Im Fernsehen wachen Menschen, denen was Schlimmes passiert ist, schweißgebadet aus ihren Träumen auf, nachts träumen sie immer und immer wieder von der einen schlimmen Sache, aber wenn sie aufwachen, sind sie froh, dass dieses Mal alles nur ein Traum war, sie schlafen erschöpft wieder ein, und alles ist wieder gut. Genau daran merkt man, dass das alles nur Schauspieler sind, vor allem am Schweißgebadetsein merkt man es, ich meine, was muss denn bitte passieren, dass man schweißgebadet ist, schweißgebadete Menschen gibt es nicht, nur im Fernsehen, und schon allein daran merkt man, dass den wenigsten Menschen irgendwas wirklich Schlimmes passiert, das weiß ich jetzt, jetzt, wo mir selber was Schlimmes passiert ist.
In Wirklichkeit ist es nämlich genau umgekehrt. Nachts ist alles ruhig und dunkel, aber wenn am Morgen die Helligkeit durch mein Fenster fällt, ist alles wieder da, Jasnas blutige Kleider, der Geruch von Blut und Schmuck und Tigermilch, und alles Unangenehme wird ganz groß, viel größer, als es in Wirklichkeit ist, Jessis Geschrei, Mamas Sofa samt Kissen, und alles Schöne wird ganz klein, die Sonne, das Essen im Freibad, der Planet, die Ferien. Manche Dinge sehen seitdem anders aus oder hören sich anders an, zum Beispiel denke ich, ich sehe draußen den Mond, dabei ist es nur ein kaltes Kranlicht, oder ich denke, die Soße, wie sie aufkocht und Blasen wirft, hat ein Gesicht, sie seufzt mich an, dabei ist es doch nur Miracoli. Die ganze Welt ist verzerrt und verschoben, so als würde man ständig schielen. Erst wenn es dunkel wird, hört es auf, alles wird still, aber jetzt im Sommer wird es immer erst so spät dunkel, deswegen wünschte ich, es wäre Winter.
Er streute am Tatort Rosenblätter hat der Typ von der Bild geschrieben. Neben der Schlagzeile ist ein Foto von Amir, das Klassenfoto von der Skifreizeit, von letztem Jahr. Jameelah steht direkt neben ihm, über ihre Augen haben sie einen schwarzen Balken gemacht, bescheuert so ein Balken, nützt überhaupt nichts, man kann Jameelah genau erkennen, sie grinst und macht wie auf jedem Klassenfoto mit ihren Fingern ein V hinter Amirs Kopf, sodass Amir bescheuert aussieht. Spätestens da müsste man eigentlich sehen, dass Amir kein Mörder sein kann, aber durch die Schlagzeile über dem Foto ist es genau andersrum, das Lustige macht alles noch viel gruseliger.
Die Zeitung liegt immer noch in meinem Zimmer vor meinem Bett, aber heute werde ich sie endlich wegschmeißen, heute ist der richtige Tag dafür, denn heute fahren wir endlich Amir besuchen. Das ist überhaupt das Einzige, worauf ich mich freue, darauf und wenn ich in der Kinderklinik die Weisheitszähne rauskriege.
Jameelah und ich sind schon vor über zwei Wochen zu Amir gefahren, aber da mussten wir gleich wieder zurück.
Ihr könnt nicht einfach hier rein, hat der Mann an der Pforte zu uns gesagt. Er hat uns eine Telefonnummer gegeben und Amirs Aktenzeichen, und bei der Telefonnummer mussten wir einen Besuchstermin vereinbaren. Weil wir noch minderjährig sind, dürfen wir Amir nur in Begleitung eines Erwachsenen besuchen, aber Nico hat in seinem Personalausweis aus 1996 1988 gemacht, so war es am einfachsten, weil dazu muss man an der Neun und der Sechs nur zwei kleine Halbkreise ziehen, mit einem Stift, den es nur in dem Laden zu kaufen gibt, in dem Nico immer seine Dosen kaufen geht. Nico glaubt man das, der sieht eh viel älter aus, als er ist. Bei der einen Telefonnummer haben wir eine neue Telefonnummer bekommen, bei der hat Nico angerufen und einen Sprechschein beantragt, ohne den Sprechschein darf man nicht mit Amir sprechen. Den Sprechschein mussten wir uns am Arsch der Welt abholen gehen, und an ebendiesem Arsch der Welt mussten wir auch noch eine halbe Ewigkeit auf das Ding warten.
Der Sprechschein liegt in dem Zauberbuch für neue Hexen, gleich neben Lukas’ Foto, da liegt er gut, da geht er garantiert nicht verloren, hat Jameelah gesagt, und das glaube ich Jameelah aufs Wort, dass sie einen Sprechschein, der gleich neben Lukas’ Foto steckt, sicherlich nicht verlieren wird.
Bevor Jameelah und ich zum Gefängnis fahren, gehen wir in die Arkaden, wir fahren ins Untergeschoss zu Perfetto, da, wo die Präsentkörbe stehen. Präsentkörbe sind, glaube ich, die besten Geschenke der Welt, sie sind groß, sie machen satt, sie haben Namen, sie sind wie die guten, warmen, besseren Menschen. Ich wollte schon immer mal einen Präsentkorb geschenkt bekommen, aber weil das wahrscheinlich eh nie passieren wird, will ich wenigstens einmal selbst einen verschenken, und das hier ist jetzt genau der richtige Anlass. Als die Verkäuferin uns aber fragt, für welchen Anlass der Präsentkorb denn ist, wissen wir auf einmal gar nicht mehr so richtig, was wir sagen sollen.
Für unseren besten Freund, sagt Jameelah, wir wollen ihm eine Freude machen.
Da, wo er jetzt ist, geht es ihm nicht so gut, sage ich, er kann dort auch nicht raus.
Er ist in so einer Art Krankenhaus, sagt Jameelah, in einem Waldkrankenhaus. Wir glauben, dass es ein schlechtes Krankenhaus ist mit schlechtem Essen, deswegen wollen wir ihm was Gutes zu essen mitbringen.
Wald, Essen, Krankenhaus, sagt die Verkäuferin, da habe ich glaube ich etwas für Sie.
Es ist das erste Mal, dass uns jemand siezt, fühlt sich komisch an, ich weiß nicht, ob ich das mag. Sie führt uns an den langen Regalen mit den vielen Präsentkörben entlang, ich kann im Vorbeigehen die Namen lesen, Süße Sünde, Babytöpfchen, Der kleine Käsefreund, einer heißt Junggesellenabschied, er ist voller Tampons und Gummis und Schnäpse. Sollte vielleicht eher Kurfürstenstraße heißen, denke ich, und wer den Körben wohl ihre Namen gibt und dass ich so etwas gern beruflich machen würde, aber daraus wird wohl nichts. Mama hat sich mal vor ein paar Jahren bei Perfetto beworben, sie haben sie aber nicht genommen, Sie sind nicht genügend qualifiziert, haben sie zu ihr gesagt.
Bitte schön, sagt die Verkäuferin und bleibt vor einem grünen Korb stehen, das ist Waidmanns Heil.
Aha, sagt Jameelah, und was ist da Gutes drin?
Jagdwurst, Steinpilzsuppe, Wildtopf, Jägermeister, Preiselbeersaft, Waldfruchtkonfitüre, Salz- und Mürbegebäck.
Jameelah schaut mich an.
Was meinst du?
Finde ich gut, sage ich, nur ein bisschen wenig. Sollte vielleicht von allem das Doppelte drin sein, du kennst doch Amir, der frisst für zwei.
Geht das, fragt Jameelah, nimmt die Dose Wildtopf aus dem Korb und liest sich die Zutaten durch.
Kein Problem, sagt die Verkäuferin.
Gut, dann Waidmanns Heil, aber alles zweimal.
Und das hier muss rein, sage ich und halte der Verkäuferin das Tabac-Parfüm hin, das wir vom Kindersitztypen mitgenommen haben.
Genau, und das hier muss raus, sagt Jameelah und zeigt auf die Wurst und den Jägermeister, das muss alles Halal sein.
Was meinen Sie damit, fragt die Verkäuferin.
Kein Schweinefleisch und keinen Alkohol, sagt Jameelah, das ist nicht Halal, da muss was anderes rein. Deutschland und der deutsche Wald, das wird unserem Freund gefallen, aber aus Waidmanns Heil müssen Sie Waidmanns Halal machen. Geht das?
Ich muss grinsen, Waidmanns Halal, das ist mal wieder typisch Jameelah. Die Verkäuferin geht ins Lager und kommt mit einem großen Korb zurück, in den sie schon alle Sachen reingetan hat, die auch in dem kleinen Korb sind. Sie räumt die Sachen vom kleinen Korb zusätzlich in den großen, sie holt die Wurst und den Jägermeister raus und tut stattdessen eine Kilopackung schwarzen Tee und Jumbogeflügelwürstchen hinein. Sie stellt den Korb auf einen Holztisch, zieht Unmengen an Zellophanpapier von einer langen Rolle ab, und fängt an, ihn einzupacken. Das Papier knistert, das Geräusch, das die Schere macht, als die Verkäuferin das Geschenkband einzwirbelt, klingt wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Jameelah legt einen Fünfziger auf den Tisch, und ich lege auch einen Fünfziger auf den Tisch. Die Verkäuferin lächelt, und wir auch, aber wegen was anderem, die Verkäuferin lächelt, weil sie denkt, dass wir nette Mädchen sind, weil wir unser Taschengeld für einen lieben Freund gespart haben, und wir lächeln, weil wir denken, dass sich das mit dem Kindersitztyp und dem im Rollstuhl zumindest jetzt gelohnt hat, wo wir für Amir den Präsentkorb gekauft haben.
Waidmanns Halal ist monsterschwer. Der Weg bis zur Bahn geht noch gerade, aber als wir durch den Wald bis zur Haftanstalt laufen, bin ich schon nach der halben Strecke total fertig. Mein Arm tut Hölle weh, ich versuche, nicht dran zu denken, schaue hoch in den Himmel, überall grüne Baumkronen. Was das wohl für Bäume sind, frage ich mich, die kleinen Zweige, die auf der Erde liegen, sehen aus wie Knochen von toten Tieren.
Wald zieht einen irgendwie runter, sage ich.
Finde ich auch, sagt Jameelah und lässt den Blick nach oben zu den Baumkronen wandern, was ist das nur, dieses komische Ding mit den Deutschen und dem Wald, erklär mir das mal.
Woher soll ich das wissen, sage ich und lasse den Korb ohne Vorwarnung auf den Boden fallen.
Ich kann nicht mehr.
Ich auch nicht, sagt Jameelah, Mann, mir hängt die Zunge schon sonst wo, hast du was zu trinken mit?
Nee.
Sehnsüchtig schauen wir beide auf den Preiselbeersaft, der im Korb unter dem durchsichtigen Papier liegt.
Ich sterbe vor Durst.
Ich auch.
Meinst du, Amir ist sehr sauer, wenn wir seinen Saft trinken?
Bestimmt nicht, sage ich.
Genau das wollte ich hören, sagt Jameelah und knibbelt mit ihren langen Fingernägeln an den kleinen Knoten vom Geschenkband herum, sie macht das Papier zur Seite und greift gierig nach der Saftflasche.
Waidmanns Heil, Prost.
Waidmanns Halal, lass es dir schmecken.
Mann, hat jemals was so gut geschmeckt, sagt Jameelah und reicht mir die Flasche rüber, ihre Zähne sind ganz lila.
Ich setze die Flasche an und trinke.
Hast recht, sage ich, schmeckt fast so gut wie Tigermilch.
Vor dem Eingang zur Haftanstalt steht Nico und raucht. Sein BMX lehnt an der Wand, und in der Hand hält er seinen Kinderkoffer.
Na endlich, sagt er, wo wart ihr denn so lange?
Wir haben noch was für Amir besorgt.
Das da, sagt Nico und zeigt auf den Korb, das dürft ihr niemals mit reinnehmen.
Wieso?
Weil das hier immer noch ein Knast ist und keine Jugendherberge, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht.
Jetzt haben wir uns so abgeschleppt mit dem Ding, jetzt werden wir es auch irgendwie da reinbekommen, sage ich.
Nico zieht an seiner Kippe und grinst.
Bin gespannt, wie ihr das hinkriegen wollt.
Ach ja, sagt Jameelah, und ich bin gespannt, wie du deinen dämlichen Koffer da reinkriegen willst.
Wir schleppen den Korb bis zur Pforte. Dort sitzt derselbe Typ wie letztes Mal, der, der uns die Telefonnummer und das Infoblatt gegeben hat.
Ausweise und Sprechschein, sagt er.
Wir kramen unsere Schülerausweise und den Sprechschein aus dem Zauberbuch für neue Hexen und legen alles auf Nicos Perso, der liegt schon auf der Ablage. Der Pförtner schaut nur kurz auf den Perso, dann sagt er, in Ordnung. Wir wollen gerade weitergehen, da zeigt er auf unseren Korb.
Den da, sagt er, den könnt ihr aber nicht mit hineinnehmen.
Der ist nicht für uns, sage ich, der ist ein Geschenk für unseren Freund.
Ich weiß, sagt der Pförtner, deswegen dürft ihr das ja auch nicht mit hineinnehmen.
Sie können den Korb gern durchsuchen, wir haben bestimmt keine Feile reingebacken, sagt Jameelah und klimpert dabei mit ihren Wimpern, aber der Pförtner schüttelt den Kopf.
Geht nicht.
Dürfen wir unserem Freund denn gar nichts mitbringen?
Häftlinge können drei Mal im Jahr Pakete bekommen, diese müssen jedoch angemeldet und postalisch zugestellt werden, am besten zu Weihnachten, Ostern oder zum Geburtstag. Dann freuen sich die Häftlinge eh viel mehr. So ganz ohne Anlass, sagt der Pförtner, das ist doch nichts.
Er stößt mit seinen Stiefeln die Tür zu seinem Kabuff auf.
Den könnt ihr hier abstellen und nachher wieder mitnehmen.
Wusst ichs doch, sagt Nico und grinst, als wir über den Hof in Richtung Haupteingang gehen.
Halt bloß die Klappe, sagt Jameelah.
Das hier ist kein normales Gefängnis, hier sind keine Erwachsenen, nur Jugendliche, die auf ihren Prozess oder auf ihr Urteil warten, das habe ich in dem Infoblatt gelesen, das wir letztes Mal mitbekommen haben. Nico hat recht, von außen sieht es nicht aus wie ein Gefängnis, eher wie eine Mischung aus Jugendherberge und Irrenanstalt, wegen der vergitterten Fenster, aber am Eingang ist es dann doch so, wie man es sich im Knast vorstellt. Hinter Glas sitzt ein Mann in Uniform, er schiebt durch eine spezielle Vorrichtung für jeden von uns einen kleinen Plastikkorb, solche wie die, in denen Noura ihre Wäscheklammern aufbewahrt. Wir müssen alles, was wir mithaben, hineintun, auch was in unseren Hosentaschen ist, Kippen, Kaugummis, sogar meine Tampons muss ich abgeben.
Der Koffer da, sagt ein Beamter und zeigt auf Nicos Kinderkoffer, der muss hierbleiben.
Jameelah grinst breit.
Können wir unserem Freund denn gar nichts mitbringen, fragt Nico und überlässt dem Beamten, der ihn abtastet, widerwillig seinen Koffer.
Sie können, wenn wir hier fertig sind, im Besucherraum für 15 Euro Hartgeld verschiedene Dinge an einem Automaten ziehen, die können Sie dem Häftling aushändigen.
Ist ja wie im Knast hier, sagt Nico.
Niemand lacht.
Das Geräusch, wenn sich die Eisentüren öffnen und schließen, die schweren klimpernden Schlüssel, die an den Hüften der Beamten baumeln, ihre ernsten Gesichter, das alles macht mich nervös, aber am allernervösesten macht mich der Gedanke, dass hier irgendwo in der Nähe Amir auf uns wartet. So müssen Menschen sich fühlen, die einander jahrelang nicht gesehen haben, denke ich, so wie im Fernsehen bei Nur die Liebe zählt.
Als der in Uniform uns endlich in den Besucherraum führt, ist Amir noch nicht da. Unsere Schritte hallen, so kahl und leer ist es in dem Raum. Es riecht nach Febreze. Die Fenster sind voller Taubenscheiße, durch sie hindurch fällt Sonne und lässt den Staub in der Luft tanzen. Ich muss niesen. Der in Uniform bleibt an der Tür stehen, wie ein Zinnsoldat, fehlt nur noch diese blöde rote Mütze.
Sind das da die Automaten, fragt Nico und zeigt auf die Wand.
Der in Uniform nickt.
Neben einem Getränkeautomaten steht ein Ding, das aussieht wie der Futterautomat im Tierpark Friedrichsfelde. Wir waren mit der Schule mal dort, Amir, Jameelah und ich. Ich weiß noch, wie die niedlichen Rehe hinter dem Gitter das Futter aus unseren Händen gefressen haben, wie warm und weich sich das auf der Hand angefühlt hat, wie beruhigend das Geräusch, das sie beim Fressen gemacht haben, diese Seitwärtsbewegung vom Kiefer beim Kauen, und wenn dieser Automat nicht wäre, dann würde ich gar nicht an die Rehe von Friedrichsfelde denken müssen, dann würde ich nicht denken, dass plötzlich einer von uns dieses Reh hinter Gittern ist, genauso unschuldig wie die Tiere in Friedrichsfelde, und wir die, die ihn mit dem Zeugs aus dem Automaten füttern sollen.
Wollt ihr was zu trinken, fragt Nico, hier gibt es Tee, Kaffee, Orangensaft.
Der Orangensaft schmeckt scheußlich, nach Tierpark, nach Jugendherberge, nach Irrenanstalt, nach Knast. Knallorange ist er und viel zu süß, da ist alles drin, nur keine Orange. Nico trommelt mit den Fingern auf dem Tisch, neben ihm liegen eine Packung Schogetten, eine Tüte Obst und Kaugummis, alles aus dem Automaten gezogen. Jameelah pustet über ihren dampfenden Plastikbecher, Glückstee steht auf dem Teebeutel, aber Jameelah nippt nur kurz, so als hätte sie Angst, sich am Glück zu verbrühen. Ich trinke meinen Saft, ich denke, mit Mariacron und einem Schuss Milch wäre er besser, da geht die Tür auf.
Zuerst sehe ich Amirs Hände, sie stecken in Handschellen, eisern umschlingen sie seine Handgelenke, bis der in Uniform sie aufschließt. Amir lächelt, er sieht müde aus, aber auf seine aufgerissenen Mundwinkel hat jemand Penaten geschmiert, und der blaue Fleck unterm Auge ist verschwunden. Er trägt auch keine gestreiften Klamotten, wie ich es mir vorgestellt habe, sondern das Picaldi-Shirt, das er sonst immer zum Sportunterricht angehabt hat. Ich will auf ihn zulaufen, aber der in Uniform sagt, halt, keinen Körperkontakt.
Aber die Hand geben dürfen wir ihm schon, oder, sagt Nico und geht auf Amir zu.
Alter, sagt er, schön dich zu sehen.
Amir schlägt ein.
Ich strecke meine Hand aus, Amir nimmt sie und drückt kurz zu.
Hallo, sagt er und lächelt.
Jameelah steht auf, sie wischt sich die Hände an ihrer Jeans ab, dann hält sie Amir die Hand hin.
Salam, Bruder.
Blöde Frage, aber wie gehts dir, sagt Nico.
Amir lächelt wieder.
In Ordnung.
Das hier ist für dich, sagt Nico und schiebt ihm die Schogetten, die Kaugummis und das Obst rüber.
Danke, sagt Amir, wie gehts euch?
Wie soll es uns schon gehen, wenn du hier drinsitzt, sagt Jameelah.
Hast du einen guten Anwalt, fragt Nico.
Hier ist so eine Frau gewesen, sagt Amir, ich weiß nicht, was gut heißt, aber sie hat gesagt, sie verteidigt mich umsonst, weil mein Fall so besonders ist. Keine Ahnung, ich glaube, sie macht das nur wegen der Karriere. Aber das ist gut, weil wir haben kein Geld für so was.
Und der Prozess, wann fängt der an, fragt Nico.
Jetzt bald. Das ist so bei Jugendstrafrecht, das geht schneller als bei Erwachsenen, weil ich nicht so lange in U-Haft sitzen soll.
Und was sagt die Anwältin?
Wenn ich Glück habe, nur fünf Jahre, danach werde ich abgeschoben, direkt vom Gefängnis zum Flughafen, und dann nach Sarajevo.
Nico schüttelt den Kopf.
Alter, was soll das?
Was, sagt Amir.
Na, das alles, sagt Jameelah, glaubst du, wir sind blöd?
Wir wissen, dass du unschuldig bist, sage ich leise.
Gar nichts wisst ihr, sagt Amir.
Alter, sagt Nico, dass du so was nie hinkriegen würdest, wissen wir, und jeder, der dich ein bisschen kennt, der weiß das auch. Schuld, Unschuld, sagt Amir und schaut aus dem Fenster, das ist gar nicht so ein großer Unterschied.
Blödsinn, sage ich.
Mann, du versaust dir dein ganzes Leben, sagt Nico, in vier Jahren bist du achtzehn, dann hast du eine fette Vorstrafe. Was soll denn da noch aus dir werden? Und dann auch noch Abschiebung.
Das ist gar nicht so schlimm. Ich will eh nicht mehr in Deutschland leben. Ich kann hier drin MSA machen, wusstet ihr das? Die Lehrerin ist nett, nicht so eine Hexe wie die Struck. Vielleicht kann ich sogar Abi machen und studieren, ich habe überlegt, ich glaube, ich will Arzt werden. Oder halt was mit Fußball, weiß noch nicht so genau.
Arzt oder was mit Fußball, sagt Jameelah und tippt sich an die Stirn, du sitzt im Knast, kapiert, du kriegst eine Strafe für was, das du nicht getan hast, das ist doch bekloppt.
Lass mich in Ruhe, sagt Amir.
Hat Tarik dir diesen Scheiß erzählt, fragt Jameelah, hat er gesagt, dass, wenn du das alles auf dich nimmst, dass du dann der Held der Familie bist und dir alle Türen offen stehen, hat er das gesagt, ja?
Geh jetzt zu dem da hin, und sag denen einfach die Wahrheit, flüstere ich und zeige auf den in Uniform.
Hört auf damit, sagt Amir, ich dachte, ihr wolltet mich besuchen.
Wollen wir auch, aber sollen wir einfach zuschauen, wie du dir dein Leben versaust?
Was ich mit meinem Leben mache, geht euch gar nichts an, das geht nur mich was an, mich und meine Familie.
Du bist so was von feige, sagt Jameelah, von wegen Retter der Familie, weißt du, was du bist? Ein kleines Mädchen bist du, genau, wie Tarik immer behauptet hat!
Hör endlich auf, schreit Amir, immer weißt du, wie es läuft, immer musst du uns allen sagen, was wir machen sollen. Jameelah sagt so und so geht es, so und so ist es, als ob du mehr Ahnung vom Leben hast! Glaub mir, es gibt Dinge, die verstehst du einfach nicht, die sind nicht logisch und trotzdem richtig, aber das wirst du nie kapieren, du hast nämlich gar keine Familie, du weißt doch gar nicht, wie es sich anfühlt, nicht immer nur an sich selbst zu denken!
Jameelah springt auf, dabei fliegt der Stuhl nach hinten.
Du kannst mich mal, schreit sie und will zur Tür rennen.
Du mich auch, sagt Amir, schon lange.
Hört auf, sagt Nico und packt Jameelah am Arm.
Einen Scheiß setze ich mich, sagt sie, was weißt du denn schon, Kartoffel? Spielst dich hier auf, als hättest du irgendeine Ahnung von dem, was hier geht. Peinlich ist das!
Ruhe, ruft der in Uniform, sonst wird der Besuchstermin sofort beendet.
Nico ballt die eine Hand zur Faust. Flehend schaue ich zu Jameelah. Sie zögert und blickt zur Tür, dann setzt sie sich kopfschüttelnd zurück auf ihren Stuhl.
Hör zu, sagt Nico und schaut Amir an, wir wollen einfach, dass du dir genau überlegst, was du tust. Familie ist wichtig, aber Jasna war doch auch Familie. Du bist unschuldig, das weiß ich, auch wenn ich es nicht beweisen kann. Aber wenn du den, der das getan hat, schützt, dann machst du dich wirklich strafbar.
Die Arme vor der Brust verschränkt, schaut Amir aus dem Fenster.
Sie war gar nicht meine richtige Schwester.
Wie?
Nur halb.
Wie nur halb?
Sie hatte einen anderen Vater, sagt Amir, ist im Krieg passiert.
Aha, sagt Nico.
Die Sonne fällt durchs Fenster, wie im Weltall schweben die kleinen Staubteilchen in der Luft, schwerelos, sorglos so ein Staubkorn, hat sein Leben lang nichts anderes zu tun, als rumzufliegen und Dreck zu machen. Vom Universum aus gesehen, ist die Erde auch nur ein Staubkorn, sagt der Wittner. Wer weiß, denke ich, vielleicht sind die Staubkörner hier im Raum ja auch Planeten und wir Menschen nur zu groß und zu dumm, um das Leben darauf zu erkennen, die vielen Sachen, die dort passieren, das Schlimme und das Schöne, keine Ahnung, so ist das mit der Erde doch auch, was ist die denn schon mehr als ein Staubkorn, ein verfaultes Staubkorn voller Blut und Scheiße, denke ich.
Was hast du denn, sagt Nico.
Jameelah kramt in ihrer Hosentasche herum, aber Amir ist schneller, er holt ein riesiges kariertes Taschentuch aus seiner Hosentasche, eins, das eigentlich nur alte Männer mit sich rumtragen.
Nicht weinen, sagt er und hält es mir hin.
Ich putze mir die Nase. Keine Ahnung, ob es an dem Großvatertaschentuch liegt oder was, aber noch nie in meinem Leben habe ich mir so laut die Nase geputzt, wie die alten Männer, die im Park sitzen und sich schnäuzen, höre ich mich an, fehlt nur noch, dass ich mir das eine Nasenloch zuhalte und Popel auf den Gehweg schleudere. Seit ich denken kann, haben Jameelah und ich versucht, Amir zu beschützen, vor den Jungs, die seinen Ranzen in die Pfützen geschmissen und gesagt haben, wozu die Bücher, wozu die Hefte, du kannst doch eh nicht lesen, du kannst doch eh nicht schreiben, vor den Mädchen, die ihm geschüttelte Sprudelflaschen ins Gesicht gehalten und du stinkst, wasch dich mal geschrien haben, vor Tarik, der ihm auf den Hinterkopf geschlagen und gesagt hat, hör endlich auf zu heulen, du bist doch kein Mädchen, aber jetzt, da merke ich, Amir ist überhaupt nicht klein, er ist gar nicht kleiner als wir, er ist genauso groß, vielleicht sogar größer, viel größer, viel erwachsener, viel älter als wir alle zusammen. Ich hatte nie einen Großvater, aber so stelle ich ihn mir vor, wie Amir, der mir sein Taschentuch hinhält und sagt, nicht weinen, so als wäre er von heute auf morgen einfach mal 50 Jahre älter geworden. Vielleicht ist das ja so, vielleicht sind wir alle auf einen Schlag ganz alt geworden. Ob das sein kann, frage ich mich, ob es sein kann, dass es nicht die Zeit ist, die vergeht und uns nebenbei alt macht, sondern die Dinge, die uns zustoßen, die, die uns verzweifeln lassen, die wir aber durch uns hindurchlassen müssen, ob wir wollen oder nicht, weil sie einfach größer und stärker sind als wir, weil das Leben immer größer und stärker ist als man selber, dass es diese Dinge sind, die uns wirklich älter machen.
Ich wollte nicht, dass sie stirbt, das müsst ihr mir glauben, sagt Amir, das müsst ihr mir glauben, dass ich nicht wollte, dass sie stirbt.
Ich schiebe ihm das Taschentuch hin.
Wir glauben dir, sage ich und schaue zu Jameelah.
Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt, sie schaut auf die Spitzen ihrer Chucks, schaut zu Amir, zu mir, zum Fenster und dann wieder zu Amir.
Natürlich glauben wir dir, sonst wären wir ja nicht hier, sagt sie und greift nach Amirs Hand.
Langsam schiebe ich meine Hand auf den Tisch, ich lege meine Hand auf Amirs und Jameelahs Hände, Amir legt seine Hand auf meine, dann wieder Jameelah und wieder ich, Amir lächelt, er zieht seine Hand von unten raus, haut sie oben auf den Händeberg, Jameelah, ich, Amir, Jameelah, ich, Amir, so wie früher, lebender Hamburgerhändeberg, einer für alle, alle für einen hat Jameelah immer gesagt, aus einem Buch hatte sie das, aber jetzt, denke ich, jetzt ist nichts mehr wie in einem Buch, jetzt ist nichts mehr, wie es einmal war, da können wir so viel mit unseren Händen machen, wie wir wollen.
Der in Uniform räuspert sich laut.
Die Zeit ist um.
Alter, hau rein, sagt Nico und hält Amir seine Hand hin, und denk drüber nach, denk noch mal in Ruhe über alles nach.
Salam, Bruder, sagt Jameelah.
Bis bald, sage ich.
Bis bald, sagt Amir und hält mir das Taschentuch hin, hier, schenk ich dir, das kannst du waschen und immer wieder benutzen. Gut, was? Die haben jede Menge davon hier.
Danke, sage ich und stecke das Taschentuch ein.
Hast du den Karton noch, flüstert Amir, als Nico und Jameelah schon an der Tür stehen.
Klar, was denkst du denn?
Schmeiß ihn weg.
Warum?
Schmeiß ihn weg. Nicht aufmachen, einfach wegschmeißen, o. k.?
Na gut.
Ich bin kein schlechter Mensch, Nini.
Ich weiß, sage ich, ich weiß, wer du bist. Wir helfen dir, versprochen.
Nein, sagt Amir, es ist zu spät, und jetzt, wo es zu spät ist, da will ich lieber bluten als zerbrechen.
Voll Sad, sagt Nico, als wir wieder vor dem Ausgang stehen. Er holt seinen Skizzenblock und einen Stift aus seinem Koffer und geht die lange Mauer ab. Zwischen Jameelah und mir steht der Präsentkorb, wir haben das Zellophanpapier abgemacht und trinken abwechselnd aus der zweiten Preiselbeersaftflasche.
Was machst du da, frage ich, aber Nico antwortet nicht, steht vor der Mauer und kritzelt in seinem Skizzenblock rum. Die Sonne knallt auf uns herunter.
Jameelah verdreht die Augen.
Der große Künstler am Werk oder was.
Bin ja schon fertig, ruft Nico und steckt Block und Stift zurück in seinen Koffer.
Was sollte das jetzt, fragt Jameelah.
Hier gehört was hingebombt, sagt er, genau da an die Wand, da muss Sad stehen.
Jameelah schaut Nico ungläubig an.
Aerosol macht echt blöd, oder?
Ach, halt die Klappe.
Nico, das ist wirklich bescheuert, sage ich, hier sind doch garantiert überall Kameras.
Nein, hab ich schon beim Reinkommen gesehen, die kriegen den Winkel gleich an der Wand nicht rein, sagt Nico und beugt sich über den Präsentkorb. Er holt die Dose mit dem Wildtopf raus, reißt das Blech auf und kippt sich das Zeugs kalt rein.
Du bist so ein Tier, sagt Jameelah und dreht sich angeekelt weg.
Wieso, sagt Nico mit vollem Mund, ist doch genau richtig bei dem Wetter.
Wie kannst du jetzt nur was essen, sagt Jameelah, und dann auch noch das, was eigentlich für Amir war.
Sorry, ich hab Hunger, sagt Nico, soll ich jetzt fasten oder was. Das holt Amir auch nicht wieder raus.
Sein zufriedenes Gesicht, seine Hände, die er sich immer wieder an der verfleckten Hose abwischt, beruhigen mich irgendwie. Es geht weiter. Alles geht immer weiter, die Bahn fährt weiter, tuckert von einer Station zur nächsten, die Sonne wandert weiter, egal was passiert, die Welt dreht sich einfach weiter und wir uns mit ihr, egal wie traurig oder verzweifelt man ist, essen und trinken und aufs Klo muss man trotzdem früher oder später, nicht nur wir, auch Amir, was der immer essen konnte.
An der Wilmersdorfer steigt Nico aus.
Muss noch zu Boesner, bis dann, sagt er und drückt mir einen Kuss auf die Wange, fast schon auf den Mund.
Was war das denn, fragt Jameelah, als die Bahn weiterfährt, seid ihr jetzt ein Pärchen?
Quatsch, sage ich, das hätte der wohl gern.
Und du, hättest du das auch gern?
Keine Ahnung.
Komm, jetzt tu nicht so, sagt Jameelah und grinst mich auffordernd an.
Hör auf, sage ich und schaue aus dem Fenster.
Ich tue nicht so, ich kann an so was wie Nico und mich gerade überhaupt nicht denken. Amirs Taschentuch steckt in meiner Hosentasche, ich hole es raus und mache einen festen Knoten rein, einen für Jasna, dann mache ich noch einen rein, einen für Amir, und dann mache ich noch einen rein, einen für Tarik, für jeden Toten einen Knoten, für Jasna, weil sie wirklich tot ist, für Amir, weil er nie mehr wirklich leben wird, und das so gut wie tot sein ist, und für Tarik, weil Tarik am totesten von allen dreien ist, weil wenn man jemanden umbringt, man damit auch sich selber umbringt.
Was machen wir jetzt, frage ich.
Ich geh jetzt in die Teestube, sagt Jameelah, Lukas ist zurück, vielleicht geht der ja da hin. Willst du mit?
Du hast gesagt, wir gehen zur Polizei, wenn wir bei Amir waren.
Hab ich gar nicht.
Hast du wohl, du hast es sogar versprochen.
Hab ich nicht, sagt Jameelah, ich hab versprochen, dir zu helfen, den verdammten Ring aus dem Müll zu fischen, daran hab ich mich gehalten. Dass wir ihn nicht gefunden haben, tut mir leid, das habe ich dir schon ungefähr tausendmal gesagt. Aber versprochen hab ich dir ansonsten gar nichts.
Hast du wohl.
Nein, du hast was versprochen, schon vergessen, sagt Jameelah, du hast versprochen, dass du nicht zur Polizei gehst, bis wir mit Amir gesprochen haben, sogar Pinkischwur hast du darauf geschworen.
Ich schaue auf den Boden, ich fummle an Amirs Taschentuch herum, ich mache noch mehr Knoten rein.
An den Schwur hab ich mich gehalten, sage ich, und jetzt müssen wir zur Polizei gehen.
Nini, wir helfen ihm nicht, wenn wir reden.
Natürlich helfen wir ihm, wenn wir reden.
Stimmt, weil Amir gesagt hat, geht sofort zur Polizei, ich ziehe mein Geständnis zurück, deswegen, sagt Jameelah und schaut mich an, als wär ich behindert oder so was, irgendwie muss ich mich da verhört haben.
Nein, sage ich, aber er hat doch gesagt, er wollte nicht, dass sie stirbt. Er war traurig.
Wegen Jasna, sagt Jameelah.
Nein, auch weil er unschuldig ist.
Er hat gesagt, dass es uns nichts angeht, was er mit seinem Leben macht.
Das ist doch nur Gelaber, du kennst doch Amir, sage ich.
Gelaber? Schon vergessen, wie er mich angeschrien hat?
Weil du ihn provoziert hast!
Ja, weil ich versucht habe, die Wahrheit aus ihm rauszupressen! Damit wir in diese Scheiße nicht mit reingeritten werden, damit wir uns in Zukunft nicht wie Jasna auf dem Friedhof wiederfinden.
Mann, das ist doch Schwachsinn.
Ist es gar nicht. Schon mal was von Zeugenschutzprogrammen gehört? Du kriegst eine komplett neue Persönlichkeit, anderen Namen, andere Stadt, das ist wie bei James Bond. Du darfst mit keinem aus deinem alten Leben mehr was zu tun haben, willst du das etwa?
Du guckst echt zu viel Fernsehen.
Das sagst ausgerechnet du! Verdammt noch mal, die schauen gerade, ob ich überhaupt noch in Deutschland bleiben darf, kapierst du eigentlich, was das heißt? Eine Kleinigkeit, ein falsches Wort, und alles ist im Arsch.
Das ist doch übertrieben, sage ich, ich meine, wir sind doch nicht irgendwelche Straßenkinder in Guatemala.
Jameelah seufzt.
Dann mach halt. Geh zu den Bullen und steck denen alles. Aber mich hältst du da raus. Ich war weder mit dir unterwegs, noch habe ich irgendwas gesehen, sagt sie und steht auf, ich muss jetzt raus.
Wieso?
Bin mit Nadja für die Teestube verabredet, hab ich doch eben schon gesagt.
Kotz-Krüger-Teestube?
Ja. Kommst du mit?
Nee.
Dann eben nicht.
Tschüs.
Tschüs. Amir wird dir ja so dankbar sein. Und Tarik erst.
Ich gehe nicht zu den Bullen, ich gehe nach Hause, in mein Zimmer, stopfe endlich die Bild in den Mülleimer und laufe damit runter in den Hinterhof. Ich kippe den Müll in eine der überquellenden Tonnen. Die Bild bleibt oben liegen, Amir und Jameelah, das V-Zeichen über Amirs Kopf. Bis jetzt dachte ich immer, manche Dinge bleiben für immer, die ändern sich nie, die verschwinden nicht, genau wie in Biologie diese versteinerten Tiere, die angeblich Millionen von Jahren alt sind. Das stimmt aber nicht, gar nichts versteinert, Jameelah hatte recht, alles wird immer anders, obwohl man es gar nicht will.
Ich schiebe mir eine Pizza in den Ofen und setze mich damit vor den Fernseher, aber als ich anfangen will zu essen, sehe ich, auf der Pizza sind Pilze. Ich hasse Pilze, ich mache sie alle runter und verbrenne mir dabei halb die Finger, aber als die Pilze runter sind, merke ich, auf Salami habe ich auch keinen Appetit, und auf gekochten Schinken auch nicht. Irgendwann ist auf der Pizza nichts mehr außer Käse und Tomate, Käse und Tomate ist gut, aber als ich reinbeiße, merke ich, die Pizza ist innen drin noch gefroren. Mit dem Teller in der Hand laufe ich runter zum Müll. Die Pizza landet genau auf Amirs Gesicht.
Mein Handy klingelt, es ist Nico.
Wie gehts dir, Süße, sagt er.
Scheiße. Und dir?
War bei Boesner, Dosen kaufen. Soll ich vorbeikommen?
Weiß nicht, sage ich.
Ist Jameelah bei dir?
Nee, ist in diese Teestube gefahren.
Und du?
Ich scheiß auf die Menschenrechte, sage ich.
Was ist los?
Nichts, dieser Lukas, sage ich, der geht mir auf die Nerven.
Sag ich doch, das ist ne reinrassige Schwuchtel.
Hör auf.
Ist ja schon gut. Ist mein Bruder bei euch?
Sind alle ins Kino gegangen.
Schick ihn rüber, wenn er wieder da ist, ja?
Mach ich. Willst du heute Abend schon los?
Ja, sagt Nico, hab das Gefühl, das ist das Einzige, was ich tun kann.
Kann ich mit?
Nein, besser nicht, das ist gefährlich.
Eben deswegen. Ich kann Schmiere stehen.
Na gut, sagt Nico nach langem Zögern, aber es wird spät. Leg dich pennen, ich klingel dich an, dann kommst du runter zum Spielplatz.
Nein, nicht am Spielplatz.
Na gut, dann bei uns vor der Tür. Aber leise, o. k.?
O. k.
Bis dann, Süße.
Ich lege auf und will gerade zurück in mein Zimmer, da wird die Wohnungstür aufgeschlossen, Mama, Rainer, Jessi und Pepi kommen rein. Jessi hat Vampirzähne im Mund, sie springt mir in die Arme, ihre Hände riechen nach Popcorn und Bananen.
Wir haben Biss zum Abendrot gesehen, sagt sie.
Ich weiß nicht, ob sie Abendrot oder Abendbrot sagt, zwischen Popcorn und Bananen riecht es nach Pommes, und erst da merke ich, dass ich einen Riesenhunger habe. Rainer hält zwei große Tüten in der Hand, er geht in die Küche und packt vier Portionen Gyros komplett aus.
So, jetzt wird gegessen, sagt Mama.
Kann Pepi noch zum Essen bleiben, fragt Jessi.
Nico hat angerufen, sage ich, Pepi soll nach Hause.
Meine Krone, ruft Pepi und holt eine zerknautschte Krone von Burger King aus einer der Tüten.
Tschüs, sagt er und setzt sich die Krone auf.
Mamas Haare sind offen, sie hat sich was auf die Lippen gemacht, richtig gut gelaunt sieht sie aus. Sie holt Teller aus dem Schrank, stellt sie auf den Küchentisch, und neben jeden Teller legt sie Besteck, darunter schiebt sie die Papierservietten aus der Imbisstüte, kurz überlege ich, ob ich irgendeinen Geburtstag oder so vergessen habe, habe ich aber nicht.
Gibts kein Ketchup, fragt Jessi.
Nein, sagt Rainer und zeigt zuerst auf das Fleisch und dann aufs Tzatziki, das isst man mit der weißen Soße da.
Setz dich Schätzchen, sagt Mama zu mir und stellt eine Flasche Lambrusco und Cola auf den Tisch.
Darf ich was davon, fragt Jessi und zeigt auf den Lambrusco.
Rainer lacht dröhnend.
Jetzt hört euch das an, meine Tochter.
Er gießt Mama und sich Lambrusco ein, wir bekommen Cola.
Auf die Familie, sagt er und hebt sein Glas.
Wir stoßen an, ich mache meine Haare zusammen und fange an zu essen. Das Tzatziki schmeckt nach nichts, nur nach Joghurt und Salz, also gehe ich zum Kühlschrank und hole die Ketchupflasche raus.
Na vielen Dank, sagt Rainer und schaut mich vorwurfsvoll an.
Was denn, sage ich und verteile Ketchup auf meinem Teller, lauter kleine rote Inseln.
Gib her, sagt Jessi, ich will auch, aber Rainer reißt mir die Flasche aus der Hand und stellt sie neben sich auf den Boden.
Das isst man mit der weißen Soße da, das hab ich dir doch gerade gesagt.
Jetzt mach dich nicht lächerlich, sagt Mama zu Rainer und stellt die Ketchupflasche zurück auf den Tisch. Jessi greift gierig danach, ihr kompletter Gyrosteller versinkt in einem roten See, dazwischen weiße Tzatzikiinseln.
Verdammt noch eins, sagt Rainer, wir sind doch hier nicht in Amerika.
Jessi, es reicht, sagt Mama und nimmt ihr die Flasche ab.
Ich spiel doch nur Umweltschutz, sagt Jessi mit vollem Mund, das da, das ist das Meer in Japan, wenn sie die Wale schlachten, das haben wir in der Schule gelernt.
Und, fragt Rainer und schaut mich an, was macht die Schule bei dir?
Papa, sagt Jessi und prustet los, es sind doch Ferien.
Irgendwas piepst. Es ist stockdunkel, ich schaue verschlafen auf mein Handy, Nico steht da, es ist kurz nach halb eins. Ich trinke den Rest Cola, der auf meinem Nachttisch steht, ziehe mich an, nehme meine Chucks in die Hand und schleiche am Schlafzimmer vorbei.
Die Tür steht offen, Rainer schnarcht, es klingt nach zu viel Lambrusco. So leise wie möglich lasse ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen und laufe barfuß runter. Nico sitzt auf seinem BMX, Rauch steigt über ihm auf. Er grinst, als er mich sieht, und fährt sich mit der Hand über seinen kahl rasierten Schädel, der im Schein der Straßenlaterne leuchtet.
Na, sagt Nico und nimmt mich in den Arm.
Ich drücke meine Nase an seinen Hals. Er riecht nach dem Zeugs in den Dosen, das, wovon Jameelah meinte, dass es blöd macht. Nico ist nicht blöd, Nico ist klug, klüger als wir alle zusammen, nur lässt er das nicht so raushängen wie Lukas zum Beispiel.
Steig auf, sagt Nico und stellt die Füße aufs Pedal.
Ich stelle mich hinten auf die Trickachsen vom BMX, und Nico fährt los.
So mitten in der Nacht ist kaum jemand unterwegs, die Stadt treibt an uns vorbei, die Häuser, die Bäume, die Ampeln, die ganze Yorck fahren wir runter, die Kleist und den Ku’damm, wir reden kaum, nur die Dosen klackern leise in Nicos Rucksack. Ich bin noch nie so weit mit dem Fahrrad gefahren, überhaupt fahre ich sowieso nie Fahrrad, aber bei Nico hinten auf den Trickachsen stehen, mag ich gern, ich mag es auch, wie Nico nie nach links und rechts schaut, wenn wir eine Straße überqueren. Theoretisch könnten wir an jeder Straßenecke totgefahren werden, und das fühlt sich jedes Mal an, wie wenn man mit dem Leben Schnik Schnak Schnok spielt, aber als ich sehe, dass er plötzlich auf die Autobahn abbiegt, wird mir doch ein bisschen komisch.
Spinnst du, schreie ich.
Nico lacht und rast den Standstreifen runter, die Autos, die an uns vorbeifahren, hupen wie blöde.
Ist gleich vorbei, ist eine Abkürzung.
Er legt sich in die Kurve und biegt an der nächsten Ausfahrt ab. Wir fahren unter der S-Bahn-Brücke durch, immer geradeaus, bis die Lichter immer kleiner und weniger werden. Die Geräusche, die von der Autobahn zu uns dringen, werden leiser und leiser, und irgendwann hört man fast gar nichts mehr, nur das Rauschen der Baumkronen im Wald. Das BMX buckelt wie ein junges Pferd über die Baumwurzeln. Nico bremst.
Du hast sie ja wohl nicht mehr alle, sage ich.
Das Gegenteil von Leben ist Langeweile, sagt Nico und grinst.
Was ist das denn für ein Scheißspruch?
Jetzt stell dich nicht so an, ist doch alles gut gegangen.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Kommt mir vor, als wäre es eine halbe Ewigkeit her, dass Jameelah und ich auf demselben Weg Amirs Präsentkorb geschleppt haben, dabei war das doch erst heute Nachmittag. Unter unseren Füßen knacken Äste, nicht weit weg zwitschert was.
Hörst du das, sage ich. Das ist eine Nachtigall. Wusstest du, dass es hier mehr von denen gibt als in Bayern? Hat Jameelah mir erzählt.
Das hier ist ja auch die Hauptstadt der Tiere, sagt Nico und zündet die Tüte an, die bis eben hinter seinem Ohr geklemmt hat.
Hauptstadt der Tiere, warum das denn?
Keine Ahnung, sagt man so. Wahrscheinlich, weil es so viele Hunde gibt. Ist doch hier wie mit den Kühen in Indien, nur eben Hunde.
Ich mag Hunde, sage ich.
Ich auch. Ich mag alle Tiere, sagt Nico.
Die meisten Männer hassen Tiere, sage ich.
Quatsch, sagt Nico.
Wohl. Sie reißen ihnen die Flügel aus oder verkokeln sie unter Lupen, oder sie stecken ihnen Strohhalme in den Hintern, um sie aufzupusten, bis sie platzen. Ist doch wahr, das machen immer nur Jungs.
Ich weiß nicht, sagt Nico.
Doch, sage ich, so ist das, und weißt du, was sie mit den allerschönsten Tieren machen? Die allerschönsten Tiere werden gefangen und ausgestopft. Oder aufgespießt, genau wie Jasna.
Du spinnst ja, sagt Nico.
Vor uns in der Ferne kann man das Gefängnis erkennen. Über der Mauer leuchtet ein helles Licht, es dreht sich wie bei einem Leuchtturm im Kreis und scheint über die Baumkronen hinweg. Am Waldrand bleiben wir stehen, Nico versteckt das BMX in den Büschen.
Hör zu, sagt er und legt mir die Hände auf die Schultern, du bleibst hier stehen und beobachtest die Straße, ob jemand vorbeiläuft, ob ein Auto vorbeifährt. Egal was für eins, wenn ein Auto kommt, dann rufst du, klar?
Klar.
Hast du Forrest Gump gesehen?
Ja, wieso?
Wenn ich sage lauf, dann läufst du, so schnell und so weit du kannst, verstanden?
O. k.
Nico holt eine Sturmmaske aus dem Rucksack.
Warum ist Wändebemalen eigentlich ein Verbrechen, frage ich.
Wändebemalen ist kein Verbrechen. Jemanden unschuldig einzusperren, das ist ein Verbrechen, sagt Nico und zieht sich die Sturmmaske über.
Irgendwie muss ich eingepennt sein.
Schlafmütze, flüstert Nico und rüttelt mich sanft.
Tschuldigung, murmele ich.
Willst du es dir anschauen?
Klar, sage ich und stehe langsam auf. Meine Beine sind eingeschlafen, als ich über die Straße gehe, kribbeln sie. Von Weitem kann ich es schon erkennen. Ich will noch näher ran, aber Nico schüttelt den Kopf. Schweigend stehen wir im Gebüsch, vor uns die frisch bemalte Mauer. Sad steht da in großen blauen Buchstaben an der Wand, außen dunkelblau, innen hellblau und drumrum Gefängnismauer, ganz rund, ganz weich, ganz lustig. Das kreisende Licht fährt im Sekundentakt über Nicos Gesicht.
Blau ist Amirs Lieblingsfarbe, sage ich.
Blau heißt traurig auf Englisch, sagt Nico.
Irgendwo dahinter schläft er jetzt, sage ich.
Vielleicht schläft er gar nicht, sagt Nico, vielleicht liegt er wach und grübelt, über das, was wir ihm heute gesagt haben, kriegt Schiss, dass er sich seine Zukunft versaut, wird endlich mal vernünftig.
Ja, sage ich, hoffentlich.
Aber dieser andere Typ, sagt Nico, der schläft garantiert tief und fest, wetten.
Welcher andere Typ?
Na, der echte Mörder, sagt Nico und schaut mich an.
Er räumt die leeren Dosen zurück in den Rucksack und zerrt sein BMX aus den Büschen.
Komm, lass abhauen.
Schweigend laufen wir den Waldweg entlang. Ich muss mich immer wieder umdrehen, weil ich denke, da verfolgt uns jemand.
Da ist niemand, glaub mir, ich werd nie erwischt, sagt Nico, aber ich drehe mich trotzdem immer wieder um. Ich hab keine Angst davor, dass da Bullen sind, ich hab Angst vor dem Schatten, der sieht aus wie ein großes schwarzes Pferd. Wenn das alles nur nicht passiert wäre, denke ich, wenn Jameelah und ich nur nichts gesehen hätten, wenn wir nicht auf den Spielplatz gegangen wären, wenn Lukas sich einfach gleich von Anfang an in Jameelah verliebt hätte, dann wäre dieses schwarze Pferd jetzt nicht hinter mir her, das große schwarze Pferd, das ist nämlich die ganze Sache, das weiß ich genau, ich will das aber nicht, ich will die Sache begraben, ich will die Sache begraben und mit meinen Füßen die Erde darüber feststampfen, aber, wie soll ich denn allein ein großes schwarzes Pferd begraben, denke ich.
Nico bleibt stehen und nimmt meine Hand.
Ist alles in Ordnung, fragt er.
Ja, ich bin nur traurig. So habe ich mir die Sommerferien nicht vorgestellt.
Ja, sagt Nico, weiß ich, dann schlingt er seine Arme um meine Hüften und küsst mich. Sein Mund schmeckt nach Zigaretten und Menthol, er schmeckt nach Menthol, weil er einen Kaugummi kaut, einen weißen normalen Kaugummi, nicht rot, nicht grün, nicht Erdbeer, nicht Waldmeister, sondern einfach nur weiß, einfach nur Menthol, einfach nur erwachsen. Arm in Arm gehen wir durch den Wald, sein Rad schiebt Nico ganz cool und pomade neben sich her.
Hab ich dir mal von dem Verlobungsring erzählt, frage ich, der von meiner Mutter, den mein Vater angeblich mitgenommen hat, als er abgehauen ist? Mama hat immer behauptet, er hätte ihn seiner neuen Frau geschenkt.
Nee, wie kommst du jetzt darauf?
Jasna hatte so einen Ring am Finger, er sah genauso aus wie Mamas Ring, deswegen.
Hast du deinen Vater mal gefragt?
Was?
Ob er den Ring mitgenommen hat.
Nein. Ich hab schon ewig nichts mehr von ihm gehört. Das letzte Mal hat er mir was zu irgendeinem Geburtstag geschickt. Fünf Euro und so eine blöde Karte. Ich weiß nicht mal, wo er jetzt wohnt, ich weiß auch nicht, ob Chico noch bei ihm ist, ob Chico überhaupt noch lebt.
Mach dir keine Sorgen, Hunde können ziemlich alt werden, sagt Nico.
Weiter vorne kann man die S-Bahn-Brücke erkennen. Nico setzt sich auf das BMX, und ich gehe mit meinen Füßen auf die Trickachsen.
Kannst ruhig wieder Autobahn fahren, sage ich.
Nee, muss nicht sein.
Doch, jetzt will ich aber, sage ich, komm fahr los.
Wir fahren unter der Brücke durch und sausen auf die Autobahn. Ganz dicht an meinem Ohr hupen die Autos, ich mache die Augen zu und lasse mir vom Fahrtwind das Gesicht peitschen, meine Haare flattern im Wind, ich wette, die Leute, die vorbeifahren, denken, das sieht aus wie bei einer Motorradwerbung.
Das kannst du später mal deinen Kindern erzählen, schreit Nico und tritt noch fester in die Pedale.
Ja, schreie ich zurück, aber ob meine Kinder später überhaupt noch wissen werden, was das ist, ein BMX, denke ich, oder ob das für die so was sein wird, wie für uns diese riesigen Einräder, mit denen man vor dem Krieg rumgefahren ist, die, die auf den Bildern unten in der U-Bahn vom Hansaviertel hängen, überhaupt, Kinder haben, das klingt so fremd, so wie irgendein exotisches Land, Guatemala, Straßenkinder kriegen keine Kinder, die werden gar nicht alt genug für so was, und wenn doch, dann sind sie keine Kinder mehr, Kinder, die Kinder kriegen, das gibts nicht, und was bin ich denn schon Besseres als ein Straßenkind, denke ich, und wie ich da so hinten bei Nico auf den Trickachsen stehe, da kriege ich plötzlich Schiss, vor allem auf einmal vorm Kinderkriegen und vorm Einsambleiben, vorm Altwerden und vorm Zu-früh-Sterben und davor, dass Nico was Schlimmes passieren könnte, ganz plötzlich was ganz Schlimmes.
Scheiße, denke ich, das ist jetzt Liebe, und da mache ich schnell die Augen auf. Wie ein großer schwarzer Turm steht Nico vor mir auf den Pedalen, um ihn herum die leuchtende Stadt.