Der ehrenwerte Herr Feldmann

Ich glaube fest an das Gute in den Menschen. Könnte ich daran nicht mehr glauben, dann wollte ich hier nicht länger arbeiten. Und ich bin nach wie vor – allen Unkenrufen zum Trotz – fest davon überzeugt, dass die große Masse der Bürger dieser Stadt quer durch alle Generationen und Gesellschaftsschichten im Falle eines Notfalls nicht wegschauen würde. Nach meiner Erfahrung scheint es sich eher um große Unsicherheit zu handeln, wenn Menschen in Notsituationen falsch oder auch gar nicht reagieren: Ich weiß nicht, ob ich das kann. Mein Erste-Hilfe-Kurs ist schon so lange her. Was ist, wenn ich was falsch mache? Kann ich dann zur Verantwortung gezogen werden? Solche Fragen habe ich schon oft gehört und konnte diese Sorgen stets zerstreuen. Falsch ist nur, nichts zu unternehmen. Außerdem stehen wir den Laienhelfern, wenn nötig, auch am Telefon bei.

Die Ausnahme bestätigt aber bekanntlich die Regel. Und ausgerechnet solch ein Exemplar mit ausgeprägtem Gleichgültigkeitssyndrom kommt an einem trüben Winternachmittag als Erster zu einem schweren Unfall im Landkreis München.

Von der Stimme her schätze ich ihn auf etwa 60 Jahre. Typ hart arbeitender, erfolgreicher Manager oder Geschäftsmann. Erfolgsgewohnt. Selbstsicher. Beherrscht und kühl. Exzellentes Hochdeutsch. Der guten Gesprächsqualität nach zu urteilen, meldet er sich über die Freisprechanlage einer großen Limousine.

»Die Feuerwehr. Der Rettungsdienst. Grüß Gott!«

»Grüß Gott, Feldmann mein Name. Ich befinde mich auf der Bundesstraße 11 zwischen Baierbrunn und Schäftlarn. Kurz vor dem Ortseingang Schäftlarn hat sich ein roter Kleinwagen überschlagen. Er liegt neben der Straße auf dem Dach im Feld.«

»Brennt das Fahrzeug?«

»Nein. Jedenfalls hat es vorhin noch nicht gebrannt. Aber es lag jemand daneben. Das wollte ich Ihnen nur mitteilen.«

Beeindruckend präzise Beschreibung. Und trotzdem stört mich diese ungewöhnlich emotionslose Art, in der er einen Notruf absetzt. Im gleichen Ton würde er wohl Socken kaufen oder Rührei mit Speck und Tomaten bestellen.

»Wie viele Verletzte sind es? Können Sie Erste Hilfe leisten, Herr Feldmann?«

»Das ist schlechterdings unmöglich.«

Sage ich doch, komischer Typ.

»Wieso ist das nicht möglich?«

»Weil ich mich nicht mehr am Unfallort befinde.«

Bitte?? Kann es wirklich wahr sein, dass der Mann einfach weitergefahren ist? Ich spüre, dass mein Puls steigt, zwinge mich zur Ruhe, schicke nebenher einen Rettungswagen und die Polizei auf die Reise und verständige die Einsatzzentrale München-Land, die wiederum die nächstgelegene Freiwillige Feuerwehr informiert. Klingt ein bisschen umständlich und ist es auch. Aber so ist das in München nun mal geregelt.

Zurück zum Anrufer. Ich versuche krampfhaft, meine Stimme zu entschärfen.

»Es wäre sehr wichtig für uns, wenn Sie dort bleiben und uns einige Angaben über den Zustand der Patienten machen könnten, Herr Feldmann.«

»Es tut mir leid. Ich habe leider keine Zeit mehr. Ich habe Termine einzuhalten.«

Tief in meinem Inneren spüre ich diesen bösen kleinen Knoten aufsteigen, der jeden Moment explodieren kann. Was denkt sich der Mann eigentlich? Das hier ist doch kein Börsenspiel. Hier geht es um Menschenleben. Tief durchatmen. Nächster Versuch.

»Herr Feldmann, ich kann Sie natürlich nicht zwingen. Ich bitte Sie aber, am Unfallort zu bleiben. Wir sind bereits unterwegs. Sie müssten wirklich nicht lange warten.« Und setze den Satz im Geiste wütend fort: »Es könnten allerdings deine eleganten Straußenlederschuhe, dein Kaschmirmantel und deine manikürten Palmolive-Händchen schmutzig werden, du Blödmann.«

Und schon fange ich mir natürlich die nächste, gestochen scharf formulierte Abfuhr ein. In seiner Stimme klirren jetzt Eiszapfen: »Und ich sagte Ihnen bereits, dass ich Termine habe, die keinen Aufschub dulden. Ich habe meiner Bürgerpflicht Genüge getan und Sie informiert. Das muss Ihnen reichen. Ich kann und will das jetzt wirklich nicht mehr mit Ihnen diskutieren. Guten Tag.«

Gespräch beendet. Einfach aufgelegt. Gibt’s doch nicht!

Der Kollege nebenan signalisiert, dass bereits andere Autofahrer angehalten und Erste Hilfe geleistet haben. Der Patient war allein im Auto und ist schon wieder ansprechbar. Die Sache scheint also glimpflich abgelaufen zu sein.

Nachts liege ich mal wieder wach im Bett und frage mich, ob und wie der ehrenwerte Herr Feldmann überhaupt noch ruhig schlafen kann. Ich hätte größte Lust, ihn wegen unterlassener Hilfeleistung hinzuhängen, und weiß doch, dass das überhaupt keinen Sinn macht und juristisch wahrscheinlich auch nicht haltbar wäre. Immerhin hat er angerufen. Mehr war von diesem Mann, der es offensichtlich gewohnt ist, stets andere für sich arbeiten zu lassen, wohl nicht zu erwarten. Sind Egoismus und zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber den Nöten der anderen der Preis für unsere hektische Zeit? Gibt es wirklich Menschen, die es als Zumutung empfinden, ohne Gegenleistung Verantwortung für andere zu übernehmen? Ja, die gibt es leider. Er kann einem eigentlich nur leidtun, der ehrenwerte Herr Feldmann.

Notruf 112
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