Die Forderung
Sie aßen miteinander, dann unterhielten sie sich eine Weile, und schließlich legte Maximilian sich schlafen, denn er hatte eine lange Nacht vor sich.
»Hat Cavor schon Soldaten in den Wald geschickt, Alaine?«
fragte Vorstus den Waldhüter.
Der schüttelte den Kopf und kratzte sich den dichten Bart.
»Die letzten Soldaten habe ich vor zwei Tagen gesehen, sie schwärmten nach Westen und nach Süden aus, in Richtung Ruen. Der Wald ist frei, soweit ich weiß.« Er warf einen Blick auf Vorstus und dann auf den schlafenden Prinzen. Ein Grinsen teilte seinen Bart. »Die Götter müssen die Hand über Euch gehalten haben, Vorstus, sonst wärt Ihr auf dem Weg hierher im freien Gelände sicherlich auf eine Streife gestoßen.«
»Mich dünkt«, sagte Garth leise und starrte aus dem Fenster in die wachsende Dunkelheit hinaus, »die Götter hätten an Maximilian noch einiges gutzumachen.«
Der Waldhüter wurde ernst. Maximilians Geschichte hatte ihn tief berührt. »Die Menschen werden sich freuen, von seiner Rückkehr zu hören.«
»Seid Ihr da ganz sicher, Alaine?« fragte Vorstus scharf.
»Cavor ist an sich kein schlechter König.«
»Mag sein«, murmelte Ravenna von der Seite her. Die Dämmerung schmiegte sich um sie wie ein zärtlicher Nebel.
»Aber Prinz Maximilian gehörte die Liebe des Volkes.«
Alaine nickte. »So ist es, Herrin.« Ravenna lächelte ein wenig, als sie die Anrede hörte. »Als Junge wandelte Maximilian in der Sonne der Götter, und sicher wünschen sich viele, daß diese Sonne auch jetzt wieder auf Escator scheine.«
Er wandte sich an Vorstus. »Wird er den Thron fordern, Bruder?«
Vorstus nickte. »Heute nacht macht er sich bereit, und morgen früh wird er die Forderung vorbringen.«
»Bruder…« Alaine zögerte. »Ihr sprecht es nicht offen aus, aber ich bin kein Dummkopf. Ich sehe, wie Cavor ganz Nord-Escator auseinandernimmt, um Maximilian zu finden. Nicht wahr, es war Cavor, der den jungen Prinzen verschleppen ließ?«
Vorstus deutete auf seine drei Gefährten, die den Waldhüter jetzt aufmerksam beobachteten. »Wir sind davon überzeugt, Alaine, aber wir haben keinen Beweis.«
»Cavors Benehmen nach der Flucht eines einzelnen Sträflings ist Beweis genug«, stellte Alaine trocken fest. Er hatte sich entschieden. »Der Prinz wird Freunde brauchen.
Freunde, die auch bereit sind, sich öffentlich für ihn einzusetzen, wenn seine Forderung bekannt wird.«
»Das könnt Ihr schon uns überlassen!« rief Garth gekränkt.
Alaine nickte und legte ihm die Hand auf das Knie. »Gewiß, junger Freund. Aber Ihr vier hier in diesem Raum seid nicht genug. Maximilian braucht weitere Unterstützung.« Der Waldhüter wandte sich wieder an den Abt, den er, seit Maximilian eingeschlafen war, als den Anführer der kleinen Gruppe betrachtete. »Laßt mich Euer Wegbereiter sein, Vorstus. Ich will gleich anfangen, die Nachricht zu verbreiten.«
Vorstus rang noch mit sich. »Voreiliges Handeln könnte mehr schaden als nützen.«
»Wenn die Forderung steht, muß alles sehr schnell gehen; Cavor wird die Sache nicht auf sich beruhen lassen.
Maximilian wird Freunde brauchen, mehr Freunde, als hier in diesem Raum versammelt sind. Eile tut not.«
Er hatte den Abt überzeugt. »Dann gebt acht.« Vorstus zog ein Stück Papier aus seinem Bündel und schrieb einige Namen darauf. »Geht zuerst zu diesen Männern. Es sind Angehörige des Persimius-Ordens. Berichtet ihnen, was geschehen ist. Sie werden Euch helfen. Wir haben bereits viele Verbindungen geknüpft. Alles wartet nur auf diesen Tag.«
»Gut.« Alaine überflog die Liste und steckte sie in die Tasche, in der bis vor kurzem noch der Ring des Persimius geruht hatte. Dann erhob er sich ohne ein weiteres Wort, warf einen letzten Blick auf Maximilian, befestigte seine Axt am Gürtel und wandte sich zum Gehen. Vor der zerstörten Tür tippte er sich noch einmal grüßend mit dem Finger an die Stirn und war verschwunden.
Als es dunkel wurde, rüttelte Vorstus Maximilian wach.
Ravenna hatte Essen und Trinken für ihn bereit, doch der Prinz lehnte ab. Nachdem er leise einige Worte mit dem Abt gewechselt hatte, verließ er die Hütte.
Garth sah ihm besorgt nach. »Vorstus? Was hat er vor? Wird ihm auch nichts zustoßen?«
»Nur ruhig, mein Junge.« Der Mönch setzte sich zu ihm und Ravenna. »Es droht ihm keine Gefahr.«
»Er bereitet sich darauf vor, seinen Thron einzufordern«, sagte Joseph nachdenklich. »Und dazu muß er eine Nacht in Besinnung und Gebet verbringen.«
»Oh«, sagte Ravenna. Jetzt verstand sie, warum er nicht hatte essen wollen. »Und er muß fasten. Erst wenn er seelisch und körperlich geläutert ist, kann er seine Forderung vorbringen.«
Vorstus sah sie freundlich an. »So ist es, mein Kind. Doch Maximilians Seele ist trotz all seiner Leiden wohl schon jetzt reiner und lauterer als die Seele des Mannes, dessen Stelle er einnehmen will.«
Als Garth am nächsten Morgen erwachte, war Maximilian zurück und saß am Fenster im Sonnenschein. Frieden erfüllte sein Antlitz, eine tiefe Ruhe sprach aus seinem Blick. Garth hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so völlig mit sich und der Welt im reinen sein mochte.
Der Manteceros auf seinem Arm hüpfte im Schein der Morgensonne auf und ab, als führe er Freudentänze auf.
»Wann?« fragte Vorstus und erhob sich von seinem Lager.
»Bald«, antwortete Maximilian. »Aber für ein Frühstück bleibt noch Zeit.«
Wieder lehnte der Prinz alle Speisen ab und trank nur einen Schluck klares Wasser. Die anderen aßen rasch und schweigend. Erwartungsvolle Spannung lag über dem Raum, doch Maximilian schien erstaunlich frei von der Erregung, die sich seiner Gefährten bemächtigt hatte. Sogar die sonst so beherrschte Ravenna ließ einen Teller und mehrere Gabeln fallen, wurde knallrot im Gesicht und entschuldigte sich hastig.
Um den Mund des Prinzen zuckte ein Lächeln, und er beobachtete aufmerksam jede ihrer Bewegungen, aber er sagte nichts.
Endlich war alles bereit. Garth und Vorstus warfen Erde auf das Feuer und scharrten die letzten glühenden Kohlen auseinander, damit sie erloschen. »Was geschieht jetzt?« fragte Garth leise.
»Jetzt? Jetzt heißt es warten, mein Junge, denn was der heutige Tag bringt, liegt ganz in Maximilians Hand.« Vorstus wandte sich ab, trat an einen Schrank und holte ein Päckchen heraus.
Maximilian erhob sich von seinem Hocker, als hätte er ihn gehört. »Es ist soweit«, sagte er bestimmt und schritt aus der Tür.
»Bevor ein Thronerbe noch richtig laufen kann, bringt man ihm bereits bei, wie er seinen Thron einzufordern hat«, erklärte Vorstus leise. Sie folgten Maximilian über einen abschüssigen Waldweg aus der Schlucht hinaus. »Später wiederholt er den Ablauf so oft, bis er ihm schließlich in Fleisch und Blut übergeht.«
»Was ist mit dem Gedicht, das mir der Manteceros aufsagte?«
»Eine Aneinanderreihung von verschlüsselten Merkversen für das Ritual, mein Junge. Jeder Erbe kennt und versteht es.«
Garth betrachtete verstohlen das Bündel, das der Abt aus der Hütte mitgenommen hatte. Auf einer Seite ragte ein Schwert heraus, doch was sich sonst noch darin befand, blieb verborgen. »Vorstus?« Garth deutete mit dem Kopf auf das Paket.
Der andere wehrte die stumme Frage achselzuckend ab.
»Schweigt still, mein Junge. Dies ist ein feierlicher Augenblick, ein Erlebnis, das in Eurem Leben wohl einmalig bleiben dürfte.«
Maximilian führte sie mit raschen Schritten, aber ohne Hast auf das Herz des Waldes zu. Er trug immer noch die einfachen Kniehosen und ein Paar Stiefel. Garth wunderte sich im stillen, daß er sich für diesen wichtigen Anlaß nicht standesgemäßer gekleidet hatte.
Sie gingen mehr als drei Stunden. Ob sich der Weg gabelte oder gar ganz verschwand, Maximilian zögerte niemals. Garth sah sich immer wieder nach seinem Vater und Ravenna um, aber die nickten ihm nur zu. Aus ihren Gesichtern sprach die gleiche Sicherheit und Ruhe wie aus dem Antlitz des Prinzen.
Garth fragte sich schon, ob sich das Ritual womöglich in dieser Wanderung durch den Wald erschöpfe, da blieb Maximilian unvermittelt stehen.
Er legte den Kopf auf die Seite, und seine blauen Augen strahlten auf. »Hört Ihr es?« fragte er, und zum ersten Mal an diesem Tag spürte Garth eine leise Spannung in der Stimme des Prinzen.
»Ja«, antwortete Vorstus sanft. »Ich höre es, Maximilian Persimius.«
Garth lauschte, dann vernahm auch er das leise Tosen hinter den üblichen Geräuschen des Waldes.
Maximilian wartete die Frage nicht ab, die sich auf Garths Lippen drängte, sondern wandte sich ohne ein weiteres Wort wieder um und ging mit deutlich eiligeren Schritten weiter.
Die anderen hasteten hinter ihm her.
Nach einer weiteren halben Stunde standen sie vor einem mächtigen nebelverschleierten Wasserfall, der sich in einen grünen Teich stürzte. Die stilleren Bereiche dieses Gewässers waren mit bunten Seerosen bewachsen, deren dicke, samtige Blätter wie Trittsteine aussahen, und dicht unter der Oberfläche flitzten Fische hin und her.
Maximilian hatte für all diese Schönheit kein Auge. Er streifte den Wasserfall mit einem flüchtigen Blick, dann wandte er sich an Joseph. »Wollt Ihr mein Zeuge sein?« fragte er knapp.
»Gewiß, Maximilian Persimius«, antwortete Joseph ohne Zögern.
Maximilian nickte ihm dankend zu und sah Garth und Ravenna an. »Wollt Ihr mich ernennen?« Seine Stimme war sanfter geworden.
Noch ehe Garth fragen konnte, was damit gemeint sei, antwortete Ravenna in ihrer beider Namen: »Gewiß, Maximilian Persimius.«
Maximilian entspannte sich ein wenig und lächelte. »Ich danke Euch.«
Zuletzt wandte er sich an Vorstus. »Seid Ihr bereit?«
»Ich bin bereit, Maximilian Persimius.«
Maximilian holte tief Atem. »Siebzehn Jahre wurden bereits verschwendet. Ich will nicht länger zaudern.«
Er legte mit flinken, geschmeidigen Bewegungen seine Kleider ab und trat ans Ufer.
»Ertränkt in Kristall mich«, sagte Vorstus leise, aber sehr deutlich. Garth streifte den Mönch mit scharfem Blick. Vorstus hatte gebieterisch und mit tiefem Ernst gesprochen. Garth begriff, daß er nicht mehr Bruder Vorstus vor sich hatte, sondern den ehrwürdigen Abt des Persimius-Ordens.
»Ertränkt in Kristall mich«, wiederholte Maximilian und stürzte sich mit einem anmutigen Sprung in den Teich.
Sein heller Körper tauchte ein und sank tiefer und tiefer, bis er in den grünen Fluten verschwand. Garth hatte mit dem Prinzen den Atem angehalten, doch das kam ihm erst zu Bewußtsein, als ihm die Lungen zu bersten drohten.
Gerade als er dachte, Maximilian sei tatsächlich ertrunken, tauchte sein Kopf genau in der Mitte des Teichs wieder auf. Er strich sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht, schüttelte sich und sah sich um.
Als er die wartenden Freunde am Ufer entdeckte, schwamm er mit langen, ruhigen Zügen auf sie zu und stieg aus dem Wasser. Vorstus trat vor und berührte langsam und bedächtig erst Maximilians Stirn und dann seine Brust. »Reingewaschen seid Ihr von aller Schuld, Prinz Maximilian Persimius. Wollt Ihr nun Eure Forderung erheben?«
»Das will ich«, sagte Maximilian, und Vorstus griff in das Bündel, das er neben sich abgestellt hatte, und zog ein langes weißes Seidenhemd heraus. Maximilian streckte die Arme aus, und Vorstus streifte ihm das Hemd über.
Er wartete, bis der dünne Stoff am feuchten Körper des Prinzen herabgefallen war, dann setzte er das Ritual fort.
Diesmal berührte er Maximilians Lippen. »Schwört Ihr, stets nur die Wahrheit im Munde zu führen, Maximilian Persimius?«
»Das schwöre ich«, antwortete Maximilian.
»Dann tragt das weiße Gewand der Wahrheit immer auf der Haut, auf daß es Euch an Euer Gelübde erinnere, Maximilian Persimius.«
Wieder bückte sich Vorstus und zog eine enge braune Hose aus dem Bündel. »Schwört Ihr, dem Stolz zu entsagen und die Demut zu lieben?«
»Ich schwöre es«, antwortete Maximilian leise. Vorstus hielt ihm die Hose hin, und er zog sie an.
»Dann hüllt Euch in das erdige Braun des Todes, Maximilian Persimius. Möge es Euch daran erinnern, daß am Ende Eures Lebens Tod und Verwesung auf Euch warten und der Stolz eine Straße ist, die ins Nichts führt.«
Vorstus griff ein drittes Mal in sein Bündel. Garth, Ravenna und Joseph standen die Tränen der Rührung in den Augen. Das Ritual war bei aller Schlichtheit ungemein würdig und feierlich und zugleich von einer Schönheit, die ans Herz griff.
Nun hielt Vorstus einen purpurroten Mantel in den Händen.
»Schwört Ihr, ohne Zögern Euer eigenes Blut zu vergießen, um Euer Volk zu verteidigen?«
Wieder leistete Maximilian den Schwur, und Vorstus legte ihm zum Andenken an sein Gelübde den roten Mantel um.
Als Vorstus sich beim nächsten Mal aufrichtete, milderte ein Lächeln die Strenge seiner Züge. Nun reichte er dem Prinzen ein Paar derber brauner Stiefel.
»Maximilian Persimius, um nichts als die Wahrheit zu sprechen, in Demut zu leben und Euer Leben einzusetzen zum Schutz Eures Volkes, braucht Ihr viel Mut. So nehmt denn diese Stiefel an als ein Geschenk unseres Ordens und Eures ganzen Volkes.«
Maximilian lächelte und zog die Stiefel an.
Zuletzt reichte Vorstus dem Prinzen das Schwert. Es steckte in einer Scheide aus Gold-und Silberfäden, die an einem kunstvoll gearbeiteten Gürtel hing. »Möge das Licht Euch umgürten und Euch halten mit liebender Hand, Maximilian Persimius«, flüsterte er und schnallte dem Prinzen die Waffe um die Hüften, »denn keiner verdient es mehr als Ihr.«
Er trat zurück. Das Lächeln war erloschen, sein Gesicht war wieder ernst. Erschreckend laut schallte seine Stimme durch den stillen Wald. »Wer ernennt diesen Mann zum Anwärter auf Escators Thron?«
»Ich ernenne ihn!« Ravenna trat vor und rief mit fester Stimme: »Dies ist Maximilian Persimius, Sohn und Erbe des verstorbenen Königs, und hiermit spreche ich ihm das Recht zu, den Thron von Escator zu fordern!«
»Und ich unterstütze die Ernennung!« Garth hatte im letzten Moment doch noch begriffen, welche Rolle er bei diesem Ritual zu spielen hatte. »Ich kenne diesen Mann. Es ist Maximilian Persimius, Sohn und Erbe des verstorbenen Königs, und ich bestätige, daß er das Recht hat, den Thron von Escator zu fordern!«
Maximilian hatte mit gesenktem Kopf zugehört, doch nun blickte er auf. Der helle Schein der Hoffnung lag auf seinen Zügen, und seine Augen brannten wie von einem inneren Feuer. Maximilian mochte in den Adern vieles vergessen haben, doch seine Bestimmung wohnte von jeher tief in seinem Innern.
Etwas zog seinen Blick auf sich, doch es war nicht die Handvoll Menschen, die vor ihm stand.
»So tretet denn ein in die grünschatt’ge Laube, Maximilian«, flüsterte Vorstus heiser vor Rührung, »und fordert, was Euch zusteht.«
Maximilian trat vor, und Ravenna und Garth machten ihm hastig Platz. Ohne sie wahrzunehmen, drängte er sich an ihnen vorbei und setzte den Fuß auf die erste Stufe des Pavillons, der hinter den beiden unter den Bäumen erschienen war.
Garth und Ravenna stockte der Atem. Eben war hier noch nichts gewesen. Eine innere Stimme sagte ihnen, daß Maximilian den Pavillon aus dem Traumreich in diese Welt gerufen haben mußte.
Ravennas Augen folgten dem Prinzen, als er das Bauwerk betrat. Ihre Ehrfurcht und ihre Bewunderung waren ungeheuer gewachsen.