18
Zum ersten Mal in den zwanzig Jahren, seit Saul Feldstein gestorben und ihr genügend Geld hinterlassen hatte, um nach Belieben in der Welt herumzureisen, hatte Stella auf einer Kreuzfahrt das Frühstück ausfallen lassen. Nachdem sie dieser Schurke gestern Abend beiseitegestoßen hatte und aus ihrer Kabine gestürmt war, hatte sie nur noch zusammengerollt auf dem Bett gelegen und gezittert.
Immer wieder hatte sie ihr Telefon in die Hand genommen, um dem Sicherheitsdienst den Überfall zu melden. Doch ebenso oft hatten sich warnend die feinen Härchen in ihrem Nacken aufgestellt. Es war jenes Gespür, das Saul Stellas sechsten Sinn genannt hatte, und sie hatte es noch niemals ignoriert.
Also tat sie nichts, bis die Sonne sich hinter dem Bullauge über dem morgenblauen Meer erhob und die Geräusche der Crew, die die Landung in St. Barts vorbereitete, das Schiff erfüllten. Dann zwang sie sich aufzustehen und die Sachen zu packen, die sie in Vanessas Kabine mitgebracht hatte. Sie würde bis zum letztmöglichen Moment warten, um in ihre eigene Kabine zurückzugehen. Was, wenn der Kerl dort auf sie wartete und ihr wieder Gewalt antun wollte?
Sie öffnete die Türen des kleinen Schranks und betrachtete die wenigen Sachen, die Vanessa nicht mitgenommen hatte. Auch in der Kommode lagen noch ein paar Dinge und im Badezimmer. Die Schifffahrtsgesellschaft würde die Kabine sicherlich ausräumen – aber was würde dann mit Vanessas Habe passieren?
Stella fand Vanessas Koffer, legte ihn offen auf das Bett und fing an, die Sachen einzupacken. Als sie Unterwäsche in das Seitenfach stopfte, fühlte sie eine Zeitschrift, die sie neugierig herauszog. Was hatte Vanessa wohl für Lesegewohnheiten?
Aber es war keine Zeitschrift, sondern eine Hochglanzbroschüre mit hellem, edel schimmerndem Cover in Gold, mit hervorgehobenen schwarzen Lettern: Razor Partners LLC. Alternative Asset Management.
Was auch immer dieses Finanzgeschwafel bedeuten sollte. Saul hatte ihr Geld immer bei der Bank aufbewahrt, und da hatte es sich bestens entwickelt. Sie blätterte ein paar Seiten um, überflog Begriffe wie »Mezzanine-Fonds« oder »Beratung bei Finanzrestrukturierungen«. Eine der letzten Seiten trug die Überschrift »Ihre Partner« und zeigte ein Foto von dem silberhaarigen Herrn, nach dem die Firma benannt war.
Sie blätterte weiter, um sich die anderen Fotos und Kurzbiografien anzusehen und beeilte sich, bis »P« zu kommen, um Vanessa zu finden.
Und da war sie – mit ihrem langen blonden Haar und der kantigen, schwarz gerandeten Brille. Ein hübsches Ding mit scharfen Zügen, fein modellierter Nase und breitem Lächeln. Stella hatte sie vom ersten Moment an gemocht. Sie hatte in der jungen Frau, die sich so schwer tat, eine Umarmung zu erwidern, eine innere Stärke entdeckt, die sie von sich selbst kannte. Als sie wahllos weiter durch die Broschüre blätterte, fiel ihr ein anderes Foto ins Auge.
Clive Easterbrook?
Unmöglich. Das war doch Jason! Das war der Mann, mit dem sie getanzt hatte und der gestern Abend weggerannt war, als sie ihn rufen sollte. Der Mann, den irgendjemand so verzweifelt haben wollte, dass er Stella mit einer Waffe bedrohte.
Ihr Instinkt hatte sie also nicht getrogen: Er hatte tatsächlich nach Vanessa gesucht. Kein Wunder, dass sie ihm vor deren Kabine in die Arme gelaufen war. Aber wenn er nach Vanessa suchte … dann konnte Vanessa ihn noch nicht gefunden haben.
Sie musste zum Kai. Unbedingt. Das hatte sie versprochen. Stella riss die letzten Kleider von den Bügeln, leerte die Kommodenschubladen und wischte die Sachen, die auf der Ablage im Bad standen, mit einem Schwung in die Kosmetiktasche. Dann sah sie sich noch einmal kurz im Raum um, nahm Koffer und Tasche und stieß die Tür auf.
Niemand zu sehen.
Unten in ihrer billigeren Kabine packte sie ihre eigenen Sachen zusammen, sprach Vanessa noch einmal auf die Mailbox, versteckte ihre ungewaschenen Haare unter ihrem Sonnenhut und ging dann auf das Deck, von dem die Transferboote ablegten. Unterwegs begegneten ihr lauter bekannte, freundliche Gesichter; sie hatte jede Gelegenheit genutzt, um Freundschaften zu schließen. Nur Jason – oder Clive – war nicht zu sehen.
Wie war er überhaupt an Bord gelangt? Die Crew hätte ihn ja kennen müssen. Andererseits war er zuvor schon einmal auf dem Schiff mitgefahren, vielleicht hatten sie ihn deshalb in irgendeinem Hafen zusteigen lassen.
Sie nahm das nächste Boot, und während sie mit den anderen Passagieren über Belanglosigkeiten plauderte, suchte sie mit den Augen die Decks nach seinem Gesicht ab.
Nachdem das Boot angelegt hatte, ließ sie sich an Land helfen. Ihr eigenes und Vanessas Gepäck in der Hand, stand sie auf den breiten Holzplanken am Eingang des Hafens von St. Gustavia und blinzelte in die Sonne, die die bis zum Fuß des Hügels reichenden rosa und pfirsichfarbenen Häuser mit goldenem Firnis überzog.
Sie zog die Koffer am Kai entlang und ließ ihren Blick prüfend über die Menschenmassen streifen. Nach dem Anlegen zweier großer Kreuzfahrtschiffe, die ihre Passagiere zu Landgängen entlassen hatten, und des Großseglers, auf dem sie gekommen war, der Valhalla, war die Stadt überfüllt mit Touristen.
Aber von einer großen Blondine mit Hornbrille war nichts zu sehen. Auch nicht von einem hochgewachsenen, dünnen Charmeur mit schütterem Haar.
Seufzend holte sie ihr Handy heraus und wählte Vanessas Nummer. Und tatsächlich: Mitten im Trubel des Hafens ertönte »Some Enchanted Evening«, digital, als Klingelton.
Vanessa war also doch da! Stella drückte sich das Telefon ans Ohr und drehte sich um, um nach ihr zu suchen. Vanessa hatte das Lied an dem Abend, als sie sich kennengelernt hatten, als Stellas individuellen Anrufton in ihr Handy programmiert, weil es aus Stellas Lieblingsmusical –
»Ja?«, antwortete eine männliche Stimme.
Stella war irritiert.
Ohne nachzudenken, klappte sie das Telefon zu. Ein Irrtum. Wahrscheinlich hatte sie sich vertippt oder nur eingebildet, sie hätte den South-Pacific-Song gehört.
Sie atmete tief durch und wählte erneut … wieder die gleichen Klänge. Sie wirbelte in Richtung der Quelle herum, spähte zwischen den Menschen hindurch und betete inständig dafür, Vanessa mit ihrem iPhone am Ohr zu entdecken. Doch da war nur ein breitschultriger Mann mit Baseball-Kappe, der in diesem Moment zufällig sein Handy aufklappte.
»Ja?«
Dieselbe Stimme.
Hatte dieser Mann Vanessas Telefon? Stella schlich sich durch die Menge, um einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen, doch er stand mit dem Rücken zu ihr.
»Wer ist da?«, fragte er.
Wer ist dort? – hätte sie am liebsten zurückgefragt. Stattdessen blieb sie stumm und wartete, bis er sich zur Seite drehte. Suchte er auch nach Vanessa? Er drückte eine Taste, und in Stellas Handy ertönte das Klicken eines beendeten Anrufs.
Sie beobachtete den Mann, der sich suchend umblickte.
Waren er und Vanessa zusammen gewesen, und er hatte sie verloren?
Eines stand fest: Der Typ war nicht Clive. Und er war auch nicht die Sahneschnitte, die im Hafen von St. Kitts nach Vanessa gefragt hatte, der mit den karibikblauen Augen und dem Südstaatenakzent, der jedes Mädchen meschugge machen würde. Nein, dieser Kerl hier hatte einen Stiernacken und fleischige Schultern.
Aber was viel wichtiger war: Er hatte Vanessas Telefon.
Flink für einen so großen Menschen schlängelte er sich durch die Menge und machte es Stella schwer, hinterherzukommen. Dennoch folgte sie ihm unbeirrt, trotz des unhandlichen Gepäcks, das sie hinter sich herziehen musste. Sie war fest entschlossen herauszufinden, was da los war. Vielleicht würde er sie sogar zu Vanessa führen.
Als er in den Schatten hinter ein paar Straßenständen trat, etwas abseits der Touristenflut, folgte sie ihm, zog jedoch ihren Hut ab. Sie wollte nicht, dass er sie bemerkte, ehe sie wusste, was um alles in der Welt er mit Vanessas Telefon vorhatte.
Sie versuchte, sein Gesicht zu sehen, doch er hatte die Kappe tief in die Stirn gezogen und trug eine Sonnenbrille. Zudem stand er jetzt im Schatten. Er stellte einen Fuß auf eine Holzbank, zog ein Handy heraus, klappte es auf und wählte.
Das war nicht Vanessas Gerät. Ein iPhone konnte man nicht aufklappen.
Mit neuem Mut zerrte Stella ihre Koffer um die Bank herum und setzte sich, was ihr einen gleichgültigen Blick von ihm einbrachte, den sie nicht zu erwidern wagte. Sie fächelte sich mit ihrem Hut Luft zu und gab ganz die unter der Hitze leidende alte Oma, die sie schließlich auch war.
Er wandte sich zum Sprechen ab, dennoch bekam sie halbwegs mit, was er sagte. »Sie ist nicht da.«
Der Typ suchte also auch nach Vanessa! Stella bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen, und neigte sich verstohlen ein wenig nach links, um besser hören zu können.
»Es muss jetzt endlich Schluss sein mit diesem Katz-und-Maus-Spiel. Sie könnte uns alles vermasseln. Machen Sie ihm ein Angebot: eine Million für jeden der beiden. Schauen Sie, was bei dem Blödmann wirklich zieht – Liebe oder Geld. Ich vermute mal, es wird das Geld sein, und er wird uns alle beide auf dem Silbertablett servieren. Aber bis wir sie und ihn haben, ist das Problem nicht gelöst.«
Sie und ihn? Vanessa? Wen sonst … Der Fremde hatte schließlich ihr Telefon, oder nicht?
Verstohlen fischte sie ihr Handy aus der Tasche und tippte sorgfältig Vanessas Nummer ein.
Sofort ertönte »Some Enchanted Evening« kaum einen halben Meter neben ihr. Der Typ förderte das iPhone zutage und beendete den Anrufton. Dann ging er zu einem Mülleimer, ließ es hineinfallen und steuerte auf den Taxistand am Ende des Kais zu.
Sich in fremder Leute Angelegenheiten einzumischen war schon immer eine dumme Marotte von Stella gewesen, aber sie war inzwischen zu alt, um daran etwas zu ändern. Sie ignorierte Sauls laute Warnung in ihrem Kopf und die aufgestellten Härchen in ihrem Nacken und folgte dem Mann. Auf dem Weg angelte sie Vanessas Telefon aus dem Abfall und steckte es in ihre Tasche.
Ein weiß eingedeckter Zweiertisch in einem Hotelrestaurant, das so hoch über dem Wasser lag, dass man eigens eine Gondel dafür gebaut hatte; die sanfte Meeresbrise trug leise Musik zu ihnen herüber, am samtschwarzen Himmel leuchteten die Sterne, die Karibische See lag im schwachen Schein der Mondsichel. Und Vanessa gegenüber saß ein wundervoller, aufmerksamer Mann, der sie mit zartem Hummerfleisch fütterte.
»Ganz schön romantisch, dieser Abend, wenn man bedenkt, was wir für einen Tag hatten«, sagte sie und nahm den nächsten Bissen. »Wenn ich nicht zehn Stunden lang von der Polizei verhört worden wäre, nicht schnell vor dem Abtransport den Leichnam eines Kunden hätte identifizieren müssen und nicht immer noch auf der Suche nach Clive wäre, würde ich sagen, das ist ein Spitzendate.«
»Da hat sich doch in diesem Bandwurmsatz glatt ein Kompliment versteckt«, sagte Wade lächelnd.
»Dafür war nicht ein schmutziges Wort drin.« Sie legte den Kopf schief. »Siehst du? Ich kann mich bessern, Billy Wade. Wann kommst du das nächste Mal nach New York?«
»Wenn ich den Job bei Bullet Catcher annehme, würde ich mich dort niederlassen. Ich könnte durchaus dort leben.«
Sie versuchte, den kleinen Stich zu ignorieren, den sie angesichts dieser Möglichkeit verspürte. Wenn er zu dieser Firma mit dem abstoßenden Namen Bullet Catcher ging, müsste er weiterhin seine Waffe tragen. Aber zumindest würde er mit seiner Arbeit Menschen beschützen, statt sie in Gefahr zu bringen.
»Meinst du, du nimmst den Job an?«
»Ich weiß es noch nicht. Der Vertrag ist bindend. Man kündigt nicht einfach bei Bullet Catcher.«
»Warum nicht?«
»Weil die Firma wie eine Familie ist. Und Lucy behandelt ihre Familie gut. Niemand will weg – also bleibt man, bis man gefeuert wird … oder stirbt.«
Beim letzten Wort verzog sie das Gesicht. »Bei Razor ist es auch so. Marcus sorgt dafür, dass die Arbeit so lukrativ und angenehm ist, dass keiner je weggeht.«
»Es sei denn, er wird gefeuert oder stirbt.«
Sie schloss die Augen und nahm einen ausgiebigen Schluck von ihrem Grey Goose.
»Weißt du«, sagte sie nach einer Weile, »es kommt mir wie ein kleines Wunder vor, dass man uns hier nicht länger festgehalten oder gleich ins Gefängnis gesteckt hat. Schließlich haben wir einen Mann mit einem Loch im Kopf gefunden, und du trägst eine Waffe bei dir.«
»Mich überrascht das nicht so. Der Detective war schlau, und er wusste, dass er froh sein kann, uns als Zeugen zu haben. Wenn wir den Helikopter nicht gesehen hätten, wäre ich – genauso wie die Polizei ursprünglich – davon ausgegangen, dass Vex Selbstmord begangen hat. Die ballistische Untersuchung wird vermutlich ergeben, dass der Schuss aus der Glock abgegeben wurde, die neben ihm lag. Und das Motiv liegt auch auf der Hand: Der Mann hat gerade in zwei Tagen über eine Milliarde Dollar verloren.«
»Ganz zu schweigen davon, dass seine Firma ein Produkt vertreibt, das krebserregend sein soll«, fügte sie hinzu. »Sein Ruf und seine Existenz standen auf dem Spiel – angesichts der Sammelklage gegen Vexell Industries.«
»Vor dem Hintergrund wäre ein Selbstmord mehr als denkbar.«
»Fragt sich dann nur, warum Clives Medikament und mein Handy verschwunden waren. Und was es mit dem Hubschrauber auf sich hat.«
»Es muss nicht sein, dass die Person im Helikopter Vex getötet hat«, gab Wade zu bedenken. »Menschenskind, Vex hätte ebenso gut das Zoloft einnehmen und die Flasche dann ins Meer werfen können, ehe er sich erschoss. Und dein Telefon könnte überall sein. Diese Polizisten waren kompetent, auch wenn sie sonst wahrscheinlich nicht oft mit solchen Fällen zu tun haben. Wir haben ihnen jede Menge Hinweise geliefert. Und für unsere eigene Angelegenheit war es sicher auch gut, dass wir ihnen ganz offen alles über Clive und das abgelegene Haus an der Ostküste der Insel erzählt und ihnen sogar die Zettelbotschaften gegeben haben. Wahrscheinlich haben sie drüben auf St. Kitts längst Gideon Bones in Gewahrsam genommen.«
»Aber wohin ist Clive gegangen? Inwiefern kann er alles noch schlimmer machen?«
Wade zuckte die Achseln. »Vielleicht mit dem Mord an Nicholas Vex. Auch Clive könnte in dem Helikopter gewesen sein, Vanessa.«
Sie schob ihren Teller weg. Mit einem Mal ließ sie das köstliche Essen kalt. »Aber wer hat ihm dann den Mord an Russell Winslow untergeschoben, und warum? Wir haben doch den Typ am Telefon gehört. Vielleicht schieben sie ihm auch noch Charlies Tod unter; deshalb kommen die Beweise erst jetzt zum Vorschein. Es ist alles manipuliert.«
Er blickte skeptisch drein. »Ich habe dir doch erzählt, was Lucy berichtet hat. Ihre Verbindungen zur New Yorker Polizei sind hervorragend. Clive hat sich an dem Tag, an dem sie starb, mit ihr gestritten. Und jemand hat ihn in ihrer Gegend – rund sechzig Blocks von seiner Wohnung entfernt – über die Straße rennen sehen.«
Sie straffte den Rücken. »Damit lässt sich noch kein Verbrechen beweisen.«
»Und doch gibt es Menschen«, sagte er bedeutungsschwer, »die aufgrund solcher Aussagen dreißig Jahre im Gefängnis saßen.«
Sie hob ihr Glas. »Schon kapiert.«
»Das Flugzeug ist bereits in Nevis gelandet, Vanessa. Wir können heute Abend noch nach South Carolina fliegen …« Er legte seine Hand auf ihre. »Oder wir warten noch eine Nacht und fliegen morgen.«
Sie warf ihm einen Blick zu, in den sie das ganze Ausmaß ihres Elends legte. »Weißt du, du hast deinen Teil des Deals noch nicht erfüllt.« Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch sie hielt beschwichtigend die Hand hoch. »Aber du hast wirklich dein Bestes gegeben. Außerdem, selbst wenn wir Clive gefunden hätten, würde er jetzt nicht hier bei uns sitzen und Gimlets mit uns trinken. Er wäre in Handschellen auf dem Weg nach New York.«
Er verflocht seine Finger mit ihren. »Ich habe Miranda Lang kennengelernt.«
»Ach.« Sie gab sich unbeteiligt, trotz des Prickelns in ihrem Bauch.
»Sie ist eine Wucht«, fuhr er fort, als hätte sie nach Einzelheiten gefragt. »Richtig klug. Und sie hatte keine Ahnung davon, dass sie adoptiert war. Adrien Fletcher musste sich offenbar alles Mögliche einfallen lassen, um ihr Tattoo zu finden, ohne dass sie es merkte.«
Vanessa beugte sich vor. »Was ist passiert?«
»Von allem etwas, nach dem, was Fletch erzählt hat. Aber du kannst sie morgen selbst fragen. Sie wird in South Carolina sein, um dich zu treffen, ebenso wie Fletch. Die beiden sind inzwischen unzertrennlich.«
Als sie nichts erwiderte, drückte Wade ihre Hand. »Vanessa, ich werde dich zu nichts zwingen oder an ein Versprechen binden. Du musst nichts tun, was du nicht willst. Dazu bist du mir viel zu wichtig.«
»Danke.« Sie zwinkerte ihm zu. »Da hat sich doch glatt auch ein Kompliment versteckt.«
»Mindestens eins. Ich bin jetzt auf deiner Seite. Wenn du nicht gehen willst, aus welchem Grund auch immer –«
Sie hob die Hand, und er verstummte. »Es gibt einen ganz konkreten Grund dafür.«
»Erzähl mir davon«, forderte er sie auf.
Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie tatsächlich den Drang, darüber zu reden.
»Weißt du noch, wie du mir erzählt hast, was der entscheidende Moment in deinem Leben war? Wie dir deine Eltern eine Waffe und eine Bibel in die Hand gedrückt haben? Tja, ich war ein bisschen älter, als es bei mir so weit war.«
Er wartete schweigend.
»Ich war knapp zehn«, fuhr sie fort. »Wir lebten in New York. Mein Dad hat mich, wenn er zu Hause war, nach Strich und Faden verwöhnt. Meine Mutter dagegen hat mir auf subtile Weise immer klargemacht, dass sie mich nicht liebte. Und dann geschah das Unvorstellbare.« Sie schloss die Augen und dachte an Mary Louise Porter, den seligen Ausdruck des Triumphes auf ihrem Gesicht, nachdem sie der Natur tatsächlich doch noch ein Schnippchen geschlagen hatte. »Sie wurde schwanger.«
Er beugte sich überrascht vor. »Dann hast du einen Bruder oder eine Schwester.«
»Nein.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Nein. Ich wurde krank. Sie war etwa im fünften Monat, da fing ich mir irgendeinen fiesen Bazillus in der Schule ein und bekam heftiges Fieber. Meine Mutter, meine Adoptivmutter, steckte sich an.«
Schuldgefühle wallten in ihr auf, so wie jedes Mal, wenn sie darüber sprach.
»Sie hat das Baby verloren. Ich hatte keine Ahnung, dass der Infekt das ausgelöst hat. Ich dachte einfach, das Baby sei gestorben, und war am Boden zerstört, weil ich so gern eine Schwester gehabt hätte, die ich mit Liebe überschütten wollte.
Eines Nachts hab ich sie gehört, es war einer von vielen endlosen Heulanfällen, die sie in diesen schrecklichen Nächten hatte. Ich wollte sie immer trösten, sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles gut werden würde. Aber jedes Mal, wenn ich es versucht habe, hat sie mich abgewiesen.« Ihre Stimme brach, und sie verfluchte sich im Stillen dafür.
Wade hörte aufmerksam zu, ohne eine Miene zu verziehen, und das war wesentlich tröstlicher, als wenn er ihr die Hand getätschelt oder beständig versichert hätte, wie unsinnig es sei, sich selbst die Schuld zu geben – so wie andere, denen sie diese Geschichte schon erzählt hatte.
»In der Nacht stand ich also auf und wollte zu ihr, weil ich sicher war, dass ich sie trösten könnte. Ich wollte ihre Tränen trocknen – dabei schien es immer noch schlimmer mit ihr zu sein, wenn ich in der Nähe war. Ich stand vor der Schlafzimmertür und hörte, wie sie meinen Vater vollheulte. Dann sagte sie: ›Wenn ich nicht irgend so ein Balg aufgezogen hätte, das du auf der Straße aufgelesen hast, hätte ich jetzt eine richtige Tochter.‹«
»So hast du erfahren, dass du adoptiert warst?«
Vanessa schüttelte den Kopf. »Ich wusste es schon sehr früh. Meine Mutter ließ keine Gelegenheit aus, mich daran zu erinnern, dass wir nicht vom selben Blut waren. Aber der Satz hat mich tief getroffen. Wenn es mich nicht gäbe, hätte sie eine richtige Tochter. Ein Kind, das leben würde, wenn ich nicht gewesen wäre.«
Er nahm zärtlich ihre Hand. »Lass es nicht zu, dass dieser Moment dein Leben bestimmt, Vanessa. Er ist nur eine böse Erinnerung.«
»Aber er hat mich geprägt. Ich habe dieses Baby getötet – das Kind, das eine Schwester und eine ›richtige‹ Tochter für meine Mutter hätte werden sollen. Von da an wollte ich niemanden mehr sehen, schon gar nicht meine Mutter. Da fing ich an, diese hier zu tragen …« Sie fasste an ihre Brille. »Und mir das Haar ins Gesicht fallen zu lassen.«
»Du wolltest dich verstecken.«
»Ich blieb für mich, bis sich meine Eltern rund sechs Jahre später schließlich scheiden ließen. Mein Dad kam auf die Idee, nach meiner leiblichen Mutter zu suchen. Ich denke, er hoffte, mich so aus meinem Kokon zu befreien.« Sie stieß ein verbittertes Lachen aus. »Leider hatte es den gegenteiligen Effekt. Es war nicht gerade förderlich für mein Selbstvertrauen, zu erfahren, dass meine Mutter kaltblütig eine Frau erschossen hat. Da hab ich mich sogar noch mehr versteckt.«
»Aber was hat sich seither verändert? Auf mich wirkst du sehr selbstbewusst.«
Jetzt musste sie lächeln. »Ich habe eben gelernt, zurechtzukommen; und mit meinem Vater als Vorbild habe ich beruflich viel erreicht. Ich habe viel Geld verdient und ein paar wenige Freunde gewonnen. Doch als mein Dad umkam, war der einzige Verwandte, der mich je in den Arm genommen hat … tja, ich …« Sie seufzte. Den Gedanken an Familie hatte sie längst aufgegeben. »Ich stürzte mich eben in die Arbeit.«
»Aber was hält dich davon ab, deine leibliche Mutter und deine beiden Schwestern kennenzulernen?«
»Du kannst das nicht verstehen – du mit deiner Mom und deinen Schwestern. Für dich ist nicht nachvollziehbar, was es heißt, wenn man das Gefühl hat, solche Familienbande gar nicht zu verdienen.«
»Du hast das Gefühl, du verdienst keine Liebe?«
Sie nahm ihr Glas und schenkte ihm ein knappes Lächeln. »Ich … ach, ich weiß auch nicht.« Sie blinzelte gegen die unwillkommene Feuchte in ihren Augen an.
»Das Gefühl kenne ich.« Er senkte den Blick. »Ich habe so einen Kampf auch ausgestanden.«
»Oh! Hallo!« Die fröhliche junge Stimme war so nah, dass Vanessa erschrocken zusammenzuckte. Die Unterbrechung dieses vertraulichen Moments kam so abrupt, dass sie fast schmerzte.
»Kennst du mich noch? Aus dem Papaya’s? Sarah?« Die Brünette zeigte Wade ihr schneeweißes Gebiss. »Hast du deinen Freund gefunden?«
Vanessa legte ihre Serviette auf den Tisch. Ihre Hände zitterten, als sie ihren Stuhl zurückschob. »Entschuldigst du mich bitte für einen Moment?«
Wade warf ihr einen misstrauischen Blick zu, ohne die junge Frau zu beachten, die ihn angesprochen hatte. »Nicht wieder durch das Fenster türmen, ja?«, bat er leise.
»Nein«, versicherte sie ihm. »Ich bin gleich wieder da.«
Vanessa hastete zur Damentoilette, die über den menschenleeren Vorraum zu erreichen war, in der Hoffnung, eine Tür hinter sich schließen zu können, ehe ihr die Tränen aus den Augen quollen.
In der leeren Toilette angekommen, stürmte sie sofort in die nächste Kabine und drückte ihr Gesicht gegen das kühle Metall der Tür. Sie hörte, wie sich die Außentür öffnete, ohne dass Absätze klapperten oder jemand eine Nachbarkabine betrat.
War Wade ihr gefolgt, um zu sehen, ob es ihr gut ging?
Sie atmete ein paar Mal tief durch und schob dann den Riegel zurück, um ihm entgegenzutreten.
Als sie die Tür öffnete, stand sie Gideon Bones gegenüber, der mit einer Pistole auf ihr Herz zielte. »Wiedersehen macht Freude, Ms Porter.«
Das Blut sackte ihr aus dem Kopf, doch sie erwiderte seinen Blick. »Was wollen Sie von mir?«
»Ihre Gesellschaft. Wir machen einen kleinen Ausflug. Kommen Sie.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe nirgendwohin.«
Er hob die Pistole, die kleiner war als Wades, aber mit Sicherheit genauso tödlich. »Oh doch. Sie werden genau das tun, was ich sage. Wir werden Seite an Seite hinausgehen, wie ein Liebespaar, das sich davonstiehlt.«
Fieberhaft ging sie ihre Möglichkeiten durch, ohne sich vom Fleck zu rühren. Sie könnte schreien, sich wehren, sich hinter der Kabinentür verschanzen …
»Im Hinausgehen wird diese Waffe auf Ihr Herz gerichtet sein, Ms Porter. Sie werden mir folgen.« Er fuchtelte mit der Pistole Richtung Tür. »Los.«
Sie machte ein paar Schritte auf die Tür zu, öffnete sie und blickte zögernd hinaus ins Restaurant. Die Terrasse war am anderen Ende des Raums; Wade konnte sie von dort aus nicht sehen. Wie lange würde sie den Mann hinhalten können?
Der kalte Lauf der Waffe und die heiße Hand, die sie hielt, wanderten ihren Rücken hoch und stießen sie unterhalb der Schulterblätter an. »Eine falsche Bewegung, und Sie sind tot.«
Binnen Sekunden waren sie draußen, und Vanessa hüpfte fast vor Freude, als sie sah, dass die Gondel gerade unten an den Klippen war. Sie würden mindestens zehn Minuten warten müssen, bis sie wieder oben war, und bis dahin würde Wade längst nach ihr sehen.
Doch der Hüne stieß sie an der oberen Station vorbei auf die dicken Bäume zu. Sie tat, als stolperte sie, um Zeit zu gewinnen, doch er zerrte sie einfach wieder auf die Beine.
Hinter ihr verließen Gäste das Restaurant; sie hörte Stimmen und Gelächter. Ob jemand bemerkt hatte, dass sie entführt worden war? Würde jemand hören, wenn sie schrie? Würde es der letzte Laut sein, den sie von sich gab?
Was würde Wade denken, wenn sie nicht zurückkam? Er würde ihr folgen. Ganz sicher. Es sei denn … er nahm an, sie sei wieder einmal davongelaufen.
Gideon stieß ihr den Waffenlauf ins Kreuz, und sie gehorchte dem stummen Befehl, hilflos vor Angst angesichts dieser rohen Gewalt. Er stieß sie tief zwischen die Bäume, und Vanessa keuchte unter der Anstrengung. Nur mühsam beherrschte sie den Drang, loszuschreien. Sekunden später waren sie mitten im Regenwald und außer Hörweite des Restaurants.
Der Boden war noch nass vom Regen und erinnerte sie an den Trip von heute Morgen mit Wade.
Diesmal befand sie sich allerdings in der Hand eines Verbrechers, und die Waffe, die er trug, diente nicht ihrem Schutz, sondern war dafür gedacht, sie zu töten.
Als sie auf dem schlammigen Untergrund ausglitt, zog Bones sie wieder hoch und stieß sie weiter durch die stockfinstere Wildnis. Zu hören war nur noch ihr ersticktes Atmen und das platschende Geräusch ihrer Sandalen im Schlamm. Es roch nach feuchter Erde, und in den Geruch des Dschungels mischte sich der des abgestandenen Zigarrenrauchs, der von ihrem Entführer ausging.
Nach gut zehn Minuten Fußmarsch hörte sie das Flappen von Rotorblättern. Die Bäume wurden lichter, dann öffnete sich vor ihr im Mondlicht eine freie Fläche. Da stand derselbe Helikopter, den sie schon bei Clives Hütte gesehen hatte! Und es war definitiv nicht derselbe wie der am Strand.
Gideon stieß sie vorwärts, und sie duckten sich beide reflexartig gegen die sirrenden Rotoren.
»Nein!«, brüllte sie und stemmte sich mit aller Kraft gegen seine Umklammerung. Vielleicht gab es doch noch einen Funken Hoffnung; wenn er sie hätte umbringen wollen, hätte er das im Wald längst tun können. Aber ganz offensichtlich brauchte er sie noch. »Ich werde nicht einsteigen! Ist mir egal, ob Sie mich erschießen!«
Wild entschlossen, auf keinen Fall mit ihm in diesen Helikopter zu steigen, versuchte sie, ihn zu treten, und wehrte sich mit Händen und Füßen.
Und dann – sie konnte es kaum glauben – ließ er ihren Arm los. Sie wirbelte herum und fiel, durch ihren eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht, auf die Knie. Schlamm quoll zwischen ihren Fingern hoch, als sie versuchte, so schnell wie möglich wieder auf die Füße zu kommen und loszurennen. In dem Moment öffnete sich die Hubschraubertür.
»Tu ihr nicht weh!«
Die Worte waren kaum zu hören unter dem dröhnenden Lärm der Rotoren und dem rauschenden Blut in ihren Ohren. Sie kam endlich auf die Beine und sprintete los.
»Vanessa!«
Wie vom Blitz getroffen blieb sie stehen und blickte sich um. In der Cockpitbeleuchtung zeichnete sich eine große, schmale Silhouette ab, die ihr bestens vertraut war.
»Mach, dass du hier reinkommst, Mädchen!«
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen oder schreien sollte. Und so legte sie nur die Hand auf den Mund und flüsterte: »Clive.«