Dramatisches Rendezvous

Hoch über der Stadt den Blick über die nächtliche Stadt zu genießen – das scheint eine magische Anziehungskraft auf Verliebte auszuüben. Wir Feuerwehrleute kennen allerdings die Gefahren solcher nächtlicher Romantiktrips. Wohl keiner endete jedoch so dramatisch wie dieses Rendezvous hoch über den Dächern Schwabings, das uns an einem Sommerabend Arbeit ohne Ende bescherte und weit über das übliche Maß eines normalen Rettungseinsatzes hinausging.

Auf der Leopoldstraße flanieren an jenem warmen Freitagabend die Münchner und Touristen zu Tausenden über die berühmte Schwabinger Feiermeile mit ihren zahllosen Cafés und In-Lokalen. Zwei verknallte Studenten wollen sich die Sache jedoch lieber von oben ansehen. Julia (23) und Sven (25) klettern also in schönster Prosecco-laune über ein Baugerüst bis in den sechsten Stock eines sanierungsbedürftigen Bürohauses aus den 60er-Jahren. Auf der Suche nach einem halbwegs sauberen Sitzplatz finden die beiden eine flach gewölbte Lichtkuppel. Ein verräterisches Knacken hätte die beiden warnen können. Doch Julia und Sven haben nur Augen füreinander. Und dann tut sich plötzlich ein Abgrund unter ihnen auf, aber da gibt es schon kein Halten mehr …

Ich verstehe den Anrufer kaum, der in jener Nacht kurz vor Mitternacht am Notruftelefon ist. Er spricht leise und scheint massive Atemprobleme zu haben.

»Hallo? Feuerwehr? Wir brauchen Hilfe bitte.«

»Wer spricht denn da?«

»Röhriger, Sven. Bitte, wir liegen hier auf dem Boden. Meine Freundin sagt nichts mehr. Julia, sag was, bitte … Julia …«

Pause.

»Ich glaube, sie ist ohnmächtig. Ich weiß nicht genau, was los ist. Wir waren auf dem Dach. Und jetzt liegen wir in irgendeinem Raum. Ich sehe Fenster. Ich kann nicht aufstehen. Bitte holt uns. Wir sind verletzt … ich blute … Julia blutet …«

Die Handyortung schlägt ärgerlicherweise fehl, obwohl die Verbindung gut ist. Mit großer Mühe kann ich Sven Röhriger noch einige Bruchstücke entlocken. Was genau passiert ist, weiß er nicht mehr. Er erinnert sich aber an die Leopoldstraße. Ein Eckhaus. Ein Gerüst. Das Dach. Seine Freundin Julia. Ein schwarzes Loch. Ein harter Schlag. Offenbar ein Sturz. Er spricht immer abgehackter, die Pausen zwischen seinen kurzen Sätzen werden länger. Auf meine Fragen antwortet er plötzlich gar nicht mehr. Dann fällt das Handy scheppernd auf harten Boden. Die Verbindung bleibt bestehen, aber ich höre nichts mehr. Sven Röhriger scheint das Bewusstsein verloren zu haben …

Ab jetzt suchen wir zwei wahrscheinlich in Lebensgefahr schwebende Menschen, die auf irgendeine Weise in einem eingerüsteten Eckhaus von einem oder durch ein Dach gefallen sind. Und zwar auf einer der längsten Straßen Münchens – 3,6 Kilometer lang mit 25 Seitenstraßen. Oh Mann!

Kaum zu glauben, wie viele Häuser zufällig gerade eingerüstet sind. In jener Nacht werden sich die Nachtschwärmer wahrscheinlich ziemlich gewundert haben über die sieben Fahrzeuge inklusive Drehleiter und allerhand hektische Feuerwehrleute und Höhenretter, die wie die Äffchen in Windeseile hohe Gerüste stürmen, um kurz danach unverrichteter Dinge zur nächsten Baustelle zu rasen. Nach wenigen Minuten jedoch melden die Kollegen: »Zwei Verletzte gefunden! Beide nicht ansprechbar!«

Die Kollegen haben auf dem Dach die zerbrochene Lichtkuppel entdeckt und mit ihren starken Lampen durch das Loch in den Raum darunter geleuchtet. Julia und Sven liegen in einer Tiefe von etwa vier Metern auf dem nackten Boden inmitten von Scherben, Werkzeug und allerhand Baugerätschaften. Da beide überhaupt nicht mehr reagieren, schicken wir noch einen zweiten Notarzt hinterher.

Zu dem Zeitpunkt ahnen wir noch nicht, welch üble Überraschung dieses Haus noch für uns bereithält. Erst im Gebäude erkennen die Kollegen nämlich anhand der Beschilderung und der verdächtig abgedichteten Räume, dass es sich hier um eine Asbestbaustelle handelt! Diese unsichtbaren, nadelspitzen Mineralienfasern setzen sich in den Atemwegen und der Lunge fest und sind bekanntlich krebserregend. Das Material wurde früher nicht nur als Baustoff, sondern auch für Hitzeschutzkleidung verwendet. Das ist heute absolut unvorstellbar. Ohne Atemschutz und die orangefarbenen Einmalschutzanzüge, die über die Uniform gezogen und hinterher sofort als Sondermüll entsorgt werden müssen, darf kein Feuerwehrmann eine Asbestbaustelle betreten – auch nicht in einem absoluten Notfall wie diesem. Also alle Mann zurück. Umziehen ist angesagt.

Der Zeitverlust ist dennoch minimal, weil wir diese Schutzanzüge in allen Hilfeleistungslöschfahrzeugen mitführen. Binnen kürzester Frist werden die beiden schwerstverletzten Studenten nach draußen gebracht, sofort ärztlich versorgt und in die Schockräume verschiedener Kliniken eingeliefert.

In den Tagen danach haben wir uns in den Kliniken noch einmal erkundigt, wie es unserem verunglückten Liebespärchen ergangen ist. Julia ist noch in der Nacht notoperiert worden. Sie hat neben mehreren Knochenbrüchen auch innere Verletzungen erlitten. Sven hat sich die Schulter gebrochen und sich zusätzlich ein Schädel-Hirn-Trauma und eine massive Lungenprellung zugezogen. Sie haben es aber beide überlebt. Doch es war gefährlich knapp.

Eine Rekonstruktion des fatalen Unfalls ergab, dass die beiden rückwärts durch die brechende Lichtkuppel über vier Meter tief auf den Steinfußboden gestürzt waren. Sven fiel dabei in Teilen auf Julia und begrub sie unter sich. Es war ein Riesenglück, dass sein Handy diesen Sturz unversehrt überstanden hatte und er nicht gleich das Bewusstsein verlor. Andernfalls hätten die beiden vermutlich nur eine sehr geringe Überlebenschance gehabt.

In der Klinik konnte sich Sven später übrigens an nichts mehr erinnern – weder an den Absturz noch an das Gespräch mit mir. Totaler Blackout. Gar nicht so selten nach traumatischen Erlebnissen oder so schweren Unfällen.

Notruf 112
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