Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa. Meistens hat sie die Augen zu, aber wenn ich nach Hause komme, dann schlägt sie sie auch manchmal auf und fragt, wo warst du. Wenn sie die Augen aufschlägt, sieht sie immer furchtbar müde aus, so als wäre sie von weit her gereist und dabei nur zufällig auf dem Sofa gelandet, hier bei uns im Wohnzimmer. Eine Antwort will sie, glaube ich, gar nicht haben. Ich hingegen wüsste schon gern, wo sie war, wo sie hinter ihren geschlossenen Augen immer hinreist, all die Stunden, die sie allein auf dem Sofa liegt. Mamas Sofa ist eine Insel, auf der sie lebt. Und obwohl diese Insel mitten in unserem Wohnzimmer steht, versperrt dicker Nebel die Sicht. An Mamas Insel kann man nicht anlegen.

In letzter Zeit liegt Jessi immer öfter bei Mama auf dem Sofa, sie liegt neben ihr, das Gesicht in Mamas Brust verborgen, regungslos, als wäre sie im Koma. Vielleicht ist Mamas Krankheit ansteckend, dabei ist Mama gar nicht wirklich krank, aber irgendwie denke ich das immer, weil es eben so aussieht. Ich weiß, dass Jessi säuft. Über dem Schnuckelschrank, da wo die Süßigkeiten drin sind, ist der Spiegelschrank. Jessi geht da dran und trinkt den Eierlikör. Wenn Mama das wüsste, hätte Jessi gleich eine hängen, wetten. Ich weiß es nur, weil ich letzte Woche von der Küche aus das Klicken vom Spiegelschrank gehört habe. Den Schnuckelschrank kann man einfach so aufmachen, aber am Spiegelschrank ist ein Magnet, der klickt, deswegen. Ich weiß es außerdem, weil überall an Mamas JOY-Gläsern Eierlikör klebt. Jessi trinkt den Eierlikör aus den staubigen JOY-Gläsern und stellt sie dann einfach zurück in die Vitrine über dem Spiegelschrank, als wäre nichts gewesen, und am Nachmittag, da liegt sie wie tot in ihrem Bett. Ihr ganzes Zimmer stinkt nach Alkohol, nach Alkohol und kleinen Mädchen, wie in der Turnhalle, wenn die fünfte Klasse vor uns Sport gehabt hat.

Ich gehe nur einmal die Woche zu Mama ans Sofa und kämme ihr die Haare. Rainer hat extra dafür eine teure Bürste beim Spinnrad gekauft, ganz aus Bio, hat Mama gesagt, soll sie sein. Manchmal weint Mama, während ich ihr die Haare kämme, aber ich tue so, als ob ich das nicht merke, ich glaube, das ist besser so. Jameelahs Mutter sagt, einen Schlafenden kann man aufwecken, aber jemanden, der nur so tut, als ob er schläft, den kriegt man niemals wach.

 

 

Wenn ich in meinem Zimmer aus dem Fenster schaue, dann sehe ich den Spielplatz, auf dem ich schon als Kind gespielt habe. Wir wohnen schon immer hier, genauso wie Nico, der wohnt gleich gegenüber, auf derselben Etage. Auf dem Bürgersteig vor unserem Haus habe ich Laufen und Fahrradfahren gelernt. Auf dem sandigen Weg, der über den Spielplatz auf die Straße führt, in der Jameelah wohnt, bin ich Rollschuh gefahren. Jameelah kam von der anderen Seite, sie hatte auch Rollschuhe, die gleichen wie ich, nur in Rot. Ich habe ihren linken Roten bekommen und sie dafür meinen linken Blauen. Wir sind Rollschuh gelaufen, so lange, bis unsere Kugellager vom Sand versaut waren. Dann sind wir auf die alten Eichen geklettert und haben Wollfäden in die Äste gebunden. Jedem gehörte eine Eiche, nein, stimmt nicht, Amir gehörte die Linde, die in der Mitte zwischen den Eichen steht. Nico durfte mit auf meinen Baum, ich durfte mit auf Jameelahs Baum, aber auf Amirs Linde durfte niemand, außer Amir. Die Bäume hatten alle Namen, aber wir haben sie vergessen, außer Amir. Ich bin schon lange nicht mehr auf meinen Baum geklettert, aber Amir ja, er sagt, in seiner Linde hängen immer noch die Wollfäden. Inzwischen sind sie ganz überwuchert von der Rinde, die über die Fäden hinweggewachsen ist, aber die Enden, die kann man immer noch sehen, das ist der Beweis dafür, dass wir das alles nicht geträumt haben, sagt Amir.

Wenn ich zu Jameelah gehe, laufe ich immer über den Spielplatz. Der Spielplatz ist ziemlich groß, und genau in der Mitte steht ein großer Sandkasten. Jemand hat eine unsichtbare Linie durch den Spielplatz gezogen, die deutschen und russischen Kinder gehen nie auf die Rutsche, und die arabischen und bosnischen Kinder gehen nie auf die Schaukel. Als Jameelah und ich zum ersten Mal zusammen auf dem Spielplatz Rollschuh gefahren sind, gab es noch keine unsichtbaren Linien.

 

 

Amir wohnt im selben Haus wie Jameelah, gleich hinterm Spielplatz nach vorn raus zur Straße. Vor der Haustür sehe ich Dragan stehen. Er raucht, was heißt, er raucht, er zieht an seiner Kippe, als würde er die vergewaltigen, dazwischen schleudert er mit schnalzendem Ton Spucke auf die Straße. Vor seinen Füßen hat sich ein dunkler Spuckesee gebildet. Dragan, der Name sagt schon alles, er klingt böse, so wie Drachen oder Dracula. Ich meine, es gibt viele Serben, die Dragan heißen, aber vielleicht hat Tarik ja auch recht, vielleicht sind alle Serben böse, keine Ahnung, der da ist es auf jeden Fall. Ich schlendere so unauffällig wie möglich zur Haustür und drücke fest auf Amirs Klingel.

Du, sagt Dragan, aber ich beachte ihn gar nicht, der blöde Türöffner soll endlich summen.

Mädchen, dreh dich um, wenn ich mit dir rede.

Was denn, sage ich.

Dragan wirft die runtergerauchte Kippe in den Spuckesee, es zischt, als sie untergeht, er grinst, er spuckt wieder, mir wird schlecht. Und in so was ist Jasna verliebt, ekelhaft.

Gehst du zu Amir und Tarik, fragt er.

Ich nicke.

Sag Jasna, ich warte hier unten auf sie, egal wie lange, ich warte auf sie.

Sehr romantisch, denke ich, da geht der Türöffner endlich.

 

 

Amirs Wohnungstür steht offen, es riecht wie immer nach Kaffee und vollen Windeln.

Hallo, rufe ich und überlege, ob ich mir die Schuhe ausziehen soll. Im Flur steht ein Wäscheständer, daran hängen Männerunterhosen, die müssen von Tarik sein.

Hallo, sage ich wieder und gehe ins Wohnzimmer, dort sitzen Tarik und seine Mutter. Sie sagt nie Guten Tag, sie nickt immer nur und lächelt. Vielleicht liegt es daran, dass sie kein Wort Deutsch kann, wirklich kein Wort. Jameelah sagt, man kann sich noch nicht mal Zwiebeln oder Eier von ihr ausleihen, weil sie noch nicht mal Zwiebeln oder Eier versteht.

Hallo Kleine, sagt Tarik.

Wenn ich einen großen Bruder hätte, dann müsste er so aussehen wie Tarik. Genau die gleichen dunkelblauen Augen müsste er haben, die gleichen starken Schultern. Früher war ich furchtbar in Tarik verliebt. Ich habe den ganzen Tag Lambada gehört und mir vorgestellt, Tarik würde mit mir tanzen. In meiner Vorstellung hatte er obenrum nichts an und unten nur eine zerrissene Jeans. Das habe ich Jameelah mal erzählt, aber Jameelah hat sich halb totgelacht und gesagt, dass Tarik gar kein Lambada tanzen kann, weil er nur ein Bein hat, weil er das linke untere Bein als Kind im Krieg verloren hat. Stimmt schon, er zieht sein linkes Bein immer ein bisschen nach, aber bis heute kann ich nicht wirklich glauben, dass das wahr ist, ich meine, er steht doch immer so fest und breitbeinig auf dem Boden.

Tarik kann echt lustig sein, da kann Jameelah sagen, was sie will. Nur weil sie es nie mitbekommt, heißt es noch lange nicht, dass er es nicht ist. Er kann zum Beispiel sehr gut MC Hammer nachmachen. Vielleicht macht er es für Jameelah einfach nicht, weil er sowieso weiß, dass sie ihn doof findet, ist doch logisch. Er kann aber auch ganz streng sein, und genau das finde ich gut. Hinten auf Tariks Jacke steht Teddy Dragon, das bringt es eigentlich auf den Punkt. Ich glaube, er will auf mich aufpassen, er will auch auf Jameelah aufpassen, auf Jasna und auf Amir, auf uns alle eben. Jameelah findet das natürlich scheiße.

Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst, sagt sie, Teddy Dragon, was soll das überhaupt sein, hast du mal darüber nachgedacht, wie so ein Tier aussehen würde?

Jameelah sagt, Tarik war nur so lange gut, wie er noch die Bravo gelesen und Amir sie für uns von ihm geklaut hat, und das ist echt schon lange her, so lange wie Eichenrinde über unsere Wollfäden wächst.

Amir kommt den Flur runter, er hält Selma auf dem Arm, sie weint, und Amirs Gesicht sieht auch irgendwie komisch aus, vielleicht hat er mal wieder eine geklebt gekriegt. Aus Jasnas Zimmer dröhnt laute Musik.

Wir wollen zum Planet, kommst du mit, sage ich, aber Amir hört gar nicht hin.

Jasna, sagt er und tippt sich an die Stirn, die ist verrückt geworden.

Was ist denn los, frage ich.

Dragan hat ihr einen Bikini gekauft, und jetzt will sie mit ihm ins Schwimmbad, sagt er, dabei haut er wie blöde gegen Jasnas Zimmertür.

Mach die Musik aus, ruft er, wir kriegen sonst alle Ärger.

Die Zimmertür fliegt auf.

Weg da, Gnom, sagt Jasna und schubst Amir zur Seite.

Na Kleine, sagt sie zu mir und kommt ganz nah ran, ihr Atem riecht nach Slibowitz. Tänzelnd läuft sie in Richtung Bad. Sie trägt nichts außer einem knallgelben Bikini. Keine Frage, der Bikini ist toll, er ist an den Hüften und am Ausschnitt voller Bling, und das Bling klimpert, wenn Jasna sich bewegt. Ihre ewig langen Haare hängen ihr bis auf die ewig langen Beine herunter, sieht super aus, da kann Amir sagen, was er will.

Tarik springt auf, er läuft zu Jasna und packt sie am Arm.

Lass mich los, schreit Jasna, das Bling vom Bikini klimpert, lass mich los, du Krüppel, und als sie Krüppel sagt, lässt Tarik wirklich locker.

Jasna reißt sich mit einem Ruck los, flüchtet ins Bad und knallt die Tür hinter sich zu.

Selma weint und windet sich auf Amirs Arm.

Komm raus, schreit Tarik und haut einmal kräftig gegen die Tür, aber Jasna schimpft nur, sie schimpft auf Bosnisch, lauter Schimpfwörter dringen nach draußen in den Flur. Amir schaut mich hilfesuchend an.

Komm mit, flüstere ich, und ziehe ihn ins Treppenhaus.

Was ist denn hier los?

Müde lässt Amir sich auf die Treppenstufen sinken.

Selma weint immer lauter.

Gib her, sage ich und setze Selma auf meinen Schoß.

Gestern Nacht, ich hab schon geschlafen, sagt Amir, da hat Jasna sich mit Tarik gestritten, davon bin ich wach geworden. Sie hat ihm gesagt, dass sie Dragan heiraten will.

Quatsch.

Doch, sagt Amir, sie hat sogar einen Ring von ihm, einen richtigen Verlobungsring, den hat er ihr geschenkt.

Echt?

Echt.

Sie haben sich so schlimm gestritten, dass Tarik sie im Wohnzimmer eingeschlossen hat, aber heute Morgen, da war sie weg, sie hat einfach die Tür aufgebrochen und ist zu Dragan.

Und dann?

Ich hab Selma zu mir ins Bett geholt, sie hat so schlimm geweint, weil Jasna weg war. Irgendwann frühmorgens ist Jasna wiedergekommen und hat gesagt, sie will nicht mehr bei uns wohnen, sie hat gesagt, sie zieht aus, sie will ihn heiraten, kannst du dir das vorstellen?

Ehrlich?

Ja, ehrlich. Sie sagt, er ist voll schlau und so, dabei hat er noch nicht mal MSA. Aber das Schlimmste ist, wir können nirgendwo mehr hingehen, seitdem Jasna mit Dragan richtig zusammen ist. Die laden uns auf keine Hochzeit mehr ein und so, weißt du. Aber Jasna ist das alles egal, sie hat schon ihre Sachen gepackt, und ich weiß genau, wenn sie einmal weg ist, dann kommt sie nie wieder, und wenn ich sage nie wieder, dann meine ich auch nie wieder, und jetzt muss ich den ganzen Tag auf die da aufpassen, sagt Amir und zeigt auf Selma, und das auch noch jetzt, wo bald Sommerferien sind. Ich bin doch kein Mädchen!

Dicke Tränen laufen seine Wangen hinunter, und Selma fängt auch wieder an zu weinen.

Dieser Dragan, sage ich, weißt du noch, wie er uns von den Garagen aus Steine auf den Kopf geworfen hat, als wir noch klein waren? Einmal habe ich voll geblutet.

Er hat seinen Hund umgebracht, sagt Amir, er hat ihm so viel Slibowitz zu trinken gegeben, dass er ins Koma gefallen ist. So einer ist das.

Ich weiß, sage ich.

Amir seufzt.

Hast du Kippen, fragt er.

Wir sitzen eine Weile nebeneinander und rauchen. Keiner sagt ein Wort.

Kommst du mit zum Planet?

Amir schüttelt den Kopf.

Ich kann dich nachher noch mal anrufen, sage ich.

Ich hab doch kein Handy mehr.

Immer noch nicht?

Nein, Jasna hat ihr altes bei Ebay verkauft, für drei Euro, sagt Amir und tippt sich an die Stirn, drei Euro, Versand war teurer als das Handy, stell dir mal vor! Aber Hauptsache mir nicht schenken, wetten, ehrlich, von mir aus kann sie weggehen und nie wiederkommen.

Komm mal runter, sage ich und halte Amir den Tabak hin, hier kannst du behalten.

Danke, sagt Amir, und Selma beruhigt sich auch wieder.

 

 

Wo bleibst du denn, sagt Jameelah, als ich oben bei ihr klingle.

Ich war bei Amir, sage ich, wollte wissen, ob er mitwill.

Noura kommt mir im Flur entgegen, sie trägt ihre Krankenschwesterklamotten und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

Meine Kleine, willst du was essen, fragt sie.

Was ist da unten los, fragt Jameelah.

Dragan, sage ich, er hat Jasna einen Heiratsantrag gemacht. Jasna will jetzt ausziehen. Deswegen hat sie sich so mit Tarik gestritten. Jasna ist aus ihrem Zimmer raus, sie hat nur einen Bikini angehabt, sie ist singend durch die Wohnung getanzt.

Jameelah lacht laut.

Das ist nicht lustig, sagt Noura, die ganze Nacht hat es Geschrei gegeben, glaubst du, das ist ein gutes Zeichen? Ich bin so müde, ich habe überhaupt nicht geschlafen. Ich muss arbeiten, aber das ist solchen Leuten egal, sie denken nur an sich.

Amir sagt, keiner redet mehr mit ihnen wegen der Sache mit Jasna, und Tarik sah auch traurig aus.

Tarik, sagt Jameelah, der ist doch nur eifersüchtig.

Wieso eifersüchtig?

Auf Jasna. Weil er selbst nicht tanzen kann mit seinem kaputten Bein. Weil er niemanden hat, der ihm einen Bikini schenkt, weil er immer nur der große Bruder von allen ist. Teddy Dragon, der wird nie eine abbekommen, dieser Hässlon.

Hör auf, sage ich, das ist gemein. Tarik ist kein Hässlon.

Ist er wohl, sagt Jameelah.

Aufhören, sagt Noura, ihr sollt euch da nicht einmischen, ich will, dass ihr euch da nicht einmischt, keiner von euch, habt ihr gehört?

Aber Amir ist unser Freund, sagt Jameelah.

Ich weiß, aber es gibt Sachen, da können Freunde nicht helfen, und dann ist es besser, sich nicht einzumischen.

Mache ich doch gar nicht, sagt Jameelah, ich sage doch nur meine Meinung.

Ich will auch nicht, dass du deine Meinung sagst, sagt Noura, ich will, dass ihr damit aufhört, sagt sie und schaut uns dabei an, als ob sie die Struck wäre.

Ist ja schon gut, sagt Jameelah.