Ich bin müde, typisch achte, neunte Stunde. Die Struck labert irgendwas vom Zitronensäurezyklus, dabei malt sie verrücktes Zeugs an die Tafel und redet ununterbrochen. Ihr Mund, dieser dicke pink bemalte Gummiring, steht nicht eine Sekunde still. Je komplizierter etwas ist, desto schneller erklärt die Struck es und desto weniger Fragen darf man stellen, ich kenne das schon, deswegen lasse ich es lieber gleich sein. Normalerweise spielen Jameelah und ich in der achten, neunten Stadt Land Aids, aber jetzt sitze ich neben Amir, und der schreibt fleißig mit, dieser Streber, als ob er weiß ich was alles nachholen müsste.

Auf dem Schulhof malt ein Mann in verschmierten Malerklamotten die Linien vom Völkerballfeld weiß nach. Als er damit fertig ist, geht er rüber zum Pausenpilz und raucht eine. Ich muss an Nico denken, daran, dass er jetzt auch irgendwo in der Stadt in verschmierten Malerklamotten was anstreicht und zwischendurch eine raucht. Ich schiele so unauffällig wie möglich nach hinten zu Jameelah. Sie spielt Käsekästchen mit sich selbst und merkt gar nicht, wie die Struck ihr immer näher kommt.

Hallo, hier spielt die Musik, sagt die Struck und schnippt mit ihrem Finger vor Jameelahs Gesicht herum, erkläre mir doch mal diese Teilreaktion hier.

Was, sagt Jameelah.

Das hier, sagt die Struck, geht zurück nach vorn und haut mit dem Geodreieck auf den rechten Teil der Tafel.

Keine Ahnung, sagt Jameelah, ich mag nichts Saures.

Der Malermensch sitzt immer noch auf dem Pausenpilz und raucht. Ich will gerade den Kopf auf die Schulbank legen und schlafen, da geht hinten auf der anderen Seite vom Schulhof die Tür von der Turnhalle auf. Anna-Lena rennt über den Schulhof in Richtung Mädchenklo und holt dabei was unter ihrem Pullover hervor. Ich schiele wieder nach hinten zu Jameelah, die hat aufgehört, Käsekästchen zu spielen, und schaut wie gebannt nach draußen. Ich halte mir die Hand vor den Bauch, verziehe das Gesicht und melde mich.

Jetzt sag bloß, du weißt die Antwort, sagt die Struck.

Nein, sage ich, mir ist nur total schlecht.

Die Struck zieht die Augenbrauen hoch.

Ehrlich, Frau Struck, ich muss mal kurz raus.

Na, dann ab mit dir.

Ich laufe die Treppen runter über den Schulhof zu den Mädchenklos und stoße leise die Tür auf. Da kotzt jemand auf einem der Klos, da kotzt und heult jemand. Ich schleiche in die Kabine nebenan, Heulen, Kotzen, dann Stille, dann wieder Heulen, Kotzen, dann Stille, immer abwechselnd, bis was ausgepackt wird, es ist aber kein Tampongeknister, sondern eher Verpackung, wie Medizin oder irgendwas aus der Apotheke, dann Pinkelgeräusche. So leise wie möglich steige ich auf die Klobrille und schaue rüber. Da steht Anna-Lena und hält einen Schwangerschaftstest in der Hand.

Was machst du da, frage ich, dabei ist es ziemlich offensichtlich.

Starr vor Schreck schaut sie mich an, ich springe von der Klobrille runter und klopfe gegen die Tür.

Mach auf.

Nein, ruft sie, hau ab.

Mach auf, sage ich, sonst gehe ich zum Hausmeister.

Das Schloss dreht sich von Rot auf Weiß. Anna-Lena hockt auf der Klobrille, das Gesicht komplett zugeschwollen vom Heulen und die Haare voller Kotze und Schnodder, Frieda Gaga, so gar nicht mehr wie mit Perwoll gewaschen. Egal was jetzt noch kommt, den Tag streiche ich mir auf jeden Fall schon mal rot im Kalender an, denke ich.

Zeig mal den Test, sage ich.

Lass mich in Ruhe, sagt Anna-Lena.

Ich gehe rüber zum Waschbecken und reiße einen Haufen Papiertücher aus dem Automaten, da geht die Tür auf. Es ist Jameelah, steht da vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, in den Augen der böse Blick.

Was ist hier los, fragt sie.

Ich zeige mit dem Daumen in Richtung Klo.

Sie ist vielleicht schwanger, sage ich.

Was? Von wem?

Keine Ahnung, gute Frage.

Jameelah hechtet nach hinten durch.

Stimmt das, sagt sie, aber Anna-Lena schweigt.

Stimmt das, habe ich gefragt!

Was geht euch das an, sagt Anna-Lena.

Wo ist der Test, sagt Jameelah, aber Anna-Lena versteckt die Hände hinterm Rücken.

Jameelah schnauft nur.

Ich scheiß auf deinen Test, von wem ist es, aber Anna-Lena presst den Mund fest zusammen, als ob das irgendwie helfen würde.

Von wem, sagt Jameelah wieder, sie packt Anna-Lena an den Schultern und schüttelt sie kräftig durch, von wem, sagt sie, aber als Anna-Lena wieder nicht antwortet, da zerrt Jameelah ihre Hände hinterm Rücken hervor, packt sie an den Handgelenken und drückt sie gegen die Klowand.

Lass mich los, schreit Anna-Lena, du tust mir weh.

Halts Maul, schreit Jameelah und drückt noch fester zu, du schaust mir jetzt in die Augen, hörst du, du schaust mir jetzt in die Augen und sagst, dass es nicht so ist, wie ich denke!

Was ist hier eigentlich los, frage ich mich, Islam wird Weltmeister steht neben Anna-Lena an der Klowand, darunter Männer sind wie Toiletten entweder besetzt oder beschissen, Kuck mal da Nutella, Scheiß die Wand an, Toilettentennis schauen sie nach links, Toilettentennis schauen sie nach rechts, Toilettentennis schauen sie nach links, und beim Toilettentennis, da kapiere ich plötzlich, was Sache ist, von wegen Italien und Anna-Lena und Lukas.

O nein, flüstere ich.

Langsam löst Jameelah ihre Hände von Anna-Lenas Handgelenken und lässt sich auf die Klobrille sinken. Anna-Lena hockt sich an die Klotür und verbirgt das Gesicht in ihren Händen, dabei fällt der Schwangerschaftstest, der hinten in ihrer Hose gesteckt hat, auf den Boden. Ich schaue auf das Anzeigefeld, da sind zwei Streifen, zwei rosa Streifen gleich nebeneinander. So sieht das Leben also aus, ganz am Anfang, wenn es eigentlich noch unsichtbar ist.

Jameelah bückt sich, hebt den Test auf und betrachtet ihn, als wäre es ihrer, dann lässt sie ihn auf den Boden fallen. Sie legt ihre Hände nebeneinander in den Schoß, die liegen da wie zwei, die miteinander Schluss gemacht haben, ohne dass sie es wirklich wollten.

Gib mir mal einer Klopapier bitte, sagt Anna-Lena und steht langsam auf.

Klopapier, sage ich und schaue sie von oben bis unten an, deine Mutter Klopapier! Du hast mit deinem eigenen Cousin gepennt, Mann, wenn das mal nicht so richtig Mittelalter ist, sage ich, aber uns immer blöd kommen, lieb dich, mein Engel auf unsere Rucksäcke schreiben und es überhaupt nicht so meinen, wenn das mal nicht total ekelhaft ist, sage ich, tausendmal ekelhafter als Mitesser und Spinnen und Herpes zusammen.

Mit einem langen heulenden Laut lässt Anna-Lena sich zurück auf den Boden sinken.

Und hör endlich mal auf zu heulen, sage ich, aber das Heulen wird nur noch lauter.

Anna-Lena, sagt Jameelah.

Ach komm, sage ich, lass sie doch.

Anna-Lena, sagt Jameelah und schüttelt sie, Anna-Lena, sagt sie wieder und schüttelt sie noch kräftiger, aber Anna-Lena heult nur noch lauter und lauter.

Wenn jetzt einer reinkommt, sind wir so was von dran, sage ich.

Gib ihr eine, sagt Jameelah.

Was?

Du sollst ihr eine geben. So wie mir letztens auf der Straße.

Echt?

Ja, echt, sagt Jameelah, los mach.

Gern, sage ich und balle eine Faust.

Nein, sagt Jameelah, nimm die flache Hand.

Warum das denn?

Weil du einen ganz schönen Schlag draufhast.

Tut mir leid, wegen neulich, überhaupt tut mir alles so leid, sage ich.

Jetzt halt die Klappe, sagt Jameelah, und gib ihr endlich eine.

Alles klar, sage ich, und im nächsten Moment hat Anna-Lena eine hängen.

Mit einem Schlag hört das Geknatsche auf.

Sag mal, spinnt ihr eigentlich total, schreit Anna-Lena.

Jetzt hör endlich auf, dich so anzustellen, sagt Jameelah, jeden Moment kann jemand reinkommen, dann kannst du dem Hausmeister erklären, was mit dir los ist.

Sie packt Anna-Lena am Oberkörper und versucht, sie nach oben zu ziehen.

Los, hilf mir!

Gemeinsam zerren wir Anna-Lena rüber zum Waschbecken. Jameelah reißt einen Haufen Papiertücher aus dem Automaten, hält sie unter den Wasserhahn und reicht sie ihr.

Hier, mach dein Gesicht sauber.

Gehorsam wischt Anna-Lena sich das Gesicht ab.

Was soll ich jetzt nur machen, fragt sie leise.

Du musst zum Arzt, sage ich, dann musst du drei Tage abwarten, und dann kannst du es wegmachen lassen.

Nein, sagt Jameelah, sie muss mit ihren Eltern reden.

Nein, sage ich, muss sie nicht, das ist Schweigepflicht.

Jameelah verdreht die Augen.

Mann, ist es nicht, sagt sie, wenn du noch keine sechzehn bist, dann kannst du das nicht einfach so machen, dann müssen deine Eltern unterschreiben, wieso bin ich schon wieder die Einzige, die so was weiß? Bumsen kann ja wohl jeder, aber wieso könnt ihr kein Gummi benutzen, wieso?

Ich schaue auf den Boden. Woher sie das wohl schon wieder weiß, frage ich mich, aber dass ich bei Nico auch kein Gummi benutzt habe, das kann sie zum Glück gar nicht wissen, trotzdem, denke ich, ich werde nie wieder ohne Gummi mit wem pennen, und gleich nächste Woche lasse ich mir einen Büchereiausweis machen, sogar Orkhan und Tayfun haben einen, aber nur damit sie, wenn ihnen langweilig ist, die Integrationsbeauftragten dort ärgern können, aber ich werde niemanden dort ärgern, denke ich, ich werde mir dort jede Woche was ausleihen, bis ich endlich mal was besser weiß als Jameelah.

Ich kann das nicht meinen Eltern erzählen, sagt Anna-Lena, wenn die das erfahren, die nehmen mich von der Schule, die stecken mich auf so einen Nonnenbunker in Bayern, das wollen sie die ganze Zeit schon machen.

Jameelah schaut auf die Uhr.

Los, sagt sie, wir fahren zum Kotti.

Zum Kotti, fragt Anna-Lena, was wollen wir denn da?

Wir fahren zu meiner Mutter, sagt Jameelah, sie wird dir helfen.

 

 

Ich war noch nie bei Noura in der Klinik. Dort werden nur Frauen operiert, Frauen die schwanger sind und das Kind nicht haben wollen, oder Frauen, die gar nicht erst schwanger werden wollen. Es kommen aber auch Frauen, die sich etwas in den Hintern oder vorn reingeschoben haben und das von selbst nicht mehr rauskriegen. Jameelah hat mir mal erzählt, dass es in der Klinik eine spezielle Kiste gibt, da kommen die Sachen rein, die man den Frauen mit der Zeit rausoperiert hat, alles, vom Schraubenzieher bis zur Neonröhre, landet da drin, alles Sachen, auf die die Frauen angeblich draufgefallen sind. Das fand ich eigentlich immer lustig, aber als Jameelah, Anna-Lena und ich schweigend die Oranienstraße runter zur Klinik gehen, ist mir so gar nicht nach Lachen.

Mir ist schlecht, sagt Anna-Lena und hält sich den Bauch, ich brauche was zu trinken.

Kannst gleich was trinken, sagt Jameelah.

Nein, was Richtiges. Was Kurzes, was Klares. Kleiner Feigling, ich brauche einen kleinen Feigling.

Gibt jetzt keinen kleinen Feigling, sagt Jameelah.

Sie packt Anna-Lena am Arm und zieht sie über den Zebrastreifen, rüber zum Eingang von der Tagesklinik. Feste drückt sie auf den untersten Klingelknopf. Der Türsummer geht.

Los, sagt Jameelah und schubst Anna-Lena durch die Tür. Wir gehen durch den Flur in den Hinterhof. Hinter einem der Fenster sehe ich Noura sitzen.

Mama, ruft Jameelah und rennt los.

Noura schaut hoch und läuft erschrocken zur Tür.

Kinder, sagt sie, was ist denn, ist was passiert?

Ohne zu überlegen, erzählt Jameelah alles. Sie erzählt und erzählt und macht dabei ganz viel mit ihren Händen, und Noura nickt und streicht Anna-Lena über die Haare, aber streng aussehen, das tut Noura dabei auch noch, sie schaut uns alle abwechselnd streng an, am strengsten natürlich Anna-Lena. Wie Noura das immer macht, alles gleichzeitig, immer richtig, das hat Jameelah wohl von ihr geerbt, denke ich.

Noura nimmt Anna-Lena in den Arm.

Du kommst jetzt erst mal mit mir, sagt sie, wir machen ein paar normale Untersuchungen, und danach untersucht Doktor Mahmoudi dich, und ihr, sagt Noura und schaut Jameelah und mich an, ihr wartet so lange.

Das Wartezimmer ist leer. Müde lasse ich mich auf einen Stuhl sinken. Jameelah schnappt sich eine der Zeitschriften, die auf dem Tisch liegen und blättert darin, sie blättert und blättert, blättert viel zu schnell, so schnell kann man gar nicht lesen, so schnell kann man sich noch nicht einmal die Bilder auf den einzelnen Seiten anschauen.

Kannst du mir mal bitte sagen, wieso wir das hier machen, frage ich irgendwann.

Was?

Warum helfen wir ihr? Wegen Lukas?

Hör auf, sagt Jameelah, ich will nicht über ihn reden, ich will noch nicht mal an ihn denken, sonst muss ich mich umbringen, ehrlich.

Wegen so einem Idioten doch nicht. Den hast du gar nicht nötig.

Nötig? Was soll das denn heißen?

Na ja, der ist ja wohl spätestens seit heute ein Arschloch, oder.

Was weißt du denn schon, sagt Jameelah.

Ich meine ja nur.

Einen Scheiß meinst du, du sagst doch einfach nur das, was alle jetzt sagen würden, sagt Jameelah, dabei fällt ihr die Zeitschrift auf den Boden.

Was soll das denn jetzt heißen, sage ich.

Dass du keine Ahnung hast von der Liebe, sagt Jameelah.

Aber du oder was.

Ja, weil wenn man jemanden wirklich liebt, dann kann man daran nichts ändern, egal, wie scheiße der einen behandelt. Und dass man daran nichts ändern kann, dafür kann man auch nichts.

Ich weiß, sage ich, ich meine, klar kannst du nichts dafür, aber du kannst doch nicht jemanden lieben, der dir so wehtut. Der hat das doch gar nicht verdient.

Natürlich kann ich das, siehst du doch, sagt Jameelah, und überhaupt, was geht dich das an, was geht das Anna-Lena an, das geht noch nicht einmal Lukas was an, dass ich ihn liebe, ich darf lieben, wen ich will, er muss mich gar nicht zurücklieben, aber ich darf ja wohl lieben, wen ich will, das kann mir keiner verbieten.

Sicher darfst du das. Ich will ja nur nicht, dass dir jemand wehtut.

Das kann man nicht verhindern, das passiert sowieso, sagt sie und hebt die Zeitschrift vom Boden auf, aber dass sie ein Kind von ihm bekommt, das kann ich vielleicht verhindern.

Die Tür zum Wartezimmer geht auf, Anna-Lena kommt herein.

Und, fragte Jameelah.

Nichts, sagt Anna-Lena, Blutdruck gemessen und so was. Gleich soll ich zu dieser Frau, wie heißt die noch mal?

Jameelah zieht die Augenbrauen zusammen.

Mahmoudi, Doktor Mahmoudi.

Mahmoudi, genau. Wartet ihr?

Ich schaue Jameelah an.

Ja, sagt Jameelah, wir warten.

 

 

Mein linkes Bein ist schon seit einer Weile eingeschlafen, kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, dass Anna-Lena im Behandlungsraum ist. Die Zeitschriften haben wir jetzt schon alle durch. Ich schaue an die Decke vom Wartezimmer. Noura hat vorhin das Licht angeknipst. Ich schaue zu den Neonröhren, an denen Mücken und Eintagsfliegen tanzen. Die Mücken und Eintagsfliegen summen mit den Neonröhren um die Wette.

Guck mal, sage ich und zeige nach oben, die lassen da oben einfach die Zeit vorbeitreiben, obwohl sie so viel weniger davon haben als wir hier unten.

Ja, sagt Jameelah, die sind wie echte Götter.

Götter?

Ja. Die kennen keine Zeit, die kennen nur Licht und Obst und Blut, und irgendwann, da sterben sie einfach, ohne sich Gedanken über ihr Leben machen zu müssen, ob sie es gut oder schlecht gemacht haben.

Kennst du den, sage ich, treffen sich zwei Eintagsfliegen, sagt die eine, hast du Lust auf nen Fick, sagt die andere, nee, ich hab grad meine Sekunde.

Verstehe ich nicht.

Na ja, Eintagsfliege hat ihre Tage.

Verstehe ich immer noch nicht.

Mann, eine Eintagsfliege hat nicht ihre Tage, sondern ihre Sekunde, kapiert.

Ach so, sagt Jameelah und schaut weiter an die Decke, wirklich zuhören tut sie gar nicht.

Was ist, frage ich, woran denkst du?

Kannst du dich noch daran erinnern, was Jasna auf dem Balkon gebrüllt hat, was sie zu ihrer Mutter gesagt hat, bevor sie gesprungen ist?

Ja, sie hat gesagt, zuerst zerrst du mich hierher auf diese Welt, und dann lässt du mich allein.

Ich glaube, das stimmt, sagt Jameelah.

Was?

Dass wir hierhergezerrt werden, auf diese Welt. Ich meine, keiner fragt dich danach, keiner fragt dich, ob du das überhaupt willst.

Ja, sage ich, stimmt.

Das ist vielleicht auch der Grund, warum Babys immer so viel schreien, sagt Jameelah, weil keiner sie gefragt hat, ob sie hierherwollen, und weil sie noch so nah dran sind an dem, was davor war, weinen sie so viel, weil sie es nicht ertragen, auf der Welt zu sein.

Stimmt, sage ich, und wenn Mütter ihre Kinder beruhigen, dann ist das eigentlich eine große Lüge, weil sie versuchen, das Leben erträglicher zu machen, so nach dem Motto, ist alles nicht so schlimm, guck doch mal hier, deine Rassel.

Genau, sagt Jameelah, aber die Babys wissen es besser, und die wollen lieber wieder dahin zurück, wo sie hergekommen sind.

Meinst du so wie bei Wiedergeburt?

Weiß nicht, jedenfalls ist man ziemlich unfreiwillig auf der Welt, sagt Jameelah.

Die Tür vom Wartezimmer geht auf, Dr. Mahmoudi und Anna-Lena kommen herein.

Und, fragt Jameelah.

Ich muss nach Hause, sagt Anna-Lena, sie hält einen Briefumschlag hoch, ich muss mit meinen Eltern reden.

Bist du echt schwanger, frage ich.

Anna-Lena nickt.

Was ist da drin, frage ich.

Unterlagen für die Abtreibung.

Schwangerschaftsabbruch, sagt Dr. Mahmoudi und nimmt Anna-Lena in den Arm, aber Anna-Lena wehrt ab.

Die schicken mich auf diesen Nonnenbunker, das weiß ich genau.

So ist das Gesetz, sagt Dr. Mahmoudi, tut mir leid.

Noura kommt ins Wartezimmer, sie trägt eine Jacke und ihre Handtasche über dem Arm.

Es ist schon spät, wir müssen los, sagt sie, ihr wisst doch, Amir mag es nicht, allein zu sein.

Schläfst du heute bei uns, fragt Jameelah und schaut mich an.

Klar, sage ich.

 

 

Wo wart ihr, ruft Amir, als Noura die Wohnungstür aufschließt, die Struck ist stinksauer auf euch, sie hat gesagt, ihr bekommt eine Klassenkonferenz. Ihr fliegt von der Schule, hat sie gesagt.

Wo sind unsere Schulsachen, fragt Jameelah.

Habe ich in mein Schließfach getan, wo wart ihr?

Es ist schon gut, sagt Noura und umarmt Amir, hast du was gegessen?

Amir schüttelt den Kopf. Noura hängt ihren Mantel an die Garderobe und geht in die Küche.

Wo wart ihr, fragt Amir wieder.

Ist doch egal, sagt Jameelah.

Gar nicht egal, sag doch mal!

Nein, sagt Jameelah.

Habt ihr euch wieder vertragen, fragt er.

Jameelah und ich schauen uns an.

Glaub schon, sagen wir gleichzeitig.

Dann ist es egal, wo ihr wart, sagt Amir und grinst breit.

Er zeigt auf den kleinen Tisch, auf dem das Telefon steht.

Da ist übrigens ein Brief gekommen.

Ein Brief?

Ja, sagt er, vom Ausländeramt.

Mama, ruft Jameelah, da ist ein Brief gekommen, vom Ausländeramt!

Noura kommt in den Flur.

Da, sagt Amir und zeigt auf den Tisch. Noura greift nach dem Brief, sie geht zurück in die Küche, wir hinterher. Als sie sich an den Küchentisch setzt und den Umschlag aufreißt, sehe ich, dass ihre Hand zittert.

Und, fragt Jameelah.

Ich schaue auf Nouras Schultern und ihren Rücken, der immer ganz gerade ist, auch wenn sie sitzt. Sie legt den Brief vor sich auf den Küchentisch stützt den Kopf in ihre Hände und beginnt zu lesen. Plötzlich werden ihre Schultern ganz schmal, noch schmaler, immer schmaler, und ihr sonst so gerader Rücken sinkt ein, noch mehr, immer tiefer, bis es irgendwann so aussieht, als hätte Noura gar kein Skelett mehr, als hätte ihr jemand nach und nach alle Knochen aus dem Körper entfernt. Sie legt den Kopf auf die Tischplatte und fällt in sich zusammen, wie ein Heißluftballon, der nicht mehr kann, einer, der sagt, ich will mich nicht mehr aufblähen und aufsteigen, ich will euch nicht mehr tragen, niemanden mehr, tragt euch doch alle selber.

Was ist los, frage ich.

Ja, sagt Amir, was ist los?

Jameelah zerrt den Brief unter Nouras Kopf hervor und liest, dann lässt sie den Brief auf den Boden fallen und rennt raus in den Flur. Krachend fällt die Wohnungstür ins Schloss.

Warte, schreie ich.

Ich renne, so schnell ich kann, die Treppen runter, aber als ich vor der Haustür stehe, sehe ich Jameelah auf der anderen Seite vom Spielplatz verschwinden. Ich renne über den Spielplatz in Richtung Bahnhalte. Der Bahnsteig ist leer. Ich schnappe nach Luft, kurz denke ich, ich ersticke, so sehr tut meine Lunge weh. Ich muss unbedingt aufhören zu rauchen, denke ich, und dass das ein beschissener Gedanke ist, dass ich noch viel zu jung bin, um solche Gedanken zu haben. Es ist noch nicht die Zeit, mit dem Rauchen aufzuhören, es ist noch nicht die Zeit, mit dem Trinken aufzuhören, es ist noch nicht die Zeit, mit irgendetwas aufzuhören, Jameelah und ich, wir haben doch gerade erst wieder angefangen, jetzt, wo alles wieder gut ist, wo Amir wieder da ist und Anna-Lena bald weg in ihrem Nonnenbunker.

Ich fahre mit der Bahn bis zur Wilmersdorfer und laufe rüber zum Planet. Der Himmel ist dunkel geworden, die Wolken hängen grau und schwer runter bis auf die Hausdächer. Am Planet ist niemand außer Apollo und Aslagon. Sie beladen einen Einkaufswagen mit jeder Menge Zeugs, alte Decken, Flaschen, Plastiktüten. Oben auf dem Wagen steht ein Radio und dröhnt vor sich hin. Die ersten Regentropfen klatschen auf die Straße.

Habt ihr Jameelah gesehen, rufe ich.

Apollo schüttelt den Kopf.

Nicht gesehen, sagt er, dann schaut er rauf zum Himmel und zieht sich seine schwarze Kapuze ins Gesicht.

Los, sagt Aslagon und schiebt den Einkaufswagen an.

Was macht ihr, frage ich, wo geht ihr hin?

Wird kalt, sagt Apollo und schaut wieder rauf zum Himmel, wir gehen ins Warme, mal frische Wäsche anziehen und ein Dach überm Kopf haben. Der Sommer ist vorbei.

Aslagon nickt.

Was ist mit dem Schiff, sage ich, was ist mit Naglfar und dem Ende der Welt?

Apollo schaut mich an und lächelt, dann nimmt er seinen Helm ab, wie zum Gruß.

Wir sehen uns im nächsten Jahr, sagt er.

Langsam wie eine Karawane in der Wüste setzen sich Apollo, Aslagon und der Einkaufswagen in Bewegung. Kurz darauf stehe ich ganz allein am Planet, ich weiß nicht, wo ich hinsoll, der Regen wird immer stärker und prasselt auf mich nieder. Keine Ahnung, wie lange ich da stehe, jedenfalls bin ich schon lange klitschnass, als jemand mir von hinten auf die Schulter tippt. Es ist Nico.

Spinnst du eigentlich, sagt er und zerrt mich in die Telefonzelle, du kannst doch bei dem Wetter hier nicht einfach so rumstehen, sagt er, willst du dich umbringen?

Nein, sage ich, ich suche Jameelah.

Die war eben an der Kurfürsten, sagt Nico.

An der Kurfürsten?

Ja, da, wo die Nutten immer stehen. Keine Ahnung, was sie da gemacht hat, sah auf jeden Fall ordentlich durch den Wind aus. Ist irgendwas passiert?

Hast du mit ihr geredet, frage ich.

Nein, sagt Nico, ich glaube, sie hat mich gar nicht gesehen. Aber selbst wenn, sie redet ja nicht mehr mit mir seit der Sache mit Amir. Ist wohl noch sauer auf mich.

Wahrscheinlich.

Wahrscheinlich, sagt Nico und schaut mich an. Du hattest übrigens recht, von wegen einfach zur Polizei zu gehen und so. Ich hätte vorher noch mal mit dir sprechen sollen. Das war nicht in Ordnung. Tut mir echt leid.

Wir reden ein anderes Mal darüber, sage ich, wann hast du Jameelah an der Kurfürsten gesehen?

Weiß nicht, ist noch nicht lange her.

Hast du Guthaben, frage ich.

Nico gibt mir sein Handy. Ich wähle Jameelahs Nummer, aber geht keiner ran.

Scheiße.

Wird schon nichts sein, sagt Nico.

Ich muss los, sage ich.

Ich renne zur U-Bahn und fahre zur Kurfürsten. Als ich aussteige, blitzt und donnert es. Ich renne halb blind über die Kurfürsten, die Frauen stehen unter den Markisen von den Spätis, um nicht nass zu werden, nur Jameelah nicht, sie sitzt auf unserem Stromkasten und lässt den Regen auf sich niederprasseln. In der Hand hält sie eine Müllermilch, Regentropfen landen darin, dicke Tropfen, die von Jameelahs Nase in die Müllermilch kullern. Ich klettere zu ihr auf den Stromkasten. Eine Weile sagt keiner was, wir sitzen einfach nur so da und lassen das Leben vorbeitreiben, 21 nach, das heißt noch 39 Minuten Leben, ich zähle von da aus langsam rückwärts, bis ich bei null angekommen bin, bis es keine Minuten mehr gibt, die einfach so vorbeitreiben können.

Was stand in dem Brief?

Eine Weile sagt Jameelah nichts, ich frage mich, ob sie auch von 39 rückwärts runterzählt, denn ungefähr genauso lange dauert es, bis sie die Müllermilch an den Mund setzt und den Becher in einem Zug austrinkt.

In dem Brief, sagt Jameelah, in dem Brief stand, sehr geehrte Damen und Herren, wie Sie bereits seit Längerem wissen, ist Gottes Welt verfault, aus diesem Grund können Sie nicht länger hier in Deutschland leben. Packen Sie Ihre Sachen und verpissen Sie sich, dahin, wo Sie hergekommen sind. Mit faulen Grüßen, ihre verfaulte Welt, das ist so ungefähr das, was da drinstand.

Kann doch nicht sein, sage ich, wie kommt das auf einmal?

Meine Mutter war einmal da, seit wir hier in Deutschland sind, sagt Jameelah, sie wollte nur auf die Beerdigung von ihrer Mutter. Das haben die rausbekommen.

Ja und, sage ich, ist doch egal!

Ist nicht egal, sagt Jameelah, holt Mariacron, Maracuja und Milch aus ihrem Rucksack und mixt neu, du darfst nie mehr zurück, wenn du einmal hier bist, sonst musst du für immer dahin zurück.

So ein Schwachsinn, sage ich.

Wir müssen morgen sogar unsere Pässe abgeben, sagt Jameelah.

Wieso das denn?

Damit wir vorher nicht untertauchen. Was denken die sich eigentlich, bin ich Anne Frank oder was?

Untertauchen ist doch gut, wer meintest du, hat das gemacht?

Anne Frank.

Anne Frank, warte mal, ist die bei uns auf der Schule? Den Namen kenne ich.

Mann, das Tagebuch! Das Tagebuch der Anne Frank!

Ach stimmt, sage ich, das haben wir bei der Struck gelesen. Das war echt langweilig. Und die Buchstaben waren so klein.

Das war nur langweilig, weil wir die langweilige Version gelesen haben, es gibt noch eine andere, da schreibt Anne Frank über ihre Muschi und über diesen Peter, in den sie verliebt ist. Ist wirklich gut.

Das will ich auch lesen. Hast du das?

Nein, Lukas hat es mir ausgeliehen, aber du kannst es haben. Lukas sehe ich eh nie wieder.

Jetzt warte doch erst mal ab, sage ich.

Sag mal kapierst du eigentlich gar nichts, schreit Jameelah und springt vom Stromkasten runter, die schieben uns ab! Ich muss hier weg, ich werde keine Deutsche, ich werde nie, nie, niemals Deutsche werden!