Die Last mit der Lust

Mich zu beeindrucken ist nicht so leicht, denn ich habe schon viel gesehen und gehört. Und eigentlich wundere ich mich schon lange über nichts mehr. Schon gar nicht über das, was Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen und Männer mit Männern im stillen Kämmerlein oder sonst wo so alles treiben. Solange es allen Spaß macht – bitte sehr. Hin und wieder allerdings findet die Leidenschaft ein jähes Ende im Rettungswagen. Und dann wird’s halt pikant. Und es wäre eine glatte Lüge, wenn ich behaupten würde, dass wir uns nicht hier und da mal königlich amüsieren über die vielfältigen Tücken der Lust. Im Laufe der Jahre ist so eine hübsche Anekdotensammlung zusammengekommen, an die wir uns in heiteren Stunden immer mal wieder gern erinnern. Wie zum Beispiel an diesen Fall hier, der unglaublich klingt, sich aber tatsächlich genau so zugetragen hat.

Die Melkmaschine

Notruf von einem Bauernhof in einer ländlichen Gemeinde im Münchner Umland – gerade eben noch unser Zuständigkeitsbereich. Ein Mann.

»Kommen Sie schnell! Es ist was passiert!«

»Was ist denn passiert?«

»Ja, kommen Sie halt. Dann werden Sie schon sehen!«

»Geht das bitte etwas genauer?«

»Er blutet halt.«

»Wer blutet?«

»Mein Sohn.«

»Wo denn?«

»Na ja, im Kuhstall eben …«

Oh Mann! Was hat der Typ eigentlich für ein Problem? Trotz mehrfachen inquisitorischen Nachfragens ist der Landwirt zu keiner konkreteren Schilderung zu bewegen. Er könnte schon, aber er will nicht. Das ist ganz offensichtlich. Und plötzlich habe ich eine ungefähre Ahnung, in welche Richtung dieser Einsatz gehen könnte. Was sich in manchen Kuhställen abspielt, können wir Nichteingeweihten uns gemeinhin gar nicht vorstellen. Nur hat es selten derart gravierende Folgen.

Eine Rettungswagenbesatzung fährt also los – vorerst mit dem Meldebild »Verletzt« und meinem Zusatz »unklar«. Mehr kann ich den Kollegen momentan nicht bieten. Aber ich bin gespannt auf die Rückmeldung, und die lässt dann auch nicht lange auf sich warten. Die Kollegen fordern nämlich gleich nach ihrer Ankunft den Notarzt nach. Und meine Ahnung bestätigt sich auf ziemlich drastische Weise.

Im Kuhstall treffen die Kollegen nämlich auf den 32-jährigen Jungbauern, der so weiß wie ein Glas Milch in der Melkkammer hockt, sich unter großen Schmerzen ein mittlerweile blutgetränktes Handtuch gegen den entblößten Unterleib presst und stöhnt. »Scheiß Maschine …« Die Kollegen riskieren einen Blick auf das Desaster unter dem Handtuch und die Sache ist klar. Mangels Bäuerin hat sich der Bedauernswerte nach dem Melken ein erotisches Rendezvous mit der Melkmaschine gegönnt. Die Begegnung mit der allzu heftig eingestellten Sogwirkung im engen Zitzenbecher endete allerdings mit einer massiv blutenden, ziemlich üblen Risswunde. Und zwar an empfindlichster und bekanntlich bestens durchbluteter Stelle. Autsch! So was muss zumindest unter örtlicher Betäubung genäht werden, wenn es ohne störende Spätfolgen heilen soll.

Wegen des hohen Blutverlustes und der notwendigen Schmerztherapie wird sofort der Notarzt gebraucht.

Als ob das alles noch nicht peinlich genug wäre, führt sich der Vater (54) auch noch wie der Rotz am Ärmel auf. Die gesamte Erstversorgung wird begleitet von seinen wilden Verwünschungen, die selbst dann noch weitergehen, als die Kollegen den personifizierten Sündenfall schnellstens in den Rettungswagen laden und die Türen zuschlagen. Sogar da hört man den Vater draußen noch herumschreien: »Jawohl, schafft ihn mir aus den Augen und bringt ihn mir bloß nicht mehr zurück. Schämen muss man sich auf seinem eigenen Hof! So ein Ferkel! Saukerl! Eine Schweinerei, ein Saustall ist das! Das eigene Fleisch und Blut! Eine Schande ist das …«

Tja, was soll man dazu sagen? Doch die Geschichte geht noch weiter. Am Nachmittag desselben Tages – diesmal kurz vor dem Melken – kommt ein zweiter Notruf vom Bauernhof. Dieselbe Einsatzadresse, aber ein neuer Patient. Diesmal ist es der Vater, dieser Erfinder und Hüter der Moral. Und zwar mit genau der gleichen Verletzung. Wieder ist die teuflische Melkmaschine die Ursache gewesen. Der Bauer vermeidet während der ganzen Fahrt in die chirurgische Nothilfe – diesmal übrigens in Begleitung einer jungen, hübschen Notärztin – peinlichst jeden Blickkontakt und spricht kein einziges Wort. Ich wäre gern Mäuschen gewesen bei der nächsten Begegnung zwischen Vater und Sohn.

Schadenfreude wäre sicher das falsche Wort. Aber manchmal ist das Leben eben doch ein ganz klein bisschen gerecht.

Das Qualitätsprodukt

Über was unterhält man sich mit einer Frau, in deren Innerstem ein Vibrator unaufhörlich seine Runden dreht? Eine schwierige Frage, die die Ärzte und eine resolute Schwester schließlich mit Bravour gelöst haben. Ein Fall, über den wir auch heute noch schmunzeln – natürlich nur, weil am Ende ein Happy End ohne schwere gesundheitliche Folgen stand. Sonst wär es ja auch nicht lustig.

Anruf mitten in der Nacht bei uns in der Integrierten Leitstelle, wiederum ein Mann:

»Guten Abend, Schmitz mein Name. Meine Frau hat ein Problem …«

»Was denn für ein Problem?«

»Sie blutet ziemlich … unterwärts.«

»Also hat sie ein gynäkologisches Problem? Ist Ihre Frau schwanger?«

»Nein, nein! Eher ganz im Gegenteil! Es ist, ja also, es ist ein Vibrator, den wir nicht mehr rauskriegen. Wenn Sie verstehen …«

»Oh! Ich verstehe. Also doch ein gynäkologisches Problem?«

»Neiiin! Nein, eben nicht.« Er ringt nach Worten und Fassung. Und fährt tapfer fort: »Es ist nämlich so, dass der Vibrator nicht da ist, wo er eigentlich hingehört. Verstehen Sie?«

Na klar, Mann. Ich bin doch nicht blöd. Und noch dazu bin ich erwachsen. Ich lasse ihn einfach weiterreden.

»Und jetzt bringt sie das Ding eben nicht mehr raus. Wir haben es versucht, aber jetzt ist sie so wund, dass überhaupt nichts mehr geht. Ach, ich weiß auch nicht. Es ist eine saublöde Situation …«

»Ist der Vibrator noch an?«

»Und wie. Höchste Stufe …«, antwortet Herr Schmitz und ich sehe ihn förmlich dasitzen auf der Bettkante, ratlos, mutlos und verlegen.

Jetzt bloß nicht grinsen. Das überträgt sich nämlich am Telefon auf das Gegenüber. Zudem besteht allmählich akute Lachkrampfgefahr. Und das geht natürlich gar nicht.

»Okay, Herr Schmitz. Ich schicke Ihrer Frau jetzt einen Rettungswagen. Machen Sie und Ihre Frau jetzt nichts mehr. Alles Weitere überlassen Sie besser dem Doktor.«

Was für ein Meldebild soll ich da jetzt eingeben? Ich entscheide mich für die ungeschminkte, hässliche Wahrheit: »Sonstiger Notfall« – mit dem Zusatz »Vibrator in Rektum«. Damit die Rettungswagenbesatzung auch schon mal eine kleine Vorfreude hat.

Die Fahrt in die Klinik verläuft eher wortkarg. Der Rettungsassistent und die Patientin Schmitz bemühen sich um Normalität. Aber mit dem ständig präsenten Surren im Bauch ist natürlich überhaupt nichts mehr normal. Alle Konversationsversuche ersticken jedenfalls im Keim. Ein Versuch: »Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, nein. Geht schon. Danke …«

Und dann die Patientin: »Wie viel Uhr ist es eigentlich?«

»Kurz nach drei Uhr.«

»Oh, schon so spät …«

Eine absurde Situation und alle sind heilfroh, als endlich die Klinik in Sichtweite kommt.

Gut, ich gebe es zu: Ich war neugierig. Ich habe später in der Ambulanz angerufen, weil ich wissen wollte, wie dieses Problem gelöst wurde. Der Chirurg war relativ schnell am Ende mit seinen Möglichkeiten. Weil Frau Schmitz nun über Schmerzen klagte, entschied er sich für die radikale Variante: »Also, ich mache dann jetzt den Bauch auf!« Frau Schmitz brach umgehend in Tränen aus.

Aber es nahte Rettung, und zwar in Gestalt der erfahrenen, mit allen Wassern gewaschenen Oberschwester. Sie nämlich schlug vor, vor dem operativen Eingriff noch den diensthabenden Gynäkologen um Rat zu fragen. Dieser Spezialist ist es schließlich gewohnt, auf – sagen wir mal – engstem Raum zu arbeiten, und hat für Probleme dieser Art auch die entsprechenden Instrumente.

Zehn Minuten musste die arme Frau Schmitz noch die Zähne zusammenbeißen. Dann kam das immer noch vergnügt surrende, lilafarbene Corpus Delicti wieder zum Vorschein. Die Batterie hat bis zum Ende durchgehalten. Ohne Frage ein Qualitätsprodukt. Frau Schmitz wollte das Ding trotzdem nicht wieder mit nach Hause nehmen.

Ich erinnere mich auch immer wieder gern an einen Mann, der sich mit einem wahrlich schmerzhaften Problem an uns wandte. In seinem Innersten steckte nämlich – unerreichbar für ihn – ein abgebrochener Klobürstenstiel. Er erzählte uns eine vogelwilde Geschichte, wie er beim Duschen auf der Seife ausgerutscht und aus der Wanne gefallen sei, bedauerlicherweise mit dem Hinterteil voran eben direkt auf besagte Klobürste. Ein bisschen viel Zufall. Diese lächerliche Geschichte glaubte er wohl selbst nicht.

Der Arzt hörte sich den ganzen Blödsinn kommentarlos und still lächelnd an, befreite den Mann problemlos von dem störenden Objekt und stellte dem Patienten ganz zum Schluss nur eine einzige Frage: »Eines sollten Sie mir aber schon noch erklären: Wieso war der Bürstenstiel eigentlich eingeseift?«

Notruf 112
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