Die Geburtstagskarte ist weg, die mit Papas Adresse auf dem Briefumschlag. Ich stelle mein komplettes Zimmer auf den Kopf, ich finde hinterm Schreibtisch mein blaues Sparschwein, von dem ich immer dachte, dass Jessi es geklaut hat, und zwei lustige Taschenbücher, aber die Geburtstagskarte ist weg, dabei weiß ich genau, dass ich sie nicht weggeschmissen habe, genauso wenig wie den Bodyguard-Soundtrack, den Papa mir damals zusammen mit der Karte geschenkt hat. Das mit dem Bodyguard-Soundtrack, das habe ich Nico natürlich nicht erzählt, ich bin doch nicht blöd. Ich laufe in den Flur, ziehe die Kommodenschublade auf und suche nach dem Kellerschlüssel, aber da ist nirgendwo ein Kellerschlüssel, nur Krimskrams, leere Feuerzeuge, lauter Zeugs, das kein Mensch braucht.

Mama, rufe ich, wo ist der Kellerschlüssel, aber Mama ist nicht da, nur Jessi, ich kann sie im Wohnzimmer herumschleichen hören. Als ich das Klicken vom Spiegelschrank höre, reiße ich die Wohnzimmertür auf. Jessi steht vor der Vitrine, ihre dünnen Beinchen gucken aus den kurzen Schlafanzughosen hervor, erschrocken schaut sie mich an.

Was machst du da?

Gar nichts.

Du sollst die Finger vom Eierlikör lassen, sage ich.

Ich war doch nur am Schnuckelschrank, ich wollt was Süßes, sagt Jessi.

Du warst nicht am Schnuckelschrank, du warst am Spiegelschrank, das hab ich genau gehört, und wenn ich dich noch mal erwische, dann sag ich es Mama, kapiert?

Ich hab Hunger, sagt Jessi, da klingelt es an der Tür.

Im Flur stoße ich mich an der offenen Kommodenschublade. Es ist Jameelah. In der einen Hand hält sie ein dickes Heft mit einer Deutschlandflagge drauf, in der anderen eine Packung Kremalis, die mit der Erdbeerfüllung.

Du warst nicht bei der Polizei, fragt Jameelah, oder?

Nein, sage ich und reibe mir die schmerzende Hüfte.

Bist du noch sauer?

War ich nie, sage ich und zeige auf das Heft, was ist das?

Fragen für den Deutschtest. Kannst du mich abfragen?

Lernst du jetzt schon für die Schule? Du spinnst echt.

Quatsch, für diesen Test, den man machen muss, wenn man Deutsche werden will.

Ach so. Musst du die können?

Nee, jetzt noch nicht, aber demnächst vielleicht mal, da lerne ich schon mal in den Ferien, wo ich Zeit habe, verstehst du.

Ehrlich gesagt verstehe ich es nicht so wirklich, aber bevor ich das sagen kann, kommt Jessi in den Flur. Sehnsüchtig schaut sie auf die Kekspackung.

Darf ich einen, fragt sie, richtige Stielaugen kriegt sie.

Hör auf, sage ich.

Ich hab aber so Hunger.

Komm, ich mach dir ein Brot, sage ich, aber Jessi sagt, es gibt kein Brot. Jameelah reißt die Kekspackung auf.

Hier, sagt sie, und reicht Jessi einen Haufen Kekse.

Danke, sagt Jessi, den Arm voller Kekse läuft sie zurück ins Wohnzimmer, kurz darauf plärrt der Fernseher.

Wo ist deine Mutter, fragt Jameelah.

Keine Ahnung.

Ich starre auf das Durcheinander in der offen stehenden Schublade, leere Batterien und Feuerzeuge, verheddertes Nähgarn, eingetrocknete Nagellackfläschchen, dazwischen lauter Überraschungseierfiguren, Schlümpfe, Kung-Fu-Pandas und Entenhausener liegen wie im Koma auf dem Schubladenboden und umarmen Büroklammern oder alte Zehnpfennigstücke. Ganz hinten liegt eine Strickliesel, ihr quillt eine halb aufgeribbelte Strickwurst aus dem Lieselhintern. Deswegen, denke ich, genau deswegen ist Papa abgehauen, weil Mama, ihr Sofa, der Kühlschrank, die Betten, die Luft hier drin, alles genau so wie das Zeugs in der Schublade, verdreckt, verheddert und sinnlos, das weiß ich genau, ich wusste das auch schon früher, als Papa noch da war, nur sagen konnte ich es nicht.

Ist doch alles scheiße, sage ich und reiße die Schublade aus der Halterung. Der ganze Kram prasselt auf den Boden, wie ein Gewitter klingt das, eins, auf das alle den ganzen Tag über schon gewartet haben.

Was ist denn los, fragt Jameelah, legt die Kekse und das Heft auf die Kommode und hockt sich neben mich auf den Boden.

Nichts, ich suche den Kellerschlüssel, der ist eigentlich da drin.

Meinst du den hier, fragt Jameelah und zeigt auf was Glänzendes.

Komm mit, sage ich und schnappe mir den Schlüssel, du musst mir helfen. Danach frage ich dich ab.

 

Ich gehe nicht gern in den Keller, ich meine, wer tut das schon gern, aber unser Keller ist besonders gruselig, weil das Kellerlicht nur bis auf den Hauptgang leuchtet, hinten bei unserem Verschlag ist es stockdunkel.

Gib mir mal dein Handy.

Ich schließe auf und leuchte mit Jameelahs Handy in den Keller. Es riecht nach faulem Heizungswasser und verschimmelten Klamotten, vorne rechts liegt ein Haufen alter Kohlen, die sind noch von früher, dabei haben wir jetzt schon ewig Fernwärme. An den Wänden stapeln sich aufgeweichte Umzugskartons, aus ihnen quillt Mamas alte Wäsche, daneben Rainers Sammlung unnützer Haushaltsgeräte. Kein Wunder, dass sie alle nach und nach hier gelandet sind, Poffertjespfannen und Nachowärmer, als hätten wir jemals selbst gemachte Poffertjes oder Nachos bekommen. Wie oben, so unten, hat das nicht Jesus oder so jemand gesagt, genauso ist es, wie oben in der verdammten Kommodenschublade, so unten in unserem modrigen Keller, denke ich und stolpere dabei über mein altes Bobbycar, am kaputten Planschbecken vorbei nach hinten durch bis zum Barbiehaus. Im Wohnzimmer sitzt die Barbie, die damals den Kaugummi für mich aufgehoben hat, irgendwie beruhigt mich das, so als würde sie den Keller bewachen, sie ist der Hausmeister, wahrscheinlich der einzige Hausmeister auf der Welt, der nichts außer einem goldenen Badeanzug trägt.

Suchen wir was Bestimmtes, fragt Jameelah. Sie hustet.

Ja, das da, sage ich und zeige auf einen alten Gitarrenkoffer, der sich hinter dem Barbiehaus unter einer dicken Staubschicht versteckt hat.

Wusste gar nicht, dass jemand von euch Gitarre spielt.

Tut auch keiner, sage ich und hieve das Ding aus der Ecke, mein Vater hat gespielt, seine Gitarre hat er mitgenommen, aber den hier, sage ich und klopfe auf den Koffer, den hat er vergessen.

Gemeinsam tragen wir den Koffer nach oben.

Jameelah stöhnt.

Was ist da bitte drin, fragt sie.

Da tue ich alles rein, was ich nicht mehr haben will, aber auch nicht wegschmeißen kann.

Wir schleifen den Koffer in mein Zimmer. Bis an die Kante ist er mit Zeugs vollgestopft, auch nicht viel besser als die Kommodenschublade. War ja klar, ganz unten, zwischen alten Steckbriefheften und meinem Poesiealbum liegt ein Bündel Postkarten, da drin ist die Geburtstagskarte, und darunter liegt die CD.

Bodyguard, sagt Jameelah und kichert, gib mal her.

Sie geht zum CD-Player und macht die CD rein. Vorn auf der Geburtstagskarte sind Luftballons drauf, auf den Luftballons sitzen süße Mäuse, keine Diddlmäuse, normale Mäuse auf vier Pfoten. Die Mäuse schauen Schmetterlingen und Marienkäfern hinterher, und mit den langen Mäuseschwänzchen formen sie Buchstaben, Happy Birthday steht da.

Ist das die Karte?

Ja, sage ich, aber keine Adresse dabei, den Umschlag muss Mama wohl doch weggeschmissen haben.

Wieso Adresse, fragt Jameelah, willst du ihm schreiben?

Hatte ich überlegt.

Hast du nicht mal im Netz nach ihm gesucht?

Ja, aber da war nichts. Da waren so viele mit seinem Namen, über 900 000 Treffer.

Gib mal die Karte, sagt Jameelah und stopft sich einen Keks in den Mund. Im Hintergrund singt Whitney Houston I will always love you. Jetzt bloß nicht heulen, denke ich und schlucke einmal kräftig.

Vorsicht, mit deinen Erdbeerfingern, sage ich.

Ist ja schon gut.

Jameelah schlägt die Karte auf und runzelt die Stirn.

Das kann doch kein Mensch lesen, sagt sie, diese Schrift, was soll denn da stehen?

Keine Ahnung, ich hab Mama damals gefragt, ob sie es mir vorlesen kann, sie wollte aber nicht, hat sich geweigert, sage ich und schaue auf das Gekrakel, typisch Erwachsenenschrift, man kann wirklich kein einziges Wort entziffern. Jameelah kneift die Augen zusammen, beugt sich über die Karte und fährt mit dem Finger die Krakelschrift entlang.

Wach es? Nee, wach es macht keinen Sinn. Mach es vielleicht? Genau, mach es und dann wie die, und das Nächste kann man wieder nicht lesen.

Ich nehme Jameelah die Karte aus der Hand.

Sauna oder so was, sage ich, mach es wie die Sauna? Nee, Quatsch.

Sonne, Sonnenuhr, mach es wie die Sonnenuhr, sagt Jameelah, ach so, dann weiß ich, was da steht.

Was denn?

Da steht mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitren Stunden nur. Hab ich mal irgendwo gelesen, ist so ein Spruch. Siehst du, das passt auch von den Wörtern, sagt Jameelah und zeigt auf die zweite Zeile.

Stimmt, sage ich, und darunter alles Liebe, Papa. Das war das Einzige, was ich schon früher lesen konnte.

Wieso schreibt jemand so was auf eine Geburtstagskarte, sagt Jameelah.

Was?

Na, mach es wie die Sonnenuhr.

Weiß nicht, ist doch nur so ein Spruch.

Deine Mutter nur so ein Spruch, einfach so mir nichts, dir nichts abhauen, aber seiner Tochter sagen, sie soll einen auf Sonnenuhr machen. Find ich scheiße.

Meinst du?

Mein ich. Hast du ein Foto von ihm?

Ich stehe auf und will meine Fotokiste unterm Bett hervorziehen, da sehe ich, Amirs Karton steht noch dort, und dass ich ihn wegschmeißen sollte, habe ich auch ganz vergessen, und dass ich das später erledigen muss, denke ich, wenn Jameelah wieder weg ist, weil wenn sie das mitkriegt, will sie den Karton sicher doch noch aufmachen oder so was, das würde zu ihr passen.

Ich ziehe die Fotokiste unterm Bett hervor, hier, sage ich und halte Jameelah ein Foto hin.

Papa hat mich auf dem Schoß und spielt mit dem, der das Foto gemacht hat, Schach. Ich weiß genau, Mama hat das Foto gemacht. Wenn ich das nicht so genau wüsste, würde ich niemals auf die Idee kommen, dass Mama irgendwann mal Schach gespielt hat. Mama und Schach, das ist ungefähr so weit voneinander entfernt wie, weiß ich was, das Weiteste, was es voneinander entfernt überhaupt geben kann.

Noch nie gesehen, sagt Jameelah und starrt auf das Foto.

Klar noch nie gesehen, wo denn auch?

Weiß nicht, an der Kurfürsten zum Beispiel.

Jetzt reichts aber, sage ich und reiße ihr das Foto aus der Hand.

Stell dir vor, sagt Jameelah, stell es dir einfach nur mal vor, wir, an der Kurfürsten, hocken da auf unserem Stromkasten rum, und plötzlich kommt dein Vater vorbei, das wärs.

Das wärs überhaupt nicht, sage ich, hör auf damit.

Ist ja schon gut, sagt Jameelah.

Deine Mutter ist ja schon gut.

Vorsichtig nimmt sie mir das Foto wieder ab und betrachtet es lange.

Sei froh, sagt sie, du hast wenigstens noch einen Vater. Meiner kann nirgendwo mehr auftauchen, noch nicht mal an der Kurfürsten.

Davon habe ich auch nichts. Wenn man nichts vom anderen hört, dann ist das genauso, als ob der tot ist.

Quatsch, sagt Jameelah, wenn du wirklich wollen würdest, dann könntest du ihn wiedersehen. Oder ihm wenigstens schreiben.

Wollte ich ja auch, sage ich, wegen dem Ring.

Na, dann mach doch. Am besten gleich anrufen. Würde ich sofort machen. Dem würde ich was erzählen. Seine Familie einfach so sitzen zu lassen.

Anrufen, ich weiß nicht. Das traue ich mich nicht.

Hat deine Mutter ein Adressbuch?

Ja.

Ich wette, deine Mutter hat die Nummer da drinstehen.

Warum sollte sie? Die haben nichts mehr miteinander zu tun.

Eltern haben so was voneinander, erst recht, wenn sie verfeindet sind. Glaub mir, zerstrittene Eltern sind viel mehr aneinandergekettet als Eltern, die sich noch verstehen.

Jameelah steht auf und klopft sich die Krümel von der Hose.

Komm, zeig mal das Adressbuch.

 

 

Als wir vor Mamas und Rainers Schlafzimmer stehen, klopfe ich vorsichtshalber, bevor ich die Tür öffne, aber niemand da, das Bett ist frisch gemacht, sogar die Tagesdecke liegt drauf, das war bestimmt Rainer. Hinten am Fenster steht ein Tisch, darauf steht ein kleiner Fernseher, unter dem Fernseher ist eine Schublade, in der Mama immer die Fernbedienung und die Hörzu aufbewahrt. Unter der Hörzu liegt das Adressbuch.

Hier, sage ich und reiche Jameelah mit klopfendem Herzen das Heft.

Wie heißt er denn, fragt sie.

J, unter J wie Joachim musst du schauen.

Jameelah setzt sich im Schneidersitz aufs Bett, feuchtet ihren rechten Zeigefinger an und blättert in dem Heft rum. Ich schaue ihr dabei über die Schulter, G, H, I, die Tagesdecke ist schon ganz verrutscht, hoffentlich kommt jetzt niemand rein, denke ich, Mama mag es nicht, wenn wir ins Schlafzimmer gehen.

Da steht er doch, Joachim, gleich unter meiner Nummer steht er. Lustig, oder, dass wir gleich untereinanderstehen, sagt Jameelah und grinst, komm, da rufst du jetzt an.

Mein Kopf fängt an zu wummern.

Du spinnst ja, sage ich.

Wieso?

Ich hab seit Ewigkeiten nicht mit ihm gesprochen.

Na, dann doch erst recht, sagt Jameelah.

Ich kann das nicht.

Komm schon, ist doch nur dein Vater!

Nein, sage ich, auf keinen Fall.

Na gut, sagt Jameelah, schnappt sich den Kuli, der auf dem Tisch liegt, und schreibt sich die Nummer auf den Arm, dann ruf ich da jetzt an.

Zusammen ziehen wir die Tagesdecke glatt und gehen zurück in mein Zimmer. Ich schließe die Tür vorsichtshalber ab.

Wie früher, sagt Jameelah und stellt ihr Handy auf anonym.

Was, wie früher?

Scherzanrufe. Hallo, Sie haben im Lotto gewonnen, hallo, Ihr Haus wird morgen abgerissen, weißt du noch?

Gar nicht wie früher, sage ich, und überhaupt, was willst du ihm denn sagen?

Weiß noch nicht, sagt Jameelah, tippt die Nummer ein und schaltet auf laut. Nervös wippe ich auf dem Bett herum. Es klingelt.

Hallo?

Von einer Sekunde auf die nächste ist Papa da, am Telefon, aber jemand muss mir irre Mengen Watte in die Ohren gestopft haben, ich kann nämlich plötzlich kaum was hören, mir rauscht das Blut in Lichtgeschwindigkeit hoch in den Kopf und wieder runter in die Beine, alles pocht und zischt und rumpelt, Herz, Lunge, Magen. Von ganz weit weg höre ich Jameelah mit Papa reden.

Hallo Joachim, na, wie gehts?

Wer ist denn da, höre ich Papa sagen.

Wie jetzt, sagt Jameelah, ganz überrascht tut sie, kennst du mich denn gar nicht mehr?

Ich glaube nicht, sagt Papa und lacht.

Ist ja auch schon Jahre her, sagt Jameelah.

Genau ein Lichtjahr ist es her, genau ein Lichtjahr, dass ich Papa das letzte Mal lachen gehört habe, das Wohnzimmer stockdunkel, ich auf seinem Schoß, überall Salzstangenkrümel, vor uns der flimmernde Fernseher und Bud Spencer, der allen auf die Fresse haut. Ich höre es noch ganz deutlich, Bud Spencers Faustschläge und Papas Lachen.

Dreimal darfst du raten, sagt Jameelah zu Papa.

Papa lacht wieder, diesmal klingt es unsicher.

Ich weiß es wirklich nicht, höre ich ihn sagen, es rauscht in der Leitung, so als ob einem der Wind ins Handy pustet.

Tut mir leid, sagt Papa, Sie haben sich sicher verwählt.

Nein, das habe ich bestimmt nicht.

Leg auf, flüstere ich, aber Jameelah hört gar nicht hin.

Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitren Stunden nur.

Wie bitte, sagt Papa.

Mach es wie die Sonnenuhr, sagt Jameelah wieder, zähl die heitren Stunden nur. Was ist das eigentlich für ein dummer Spruch?

In der Leitung wird es auf einmal ganz still. Mein Kopf und mein Herz wummern um die Wette.

Nini, bist du das, sagt Papa.

Bevor Jameelah was antworten kann, reiße ich ihr den Hörer aus der Hand.

Papa?

Nini, sagt er wieder, bist du das?

Ja, Papa, ich bins.

Ich habe plötzlich eine ganz schlimme Piepsstimme.

Mein Gott, ist irgendwas passiert, wo ist deine Mutter?

Keine Ahnung.

Ist alles in Ordnung?

Ja, sage ich.

Kindchen, was jagst du mir denn für einen Schrecken ein, sagt Papa, ich dachte schon, es ist was Ernstes.

Ehrlich gesagt kapiere ich nicht wirklich, was er jetzt damit meint, mit Ernst und dem Schrecken. Ich würde so gern fragen, das und tausend andere Sachen würde ich gern fragen. Ich mache die Augen zu und versuche im Kopf einen Satz zu formen, aber mein Kopf ist komplett leer, und genauso wie das lose Nähgarn mit den Überraschungseierfiguren verheddern sich die Wörter in meiner Lunge, in der Stimme, in der Luft.

Es rauscht wieder in der Leitung.

Ich bin im Zug, sagt Papa, ich höre dich schlecht.

Ich dich auch, sage ich.

Er antwortet irgendwas, aber seine Stimme und einzelnen Wörter fallen auseinander zu unverständlichen Silben, und irgendwann ist da nur noch ein riesiges Funkloch. Papa ist weg. Es piept, ich halte noch eine Weile das warme Handy in der Hand, ich denke, vielleicht heißt Handy deswegen Handy, weil es sich wie eine warme Hand anfühlt, wie die noch warme Hand von wem, der gerade gestorben ist, weil auflegen, das ist doch auch jedes Mal ein bisschen so wie sterben, auflegen ist der kleine Tod.

Scheißfunkloch, sagt Jameelah, komm, ich ruf noch mal an.

Nein, sage ich, dabei fällt mir auf, dass meine Stimme wieder normal klingt.

Mir gehen tausend Sachen durch den Kopf, all die Sachen, die ich fragen wollte, all die verhedderten Wörter stehen plötzlich da wie kleine Soldaten, kerzengerade, Gewehr bei Fuß stellen sie sich nebeneinander auf und bilden Sätze. Ob er noch den Kronkorkenschlüsselanhänger hat, den ich ihm damals im Kindergarten gebastelt habe, ob es Chico noch gibt und Oma Meulsig, warum er mir damals überhaupt den Bodyguard-Soundtrack geschenkt hat, ob das vielleicht ein Zeichen sein sollte, so nach dem Motto, ich beschütze dich, wenn auch nur aus der Ferne, und warum er mich dann nicht einfach gleich mitgenommen hat, anstatt mich aus der Ferne zu beschützen. Zumindest fragen können hätte er mich. Vielleicht wollte er aber auch gar nicht, dass ich mit ihm gehe, vielleicht war ich klein und lästig und nutzlos, verdreckt und verheddert, wie die Sachen aus der Krempelschublade, wie Mamas modrige Wäsche oder Rainers nutzlose Küchengeräte, so Zeugs, das wird beim Umzug ausgemistet, so was will man in der neuen Wohnung nicht haben, das weiß doch jeder.

Alles in Ordnung, fragt Jameelah.

Weiß nicht. Seltsame Sache. Hab so lange nicht mit ihm geredet. Kam alles so plötzlich.

Immerhin hast du jetzt seine Nummer, sagt Jameelah, jetzt kannst du ihn anrufen, wann immer du willst. Ist doch super!

Ja, sage ich, stimmt, dabei weiß ich genau, dass das nie passieren wird. Ich werde Papa nie wieder anrufen, und da fällt mir wieder ein, dass ich ihn ja eigentlich wegen dem Ring sprechen wollte. Der Ring, ich scheiß auf den verdammten Ring, was habe ich damit zu tun, mit Mamas Gejammer um den Ring, was muss ich das wissen, ob Papa den Ring mitgenommen hat oder nicht, und dann ertappe ich mich dabei, wie ich mir wünsche, Papa doch an der Kurfürsten getroffen zu haben. Klar, das hätte Ärger gegeben, Mama und Rainer hätten es erfahren und die Schulleitung, und Papa wäre sicher furchtbar enttäuscht von mir gewesen, kann schon alles sein. Aber an mich denken müssen hätte er, daran, dass er irgendwo noch eine Tochter hat, eine, die echt Scheiße baut, und dann hätte er sich wohl oder übel mal um mich Sorgen machen müssen. Ein einziges Mal hätte er sich Sorgen machen müssen.