Die Bibliothek
Lange stand er so da, betastete mit der Hand das Medaillon unter dem Hemdstoff und bemühte sich, in dem eben Erlebten einen Sinn zu finden.
Rufet den Traum, hatte Maximilian verlangt.
Helft ihm, den Traum zu suchen, hatte ihn der merkwürdige Mann mit dem schwarzen Haar beschworen.
Und dann hatte er ihm diesen Anhänger mit dem Bild des Manteceros geschenkt.
Garth sah sich um, ob ihn jemand beobachtete, dann zog er das Medaillon unter dem Hemd hervor und betrachtete es. Es war sehr schlicht gearbeitet, aber gerade das machte seine Wirkung aus. Er fuhr mit dem Zeigefinger die Umrisse des blauen Manteceros nach und dachte dabei, es sei doch sonderbar, daß sich ein Königshaus gerade dieses Geschöpf zum Wappentier erwählte. Der Manteceros war geradezu häßlich, auf jeden Fall plump, und ganz sicher weder kriegerisch noch besonders edel. Er hatte etwa die Größe und die Gestalt eines Pferdes, aber sein Körper war unförmig, und die Beine waren dick wie Baumstämme. Der klobige Kopf saß auf einem viel zu dünnen Hals. Die Stachelmähne und der dünne Quastenschwanz waren nur angedeutet. Garth schüttelte den Kopf. Andere Königshäuser wählten sich Bären oder Drachen oder gar eine von den großen Raubkatzen als Wappentier. Wieso hatte sich das Königsgeschlecht von Escator für dieses seltsame Geschöpf entschieden?
Zum ersten Mal überlegte Garth, welcher Gattung es denn eigentlich angehöre, und dann lachte er laut über sich selbst. Er hatte doch tatsächlich unterstellt, es handle sich um ein reales Wesen.
Garth hörte selbst, daß sein Lachen nicht echt klang, er verstummte wieder, und seine braunen Augen wurden nachdenklich.
Er brauchte also nur einen Traum zu suchen, das war alles.
»Und«, murmelte er, »wo soll ich nun diesen Traum finden?«
Er blickte auf und zuckte zum wiederholten Mal an diesem Tag überrascht zusammen.
Er hatte auf seiner überstürzten Flucht vom Marktplatz genau vor der großen Bibliothek von Narbon innegehalten, einem eindrucksvollen Gebäude mit Kolonnaden aus weißem Marmor. Schreibfedern und Schriftrollen, in Stein gehauen, schmückten die große Säulenhalle vor dem Eingang. Garth wußte, daß sein Vater schon in diesem Gebäude gewesen war, er selbst hatte es nie betreten. Es war Eigentum der Stadt und wurde von einem Geheimorden verwaltet, der dafür sorgte, daß Bücher und Schriftrollen nicht verstaubten oder von Leuten mit klebrigen Fingern beschmutzt wurden.
Garth sah an den Mauern empor und versteckte das Medaillon wieder unter seinem Hemd. An sich hatte jeder Bürger Zutritt zur Bibliothek – Bücher und Schriftrollen wurden allerdings nur von den Mönchen herausgegeben –, aber Garth hatte bisher weder Lust verspürt noch die Notwendigkeit gesehen, sich hier aufzuhalten.
Was er an Büchern brauchte, fand sich auf den Regalen in den Behandlungsräumen seines Vaters, und seine Mutter kannte so viele Märchen und Sagen, daß an den Abenden für Unterhaltung gesorgt war.
Welcher Junge hockte sich schon in eine Bibliothek, wenn draußen ein spannendes ReifenballSpiel winkte?
Garth trat von einem Fuß auf den anderen. Wenn er Maximilian befreien wollte, mußte er den Manteceros finden –
und der lebte, soweit er wußte, nur in der Legende. Gab es einen besseren Ort, nach einer Legende zu suchen, als eine Bibliothek? Vielleicht könnte ihm einer von den Mönchen behilflich sein?
Wenn sie mich nicht gleich mit Besen und Staubtuch aus ihren geheiligten Lesesälen jagen, dachte er trocken, überquerte langsam die Straße und blieb unter den Kolonnaden stehen. Eine breite Marmortreppe führte nach oben. Die Türen standen offen, und letztlich war es das, was ihn bewog, sein Glück zu versuchen. Wären sie geschlossen gewesen, er hätte wohl kehrtgemacht und wäre nach Hause gegangen, um für den Rest des Nachmittags seiner Mutter zu helfen.
Garth stand unschlüssig in der kühlen, weitläufigen Vorhalle, als ein Mönch auf ihn zukam, dessen Aussehen ihn überraschte. Er hatte bisher geglaubt, alle Mönche seien alt, fett und ein wenig verrückt, doch dieser Mann war nur fünf oder sechs Jahre älter als er selbst, und sein freundliches Lächeln und die warmen hellbraunen Augen vertrugen sich schlecht mit dem strengen Habit.
Garth starrte ihn zunächst mit offenem Mund an, dann besann er sich auf seine guten Manieren. Der Mönch blieb vor ihm stehen und verneigte sich leicht. Auch Garth beugte den Oberkörper, ohne zu wissen, ob der Mönch das von ihm erwartete, und schwieg verlegen.
»Ein herrlicher Tag«, sagte der Mönch. »Vielleicht sogar zu warm, sonst wärt Ihr wohl nicht hereingekommen, um Euch das wenige anzusehen, das wir zu bieten haben. Ich bin Bruder Harrald.« Er reichte Garth die Hand.
Garth schüttelte sie rasch. »Garth Baxtor.«
»Nun, Garth Baxtor. Ihr wirkt ein wenig hilflos. Was kann ich für Euch tun?«
»Nun…« Garth unterließ es gerade noch, das Medaillon unter seinem Hemd zu betasten. »Ich habe etwas auf dem Herzen.«
»Und das wäre?« lächelte Bruder Harrald. Garth hörte keine Spur von Herablassung aus seinen Worten und war erleichtert.
»Es geht… nun, eigentlich um eine Legende.«
Bruder Harrald zog die Augenbrauen hoch.
»Genauer gesagt: um den Manteceros«, vollendete Garth und wartete gespannt auf die unvermeidliche Frage, warum er sich gerade mit dem Fabeltier beschäftige.
Doch die Frage blieb aus. Bruder Harrald sagte nur »Aha«, und seine Augen leuchteten auf. »Eine faszinierende Geschichte. Was wollt Ihr denn genau wissen?«
Garth lächelte verlegen. »So gut wie alles. Aber«, fuhr er hastig fort, »vor allem möchte ich erfahren, ob dieses Wesen jemals existiert hat. Könnt Ihr mir das sagen?«
»Ich persönlich nicht, Garth, aber die Frage klingt spannend und verheißt eine Suche, mit der wir uns den ganzen Nachmittag vertreiben können. Am besten machen wir uns sofort ans Werk.« Er drehte sich um und winkte dem Jungen, ihm zu folgen. »Kommt mit mir!«
Auf dem Weg durch die Halle hob Garth den Kopf und bewunderte die prächtige smaragdgrüne Kuppel. Bis auf das leise Schlurfen ihrer Schritte und ein gedämpftes Murmeln aus einem kleinen Raum an der Seite war alles still. Ohne die Stimmen hätte er geglaubt, mit Harrald in dem Gebäude allein zu sein.
Der Mönch verschwand durch eine Tür am anderen Ende.
Garth trat ebenfalls ein, doch dann blieb er wie verzaubert stehen und sah sich um. Vor ihm lag ein riesiger Saal mit fünfzig Schritt hohen rechteckigen Fenstern, die von der Decke bis zum Boden reichten. Darüber wölbte sich eine Silberkuppel mit einem Glaseinsatz. Weiches goldenes Licht, von Stäubchen durchsetzt, fiel in breiten Bändern auf zahllose Reihen von Bücherregalen in der Mitte des Raums. An den Wänden standen Vitrinen, hinter deren Glastüren die Schriftrollen kreuz und quer übereinander lagen. Garth fand dieses Durcheinander irgendwie beruhigend; die achtlos in die Schränke gestopften Pergamente schienen nur darauf zu warten, daß eine ordnende Hand kam und ihre Geheimnisse lüftete. Sie machten die Bibliothek einladender und freundlicher.
Der Saal war nahezu leer; an einer Seite umstanden mehrere Mönche ein großes aufgeschlagenes Buch auf einem Ständer und debattierten erregt über eine Textstelle, und weiter hinten schritten zwei ältere Männer, Gelehrte vielleicht, die Bücherreihen ab.
»Wir beide sind heute nachmittag mit einem Abstand von einem halben Jahrhundert die Jüngsten hier«, flüsterte Harrald, und seine Augen funkelten verschmitzt. »Was immer wir an Geheimnissen entdecken, wir werden uns noch daran erinnern, wenn alle anderen hier längst die Freuden des Jenseits genießen.«
Harrald bog nach links in einen Gang ein. »Hat irgend jemand alle diese Bücher gelesen?« fragte Garth und eilte ihm nach.
»Kein Mensch liest jemals alle Bücher, man liest nicht einmal ein Buch ganz«, sagte Harrald nachdenklich. Er ging langsam die Reihen entlang und fuhr dabei mit dem Finger über die Buchrücken mit den goldglänzenden Schriftzeichen.
Die Einbände leuchteten in satten Blau-, Rot-und Grüntönen.
»Bücher sind wie Schlüssel oder Türen. Man beginnt zu lesen und findet mittendrin einen Schlüssel zu einer anderen Tür.
Diese neue Entdeckung, die andere Tür, ist zu verlockend, also läßt man das Buch liegen, ohne alle seine Geheimnisse erforscht zu haben, und geht weiter den Gang entlang. Bald säumen halb gelesene Bücher und offene Türen den Weg des Lebens.« Er lächelte. »Bruder Nestor, einer unserer Mönche, spricht vom Lockruf der Schwelle. Wer diesem Ruf einmal gefolgt ist, kommt nie wieder davon los. Es gibt immer noch eine Schwelle zu überschreiten.«
Garth betrachtete die Bücher mit neuer Ehrfurcht. Dann hob er wie Harrald die Hand und fuhr mit den Fingern leicht über die Einbände. Sie fühlten sich warm und lebendig an, nicht trocken und dumpf, wie er erwartet hatte. Welche Geheimnisse mochten sie verbergen? Welche Verführungen mochten auf ihren Seiten lauern?
»Aha!« Harralds Stimme riß Garth aus seinen Gedanken.
»Das wäre doch schon einmal ein Anfang.«
Garth warf einen neugierigen Blick auf das Buch, das Harrald vom Bord genommen hatte. Der Einband war im königlichen Blau gehalten, und auf dem Deckel prangte in großen Lettern der Titel ›Geschichte der Könige von Escator‹.
Harrald ging damit zu einem der Lesetische an der Wand.
Garth eilte ihm hinterher. Er konnte es kaum erwarten, mit dem Lesen zu beginnen. Seine Seele war dem Lockruf der Schwelle bereits verfallen. Er schob sich neben Harrald auf die Bank.
Der Mönch schlug das Buch auf und überflog leise murmelnd das Inhaltsverzeichnis. Garth hatte kaum die ersten Kapitelüberschriften gelesen, als Harrald schon vierzig oder fünfzig Seiten weiter blätterte.
»Hier!« rief er endlich. »Folio neunundvierzig verso. ›Die Riten und Bräuche der escatorianischen Monarchie und ihre Ursprünge.‹« Wieder begann er vor sich hin zu murmeln, und sein Finger glitt schneller über die Seite, als Garth ihm folgen konnte.
Er zappelte vor Ungeduld. »Und?«
»Wartet, wartet«, murmelte Harrald. »Ach ja, da kommt es.
›Der Manteceros: Seine Herkunft und seine Vorgehensweise.‹«
»Seine Vorgehensweise?« fragte Garth verwirrt, aber Harrald schenkte ihm keine Beachtung.
»Eigenartig«, sagte er langsam. »Hört Euch das an.« Und er begann laut zu lesen:
Acht Generationen, nachdem das Haus Persimius…
»Das ist die Linie, die erst vor kurzem ausgestorben ist«, erklärte er, und Garth nickte ungeduldig. Er hätte den Text lieber selbst gelesen, aber Harrald verdeckte die verblaßte Schrift zum Teil mit seiner Hand.
… den Thron von Escator übernahm, erwählte es den Manteceros zu seinem Emblem. Nennius seligen Angedenkens war der erste König, der den Manteceros im Wappen führte –
er behauptete, das Wesen habe im Traum zu ihm gesprochen –
und er trug auch als erster das Mal, das nur dem regierenden König und seinem Erben zusteht. Bisweilen führte er Zwiesprache damit. Historiker sind sich uneins, warum Nennius den Manteceros zum Vertreter und Beschützer seines Geschlechts erwählte. Nennius schwieg sich über seine Gründe beharrlich aus – sogar noch auf dem Totenbett. Man sagt, er habe nur gelacht, wenn ihn jemand danach fragte.
Harrald hielt inne und klopfte mit dem Finger auf die Seite.
»Mehr steht da nicht?« fragte Garth mit leiser Unzufriedenheit. »Damit kann ich gar nichts anfangen.«
Harrald sah ihn an, hielt aber seine Fragen zurück. »Nur noch wenige Zeilen.«
Seit Nennius dient der Manteceros dem stolzen Geschlecht derer von Persimius als Wappentier. Schon viele Generationen lang flattert er von den Mastspitzen und über den Burgtoren.
Nur der König und sein Erbe sind eingeweiht in seine Geheimnisse (und nur Nennius kannte sie alle), und so will auch der Autor darüber schweigen, um sich seiner Unwissenheit nicht schämen zu müssen.
Garth lehnte sich zurück. Er war bitter enttäuscht. Das hieß, von allen lebenden Menschen kannten nur Cavor und Maximilian die Geheimnisse des Manteceros; und Maximilian irrte unerkannt in den Glomm-Minen umher und verleugnete sich sogar selbst, während Cavor sich hüten würde, Geheimnisse preiszugeben, die ihn den Thron kosten konnten.
»Aber das ist nur ein trockenes Geschichtsbuch«, sagte Harrald leise, als er sah, wie sich Garths Gesicht verdüstert hatte. »Vielleicht finden wir noch etwas Besseres für Euch.
Kommt mit!«
Er stellte das Buch an seinen Platz zurück und streifte weiter die Gänge auf und ab. Garth folgte ihm, doch seine Begeisterung war deutlich abgekühlt. Endlich wählte Harrald ein weiteres, diesmal sehr viel dünneres Buch. Der uralte rote Einband war verschossen und von Wasserflecken verunstaltet.
Harrald schnalzte empört mit der Zunge, als sie sich wieder an den Lesetisch setzten. »Einer der früheren Bibliothekare ließ wohl die nötige Sorgfalt vermissen. Dann wollen wir einmal sehen.«
Er schlug das Buch auf, und Garth las den Titel:
›Escatorianisches Bestiarium – Fakten und Rätsel. Untersucht und aufgezeichnet von Gregorius dem Weisen, Geschichtsschreiber und Ratgeber der Könige und der Götter.‹
Harrald beobachtete ihn lächelnd. »Gregorius war offenbar sehr von sich überzeugt. Keiner unserer demütigeren Brüder.
Immerhin war er ein Zeitgenosse von Nennius, vielleicht kann er etwas Licht in das Dunkel bringen.« Er überflog das Inhaltsverzeichnis und schlug dann ein Kapitel ziemlich weit hinten auf.
Der Manteceros:
Der Manteceros, ein Geschöpf aus Dunst und Nebel, blickt von den Kriegsfahnen unserer Könige herab und verfolgt uns bis in unsere Träume. Er ist wohl nur eine Ausgeburt von Nennius’
Phantasie, denn außer ihm hat niemand je behauptet, den Manteceros geschaut zu haben, und wer den König danach fragte, bekam nur ein Kichern zur Antwort – was für einen so kämpferprobten Krieger sehr ungewöhnlich war. Als ich Nennius einst zur Frage des Manteceros hartnäckig bedrängte, zwinkerte er mir zu und erklärte, eines Königs kostbarstes Gut sei eben der Humor. Freilich war Nennius damals schon alt und, wie ich befürchte, nicht mehr bei klarem Verstand. Der Leser sollte sich daher hüten, die Bemerkung allzu ernst zu nehmen. Dem lächerlichen Geschöpf noch mehr Raum, Zeit oder Tinte zu widmen, halte ich für Verschwendung. In den letzten fünf Jahren seines Lebens beschwor ich Nennius immer wieder, einen Feuerspeienden Drachen oder einen Bären zum Familienwappen zu wählen.
Es war ein guter Rat. Doch er schlug ihn in den Wind!
Warum nur? Warum?
Garth hörte Gregorius’ Klage förmlich über die Jahrhunderte hinweg durch die große Bibliothek schallen.
»Es könnte sein, daß die Fährte hier endet«, versuchte Harrald den Schlag zu mildern. »Ich wüßte wirklich nicht, wo ich sonst noch…«
»Wartet!« warf Garth ein. »Habt Ihr diese Verse vielleicht schon einmal gehört?
›Reißt das Schicksal Himmel und Erde entzwei, Rast das Feuer und toben die Winde, Dann rufet den Traum; o setzet ihn frei, Damit den wahren König er finde.‹«
Harrald runzelte die Stirn. »Wo habt Ihr das her? Es klingt wie ein Lied, mit dem die Frauen ihre Kinder in den Schlaf singen. Nein, wartet, das war nicht so gemeint. Laßt mich nachdenken.« Er klopfte mit den Fingern auf das zugeklappte Bestiarium, tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn. Endlich sprang er auf. »Wartet hier!« bat er, griff nach dem Buch und verschwand damit abermals zwischen den Regalen.
Wenig später kam er mit einer Schriftrolle wieder, die von einer verblichenen purpurroten Kordel zusammengehalten wurde. Harrald löste das Band und entrollte die Schrift. Das vergilbte Pergament war so alt, daß es an den Rändern zerfiel.
Ein Netz aus feinen Sprüngen überzog die Oberfläche.
Plötzlich sah Garth sich wieder vor der Felswand stehen, und die Risse vergrößerten sich, bis hinter dem Stein das grüngläserne Meer erschien und sich den Zutritt erzwang.
»Geht es Euch gut?« Harralds besorgte Stimme vertrieb das Bild. Garth schüttelte sich und nickte.
»Ja. Was ist das für eine Schrift?«
»Ich habe sie selbst nie gelesen, aber ich erinnere mich, daß Bruder Rogem sie vor vielen Jahren einmal erwähnte. Ich war damals ein kleiner Junge und begann gerade mit meinem Noviziat. Sie heißt: ›Ein Verzeichnis von Proben und Prüfungen.‹«
»Proben und Prüfungen?«
»Ja, in der letzten Zeile Eures Gedichts ist von einer unbekannten Prüfung die Rede. Vielleicht werden wir hier fündig.«
Dieses Werk hatte kein Inhaltsverzeichnis, deshalb mußte Garth seine Ungeduld bezähmen und untätig dasitzen, während der Mönch den gesamten Text überflog. Mit leisem Scharren entrollte er das alte Manuskript immer weiter, bis das Ende schließlich über die Tischkante fiel. Garth bückte sich, um es aufzuheben, aber Harrald winkte ab.
»Das Pergament hält mehr aus, als man ihm zutraut. Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Hört zu: Es mag der traurige Fall eintreten, daß mehr als ein Anwärter Anspruch auf den Thron von Escator erhebt. Sollte es dazu kommen, dann muß der Manteceros gerufen und aus dem Schattenkreis befreit werden, damit er die beiden Rivalen auf die Probe stelle. Der Manteceros wird sodann entscheiden, welcher der Ansprüche berechtigt ist.
Dann folgt noch ein Gedicht«, murmelte Harrald. Es klang ärgerlich. Anstatt auf Schlüssel und offene Türen zu stoßen, wurden ihm nur immer wieder die Türen vor der Nase zugeschlagen.
»Wer fordert den Thron? Wer wagt den Traum? Wagt ihn und…«
» Wagt ihn und… weiter?« fragte Garth.
»Und nichts weiter!« fuhr ihn Harrald an, entschuldigte sich aber sofort für seinen schroffen Ton. »Bedaure, aber das letzte Wort fehlt. Nur ein Strich zieht sich über das Pergament.«
»Was hat das zu bedeuten?«
Harrald holte tief Atem. »Das heißt, daß derjenige, der das Gedicht niederschrieb, das letzte Wort zwar kannte, es aber nicht verraten wollte – oder nicht verraten durfte. Vielleicht ist es ein Teil der Prüfung.«
Garth dachte angestrengt nach. Er landete immer wieder bei diesem Traum. Maximilian hatte etwas von einem Traum gemurmelt. Der Straßenhändler hatte von Träumen gesprochen. Gedichte, Geschichtsbücher und, mit rechtschaffener Empörung, auch Bestiarien erwähnten Träume.
Aber wo suchte man einen Traum? Und was war das für ein Schattenkreis, aus dem der Manteceros befreit werden mußte?
In den folgenden Tagen verbrachte Garth fast jede freie Stunde in der großen Bibliothek von Narbon, und wenn er nicht dort sein konnte, suchte Harrald für ihn weiter. Aber sie fanden nicht sehr viel mehr, als sie schon am ersten Tag entdeckt hatten. Undeutlich, kaum greifbare Hinweise auf Träume und auf Wesen, deren Existenz durch nichts bestätigt werden konnte.
Doch schon ein einzelnes rätselhaftes Wort, eine Wendung genügten, und Garth schöpfte neuen Mut. Wenigstens handelte er, wenn auch offenbar nicht mit großem Erfolg. Und vielleicht waren er und Harrald nur einen Nachmittag oder eine Regalgasse von dem Buch entfernt, das ihm verraten konnte, was er wissen mußte – wo der Manteceros zu suchen war.
Diese Hoffnung hielt ihn aufrecht, und die Bibliothek war so riesig, daß er auch weiterhin überzeugt war, seine oder Harralds Suche müsse früher oder später Erfolg haben.
Harrald fragte nie, warum Garth sich so sehr darauf versteifte, möglichst alles über den Manteceros herauszufinden, und er fragte auch nie, was der Junge andauernd unter seinem Hemd betastete.
Mit der Zeit verlor Garth seine Blässe und wurde ruhiger.
Joseph schickte ihn so oft wie möglich ins Freie, und unter der heißen Sonne des Südens bräunte seine Haut. Er schoß noch eine Handbreite in die Höhe, aber dank Nonas guter Küche begann sich seine hagere, schlaksige Gestalt etwas zu runden.
Eines Tages ging Joseph mit seinem Sohn in einen Barbierladen und sah zu, wie seine Kinderlocken zu Boden fielen. Als sie herauskamen, wirkte Garth fast wie ein Mann, und seine Bewegungen waren von einer gelassenen Sicherheit, die Joseph mit Stolz erfüllte. Wenn Garth in diesen Tagen an der Seite seines Vaters in den Behandlungsräumen stand, war er ganz bei der Sache und bemühte sich, so viel wie möglich von ihm zu lernen. Sein Vater staunte über seine Geschicklichkeit, seine Geduld, seinen Humor und sein schier unerschöpfliches Verständnis für die Menschen, die sich ihm anvertrauten.
Bald baten immer mehr Patienten darum, daß Garth und nicht Joseph ihnen die Hände auflege, und Joseph störte das nicht, es mehrte nur seinen väterlichen Stolz.
Als die Tage länger und die Schatten kürzer wurden, atmeten Joseph und Nona auf. Was immer ihren Sohn bedrückt hatte, mochten es die Schrecken der Adern sein oder etwas anderes, das er ihnen bisher noch verheimlichte, es trat offenbar mit jedem neuen Sommertag mehr in den Hintergrund.
Doch Garth wurde auch weiterhin von schlimmen Träumen gequält. So manche Nacht lag er wach, starrte die Risse in der Decke an und rätselte, ob sie sich ausgebreitet hatten oder unverändert waren.
Und Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig schwang auch weiterhin die Hacke in der teerschwarzen Finsternis der Glomm-Minen, und jedesmal, wenn er den Kopf nach rechts drehte, um ungestört denken zu können, war die Erinnerung an den Jungen ein wenig blasser geworden.
Schließlich fielen die letzten Reste des Verbands an seinem rechten Arm auf den Boden des Stollens und wurden unter den ständig wachsenden Glomm-Massen begraben, und die Brandwunde auf seinem Oberarm verschwand unter einer dicken, klebrigen Schicht Glommstaub.
In den Träumen
Manchmal findet man Träume an Orten, wo man sie am wenigsten erwartet. So erging es auch Garth.
Gegen Ende des Sommers, als die schlimmste Hitze gebrochen war, beugte sich Joseph eines Morgens beim Frühstück über seinen Sohn und bat ihn, einen Auftrag für ihn zu erledigen.
»Es handelt sich um eine der Familien in den Sümpfen, Garth. Ich würde sie ja selbst aufsuchen, aber ich muß zu Miriam.« Der Zustand der Nachbarin hatte sich inzwischen so verschlechtert, daß Joseph fast täglich einen Hausbesuch bei ihr machte. »Außerdem mußt du früher oder später ohnehin einmal dort hinaus.«
»Eine Familie aus den Sümpfen?« Garth lächelte Nona zu und ließ sich noch ein Früchtebrötchen aufnötigen, bevor er sich abermals an Joseph wandte. »Ich wußte gar nicht, daß du auch dort Patienten…«
Er unterbrach sich. Er hatte es doch gewußt. Als sie vor fast sechs Monden auf dem Weg nach Ruen an den Salzsümpfen vorübergekommen waren, jenem insektenverseuchten Schwemmlandstreifen, der sich meilenweit an der Küste entlangzog, hatte Garth hundert Schritt von der Straße entfernt eine Frau und ihre Tochter vor einer ärmlichen Hütte gesehen.
Bei dieser Gelegenheit hatte sein Vater erklärt, er betreue gelegentlich auch die Familien im Sumpf.
Joseph beobachtete, wie die Erinnerung zurückkehrte. »Es handelt sich um dieselbe Familie, die wir damals auf dem Weg nach Norden gesehen haben«, sagte er. »Ihr Haus ist ganz einfach zu finden – es ist keins von denen, die so tief im Sumpf versteckt sind, daß man nicht nur einen Führer, sondern obendrein noch sehr viel Glück braucht, um sie aufzuspüren.
Die Mutter, Venetia, hat um den Besuch gebeten.«
»Wäre es nicht besser, du übernähmst das selbst?« fragte Garth langsam. Ihm war auch wieder eingefallen, daß sein Vater mit leisem Unbehagen von der Sumpffrau gesprochen hatte. »Vielleicht hat sie ein Anliegen, mit dem ich nicht zurechtkomme?«
Joseph wich dem Blick seines Sohnes aus, wischte aber seine Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. »Venetia hat nur verschiedene Kräuter bestellt, die im Sumpf nicht zu finden sind. Aus ihrer Botschaft geht hervor, daß es sich um keine schwere Krankheit handelt. Also keine Sorge, mein Junge, sie beißt nicht. Ich schlage vor, du nimmst folgendes mit…«
Er gab seinem Sohn genaue Anweisungen. Eine Stunde später saß Garth im Sattel, und sein brauner Wallach trottete gemächlich die Straße nach Norden entlang. Hinter ihm hingen zwei prall gefüllte Satteltaschen vom Pferderücken – Joseph war nicht ganz sicher gewesen, was Venetia brauchte, und so hatte er ihm ein halbes Dutzend Pakete mit verschiedenen Pulvern mitgegeben.
Die Sumpfbewohner blieben meist für sich und kamen nur selten nach Narbon. Wenn sie etwas brauchten, schickten sie entweder – wie Venetia – einen Boten oder baten vorüberziehende Reisende, es ihnen zu besorgen.
Bei den Narbonesen hatten sie einen schlechten Ruf, oft wurden sie ungerechtfertigt kleiner Diebereien verdächtigt.
Garth hatte ein ziemlich flaues Gefühl im Magen, als er sein Pferd auf den Pfad lenkte, der kaum sichtbar von der Hauptstraße abzweigte.
Vor ihm dampften die Sümpfe. Die Bäume wirkten verkümmert, kaum höher als ein Mann zu Pferde. Im Augenblick ragten ihre Wurzeln eine volle Armlänge weit aus dem Schlamm; bei Flut befanden sie sich unter Wasser. Der Pfad wand sich auf einem schmalen Kiesdamm zwischen den Bäumen hindurch; jedesmal wenn das Pferd rutschte, schlug Garth das Herz bis zum Hals, und er befürchtete, im Schlamm zu landen. Aber das Tier faßte immer wieder Tritt, und so ging es immer tiefer in den Sumpf hinein.
Venetias Haus lag in gerader Linie kaum mehr als hundert Schritt von der Hauptstraße entfernt, aber der Pfad schlängelte sich volle sechshundert Schritt weit durch die Bäume, bevor die verfallene Hütte auch nur sichtbar wurde. Stechmücken summten im Laub, und Garth war froh, auf seinen Vater gehört und einen Mantel angezogen zu haben, obwohl der Tag warm war. Hier und dort spitzten seltsam stachlige Blumen, einige grau, andere goldgelb, aus dem Schlamm. Die freiliegenden Baumwurzeln waren mit einer dünnen Schaumschicht überzogen.
Sogar das Sonnenlicht fiel in so fransigen Flecken auf den Schlamm, als wäre es von einer Seuche befallen. Der zähe Nebel wand sich in dicken Seilen um Blätter und Wurzelwerk.
Die fernen Schreie der Seevögel klangen wie das Weinen verlorener Seelen im Labyrinth der Ewigkeit.
Garth konnte sich nicht vorstellen, warum irgend jemand freiwillig hier leben wollte. Er hatte gehört, die Stadtväter hätten einmal ins Auge gefaßt, das Schwemmland zu entwässern und in fruchtbares Ackerland zu verwandeln, aber das wäre zu kostspielig geworden, und man hatte den Plan wieder fallengelassen. So säumten die Sümpfe nach wie vor die Küste, und wenn Garth seinen Augen und seiner Nase trauen konnte, waren sie auch nach wie vor Heimat für giftige Pflanzen und Insekten aller Art.
Rechts von ihm schoß ein großer Fisch aus dem Wasser, fiel wieder zurück und wurde mit lautem Schmatzen eingesaugt.