Wenn Jameelah und ich klauen gehen, dann geht das normalerweise so. Wir schließen uns nach der Schule im Mädchenklo ein und trinken Tigermilch, aber nicht zu viel, beim Klauen geht es nicht darum, voll, sondern mutig zu sein. Ich traue mich sowieso nicht zu klauen, ich bin gleich das erste Mal, als ichs versucht hab, erwischt worden. Das ist zwar schon ein paar Jahre her, aber seitdem kann ich nicht mehr die sein, die klaut. Deswegen bin ich Jameelahs Komplize, aber das ist mindestens genauso wichtig.

Wir fahren ein bisschen angeschickert in die Arkaden und geben beim Kaufland unsere Rucksäcke ab. Dort kaufen wir eine große Müllermilch, von der wir die Hälfte in die hässlichen Plastikpflanzen draußen an den Rolltreppen kippen, dann gehen wir zu Bijou Brigitte rein. Ich halte die Müllermilch in der Hand und immer, wenn die Verkäuferin nicht guckt, flüstere ich, ist billig, ist billig. Das ist das Zeichen dafür, dass Jameelah was in der Müllermilch versenken kann. Wenn aber die Verkäuferin zu uns rüberschaut und Jameelah gerade was versenken will, dann sage ich, ist teuer, viel zu teuer. Man kann sich gar nicht vorstellen, was alles in so einen Becher reinpasst, sogar Haarreifen und Sonnenbrillen.

Wenn Nico am Planet ist, dann lassen wir ihn den Becher nach dem Klauen austrinken, er steht auf Müllermilch, egal welcher Geschmack. Er trinkt sie in einem Zug aus, als wäre er der Müllermilchmeeresgott, der sein eigenes Gewässer aussäuft. Manchmal können wir es selbst gar nicht glauben, dass da unten auf dem Müllermilchmeeresboden tatsächlich unsere Schätze liegen, dass all die schönen glänzenden Sachen da unten auf uns warten, wie bei echten Seeräubern, die erst nach Jahren zurückkehren, um den Schatz zu heben.

Den Schmuck, der uns am besten gefällt, behalten wir, den Rest verschenken wir an die anderen. Manchmal bringen wir Sachen sogar zurück, wir legen sie einfach wieder ins Regal, aber das ist eher selten, muss ich sagen. Vor allem Schmuck mit grünen Steinen bringe ich nie zurück, den nehme ich immer mit nach Hause, auch wenn ich weiß, dass ich ihn nie tragen werde, der Schmuck mit den grünen Steinen, der landet bei mir. Ist mir bis vor Kurzem nie aufgefallen, das mit dem grünen Schmuck, aber jetzt kapiere ich es. Ich war mal bei der Fuhrmeister, unserer Schulpsychologin, ich musste in der Fünften ein paar Mal zu ihr hin, ich sollte Mama und Rainer und Jessi als Tiere malen und am Ende auch Papa. Rainer habe ich als Kamel gemalt und Papa als Hund, das weiß ich noch genau, weil wir über das Kamel und den Hund am längsten geredet haben. Mich hat das genervt, aber am Ende war klar, warum ich Rainer als Kamel und Papa als Hund gemalt habe, weil Hunde meine Lieblingstiere sind und Kamele eben nicht. Über Mamas Verlobungsring und grüne Steine haben wir damals nicht geredet, aber das ist egal, es ist genauso wie das mit den Tieren, ich wette, das würde die Fuhrmeister auch sagen, mein Tick mit den grünen Steinen ist echte Psychologie, wegen Papa, und der Tick ist genauso echt wie der Verlobungsring und genauso echt, wie dass Dragan, dieser sorbische Dieb, ihn irgendwie geklaut haben muss.

Heute liegt unten auf dem Müllermilchmeeresboden auch was Grünes, ein Bauchnabelpiercingstecker mit einem grünen Stein, dabei habe ich noch nicht einmal ein Bauchnabelpiercing, beziehungsweise es ist gleich nach dem Stechen zugeeitert. Ich stecke mir das Piercing in den Mund und lutsche die Müllermilch runter, da wirft Jameelah mir diesen Blick zu. Achtung, da kommt Lukas, heißt das. Ich lasse den Becher schnell in ihrem Rucksack verschwinden. Menschen wie Lukas finden es nicht gut, wenn man Schmuck in Milchbechern versenkt, das ist wirklich so, da kann ich Jameelah verstehen.

Hallo, sagt er, und legt die Hand zum Grüßen an seine Mütze.

Ist er jetzt ein Soldat oder was, denke ich.

Wir gehen jetzt zur Menschenrechtsgruppe in die Teestube, kommt ihr mit, fragt Lukas.

Menschenrechtsgruppe, klar, sagt Jameelah, dabei krallen sich ihre Fingernägel vor Freude in meine Hand.

 

 

In der Teestube stinkt es. Es stinkt nach Früchtetee, nach dem alten Stoff, mit dem der Billardtisch in der Ecke überzogen ist, nach alten Büchern, die so scheiße sind, dass noch nicht mal Lukas sie lesen würde, nach Spielesammlungen, bei denen immer ein Hütchen oder Kärtchen fehlt, sodass man kein einziges Spiel wirklich spielen kann, es stinkt nach uralten Sofas, auf denen Erwachsene sitzen, die immer alles besser wissen, ihr eigenes Leben aber total verkackt haben und jetzt so einsam sind, dass sie sich jeden Abend einen runterholen müssen. Ich weiß, wonach es riecht, es riecht irgendwie nach Gott und nach seiner verfaulten Welt.

Auf dem Sofa liegt ein gammeliges Samtkissen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viele gläubige Teetrinker dieses Kissen schon auf dem Schoß oder unterm Arsch liegen hatten, es sieht jedenfalls aus, als hätte es viele Schöße und Ärsche gesehen. Ich lasse es unauffällig auf den Boden fallen.

Jameelah sitzt neben mir im Schneidersitz und zwinkert Lukas zu, der grinst verlegen zurück.

Ich weiß so ungefähr, was Menschenrechte sind, warum das wichtig ist und so, aber warum Lukas und die anderen sich hier regelmäßig treffen, um darüber zu reden, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Nadja erzählt was über einen Text, den sie im Netz gelesen hat, da geht es um eine Familie aus Guatemala. Alle nicken betroffen, als ob sie diese Leute wirklich kennen würden. Nach und nach kapiere ich, es geht darum, dass sie alle am Samstag bei den Engagementwochen in der Fußgängerzone für die Straßenkinder in Guatemala Geld sammeln wollen, um den Kindern dort zu helfen, für eine bessere Welt, so heißt das Motto, für eine bessere Welt, so steht es auf einem der Bettlaken, die sie schon letzte Woche bemalt haben. Eins davon liegt genau vor uns auf den braunen Fliesen. Ich frage mich, ob die die Bettlaken von zu Hause haben und was das für Leute sind, dass die keine Spannbetttücher benutzen, überhaupt, Mama würde mir so was von eine knallen, wenn ich einfach eins von ihren Laken bemalen würde, egal ob Spannbett oder nicht. Ich könnte das ja alles noch lustig finden, wenn dieser schlimme Gruppenleiter nicht wäre, der Kopps-Krüger. Er sitzt mir gegenüber, er sieht aus wie der Steinbeißer, und er hat den schlimmsten Mundgeruch der Welt. Hinter ihm hängt ein Poster, da steht drauf Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne, das ist von einer Ausstellung, ich will gar nicht wissen, was da alles entfaltet und erfahren wird. Alle reden über die Sammelaktion am Samstag und wie viel Geld man zusammenkriegen muss, damit diese Partnerkirche in Guatemala weiß ich was für die Straßenkinder kaufen kann.

Euch habe ich ja noch nie hier gesehen, sagt der Kopps-Krüger irgendwann zu uns, wollt ihr euch mal kurz vorstellen.

Ich habe keine Lust, mich vorzustellen, aber Jameelah sagt, also, das hier ist Nini, und ich bin Jameelah.

Manchmal kann Jameelah so deutsch sein, peinlich ist das, aber der Kopps-Krüger kriegt ganz große Augen, als er Jameelahs Namen hört.

Finde ich gut, dass du auch hier bist, sagt er zu ihr, dabei nickt er wie irre mit dem Kopf, so als hätte er diese gruselige Papstkrankheit. Ich kann spüren, wie es im Kopf vom Kopps-Krüger, in seinem Dritte-Welt-Gehirn, ordentlich blitzt und donnert. Ich zähle langsam die Sekunden ab, 21, 22, 23, dann geht es los.

Schöner Name, Jameelah, wirklich schön, sagt er, die Araber sind ja sehr poetische Menschen, wo kommst du denn genau her, fragt er.

Na von hier, sagt Jameelah.

Klar, sagt der Kopps-Krüger und lächelt mild, als wäre Jameelah ein junger Hund, der ein paar alte Schuhe zerbissen hat.

Ursprünglich, woher kommst du denn ursprünglich, will ich sagen. Du kommst doch nicht aus Deutschland, oder?

Aus dem Irak.

Aha, sagt der Kopps-Krüger, sehr schönes Land, die Landschaft und auch die Menschen, unglaublich gastfreundlich, die Irakis, aber, sagt er und hebt den Zeigefinger, ein Land, in dem die Menschenrechte verletzt werden. Und deswegen bist du nach Deutschland gekommen, oder?

Richtiger Detektiv, denke ich, dieser Kopps-Krüger.

Jameelah schweigt.

Würde mich echt nicht wundern, wenn er einen Dicken in der Hose hätte. Immer diese Menschen, die so tun, als wären sie interessiert, in Wirklichkeit wollen sie einen doch nur ausziehen, nackt an die Wand stellen und sich einen darauf kloppen, dass es ihnen viel besser geht als den anderen. Immer diese Menschen, die Fragen stellen, immer diese Fragen, die nach Verhör klingen, als hätte Jameelah irgendwas Schlimmes gemacht. Normalerweise bauen wir ja zusammen Scheiße, Jameelah und ich, aber wenn diese Menschen kommen und diese Fragen stellen und so tun, als ob sie es nur gut meinen, dann sitze ich wie hinter einer Kommissarglaswand, wie beim Tatort, ich kann Jameelah sehen, aber Jameelah mich nicht mehr.

Was soll denn die blöde Fragerei, sage ich, und überhaupt, wieso reden wir denn über Guatemala und Irak und so, ich meine, wie weit weg ist das denn bitte.

Worüber willst du denn reden, fragt der Kopps-Krüger.

Ungerechtigkeit gibt es doch auch hier, sage ich.

Was denn zum Beispiel, sagt der Kopps-Krüger.

Keine Ahnung, zum Beispiel, wenn Leute abgeschoben werden. Das ist doch auch ungerecht.

Halt die Klappe, sagt Jameelah und schaut mich wütend an.

Der Kopps-Krüger hebt die Augenbrauen.

Wieso, sagt er, wer soll denn abgeschoben werden?

In der Teestube wird es plötzlich voll still, Lukas schiebt seine Mütze noch tiefer ins Gesicht, das sehe ich genau, er ist kein Soldat, in Ordnung, dann soll er aber auch nicht so tun, als ob.

Niemand, sage ich schnell, das war doch nur ein Beispiel. Es gibt ja auch viel Gutes, stimmt schon, ich meine, Jameelah wird jetzt sogar eingebürgert.

Das freut mich, sagt der Kopps-Krüger.

Ja, dann wird sie richtig deutsch, und dann machen wir eine Kartoffelparty, sage ich und schaue zu Jameelah, stimmt doch, oder?

Ja, sagt sie und lächelt schüchtern rüber zu Lukas. Er lächelt zurück.

 

 

Am Samstag klingelt es um halb zehn Sturm, ich bin noch voll verpennt, und als ich die Tür öffne, steht Jameelah da.

Wir müssen zur Wilmersdorfer, ist doch Samstag.

Ich kapiere zuerst überhaupt nicht, worum es geht.

Hallo, Straßenkinder in Guatemala, Sammelaktion, sagt Jameelah und hält ein leeres Apfelmusglas in der Hand, auf dem ein Zettel klebt. Für die armen Straßenkinder steht da.

Sag mal, spinnst du? Du willst echt für diesen Kotz-Krüger und seine Scheißstraßenkinder Geld sammeln gehen, kann doch nicht sein, sage ich.

Was interessieren mich die Straßenkinder, ich will Lukas sehen!

Mann, dieser Kotz-Krüger, der will doch nur, dass wir ihm helfen, damit er behaupten kann, er macht die Welt besser. Und das Schlimmste ist, darauf kloppt der sich auch noch einen, wetten.

Soll er sich seinen Schwanz doch zum Faden wichsen, sagt Jameelah, ich muss Lukas küssen, und deswegen muss ich mit ihm zusammen für die Straßenkinder sammeln.

Ich knurre irgendwas, und kurz darauf sitzen wir schon in der Bahn.

Zuerst denke ich, an der Wilmersdorfer ist Markt, aber dann sehe ich, dass da lauter Stände von Vereinen und Gruppen sind, und hinter einem der Tapeziertische steht der Kotz-Krüger. Lukas und die anderen sind auch schon da, sie räumen aus einem Karton jede Menge Hefte und Flyer, die sie auf dem Tisch verteilen. Dass die sich für so einen Scheiß hergeben, denke ich, und das auch noch am Samstagmorgen, das hat schon fast was von Straßenkindern in Guatemala, finde ich.

Jameelah hält Lukas von hinten die Augen zu, so wie Anna-Lena neulich am Planet.

Salam, sagt sie zu Lukas.

Das freut mich aber, dass ihr auch da seid, sagt der Kotz-Krüger, als er uns sieht.

Jameelah kramt in ihrem Rucksack und stellt stolz das Apfelmusglas auf den Tapeziertisch.

Von mir aus kanns losgehen, sagt sie, aber der Kotz-Krüger schüttelt den Kopf.

Geht leider nicht, sagt er und hebt den Zeigefinger, die Spendenbüchsen müssen verplombt sein.

Aus dem Karton auf dem Boden holt er einen Haufen Blechbüchsen, aber am Ende ist eine Büchse zu wenig da. Der Kotz-Krüger hat wohl seinen guten Tag und sagt, in Ordnung, nehmt ihr halt euer Glas. Aus seinem Mund riecht es mal wieder nach verfaulter Welt.

Lukas steht hinterm Tapeziertisch.

Gehst du gar nicht sammeln, fragt Jameelah.

Nein, ich bleibe hier und verteile Infoblätter, sagt er, aber vielleicht können wir später zusammen ins Freibad gehen?

Klar, sagt Jameelah und nickt wie blöde.

Los, sage ich und ziehe Jameelah mit mir, das Apfelmusglas in der Hand, latschen wir die Wilmersdorfer rauf und runter, immer rauf und wieder runter.

Wir sammeln für die Straßenkinder in Guatemala, haben Sie vielleicht eine kleine Spende für uns, so geht das die ganze Zeit. Mir ist langweilig, ich muss aber zugeben, dass Jameelah echt gut darin ist, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Sie erfindet Geschichten von Guatemala und den Bergen da. Die Kinder schnüffeln Klebstoff, weil sie so hungrig sind. Von ihren Vätern werden sie geschlagen und flüchten in den Dschungel. Ich sehe alles genau vor mir, die Berge und die wilden Tiere im Dschungel und das saftige Grün der Bäume.

In Guatemala ist alles grüner als hier, grüner und saftiger, sagt Jameelah, aber auch dunkler und trauriger, dabei schüttelt sie wie wild das Glas, als wäre es irgendein guatemalisches Indianerinstrument.

Guatemaltekisch heißt das, sagt Jameelah, als wir im Klo bei Eis Tiziano stehen und die großen Münzen und Scheine aus dem Glas holen. Das Geld brauchen wir, weil wir Amir ein Star-Wars-Handtuch schenken wollen, das gibt es gerade beim Kaufland.

Wir sind doch auch Straßenkinder, sagt Jameelah, wir sind Kinder, und da ist die Straße, also sind wir Straßenkinder, und der Kotz-Krüger kann es nicht beweisen, dass wir was rausgeholt haben, der muss glauben, dass wir einfach schlechte Spendensammler sind.

Wir gehen zurück zum Tapeziertisch, und als Jameelah Lukas sieht, fängt sie wieder an, das Glas mit den übrig gebliebenen Münzen zu schütteln. Der Kotz-Krüger will es ihr gerade abnehmen, da springt der Boden vom Apfelmusglas ab, und alle Münzen fallen klimpernd auf die Straße.

Herrje, sagt der Kotz-Krüger, ihr seid mir vielleicht ein Paar.

Warte, ich helfe dir, sagt Lukas und hockt sich neben Jameelah auf den Boden, gemeinsam sammeln sie die Münzen auf.

Und, gehen wir gleich ins Freibad, frage ich.

Klar, sagt Lukas und lächelt, dabei schaut er mich mit seinen großen Bambiaugen an. Ich kann darin die Freibadwiese schimmern sehen, ich sehe sein grünes Handtuch, wie es auf der Wiese liegt, langsam, Stück für Stück bewegt er sich auf Jameelah zu, aber genau in dem Moment, wo Jameelah nach seinen Haaren greift und ihn küssen will, springt er auf und galoppiert davon, er galoppiert davon und verschwindet für immer in seinem grünen Leben.

Man kann keine grünen Wiesen in Bambiaugen schimmern sehen, ich weiß, das geht nur beim letzten Einhorn. Es war eine Fata Morgana, so wie bei Menschen, die durch eine endlose Wüste wandern und schrecklichen Durst haben.

 

 

Ach, sagt Jameelah, als wir nach dem Freibad in der Bahn sitzen und nach Hause fahren, Lukas.

Was, frage ich.

Nichts, sagt Jameelah, süß ist er. Obersüß.

Und?

Was und?

Was ist denn jetzt mit euch, frage ich.

Weiß nicht, sagt Jameelah und schaut auf den Boden, irgendwie nichts.

Vielleicht liegt das an dieser Schule, sage ich, Laura hat mal erzählt, die werden erst mit 14 aufgeklärt. Vielleicht weiß er ja erst seit Kurzem, wie alles so geht.

Quatsch!

Doch, echt! Die denken, jemanden zu vergewaltigen heißt, jemanden nach seiner Telefonnummer zu fragen.

Hör auf, sagt Jameelah, so blöd ist Lukas nicht!

Dann musst du dich einfach mal allein mit ihm treffen, sage ich, nicht immer Schwimmbad und so, ich meine Eincremen ist gut für den Anfang, aber dabei darf es nicht bleiben.

Er mag mich aber schon, glaube ich.

Klar mag er dich, sage ich, aber er ist ein Waldtier, der kommt nicht von allein, den musst du jagen oder noch besser, eine Falle auslegen.

Ja, sagt Jameelah und schaut aus dem Fenster und deswegen ist jetzt Schluss.

Womit?

Schluss mit Üben.

Wovon redest du, sage ich.

Komm, du weißt schon.

Nein, weiß ich nicht.

Doch, weißt du, sagt Jameelah und schaut mich verschwörerisch an.

Ach so, das meinst du.

Ich will nicht mehr üben, sagt sie, ich will jetzt mal so richtig mit jemandem ins Bett. Das erste Mal und so, verstehst du, Lukas und ich.

Ja, ich auch, sage ich, dabei weiß ich gar nicht, mit wem.

Auf dem Nachhauseweg überlege ich angestrengt. Ich denke an den süßen Typen aus dem Tiergarten. Mit dem wäre es eigentlich schön, vielleicht würde dann alles nach Weleda riechen, so stelle ich mir das ungefähr vor, aber am Ende, da kann ich mir niemand anderen außer Nico vorstellen.

Zu Hause sehe ich, dass ich einen schlimmen Sonnenbrand auf den Schultern habe. Ich ziehe meinen Schlafanzug an, obwohl ich noch gar nicht müde bin. Jessi liegt mit Mama auf dem Sofa, sie gucken Aktenzeichen XY. Draußen gewittert es, der Himmel hat sich verdunkelt, Regen klatscht auf die ausgetrocknete Straße. Ich mache die Fenster in meinem Zimmer weit auf, um den Gewittergeruch hereinzulassen, da klingelt mein Handy.

Mensch, zum Glück gehst du ran, Jasna steht auf dem Balkon und will springen, sagt Jameelah aufgeregt.

Ich denke, nein, das ist wieder eine von Jameelahs Geschichten.

Ehrlich, sie steht am Rand vom Balkon, obendrauf, und wenn nicht gleich ein Wunder passiert, dann springt sie, der Krankenwagen und die Feuerwehr sind auch schon da.

Ich ziehe mir schnell meine Kapuzenjacke über den Schlafanzug, dann laufe ich über den Spielplatz. Unter meinen Chucks quietscht der nasse Sand. Je weiter ich laufe, desto lauter höre ich die Sirenen, überall Blaulicht und rote Kreuze, der Bürgersteig vor dem Haus ist voller Menschen. Jameelah steht auf der Straße und winkt mir zu, sie hat sich ihre Kapuzenjacke ins Gesicht gezogen. Ich schaue rauf zum Balkon, aber da ist niemand.

Bis gerade eben stand sie noch da, sagt Jameelah, Tarik hat sie in der Wohnung eingesperrt, aber jetzt lässt sie keinen mehr rein. Wir mussten alle auf die Straße, sie hat gedroht, den Gasherd explodieren zu lassen, falls jemand versucht, in die Wohnung zu kommen.

Ich will gerade was antworten, da öffnet sich die Balkontür. Jasna hat sich die langen Haare zu einem dicken Zopf gebunden, er hängt ihr vorn über den Ausschnitt runter bis zur Hüfte, wie in einem Märchen, so als ob jemand Rapunzel, lass dein Haar herunter gerufen hätte. Ihre Hände krallen sich ans Balkongeländer, hennabemalt, blutrot. Um uns herum stehen uniformierte Männer auf der Straße, gelb, rot, blau, sie rauchen Zigaretten und warten, was Jasna als Nächstes macht.

Wie im Fernsehen, sagt Jameelah und zeigt auf die Feuerwehr, die eins von diesen Dingern aufspannt, wo man reinspringen kann, und als ich das sehe, bekomme ich plötzlich einen dicken Kloß im Hals, genau an der Stelle, wo die Narbe vom Luftröhrenschnitt ist, und ich hole tief Luft, so als ob ich für lange Zeit unter Wasser tauchen müsste.

Amir, sage ich, wo ist Amir.

Jameelah hebt ganz langsam ihren Arm, so als wäre auch sie unter Wasser, und mit ihren Lippen formt sie irgendein Wort, ich drehe mich um und sehe Amir und Tarik und Selma und ihre Mutter nicht weit von uns auf dem Bürgersteig stehen, ich gehe auf sie zu, aber irgendwie sind sie schrecklich weit weg, obwohl sie alle ganz in der Nähe stehen, kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich bei ihnen bin.

Amir, sage ich, aber Amir reagiert gar nicht, starrt nur rauf zum Balkon, Tarik, sage ich, aber Tarik reagiert auch nicht. Vorsichtig berühre ich seinen Arm. Als er sich umdreht, muss ich wieder schlucken. Ich habe Tarik noch nie weinen sehen, ich wusste gar nicht, dass er das kann.

Kleine, sagt er und legt seinen Arm um meine Schultern, geh nach Hause, geh schnell nach Hause, aber da wirft Tariks Mutter die Hände vor den Mund und schreit. Ich schaue rauf zum Balkon, Jasna sitzt auf dem Geländer. Ist doch alles nicht so schlimm, denke ich und atme tief durch, ist alles nur ein schlechter Film, ein Porno, und Rapunzel spielt die Hauptrolle. Gleich fangen die Männer, die auf der Straße stehen, Feuerwehrmänner, Rettungssanitäter, Polizisten, an, sich an Rapunzels Haaren nach oben zu ziehen. Es ist ganz einfach, sich das vorzustellen, weil Jasna nichts anhat außer ihrem gelben Bikini.

Dragan, wo bist du, wo ist mein Verlobter?, schreit Jasna.

Kann vielleicht irgendwer diesen Dragan auftreiben, sagt einer der Polizisten zu Tarik, wo ist dieser Mann?

Ich glaube, er ist im Fitnessstudio, sagt Amir leise, ich habe ihn vorhin mit seiner Sporttasche gesehen.

Dann versuchen Sie doch wenigstens mal, mit ihr zu reden, sagt einer der Feuerwehrmänner zu Jasnas Mutter.

Sie soll weggehen, ich will nicht mit ihr reden, schreit Jasna und klettert wieder vom Balkongeländer, sie soll weggehen schreit sie, und dann fängt sie an, allen möglichen Kram vom Balkon herunterzuschmeißen, Sperrmüll, die Wäscheleine und Selmas Kinderwagen, alles landet nach und nach bei uns auf der Straße. Jasnas Mutter weint immer lauter.

Ja, schreit Jasna, jetzt weinst du, aber zuerst, zuerst zerrst du mich hierher auf diese Welt und lässt mich einfach allein, und jetzt, jetzt, wo ich sterben will, da weinst du.

Ihre Mutter verkriecht sich in Tariks Armen, sie legt die Hände auf seine breiten Schultern und formt sie zu kleinen Fäusten, ich sehe, in der einen Faust hält sie ein weißes zusammengeknülltes Taschentuch. Immer diese Taschentücher, denke ich, wie kleine Stofftiere, nur für Mütter, nur für Sorgen, traurig geknetete Tierchen aus Tränen, jedes mit seiner eigenen Geschichte.

Ein Mann in einer gelben Weste schiebt mich zur Seite. Auf seinem Rücken steht Polizeipsychologe und darunter eine Nummer.

Sie müssen nicht sterben, sagt der Mann, es gibt für alles eine Lösung.

Jasna lacht.

Was wissen Sie schon von meinem Leben, Doktor Psycho?

Plötzlich tritt Tarik nach vorn.

Dann spring doch, schreit er, spring doch, du kleine Tschetnikschlampe.

Du hast mir nichts zu sagen, schreit Jasna zurück, du bist nicht mein Vater.

Dein Vater, pah, sagt Tarik und spuckt auf den Boden.

Der Regen wird immer stärker. Die Feuerwehrmänner tuscheln miteinander und machen einen Kreis, einer von ihnen spannt einen riesigen Regenschirm auf, Sauwetter steht da drauf.

Jetzt ist mal gut, sagt der in der gelben Weste zu Tarik, wie reden Sie denn mit Ihrer Schwester, das muss doch nicht sein, in so einer Situation.

Das da, das ist nicht meine Schwester, sagt Tarik und schaut den in der Weste geradeaus an.

Ich bringe euch alle um, ich bringe euch alle um, schreit Jasna, dann rennt sie zurück in die Wohnung.

Einer der Feuerwehrmänner breitet seine Arme aus, er sagt, wechseln Sie sofort die Straßenseite, bitte wechseln Sie sofort die Straßenseite, und verhalten Sie sich ruhig.

Jetzt sprengt sie das Haus in die Luft, wetten, jetzt sprengt sie das Haus in die Luft, jammert Jameelah.

Noura kommt uns auf der Straße entgegen, ich höre das gleichmäßige Hämmern ihrer Absätze auf dem Asphalt, ich sehe den weißen Kittel, der unter ihrem Mantel hervorschaut.

Was ist hier los, fragt sie und schüttelt Jameelah an den Schultern, was macht ihr hier draußen bei dem Regen?

Jameelah murmelt was, aber ich kann nur noch auf das Haus starren, aus dem dumpfe Schreie dringen. Es hat sich in eine verschlossene Spieluhr verwandelt. Die Ballerina da drin hat sich aus der Spieluhrkiste befreit und dreht komplett durch. Ich kann Jasna irgendwie schon verstehen, muss schlimm sein, ein Leben lang in einer dunklen Kiste festgekettet zu sein und sich jedes Mal, wenn einer die Kiste aufmacht, zu irgendeiner bescheuerten Melodie im Kreis zu drehen. Es regnet und regnet. Der Schlafanzug unter meiner Kapuzenjacke ist bis auf die Haut durchnässt, dafür lässt der brennende Schmerz auf meinen Schultern langsam nach, und als Jasna zurück auf den Balkon kommt und wieder aufs Geländer klettert, bekomme ich eine irre Gänsehaut.

O nein, sagt Jameelah, jetzt tut sie es wirklich.