Bei der Stanitzek kaufen wir eine Müllermilch, dann gehen wir bei mir vorbei, schnappen uns die Nettotüte und laufen weiter zur Bahnhalte.

Die schmeißen wir besser weg, sagt Jameelah, holt Mariacron, Milch, Maracujasaft und den Schmuck aus der Nettotüte und stopft die Tüte in den Papierkorb.

Lass den doch gleich wegschmeißen, sage ich und zeige auf den Schmuck.

Du Doof, den müssen wir weiter weg wegschmeißen, sagt Jameelah, stellt die Flaschen auf die Bank und stopft den Schmuck in ihren Rucksack. An den Flaschen kleben noch Rosenblätter.

Los, in drei Minuten kommt die Bahn, sage ich.

Wir kippen die Müllermilch auf die Bahngleise, mixen Tigermilch und schütten uns das Zeugs runter. Als die Bahn einfährt, sehe ich durch die Fensterscheiben, dass wir total fertig aussehen. Jameelah hat immer noch verheulte Augen, und ich sehe ungefähr so aus wie Amir, als er damals bei mir geklingelt und mir den Karton gegeben hat. Damals, das war erst gestern, kann doch gar nicht sein, denke ich, aber egal, das mit dem fertigen Aussehen ist genau richtig, ist nämlich genau das, worauf die Typen an der Kurfürsten abfahren.

Hier, sagt Jameelah und hält mir den leeren Becher hin.

Ich mixe noch mal neu, wir trinken. Die Bahn ruckelt langsam über die schweren Gleise und schleppt uns von Bahnhalte zu Bahnhalte, sie schleppt uns bis auf die andere Seite der Stadt, immer weiter weg, weg vom Spielplatz, weg von Tarik und Noura, weg von den Fotos in der Vitrine. Ich wünschte, Jameelah würde anfangen, irgendwas zu erzählen, irgendeinen Blödsinn, der ihr gerade einfällt, so wie sie es immer macht, was Lustiges, wo ich lachen muss, was Irres, wo ich den Kopf schütteln und sagen muss, du spinnst, oder was Breites, wo ich sagen muss, du bist ja total dicht. Stell dir vor, soll sie sagen, stell es dir einfach nur mal vor, wir auf dem Spielplatz, in Flipflops und Spaghettitops, und dann kommt Tarik und bringt Jasna um, genau vor unseren Augen, einfach so.

Hör auf, würde ich sagen, das ist gruselig.

Mein Gott, würde Jameelah sagen, ist doch alles nur ne Story, du Baby, so wie das mit den Tigermilchbrüsten oder das mit dem Tier, das Lukas für mich gefangen hat, das ist ja auch nur ein Traum, und trotzdem fühlt es sich an wie Wahrheit, aber Jameelah sagt nicht, alles nur ne Story, sie sagt scheiße, diese verdammten Rosenblätter, die machen mich fertig, und sie fummelt an ihrem Ellbogen rum, da kleben Rosenblätter, und sie fummelt an ihrem Rock rum, da kleben Rosenblätter, sie zupft sie alle weg, sogar die, die auf dem Boden liegen, hebt sie auf, dann öffnet sie das Fenster und lässt sie raus. Sie fliegen so schnell weg, dass man ihnen noch nicht einmal hinterhersehen kann.

Jemand hat mit seinen fettigen Haaren an der Fensterscheibe einen Abdruck hinterlassen. Nichts ist ekliger als Fetthaarflecken im Bus oder in der Bahn. Es ist eine andere Form des Hinscheißens, finde ich, nur das Schlechte eines Menschen bleibt zurück. Der Fetthaarfleck sieht so eklig aus, dass ich nicht wegschauen kann, rund und speckig, die feinen Haare, die sich in der Mitte wirbeln, die Stellen, wo die Stirn sich drangeschmatzt hat, drumrum Kinn, Wange, Müdigkeit. Wenn man stirbt, dann muss man unbedingt etwas Gutes auf der Welt hinterlassen, das wird mir jetzt mit dem Fetthaarabdruck erst wirklich klar. Man muss was Gutes hinterlassen, und es muss was sein, das man nicht anfassen kann, was Klares, was Unsichtbares, damit nicht nur Fett und Blut und Scheiße zurückbleiben. Ich bin so müde, mir fallen die Augen immer wieder zu, aber ich passe genau auf, dass mein Kopf nicht gegen die Fensterscheibe fällt. Ich werde hier keinen Fetthaarfleck hinterlassen.

Meinst du, es hat trotzdem funktioniert, fragt Jameelah mich plötzlich.

Was?

Der Zauber. Meinst du, dass der trotzdem wirkt, obwohl, na ja, du weißt schon.

Du bist gut, denke ich, aber ich sage, denke schon, das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.

Was Lukas wohl gerade macht, sagt Jameelah und schaut mich aus ihren großen Augen an.

Wahrscheinlich baden. Macht man doch sicher so am Gardasee, oder.

Ja, sagt Jameelah, wahrscheinlich baden.

Ich habe beim Zahnarzt mal ein Foto gesehen vom Gardasee, da war alles grün, und mittendrin der blaue See, richtig wie im Urlaub.

Ja, da schwimmt Lukas jetzt drin, sagt Jameelah.

Ja, sage ich und nehme ihr die Tigermilch aus der Hand, der hats gut.

Ich glaube, ich bin schon ganz schön hacke, aber nie hat sich das besser angefühlt als heute. Manchmal ist Alkohol wie Medizin, vor allem wenn sie so gut schmeckt wie Tigermilch, so süß, so fruchtig, so gesund, ich glaube, deswegen ist auch in fast jeder Medizin Alkohol drin, das macht Sinn, so klar, so unsichtbar, alles kann man damit wegwischen, das Fett, das Blut, die Scheiße, mit Alkohol kann man die ganze verfaulte Welt aufwischen. Danach bleibt nur eine saubere, reine Fläche zurück.

 

 

Voll vergessen, dass heute Sonntag ist. Sonntags ist auf der Kurfürsten nichts los, da fahren die Typen lieber mit ihren Familien ins Grüne oder ins Autokino oder weiß ich was, jedenfalls kommen sie sonntags nicht hierher. Noch nicht mal die eine mit dem Hund und dem Hariborock ist da. Der Himmel ist voll grau. Wir holen die Ringelstrümpfe aus den Rucksäcken, setzen uns auf unseren Stromkasten, ziehen die Strümpfe über und lassen die Beine baumeln.

Kommt eh keiner, sage ich, und wenn, dann nur die, die es voll nötig haben.

Nee, sagt Jameelah, wenn, dann kommen die Netten, die, die sich mit ihrer Frau gestritten haben. Die fahren dann einmal um den Block, und danach vertragen sie sich zu Hause wieder.

Oder die alten einsamen Säcke, für die ist doch eh jeder Tag gleich.

Oder jemand, den wir kennen, sagt Jameelah und kichert, stell dir mal vor, der Wittner oder so.

Das würde der nie machen, sage ich.

Du bist vielleicht naiv.

Dem Kotz-Krüger, dem würde ich so was zutrauen, stell dir mal vor, der würde hier plötzlich auftauchen, sage ich.

Jameelah lacht laut, springt vom Stromkasten runter und verstellt ihre Stimme.

Unheimlich gastfreundlich, diese Irakis, aber, sagt sie und hebt den Zeigefinger, sie verletzen die Menschenrechte.

Ich lache mich halb tot.

Jameelah springt zurück zu mir auf den Stromkasten, wir lassen weiter die Beine baumeln und schauen auf die leere Straße.

Was hat der eigentlich damit gemeint, frage ich.

Wer, womit?

Der Kotz-Krüger. Mit den Menschenrechten im Irak?

Na ja, da ist irgendwie immer noch Krieg, sagt Jameelah, also inoffiziell. Jetzt nicht mehr so sehr wie früher, aber trotzdem ist das Leben da einfach schlimm, so wie ein kleiner Krieg, die ganze Zeit. Das meint der Kotz-Krüger. Stimmt ja auch, aber was geht ihn das an, der soll sich um seinen eigenen Scheiß kümmern.

Und deswegen seid ihr hierhergekommen.

Genau, sagt Jameelah.

Aber dein Vater und Youssef, sage ich vorsichtig, die sind dort gestorben.

Jameelah nickt.

Auch wegen irgendwas mit den Menschenrechten?

Die sind gestorben, weil mein Vater sich eingemischt hat. Aber auch wegen der Menschenrechte, weil bei vielen Leuten im Irak gilt Auge um Auge, sagt Jameelah und trinkt noch einen Schluck, immer müssen sich alle einmischen, überall. Das macht aber alles noch schlimmer.

Habt ihr eben deswegen so geweint, frage ich leise.

Jameelah sagt nichts, holt den Tobak aus dem Rocksack, die Filter, die Blättchen, ihr Zippo, ich schaue auf ihre Hände, die schwarz lackierten Fingernägel, ihre Zunge, die das Papier anleckt.

Wenn was Schlimmes passiert, kriegt meine Mutter Angst um uns, das kommt von früher, sagt Jameelah und klickt mit dem Zippo.

Was hat dein Vater denn Schlimmes gemacht?

Sag mal, willst du das nicht kapieren oder bist du blöd, oder beides, sagt sie und schaut mich wütend an, wenn es keine Menschenrechte gibt, dann stirbst du nicht, weil du was Schlimmes getan hast, sondern weil niemand dich schützt, das hat ja sogar der Kotz-Krüger verstanden!

Tschuldigung, sage ich.

Deine Mutter Tschuldigung, sagt Jameelah.

Eine Weile sagt keiner was.

Tschuldigung, sagt Jameelah irgendwann, aber weißt du, ich will gar nicht so sehr drüber nachdenken oder reden oder irgendwas. Erst recht nicht jetzt, weißt du, wo alles so unsicher ist. Ich verstehe das gar nicht, ich meine, die können uns nicht einfach so wegschicken.

Hör auf, sage ich, die schicken euch nicht weg, du spinnst.

Jameelah zieht die Augenbrauen zusammen.

Meine Mutter, sagt sie, ich glaube, die hat irgendwie Scheiße gebaut.

Scheiße gebaut, wieso?

Nein, keine Scheiße gebaut, nur was Doofes gesagt bei der Ausländerbehörde oder so, was, das die nicht wissen sollten oder was die nicht wissen brauchten.

Was denn?

Nix Schlimmes, sagt Jameelah, nichts Verbotenes oder so, falls du das jetzt denkst.

Denk ich gar nicht.

Das ist nämlich nicht so, meine Mutter, die will ja immer so korrekt sein, weißt du, immer voll ehrlich sein und so.

Weiß ich doch, sage ich, ich denk das gar nicht, ich denk eher, du machst dir zu viel Sorgen, sage ich und nehme Jameelahs Hand, aber Jameelah zieht ihre Hand wieder weg, sie springt vom Stromkasten und läuft auf ein Auto zu, das im Schritttempo an uns vorbeifährt. Die Fensterscheibe ist runtergekurbelt. Der Typ, der hinterm Steuer sitzt, hat eine Glatze, alt sieht er aus, bestimmt über 40, und der Schönste ist er auch nicht.

Na, sagt der Typ, heute schon was vor?

Kostet 100 Euro, sagt Jameelah und lehnt sich ganz cool und pomade an die halb offene Fensterscheibe.

Der Typ kramt in seinem Handschuhfach herum und hält ihr zwei Fünfziger hin, sie steckt das Geld in eins der Ringelsstrumpfbündchen. Ich muss grinsen, sieht immer alles so echt aus, also wir, wie echte Nutten, nur dieses Mal, mit dem An-die-Fensterscheibe-lehnen, das ist schon fast Pretty Woman.

Moment, sagt der Typ, als wir ins Auto steigen wollen, und zeigt auf einen Kindersitz, der auf dem Rücksitz befestigt ist, den muss ich noch in den Kofferraum packen.

Als er damit fertig ist, sagt er, hereinspaziert, wie im Zirkus. Ich muss lachen. Im Auto riecht es nach Wunderbaum, und der Rücksitz ist voller Kekskrümel. Vor mir auf dem Boden steht ein Zehnerpack Capri-Sonne, bestimmt für seine Kinder.

Ich bin übrigens Stella Stardust, sagt Jameelah, und das hier ist meine Freundin Sophia Saturna.

Darf ich eine, frage ich und halte die Capri-Sonnen hoch.

Klar, sagt der Typ und tritt aufs Gaspedal.

 

 

Eigentlich hätten wir gar nicht erst ins Auto steigen müssen, denn der Typ fährt nur ein paar Straßen weiter bis zum Nollendorfplatz und hält vor einer Thai-Bar. Thai-Bars sehen alle gleich aus, vorn mit pinker Leuchtschrift, das ganze Fenster voll kleiner Buddhas und überall diese goldenen Katzen, die pausenlos mit dem linken Arm winken, ich hab irgendwie Angst vor denen. Innen drin ist alles blitzsauber, die Theke, die kleinen Tische mit den Plastikblümchen und Kerzen in der Mitte, der Boden, die Fensterbänke, alles sieht aus, als wenn ständig feucht drübergewischt würde, selbst die Daddelkiste, die neben der kleinen Tanzfläche in einer Ecke steht, ist blitzsauber.

Hast du schon mal so was Sauberes gesehen, flüstere ich Jameelah zu.

Ich glaube, das muss so sein, sagt sie, das ist wie auf dem Schlachthof oder so, weißt du, da, wo Drecksarbeit gemacht wird, muss man besonders auf die Sauberkeit achten.

Hinter der Theke steht eine kleine Thai-Frau, sie lächelt, in der Glotze über ihr läuft Hallo Deutschland, auf stumm geschaltet.

Wassum tinken?

Tigermilch, sagt Jameelah und grinst, und während sie der Frau an der Bar zu erklären versucht, was Tigermilch ist, schaue ich mir den Typen an. Er hat einen Dreitagebart und eine Lederjacke mit Bündchen an, dazu Jeans und New-Balance-Turnschuhe. An seinem Ohr hat sich ein langes blondes Haar verfangen, bestimmt von seiner Frau oder von seiner Tochter. Vielleicht haben sich die Frau oder die Tochter, kurz bevor er zur Kurfürsten gefahren ist, noch mal fest an ihn gedrückt, dabei ist das Haar hängen geblieben, denke ich, und dass ich vielleicht Detektivin werden sollte, aber dafür braucht man sicher Abi.

Wie alt ist denn dein Kind und wie heißt das, frage ich.

Ich hab kein Kind, sagt der Typ, das Auto gehört meinem Kumpel, der kommt gleich noch.

Dein Kumpel, sagt Jameelah und beugt sich zu uns rüber, das war aber nicht abgemacht.

Keine Sorge, sagt der Typ und legt noch mal zwei Fünfziger auf den Tisch, vor dem braucht ihr keine Angst zu haben, der ist nur eine halbe Portion.

Verstehe ich nicht, sagt Jameelah und steckt das Geld ein.

Werdet ihr gleich schon sehen, und wie auf Knopfdruck geht die Tür auf, sie geht aber nicht ganz auf, fällt immer wieder zu, so als ob sich da ein Hund durchzwängen will oder so, die kleine Thai-Frau eilt zur Tür, hält sie auf und lächelt, ein Typ im Rollstuhl kommt herein. Ich kann sein Gesicht zuerst nicht erkennen, weil er einen Cowboyhut trägt. Erst als er näher kommt, den Kindersitztypen umarmt und anschließend seinen Hut abnimmt, sehe ich, wie fertig er aussieht. Rainer würde sagen, er ist vom Leben gezeichnet. Er ist zwar jünger als der Kindersitztyp, aber alles an ihm sieht alt und fertig aus, seine dünnen blonden Haare, sein eingefallenes Rauchergesicht. Das Schlimmste aber sind die Beine, er hat keine Beine mehr, das eine ist komplett ab und das andere geht nur bis zum Knie.

Das ist mein Kumpel, bei dem setzt du dich jetzt mal auf den Schoß, der hat nämlich heute Geburtstag, sagt der Kindersitztyp und drückt mich auf den Rollstuhl.

Hoppla, sagt der im Rollstuhl und grinst mich an, als ich auf seinem einen Bein lande, da ist ja kein Schoß, auf den ich mich setzen kann, kurz hab ich Angst, dass dem das wehtut. Er riecht nach Alkohol, hat bestimmt vorher ein paar Schnäpse gekippt, bevor er hierhergerollt ist. Der Kindersitztyp reicht uns unsere Gläser rüber, und wir singen erst mal alle Happy Birthday. Danach trinke ich mit dem im Rollstuhl Brüderschaft, der findet das wahnsinnig lustig. Als ich den Arm um ihn lege, fasst er mir auf den Oberschenkel, nur bleibt er ständig mit seinen Fingernägeln in meinen Strümpfen hängen, das nervt, also nehme ich seine Hände und küsse ihn. Der Kindersitztyp und Jameelah knutschen auch, er hat seine Hände sogar unter ihrem Top.

Lass mich los, kreischt Jameelah und versucht sich lachend aus seinen Armen zu winden, ich will tanzen.

Ich auch, rufe ich.

Wir laufen auf die kleine Tanzfläche.

Geht die Musik auch lauter, frage ich die Frau hinter der Theke.

Die Frau nickt und lächelt, sie dreht sich um und macht am Lautstärkeregler rum, aber ich hab das Gefühl, gar nichts wird lauter.

Noch lauter, rufe ich.

Ist schon laut, sagt die Frau, aber ich merke davon nichts, vielleicht hat das was mit gestern zu tun, das mit der Lautstärke, ich glaube, wenn so was Krosses passiert, dann ist es so, wie wenn man auf einem Konzert war und einem am nächsten Tag die Ohren komplett schallern. Manchmal muss die Musik aber laut sein, auch wenn einem noch tagelang die Ohren schallern, manchmal kann die Musik gar nicht laut genug sein, damit man das Leben nicht hört, und heute, da will ich das Leben nicht hören.

Die Typen schauen grinsend zu uns rüber, während wir tanzen. Das ist immer so, wenn man mitgeht auf der Kurfürsten, das ist das Gute daran. Man merkt, man hat was, was die nicht haben, man tut voll viele Dinge zum ersten Mal, man hat ein echtes Leben, in dem man richtig drinsteckt. Ich glaube, Erwachsene können gar nicht richtig leben, sie sehen alles nur von außen, wie bei einem Aquarium. Aber wenn sie ihre Hände auf unsere Strümpfe legen und mit uns knutschen, dann fängt in ihnen was zu fließen an, dann treiben sie selbst für kurze Zeit im Wasser, und manchmal fangen sie sogar an zu leuchten, wie Neonfische, das sind wir, die sie zum Leuchten bringen, wir leuchten, und wenn wir jemanden anfassen, leuchtet der mit, weil wir für zwei leuchten können.

Mein Körper fühlt sich taub an, ich wette, das kommt vom Tanzen, ich wette, ich könnte jetzt ein ganzes Pferd hochheben, so stark fühle ich mich, ich wette, das kommt davon, weil wir einen Mord gesehen haben, ich wette, das macht stark, wenn man den Tod gesehen hat, wir sind stark, wir sind wie echte Nutten, wir haben einen echten Mord gesehen, wir leuchten.

Als das Lied vorbei ist, klatschen die Typen, wir verbeugen uns aus Spaß, und diesmal setzt Jameelah sich auf den Schoß von dem im Rollstuhl.

Spürst du da gar nichts, fragt sie und piekst ihm mit dem Zeigefinger in sein halbes Bein.

Nein, sagt der im Rollstuhl.

Wie ist das denn passiert?

In Afghanistan, sagt er.

Echt, sage ich, bist du ein Soldat?

War ich.

Wie ist das mit dem da passiert, fragt Jameelah.

Das war friendly fire.

Das ist, wenn man nicht die Bösen, sondern aus Versehen die Guten erschießt, oder, sagt Jameelah.

Genau, sagt der Typ.

Und? Kanntest du den?

Wen, fragt der Typ.

Den, der das da gemacht hat, sagt Jameelah.

Ja, da kennen sich alle gut, sagt er und legt die Hände um Jameelahs Hüften.

Ist ja schlimm.

Besser, es war einer von uns als einer von denen, sagt er.

Wieso, sagt Jameelah.

Na ja, ist nicht der Schmerz, der schlimm ist oder das appe Bein. Schlimm ist, dass da ein Irrer ist, der dir was antun will. Gewalt ist, wenn dir jemand was Böses will, nicht der Schmerz an sich, sondern die Absicht.

Aha.

Ich verstehe nur Bahnhof, deswegen sage ich, Krieg ist echt scheiße, das kommt immer gut, aber der im Rollstuhl sagt, was wisst ihr schon.

Komm, jetzt keine traurigen Geschichten, sagt der Kindersitztyp und haut ihm auf die Schultern, ist doch dein Geburtstag.

Lass mich, sagt der im Rollstuhl und schaut nach unten.

Ganz still wird es, keiner sagt was. Ich schaue Jameelah an, der Kindersitztyp schaut uns an, und der im Rollstuhl starrt weiter auf die Stelle, wo seine Beine sein sollten, da fängt Jameelah plötzlich an, laut loszulachen.

Was gibts denn da zu lachen, sagt der Kindersitztyp, total sauer sieht er aus.

Gar nichts, quiekt Jameelah, gar nichts, aber da ist es schon zu spät, sie schaut mich an, die Hand vor dem Mund, ihre Augen zu kleinen Schlitzen verengt, sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht so laut, dass ich ihr in den Rachen sehen kann, bis aufs Zäpfchen runter, und das sieht so irre aus, dass ich auch anfangen muss zu lachen.

Aufhören, sagt der Kindersitztyp.

Sei doch nicht so streng mit denen, sagt der im Rollstuhl und grabscht Jameelah, die immer noch auf seinem Schoß sitzt, an die Brüste. Ich glaube, wenn er könnte, würde er Hoppe Hoppe Reiter mit ihr spielen, und bei der Vorstellung muss ich schon wieder laut loslachen, obwohl das ja eigentlich gar nicht lustig ist. Ich weiß ja selber nicht, wieso wir so lachen, keine Ahnung, ist einfach irgendwie alles so bescheuert, ich meine, wir wollten doch nur einen Liebeszauber machen, wir haben auf dem ganzen Spielplatz Rosenblätter gestreut, das ist einfach zum Totlachen.

So, jetzt wird ausgetrunken, sagt der Kindersitztyp und knallt uns die Gläser vor die Nase.

Wieso, warum denn, sagt Jameelah.

Weil wir noch woanders hingehen.

 

 

Das mit mir und Jameelah und der Kurfürsten, das weiß niemand, niemand außer uns beiden. Dafür gibt es jede Menge Gründe. Die Leute würden sich nur Sorgen machen, allein Nico, wenn der das wüsste, der würde mir wahrscheinlich eine runterhauen. Uns kann aber im Grunde nichts passieren, wir haben nämlich die Hunde, die Grimms. Es sind zwei große schwarze Hunde, sie heißen beide Grimm, das hat Jameelah aus einem Buch. Es gibt sie nicht in echt, aber in unserer Vorstellung laufen sie neben uns her, wie zwei Leibwächter. Ich denke nicht immer an sie, nur wenn ich mich komisch fühle, dann tauchen sie auf und laufen im Kreis um uns rum, sodass niemand an uns rankommt. Ich bin nicht blöd oder so, die Hunde beschützen uns, und das schon eine ganze Weile. Es gibt die übelsten Typen auf der Welt, Typen, die einem im Vorbeilaufen zwischen die Beine fassen und solche Sachen, alles schon vorgekommen. Seitdem es die Hunde gibt, passiert so was nicht mehr, ehrlich, wenn ich mich wirklich auf die Grimms konzentriere, dann wechseln Männer, vor denen ich Angst habe, sogar die Straßenseite, ist alles nur eine Frage der Konzentration. Deswegen habe ich selbst jetzt keine Angst.

Wir waren noch nie mit jemandem auf einem Hotelzimmer. Der im Rollstuhl ist schon total voll, der verträgt gar nichts, weiß nicht, ob das mit seinen Beinen zu tun hat oder vielleicht, weil er so ein Hemd ist. Der Kindersitztyp hat auch schon gut einen im Tee und wir sowieso. Der Fahrstuhl geht auf, wir stolpern den Gang runter bis zum hintersten Zimmer.

Sophia Saturna, ich glaube, diesmal müssen wir mit denen pennen, flüstert Jameelah mir zu.

Kann sein, sage ich.

Vielleicht ist das alles gar nicht so schlimm, vielleicht ist es sogar besser so, denke ich, dann haben wir es wenigstens endlich hinter uns, dieses dämliche erste Mal. Und wer weiß, vielleicht ist gerade heute der richtige Tag, vor allem, wenn es bluten sollte, würde doch wie Arsch auf Eimer passen, fast schon poetisch wäre das. Noura sagt immer, man soll so leben, dass das eigene Leben im Nachhinein wie ein Gedicht erscheint. Sie hat nie gesagt, dass es ein fröhliches Gedicht sein soll, einfach nur ein Gedicht.

Der Kindersitztyp schließt das Zimmer auf, stellt seine schwarze Tasche neben den Schreibtisch am Fenster und macht die Jalousien runter. Unterm Tisch ist ein kleiner Kühlschrank, den macht der im Rollstuhl auf.

Wollt ihr mir mal aufs Bett helfen, sagt er, den Schoß voller Schnäpse, die Schnäpse purzeln wie Murmeln in die weiße Bettwäsche, als wir ihn aufs Bett fallen lassen. Er zieht mich zu sich und drückt an meinen Brüsten rum, er zieht mir das T-Shirt über den Kopf, um uns herum rascheln die Laken, sie sind steif vor lauter Sauberkeit, den BH mit den kleinen Schleifen, den Jameelah mir zum Geburtstag geschenkt hat, kriegt er aber nicht auf.

Der Kindersitztyp schaltet die Glotze ein, im Ersten läuft Terra X, er zappt weiter, verdammt, gibt es denn hier keinen Musikkanal, sagt er, aber auf VIVA läuft Musik.

So, jetzt tanzt ihr erst mal schön für uns, sagt der Kindersitztyp, ihr tanzt doch so gern, lacht er, zieht sich die Hose aus und macht sich ein Bier auf.

Genau, ausziehen, sagt der im Rollstuhl und grinst blöde vom Bett rüber.

Jameelah lächelt, zieht sich ihr Oberteil aus und fängt an, im Rhythmus der Musik mit den Hüften zu kreisen. Ich habe noch nie einen Striptease gemacht, aber Rainer sagt immer, einmal ist immer das erste Mal, also strippe ich, das heißt, ich tanze, und währenddessen mache ich mir den BH auf und werfe ihn aufs Bett, und irgendwann ziehe ich meine Unterhose aus, genau das Gleiche, aufs Bett damit, ich mache es einfach so, wie ich mir vorstelle, dass man es macht. Meine Hände, Arme, Knie, alles bewegt sich, meine nackten Füße drehen sich in den Teppichboden hinein, bis sie von der Reibung ganz heiß werden.

Keep cool, flüstert Jameelah und legt mir die Hände auf die Schultern, tanz einfach weiter.

Früher, als Jessi noch nicht da war, habe ich oft zu Mamas Lieblingsmusik im Wohnzimmer getanzt. Manchmal durfte ich dazu Mamas roten Lederrock anziehen, sie hat mir die Haare steif gesprayt und mein Gesicht geschminkt, dann sind wir mit dem Auto zu Mamas Freundinnen gefahren, wie zwei Staubsaugervertreter haben wir alle ihre Freundinnen abgeklappert, und ich habe 99 Luftballons vor ihnen gesungen und Einmal ist keinmal und Tanz auf dem Vulkan. Die wird mal Sängerin, haben sie zu Mama gesagt und Tränen gelacht, pass mal auf, die kommt später ins Fernsehen, aber ich wollte nur singen, ich wollte gar nicht ins Fernsehen, weil Tarik mir erzählt hatte, dass die Sänger im Fernsehen gar nicht wirklich singen, sondern nur zur Musik ihren Mund bewegen, und zu seiner eigenen Musik nur den Mund zu bewegen, ist so wie Scheiße labern.

Wenn ich genau überlege, sind traurige Gedichte eh immer viel besser als fröhliche. Und wer weiß, vielleicht ist in meinem Leben ja auch nur die erste Strophe nicht so fröhlich, keiner hat gesagt, dass das nicht geht, es gibt bestimmt Gedichte, in denen die erste Strophe nicht so fröhlich ist, danach aber schon, es gibt alles auf der Welt, warum sollte da bisher niemand drauf gekommen sein, wer weiß, vielleicht wird mein Leben noch ein echtes Märchen, und Märchen fangen immer katastrophal an und enden gut.

Guck mal, sagt der im Rollstuhl plötzlich und zeigt auf mich, die heult ja.

Alles in Ordnung, fragt Jameelah und schaut mich erschrocken an.

Ja, sage ich leise, ist nur das Lied, das macht mich traurig.

Der Kindersitztyp kippt sich noch einen Kurzen.

Warum heulst du denn, sagt er.

Ich heul doch gar nicht, sage ich, ich hab was im Auge.

Der Kindersitztyp schaut mich durchdringend an.

Bei euch Frauen weiß man nie, ob ihr wirklich heult oder ob ihr nur so tut, als ob.

Jetzt lass sie doch heulen, sagt der im Rollstuhl.

Nee, du gehst dir jetzt mal schön das Gesicht waschen, sagt der Kindersitztyp und schaltet wieder auf Terra X um.

Als ich aus dem Bad komme, sehe ich, dass Jameelah bei dem Kindersitztypen im Bett liegt. Der im Rollstuhl wartet schon auf mich, sein Cowboyhut liegt auf dem Nachttisch, die Hose und sein T-Shirt hat er sich ausgezogen. Mit seiner weißen Haut und den langen blonden Haaren sieht er aus wie eine Albinonacktschnecke. Während ich zu ihm ins Bett krieche, frage ich mich, ob der überhaupt einen hochkriegt. Er drückt mich aufs Bett und fängt an, mich überall abzulecken, voll kalt wird mir an den Stellen. Als er mich mal kurz loslässt, suche ich in Jameelahs Rucksack, der zwischen den beiden Betten liegt, ein Gummi, ich erwische ein rotes und stecke es mir mit dem Zipfel nach innen in den Mund. Der im Rollstuhl liegt schon bereit, sein Ding hat vom friendly fire nichts abbekommen, sehe ich, also stülpe ich das Gummi über. Der im Rollstuhl stöhnt. Im Hintergrund läuft immer noch Terra X, irgendwas über das ewige Eis. Ein Eisbär gräbt sich im Winter nicht ein, sondern legt sich auf einen Eisberg und lässt sich vom Schnee einwehen, bis er ganz bedeckt ist, dann bekommt er seine Jungen, sagt der Mann im Fernsehen.

Eigentlich ist es gut, dass der im Rollstuhl keine Beine mehr hat, dann kann er zumindest nicht oben liegen, überhaupt kann er sich eigentlich so gut wie gar nicht bewegen, und das finde ich gut. Ich mache die Augen zu und stelle mir vor, jemand Nettes sitzt neben mir an der Bettkante und sagt, mach einfach, du weißt doch, wie es geht, ist alles nicht so schlimm, ist wie üben, an Fröschen oder Toten, schau mal, der ist ja kein echter Mann, das ist immer noch Übung, denke ich, das ist immer noch irgendwie Übung. Ich mache es langsam, damit es nicht wehtut, aber irgendwie tut es gar nicht weh, auch, wenn ich es schneller mache, fühlt sich alles nur etwas eingequetscht an, kann aber auch daran liegen, dass ich ziemlich voll bin. Ich bewege mich hin und her, der Typ ruckelt, so gut er kann, mit seinem Oberkörper mit, und zusammen fühlt sich das an, wie als Mama mich früher im Kaufland auf dieses Pferd gelassen hat, auf dem man für 50 Cent eine Minute reiten durfte, aber ob es sich wie echtes Reiten anfühlt, weiß ich nicht, ich bin ja noch nie geritten, und vielleicht denke ich das ja auch nur, weil alle immer vom Reiten sprechen, wenn sie vom Bumsen sprechen, Rainer zumindest, und Rainer ist wie alle.

Ich nehme den Cowboyhut vom Nachttisch und setze ihn mir auf. Der im Rollstuhl hat die Augen zu, er stöhnt, im Hintergrund läuft immer noch Terra X. Es geht immer noch um den Nordpol, und da fällt mir ein, dass ich mit Papa früher manchmal Terra X geschaut habe, da gab es mal eine Urwaldfolge, eingeborene Jungs, ungefähr so alt wie Jameelah und ich, mussten sich in einer Reihe aufstellen. Sie haben sich die Hände vor die Eier gehalten wie beim Fußball, wie wenn es einen Freistoß gibt, nur waren sie alle nackt, und statt vor einem Tor standen sie vor einem kleinen Zelt. Zwischendurch kam immer ein heulender Junge aus dem Zelt raus, immer hat er am Schwanz geblutet.

Der im Rollstuhl stöhnt wieder.

Es ging nicht um Fußball, sondern ums Erwachsenwerden, das hat zumindest der Mann im Fernsehen gesagt. Man hat sehen können, wie viel Schiss die Jungs hatten, aber der Mann im Fernsehen hat gesagt, dass die Jungs die ganze Kindheit lang auf diesen Tag warten, weil sie danach endlich in die Erwachsenenwelt aufgenommen werden, und dass sie deswegen nicht ängstlich sind, sondern aufgeregt und stolz. Ich bin nicht ängstlich, nicht aufgeregt und auch nicht stolz, nur wenn ich die Augen zumache, dann sehe ich vor mir eine lila Wendeltreppe. Muss nachher mal Jameelah fragen, was das bedeutet, denke ich, die kann das gut, Träume deuten. Der im Rollstuhl stöhnt schon wieder, aber dann hört er zum Glück endlich auf und lässt seinen Kopf wie tot aufs Kissen fallen. Ich mache mich langsam los, meine Schenkel tun etwas weh, wie nach dem Sport. Kurz liege ich einfach so da neben dem Typen, der leise zu schnarchen anfängt, da muss ich an Nico denken, was der wohl gerade macht, frage ich mich, wahrscheinlich arbeiten, irgendwo schwarz was anstreichen, in einem Hotel oder was weiß ich. An Sonntagen streicht Nico meist irgendwo schwarz was an, weil er von seiner Ausbildungskohle nicht leben kann.

Ich schaue rüber zum anderen Bett, da sitzt Jameelah in ihrem Spaghettitop auf der Bettkante und raucht. Sie schaut mich nicht an, sondern in Richtung Fenster. Der Kindersitztyp wirft die Beine aus dem Bett und steht auf. Ich suche, so schnell ich kann, meine Klamotten zusammen, Jameelah drückt die Kippe aus und will gerade ihren Rucksack nehmen, da stellt der Kindersitztyp seinen Fuß auf ihren Pass, der muss beim Gummisuchen aus dem Rucksack gefallen sein.

Was ist das denn, sagt er und hebt den Reisepass mit den Zehen auf, seine Nägel sind gelb, wie bei der Struck, nur noch viel schlimmer, weil er ein Kerl ist.

Gib her, sagt Jameelah und versucht, nach dem Pass zu greifen, dabei fällt die Scheckkarte für den Aufenthalt raus. Der Typ schaut sie sich seelenruhig an.

Deine Aufenthaltsgenehmigung läuft bald ab, sagt er.

Weiß ich selber, sagt Jameelah, greift nach der Scheckkarte und stopft sie zusammen mit dem Pass zurück in den Rucksack.

Jameelah heißt Schönheit auf Arabisch, wusstest du das, sagt der Kindersitztyp, aber als Jameelah nicht antwortet, lacht er dröhnend und sagt, warum hast du denn nichts gesagt, dann hätten wirs von hinten gemacht, dann hättest du noch als Jungfrau in die Ehe gehen können.

Ich schaue ihn von oben bis unten an.

Was glotzt du so, sagt er.

Sein Schwanz baumelt zwischen seinen behaarten Schenkeln herum, lang und dünn und rot, ein kranker Wurm, so hässlich, dass ich schnell wegschauen muss. Immer noch lachend verschwindet er im Bad.

Jameelah zieht sich schnell ihre restlichen Klamotten über und hockt sich auf dem Teppichboden vor die schwarze Tasche. Im Portemonnaie vom Kindersitztyp sind mindestens 500 Euro. Ich drehe mich nach dem im Rollstuhl um. Der pennt.

Ist billig, flüstere ich.

Aus dem Bad hört man dieses Geräusch, das nur Männer machen, gelben Schleim hochziehen und ins Waschbecken spucken, hochziehen, von ganz unten, immer und immer wieder, wie bei einer Olympiade. Während ich mich anziehe, steckt Jameelah das Geld in ihre Chucks. Wir wühlen weiter in der Tasche.

Guck mal, flüstere ich, Tabac-Parfüm, das mag Amir so.

Die fast noch volle Flasche Tabac-Parfüm wandert in meinen Rucksack.

Jameelah grinst, sie steckt Kaugummis, einen teuren Bio-Labello und ein Nagelset in meinen Rucksack.

Voll das Mädchen, sagt sie, los, weg hier.

 

 

Und, hats bei dir geblutet, fragt Jameelah, als wir wieder am Nollendorfplatz stehen.

Nee, sage ich, und bei dir?

Nee, auch nicht, nur so ein komisches Gefühl zwischen den Beinen.

Bei mir auch. So ähnlich wie Muskelkater.

Und jetzt?

Keine Ahnung, bloß nicht nach Hause.

Planet?

Planet.

An der Ecke holen wir uns eine Currywurst, dann fahren wir zur Wilmersdorfer. Am Planet sitzen Apollo und Aslagon, Aslagon macht sich die Nägel mit einer Pommesgabel sauber.

Hier, sagt Jameelah und holt das Nagelset raus, schenk ich dir.

Ist das aus Silber, fragt Aslagon misstrauisch.

Nee, glaube nicht.

Dann nicht.

Wieso?

Ich darf nur Geschenke aus Silber annehmen. Alles andere Metall lässt das Böse hinein.

Quatsch, sagt Jameelah, euer Nagelklipper neulich, der war doch niemals aus Silber.

Siehst du hier etwa irgendwo einen Nagelklipper, fragt Aslagon und hält die Pommesgabel hoch.

Wir hocken uns auf den Planet und starren auf das trockene Zementbett. Mich juckt es irgendwie überall, hoffentlich hat der im Rollstuhl keine Krankheit gehabt, denke ich. Apollo und Aslagon tuscheln miteinander.

Wer flüstert, der lügt, rufe ich.

Wir lügen nicht, sagt Apollo.

Nein, sagt Aslagon, wir lügen nicht, wir reden nur über euch, über eure Flügel.

Was ist mit denen, sagt Jameelah.

Die sind weg, sagt Apollo, wo sind eure Flügel hin?

Haben wir auf dem Flohmarkt verkauft.

Dann seid ihr keine Flügelkinder mehr, nur dass ihrs wisst.

Ich glaube, damit können wir leben.

Da war übrigens jemand für dich hier, sagt Aslagon und schaut mich an.

Wer?

Der Große, der immer Ott auf Tasche hat, sagt Apollo und grinst sein Totengräbergrinsen, der hat was an die Telefonzelle geschrieben.

Ich springe vom Planet runter.

Nini, ruf mich sofort an, Nico steht da, und daneben das Datum von heute.

Los, ich muss Guthaben kaufen.

Warte, sagt Jameelah, wir müssen vorher noch was erledigen.

Was denn?

Der Schmuck, flüstert sie.

Ach so, sage ich, stimmt ja.

Gemeinsam laufen wir rüber zur S-Bahn. Gleich vorn an der Unterführung steht ein Mülleimer.

Schaut auch niemand, fragt Jameelah.

Nein, sage ich, reg dich ab.

Zwischen Labellos, Gummis, Tampons und Stiften suchen wir nach Jasnas Schmuck.

Ein Teil nach dem anderen landet im Mülleimer. Plötzlich heften sich Jameelahs Augen auf meine Hand, wütend starrt sie auf den Ring.

Sag mal, spinnst du jetzt eigentlich komplett, sagt sie und greift nach meinen Fingern.

Was denn, sage ich, den hab ich doch schon die ganze Zeit an.

Willst du den etwa behalten?

Klar, der gehört mir doch, ich meine, meiner Mutter!

Jetzt hast du wirklich einen an der Falafel!

Wieso, sage ich, aber Jameelah fängt an, an meinem Finger rumzuzerren.

Lass los, sage ich, den will ich behalten!

Schwachsinn, gib her!

Geht eh nicht, sitzt zu fest. Geht nur unter Wasser mit Seife!

Jameelah zieht die Augenbrauen hoch und schaut mich lange an, dann schnappt sie schneller als ein Krokodil nach meinem Handgelenk und steckt sich meinen Finger in den Mund.

Ich schreie auf vor Schreck.

Wie irre saugt Jameelah an meinem Finger.

Lass das, sage ich, aber Jameelah saugt einfach weiter.

Ich spüre ihre Zunge, wie sie um meinen Finger kreist, wie sie saugt und saugt und wie mir langsam der Ring vom Finger rutscht. Wie ein abgenagtes Stück Knochen spuckt Jameelah den Ring auf die Straße.

Sag mal gehts noch, schreie ich, das kannst du doch nicht machen!

Klar kann ich, siehst du ja, sagt sie, hebt den Ring auf und wirft ihn achtlos in den Müll.

Fassungslos starre ich sie an.

Das ist der Ring von meiner Mutter!

Ist er nicht, und selbst wenn, sagt Jameelah, er hat an Jasnas Finger gesteckt, und wenn dich jemand mit ihm sieht, dann bist du entweder tot oder stehst unter Mordverdacht. Ich beschütze dich nur, siehs mal von der Seite.

Ich hocke mich neben den Mülleimer und stecke meinen Arm, so tief es geht, in den Schlund, da kommt Nico in irrem Tempo auf seinem BMX angefahren.

Warum gehst du nicht ans Handy, sagt er und bremst scharf, ich hab tausendmal versucht dich zu erreichen. Was macht ihr da überhaupt? Unter die Flaschensammler gegangen?

Haha, sage ich und stehe auf, was ist denn los?

Was los ist? Jasna ist tot.

Das wissen wir, sagt Jameelah.

Nico starrt uns an, zuerst Jameelah und dann mich. Richtig wütend sieht er aus, und dass Nico wütend wird, passiert echt selten.

Aha, sagt er, und wisst ihr auch, dass die Bullen Amir festgenommen haben?

Was?

Nico schaut mich vorwurfsvoll an.

Bist du besoffen, fragt er mich, aber Jameelah schüttelt ihn am Arm.

Jetzt erzähl, von vorn!

Wie gesagt, ich hab dich angerufen, dann bin ich rüber und hab bei dir geklingelt, aber niemand hat aufgemacht, sagt Nico, also bin ich rüber zu Amir, da war alles voller Bullen und Fernsehen, die Olle aus dem Erdgeschoss hat mir alles erzählt, das mit Jasna und dass sie Amir eben abgeholt haben.

Die Stanitzek, die redet viel, wenn der Tag lang ist, sagt Jameelah.

Nein, sagt Nico, das haben alle gesagt, und dass Amir gestanden hat.

Wie, gestanden?

Na was wohl, er hat gesagt, er wars!

Mir wird auf einen Schlag kotzübel. Amir, ich sehe sein Gesicht vor mir, da war Jameelah noch gar nicht da, wie er auf dem Spielplatz steht und zu mir rüberschaut, wie wir uns durch den Tunnel, den wir im Sandkasten gegraben haben, die Hände reichen, seine Finger, mit denen er die Murmeln in unser Murmelloch stößt, wie er zum Weihnachtsmann in der Schule sagt Allah ist groß, viel größer als Jesus, seine flinken Beine, die die Linde hochklettern, wie er oben im Baum sitzt und ruft, Allah ist groß, aber ich, ich bin Leonardo DiCaprio, ich bin der König der Welt.

Nini, sagt Nico, und fängt mich im letzten Moment auf, dann kotze ich genau vor den Mülleimer. Meine Knie schmerzen, mein Kopf schmerzt, meine Beine, zwischen meinen Beinen, meine Arme, Hände, Füße, alles tut weh, die ganze Welt tut mir weh.

Hier, sagt Nico und hält mir ein Taschentuch hin.

Ich wische mir die Kotze vom Mund.

Er wars nicht, sage ich.

Natürlich war ers nicht, sagt Nico, ausgerechnet Amir, der kann doch noch nicht mal ne Ameise mit ner Lupe verkokeln, aber beweis das erst mal.

Das kann man beweisen, sage ich.

Jameelah schaut mich warnend an.

Nini, gehts dir gut, sagt sie und legt mir die Hand auf die Stirn, du bist ja ganz heiß, sagt sie, als wäre sie irgendeine blöde Krankenschwester, du musst sofort was trinken, komm.

Sie packt mich am Arm und zerrt mich in Richtung Arkaden, wütend stößt sie die Glastür auf, zieht mich hin zu den Rolltreppen, hoch zu Eis Tiziano und da rein ins Klo. Meinen Arm lässt sie keine Sekunde los, Schraubstockgriff, genau wie auf dem Spielplatz, dann stößt sie eine der Klotüren auf und schubst mich hinein.

Sag mal, spinnst du, sage ich und reiße mich los.

Nee, schreit Jameelah, du spinnst! Du spinnst so was von! Ich dachte, wir hätten eine Abmachung!

Was für eine Abmachung?

Dass wir die Klappe halten wegen Tarik und erst mal die Polizei machen lassen!

Aber da wussten wir doch noch nicht, dass sie Amir festgenommen haben!

Trotzdem, Abmachung ist Abmachung. Du kannst Nico nicht einfach alles erzählen, ohne das mit mir abzusprechen.

Abmachung. Absprechen. Du bist so deutsch. Amir ist unschuldig, und wir müssen ihm helfen.

Ich bin so deutsch, ja, sagt sie, nee, du bist so deutsch! Du bist so naiv, du hast doch keine Ahnung, was das da war, gestern auf dem Spielplatz.

Klar, sage ich, das war Mord.

Das war nicht einfach nur ein Mord, sagt Jameelah und kommt ganz nah an mich ran, ihr Atem riecht nach Tigermilch und benutzten Kondomen.

Wieso, was denn sonst?

Jasna, sagt Jameelah, immer mit ihrem Sorben ins Ku’dorf fahren und saufen! Du hast doch keine Ahnung. Das haben die alle geplant, und Amir steckt auch mit drin, wenn er den Bullen erzählt, er war es. Aber ich bin die böse Nazideutsche, na klar!

Hör auf! Amir hat so was niemals geplant!

Und warum sagt er jetzt, er wars?

Keine Ahnung, vielleicht weil Tarik ihm gedroht hat.

Keine Ahnung, ja? Ich sag dir mal was, wenn du Tariks Schwester bist und dich in einen Sorben verknallst und mit dem die ganze Nacht auf der Potse tanzt und Cuba Libre trinkst, dann lebst du gefährlich. Aber das kannst du dir natürlich nicht vorstellen, weil du nämlich die Deutsche bist, du bist die Deutsche!

Bin ich gar nicht! Kann schon sein, dass ich nicht die Hellste bin, aber um zu wissen, was ein Mord ist und wie man sich danach verhält, dafür muss man keine Bücher gelesen haben, wie dein blöder Lukas. Überhaupt, wegen dem sitzen wir doch jetzt erst in der Scheiße!

Ach, jetzt ist Lukas dran schuld oder was?

Nein! Aber Tarik muss doch bestraft werden und nicht Amir, sage ich. Du kannst das nicht einfach so aufhalten. Überhaupt, zuerst nimmst du den Schmuck einfach so mit, dann schmeißt du meinen Ring weg und jetzt das, so geht das nicht.

Hast du mal überlegt, was die für blöde Fragen stellen werden, sagt Jameelah, wir haben eine Tote beklaut! Am Ende denken die noch, wir warens.

Dann müssen wir denen das halt erklären. Komm, du hilfst mir jetzt, den Ring aus dem Müll zu holen, und danach gehen wir zu den Bullen.

Einen Scheiß gehe ich zu den Bullen, sagt Jameelah und drückt sich an die Klowand, ihre Unterlippe fängt an zu zittern, ihre Augenlider flattern auf und ab, wie zwei kleine pinkelnde Schmetterlinge.

Ich schlucke.

Du kapierst doch gar nicht, was das alles bedeuten kann, sagt Jameelah, du denkst doch nur an diesen blöden Ring, von dem du noch nicht mal weißt, ob er wirklich deiner Mutter gehört, ist ja klar, du brauchst ja auch keine Angst haben, dass du hier wegmusst, irgendwohin in ein Land, wo sie ihre Häuser aus Kamelscheiße bauen.

Was hat das denn jetzt damit zu tun, sage ich.

Alles. Dieser Scheiß mit Jasna, das bringt nur Ärger, das bringt Unruhe, und Unruhe geht jetzt nicht. Alles muss ruhig bleiben, bis das vorbei ist mit der Ausländerbehörde. Und Tarik, der ist gefährlich, wirklich gefährlich. Auge um Auge, so läuft das bei denen. Stell dir mal vor, es passiert noch mehr.

Ich nehme Jameelah in den Arm.

Was soll denn passieren, sage ich, aber Jameelah fegt meinen Arm von ihrer Schulter und sagt, glaubst du, ich weiß nicht, wovon ich rede? Stell dir doch einfach mal vor, du kommst nach Hause, die Bullen stehen bei euch im Wohnzimmer, und deine Mutter und Jessi liegen tot auf dem Sofa, stell es dir einfach nur mal vor.

Nebenan geht jemand ins Klo und schält sich aus seinen Klamotten. Tampongeknister. Jameelah lehnt immer noch an der vollgekrakelten Klowand. süse kom und bums mit mir aber du must blond sein steht fett mit Edding neben ihrem Kopf, was das auf einem Mädchenklo zu suchen hat, frage ich mich.

Kriegst du nicht hin, was, flüstert Jameelah und schaut mich triumphierend an.

Ich zucke mit den Schultern.

Ich finds übertrieben.

Dann geh halt zu den Bullen, flüstert Jameelah, geh von mir aus hin, aber halt mich raus. Ich weiß von nichts, ich war auch nirgendwo, egal was du behauptest, verstanden? Und bei mir melden brauchst du dich danach auch nie wieder, weil ich, wenn du zu den Bullen gehst, die längste Zeit deine Freundin gewesen bin.

Bin ich dir so egal, sage ich.

Überhaupt nicht, im Gegenteil.

Und Amir, ist der dir auch egal?

Einen Scheiß seid ihr mir egal! Mann, kapierst du nicht, ich will euch nur beschützen.

Gar nicht wahr, sage ich, du denkst die ganze Zeit nur an dich. Amir ist dir total egal. Und jetzt, da willst du nicht zu den Bullen, weil du genau weißt, dass ich allein eh nicht hingehe.

Hör zu, sagt Jameelah und nimmt meine Hand, wir gehen zu den Bullen, aber noch nicht jetzt. Zuerst reden wir mit Amir. Amir muss die Wahrheit sagen. Wir müssen versuchen, ihn zu überreden, die Wahrheit zu sagen. Das ist der einzige Weg, der infrage kommt. Aber bis dahin dürfen wir niemandem etwas verraten, niemand darf wissen, dass wir es gesehen haben. Er muss es selber sagen, dann wird alles gut.

Und was ist mit dem Ring, frage ich.

Jameelah verdreht die Augen.

Na gut, wir gehen den Ring holen, sagt sie, aber zuerst schwörst du. Schwör, dass du nichts verrätst, niemandem.

Ich schwöre, sage ich.

Pinkischwur, flüstert Jameelah und hält mir ihren kleinen Finger hin.

O. k., sage ich, Pinkischwur, und dann hake ich meinen kleinen Finger in Jameelahs kleinen Finger und küsse meinen Daumen.