Einsamkeit

Die Einsamkeit in der Großstadt ist eine weitverbreitete, überaus schmerzhafte Krankheit. Und ich frage mich oft, wie leer das Leben all der Menschen sein muss, die in einsamen Nächten die 112 wählen – nur um überhaupt mal wieder eine freundliche Stimme zu hören. Da muss dann eben die Spinne unterm Bett, die tröpfelnde Klospülung oder die kaputte Lampe als Vorwand herhalten. Die wenigsten Menschen haben wie ich das Glück, mit meiner Familie in der Geborgenheit und Gemeinschaft eines Drei-Generationen-Hauses in der Kleinstadt leben zu dürfen. Vielleicht habe ich gerade deshalb ein Herz für die Einsamen und nehme mir nach Möglichkeit auch gern ein wenig Zeit für meine »Kaffeekränzchen-Connections«, wie ich sie immer nenne. Seit ein paar Jahren sind übrigens speziell die Anrufe einsamer älterer Damen deutlich seltener geworden. Wo sind die alle hin? Verschollen in den unendlichen Weiten des Internets? Vielleicht. Eine andere Erklärung fällt mir jedenfalls nicht ein. Nicht, dass ich sie ernsthaft vermissen würde. Und doch haben sie mich oft zum Schmunzeln und immer auch zum Nachdenken gebracht. Kostproben gefällig?

Frau Schmid

»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«

»Grüß Gott, hier spricht Frau Schmid aus der Hansastraße. Ich habe ein Problem.«

Ihre Stimme klingt sehr klar und energisch, sie ist aber sicherlich schon deutlich jenseits der 70 Jahre.

»Wie können wir Ihnen denn helfen, Frau Schmid?«

»Es geht um meine Heizung!«

Ah ja. Das kann ja heiter werden.

»Sie brauchen also einen Klempner?«

»Nein, das nicht. Der Heizkörper ist nur so heiß. Ich kann nicht schlafen, wenn es so heiß ist.«

Ihre Stimme zittert empört. Will sie mich ärgern?

»Dann machen Sie den Heizkörper doch einfach aus.«

»Das will ich ja. Aber wie? Der Hausmeister geht auch nicht mehr ans Telefon.«

Nachts um ein Uhr ist das wohl auch kein Wunder. Und wieder zittert Frau Schmids Stimme ein bisschen empört in Anbetracht der unverzeihlichen Nachlässigkeit des Personals heutzutage.

»Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wissen nicht, wie Sie Ihren Heizkörper abdrehen sollen?«

»Genau. Ich bin schließlich schon 82 Jahre alt.«

Hab ich’s mir doch gedacht. Sie ist wohl ein bisschen durcheinander heute Nacht. Na schön. Überredet.

Es folgt also eine längere technische Telefonberatung. Und ich habe die liebe Frau Schmid im Verdacht, dass ihr unser Gespräch allmählich Spaß macht und sie sich absichtlich ein bisschen einfältig anstellt. Minuten später und unter dem Gelächter der Kollegen haben Frau Schmid und ich es dann geschafft, das glühende Objekt wie gewünscht auf null zu drehen. Um weiteren Dienstleistungswünschen zuvorzukommen, ist jetzt allerdings eine sanfte Belehrung fällig. Die Einsatzzentrale der Feuerwehr ist schließlich kein kostenloser Hand­werker­not­dienst – auch wenn früher übrigens alle Berufsfeuerwehrmänner einen Handwerksberuf erlernt haben mussten. Das war sogar eine Einstellungsvoraussetzung. Früher hatte man bei Einsätzen daher von jeder Sparte einen Kollegen dabei. Heute reichen auch alle anderen Berufsausbildungen. Und manchmal merkt man, dass das handwerkliche Geschick fehlt. Aber das ist ein ganz anderes Thema. Und Frau Schmid habe ich wohlweislich nichts von alledem verraten. Nicht dass die mir auf immer neue Ideen kommt.

»Also, Frau Schmid, dann ist ja jetzt alles in bester Ordnung und Sie können beruhigt zu Bett gehen, nicht wahr?«

»Vielen Dank, junger Mann. Sie haben mir sehr geholfen. Auf Wiederhören.«

Ich verkneife mir ein »Lieber nicht!«, sage stattdessen streng: »Gute Nacht!« und überlasse sie ihren Träumen.

Hunger

Bemerkenswert auch der Anruf dieser Frau, die ohne Umschweife im Morgengrauen sofort zum Punkt kommt.

»Mir ist so schlecht vor lauter Hunger. Und ich habe nichts zu essen daheim.«

»Na dann gehen Sie doch mal zum Bäcker. Der macht doch jetzt sicher gleich auf. Dort bekommen Sie bestimmt was Feines.«

Pause. Mir schwant schon Unheil. Was wird sie als Nächstes ausbrüten? Und dann überrascht sie mich.

»Das ist eine gute Idee«, sagt sie, bedankt sich höflich und legt auf!

Na so was. Das Leben kann so einfach sein …

Zeitansage

Das hier ist einer unser Klassiker.

»Zimmermann, guten Morgen! Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«

Ich könnte schon, aber ich will eigentlich nicht.

»Herr Zimmermann, Sie wissen schon, dass Sie den Notruf der Feuerwehr und des Rettungsdienstes blockieren? Wir sind hier eigentlich nicht die Zeitansage.«

»Ich weiß«, sagt er zerknirscht, »aber ich finde meine Brille einfach nicht und bin schon ganz durcheinander und ich möchte doch pünktlich …«

Schon gut, schon gut.

»Es ist 5.57 Uhr. Ist Ihnen damit gedient?«

»Oh vielen Dank. Es soll auch nicht wieder vorkommen.«

Das glaube ich ihm sogar. Und weiß doch, dass damit das Problem nicht gelöst ist. Denn jeden Tag rufen zwei bis drei Bürger in der Integrierten Leitstelle der Münchner Berufsfeuerwehr an, um sich nach der Uhrzeit zu erkundigen. Macht 30 Zeitansagen in zehn Tagen, 300 in 100 Tagen oder ungefähr 1000 Zeitansagen pro Jahr. Wir sollten Geld dafür nehmen. Das würde eine schöne Summe für einen guten Zweck ergeben.

Notruf 112
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