth fest davon überzeugt, daß Maximilian sie retten werde. Sie hatten das Recht auf ihrer Seite, und wenn an diesem Tag ein Urteil erginge, dann würde es sich doch gewiß gegen Cavor richten und nicht gegen ihn selbst oder seinen Vater.
Garth beobachtete, wie Cavor seinen Platz einnahm, und seine Züge verhärteten sich. Der König hatte es betont vermieden, sie anzusehen. Bevor er sich auf dem Richterstuhl
– einem hölzernen Thronsessel mit hoher Lehne und üppigen Schnitzereien – niederließ, ordnete er umständlich sein Gewand. Als er schließlich den Kopf hob, stellte Garth fest, daß er auf seine Gesichtszüge nicht weniger Sorgfalt verwendet hatte. Sein Antlitz strahlte zu gleichen Teilen Trauer und Enttäuschung aus. Ganz der König, der von Menschen, denen er blind vertraut hatte, aufs schmählichste verraten worden war. Garth mußte ihn bewundern; kaum jemand von den Anwesenden hätte tief genug unter diese Maske sehen können, um zu den Lügen und Geheimnissen vorzudringen, die Cavor seit siebzehn Jahren hütete.
Weit hinten steckte einer der Straßendiebe die Hände zur Abwechslung einmal in die eigenen Taschen und verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. Er hatte die Gerüchte, die sich in den letzten Tagen auf den Straßen verbreitet hatten, so eifrig gesammelt wie sonst nur das Geld seiner Mitmenschen.
Allerdings hatte er sie weitergegeben – was er mit den gehorteten Münzen im allgemeinen nicht tat.
Doch Garth konnte die Menschen im hinteren Teil des Saales leider nicht sehen. Ein Gardist versetzte ihm einen Stoß in den Rücken, und er und sein Vater standen auf.
Cavor hob den Kopf. Sein Gesicht war ernst und gefaßt, doch aus seiner Stimme sprach der Gram des Betrogenen. »Meine geliebten Untertanen. Sosehr ich es bedauere, ich mußte Euch heute in diesem Saal versammeln. Auf der Anklagebank« – er sah Joseph und Garth nicht an – »sitzen zwei Männer, die ich einst zu meinen Freunden zählte. Ich vertraute ihnen nicht nur meine Geheimnisse an…«
Aber nicht alle, dachte Garth bitter.
»… sondern sogar mein Leben.« Cavor erschauerte theatralisch und schloß kurz die Augen. »Ich war mit ihnen allein, sie hätten mir das Messer in die Brust stoßen können.
Fragt mich nicht, warum sie es nicht taten. Vielleicht fehlte ihnen der Mut.« Er hielt inne. »Aber ich will nicht abschweifen.«
Seine Stimme gewann an Kraft, er richtete sich auf. Seine Wangen röteten sich leicht, als hätte ihn das ungeheuerliche Verbrechen der beiden Baxtors mitten ins Herz getroffen. »Der Heiler Joseph aus Narbon und sein Sohn und Schüler Garth sind des Hochverrats in seiner schändlichsten und verwerflichsten Form angeklagt. Sie leisteten wissentlich Beihilfe zu einem Massenausbruch von Sträflingen, die rechtmäßig zur Zwangsarbeit in den Glomm-Minen verurteilt worden waren…«
Ein diskreter Schauer des Entsetzens überlief die Adligen in den vorderen Reihen, aber Garth bemerkte, daß die gewöhnlichen Bürger von Ruen weiter hinten sich davon nicht anstecken ließen. Das Glomm hatte zu vielen von ihnen Ehemänner, Söhne und Brüder geraubt.
Garths Blick wanderte zu Egalion. Das Gesicht des Hauptmanns war so nichtssagend wie eine Felswand.
Ermutigt von der Zustimmung der Adligen, fuhr Cavor fort:
»Sobald das Gesindel wieder frei und unbeschwert unter der Sonne des Tages wandelte, wollten sie das Volk von Escator zum Aufstand gegen den Thron aufwiegeln. Ich bin überzeugt, meine Freunde« – Cavors Stimme wurde leiser, als schmerzten ihn die Worte wie der Tod eines geliebten Menschen –, »daß Joseph Baxtor, besessen von nackter Machtgier, nichts anderes vorhatte, als selbst den Thron zu besteigen.«
Garth und seinem Vater blieb der Mund offenstehen, und Joseph setzte zum Sprechen an, aber Cavor kam ihm zuvor.
»Schweigt still!« zischte er, und die Hand, in der er die Reichskugel hielt, zitterte heftig. »Ich will Eure erbärmlichen Ausflüchte nicht hören! Eure Taten sprechen für sich, jedes Wort reißt Euch nur noch tiefer hinein in die Feuer der ewigen Hölle.«
Garth glaubte zu ersticken. Cavors Lügen waren so ungeheuerlich, daß er es kaum noch ertrug, sie weiter anzuhören.
Aber Cavor hatte schließlich eine Menge zu verbergen.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein Ausdruck der Bestürzung über Egalions Gesicht huschte. Aber der Hauptmann hatte die Beherrschung sofort wieder zurückgewonnen. In den hinteren Zuschauerreihen wurde es unruhig, doch auch das war gleich wieder vorbei.
Cavor legte für einen Augenblick die Hand über die Augen, dann fuhr er, ruhiger geworden, mit beherrschter Stimme fort:
»Der Plan ist mißlungen – dank ihrer Unfähigkeit. Nur ein einziger Sträfling konnte entkommen.« Auf die Identität dieses Sträflings ging er nicht ein. »Doch ein Gericht hat nach den Absichten zu urteilen und nicht nach den Fähigkeiten. Und deshalb« – er nahm einen tiefen Atemzug und lehnte sich zurück – »fälle ich folgenden Spruch. Egalion?«
Der Hauptmann fuhr zusammen, als sei er mit seinen Gedanken weit weg gewesen.
»Egalion. Ich bitte um die verhüllte Axt.«
Garth überlief ein Schauer, obwohl er entschlossen war, sich nicht beirren zu lassen. Die verhüllte Axt sollte sein und seines Vaters Schicksal offenbaren, und Garth zweifelte nicht daran, wie die Entscheidung ausfallen würde.
Egalion trat hinter den Richterstuhl und nahm von einem kleinen Sockel ein großes Tablett, das mit einem Tuch aus tiefrotem Samt bedeckt war. Dann bestieg er das Podest, um damit vor seinen König zu treten.
»Die Leute munkeln«, ließ sich eine derbe Stimme aus den hinteren Zuschauerreihen vernehmen, »die Baxtors hätten Prinz Maximilian aus den Adern befreit.«
Egalion war noch mehrere Schritte von Cavor entfernt. Nun zuckte er erschrocken zusammen und wäre fast gestolpert, doch er fing sich rasch wieder.
Cavor verlor die Fassung und fuhr von seinem Sessel auf.
»Ergreift diesen Mann!« brüllte er, bevor er sich zögernd wieder zurücksinken ließ.
Sofort stürzten sich etliche Gardisten in die Menge, aber es war schon zu spät. Dumpfes Gemurmel durchlief die Reihen und wurde immer lauter. »Maximilian? Am Leben?
Maximilian? Nicht tot? Was? Wer? Maximilian?«
»Ja!« rief eine andere noch rauhere Stimme. »Lebendig begraben und wieder auferstanden!«
Garth und Joseph wechselten einen raschen Blick – das mußte das Werk des Waldhüters Alaine sein.
Bevor weitere Stimmen laut werden konnten, bahnten sich die Gardisten einen Weg durch die Mauer aus Händlern und Straßendieben, ergriffen vier oder fünf Männer und schleppten sie zu den hinteren Türen hinaus. Damit war die Ordnung halbwegs wiederhergestellt, und das Raunen verstummte.
Doch eine gewisse unterschwellige Spannung blieb.
Cavor lächelte aufmunternd, doch Garth, der dicht vor ihm stand, konnte beobachten, wieviel Überwindung ihn das kostete. »Seht Ihr, meine Freunde? Der abscheuliche Verrat zieht immer weitere Kreise!« rief er. »Gewiß hatten die Baxtors geplant, einen armen Sträfling als Prinzen zu verkleiden und für Maximilian auszugeben – dessen Seele in Frieden ruhen möge.«
Zum ersten Mal sah er Garth und Joseph offen an. »Oder wolltet Ihr Eurem Sohn das Haar färben, um ihn dem Volk als Thronfolger zu verkaufen?« Cavor lachte kurz auf und wurde sofort wieder ernst. »Dieser Abgrund von Verrat schmerzt und« – jetzt flüsterte er nur noch – »betrübt mich zutiefst.
Egalion.«
Der Gardehauptmann trat an die Seite des Königs und reichte ihm das verhüllte Tablett, doch dabei hob er den Kopf und sah Garth und Joseph an. Seine Haltung war selbstbewußt, aber seine Augen blickten verstört.
Cavor bemerkte es nicht. Die Unruhe im hinteren Teil des Saals hatte ihn verunsichert, er wünschte, er hätte dem Pöbel von vornherein den Zutritt verboten. Aber ein Verfahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit hätte womöglich den Eindruck erweckt, er habe etwas zu verbergen, und so hatte er die Türhüter angewiesen, so viele Zuschauer einzulassen, wie der Gerichtssaal zu fassen vermochte.
Nun wollte er die Sache rasch zu Ende bringen. Er befahl Egalion mit einer Handbewegung, einen Schritt vorzutreten, damit alle ihn sehen konnten, und sich den Gefangenen auf der Anklagebank zuzuwenden. Dann faßte er eine Ecke des roten Samts, hob die Augen und sah auf die Baxtors hinab.
Beide erwiderten den Blick mit einer geradezu herausfordernden Ruhe, die Cavor bestürzte.
Er schluckte krampfhaft. »Sehet das Urteil«, rief er und zog das Tuch rasch beiseite.
Die Axt der Gerechtigkeit blitzte im Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster in den Saal fiel.
Die Schneide war eindeutig auf die beiden Angeklagten gerichtet.
Der Tod.
Hätte die Schneide von den Gefangenen weg gezeigt, dann wäre das Urteil zu ihren Gunsten ausgefallen. Aber sie hatten beide nie daran gezweifelt, daß das scharfe Eisen auf sie deuten würde.
Wieder durchlief ein Raunen den Saal.
Cavor war kreidebleich geworden. »Der Tod«, flüsterte er.
»Egalion? Ich fordere Euch auf, das Urteil auf der Stelle zu vollstrecken.«