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Drillinge. Drillinge? Zum zweiten Mal innerhalb eines Tages – verdammt, innerhalb einer Stunde – war Vanessa sprachlos. »Vor dreißig Jahren hat doch niemand Drillinge bekommen, oder?«
Wade lachte leise. »Oh doch, nur hat sich das damals erst bei der Geburt herausgestellt.«
»Wie kann es sein, dass ich nichts davon weiß?« Sie hatten umfassende Recherchen in Auftrag gegeben, ihr Vater und sie. Es konnte einfach nicht sein, dass einem der besten und teuersten Adoptionsermittler so ein entscheidendes Detail wie Es gibt da noch zwei Schwestern entgangen sein sollte.
»Davon wissen nur sehr wenige Menschen«, sagte er.
»Ach, tatsächlich, Sherlock Holmes. Wohin gehen wir eigentlich?«
»Sie sehen aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen«, meinte Wade, während er sie in dasselbe Lokal geleitete, in dem sie vor knapp zwei Stunden schon einmal gesessen hatte.
»Ich falle nicht in Ohnmacht«, gab sie zurück. »Wir haben fünfunddreißig Grad im Schatten, und Sie haben mir gerade den Boden unter den Füßen weggezogen. Das ist nichts weiter als eine … natürliche Reaktion.«
»Schon kapiert. Setzen wir uns doch hier in den Schatten unter diesen Sonnenschirm, bestellen uns was Kühles zu trinken und unterhalten uns ein bisschen, okay?«
Seine bevormundende Art machte sie rasend, doch der Vorschlag klang verlockend. Sie brauchte etwas Kühles – und Starkes –, um all das verarbeiten zu können, was passiert war, seit sie von Bord gegangen war.
»Zwei Mineralwasser mit Eis«, sagte Wade zu der Bedienung.
»Und einen Wodka-Tonic«, fügte Vanessa hinzu. »Aber lassen Sie das Tonicwasser weg. Und die Limette auch.«
Sein Mund hob sich zu einem halben Lächeln. »Sie trinken genauso wie Sie reden und wie Sie gehen. Taff.«
»Ich hasse Limetten und Tonic.« Und Sie. Sie verschränkte die Arme. »Ich würde gern Beweise sehen.«
»Etwas Schriftliches existiert nicht wirklich.«
Sie schlug mit den Händen auf die Tischplatte und schob ihren Stuhl zurück. »Mir war gleich klar, dass das hier ein Riesenschwindel ist.«
»Aber ein Foto habe ich.« Er legte das Bild auf den Tisch.
Das war wenigstens mal was Neues. Zum ersten Mal in drei Tagen bekam sie ein Foto vorgelegt und nicht umgekehrt. Am liebsten hätte sie ihm weiterhin die kalte Schulter gezeigt, doch die Neugier war stärker. Sie warf einen Blick auf das Bild und rechnete – in banger Erwartung – damit, sich selbst in dem fremden Konterfei wiederzuerkennen.
»Oh«, machte sie überrascht. »Sie ist wunderschön.« Sie schob das Foto in seine Richtung. »Aber sie sieht mir überhaupt nicht ähnlich.«
»Sie sind auch sehr schön.« Er schob es ihr wieder entgegen.
»Danke, aber ich bin blond – und zwar echt –, mein Gesicht ist länger, mein Mund breiter, und meine Augen haben eine andere Form.« Unwillkürlich musste sie aber dennoch wieder hinsehen. »Sie sieht so … zart aus.« Gertenschlank und zerbrechlich, keine Brille, kein Busen.
Sie sah ihr wirklich überhaupt nicht ähnlich.
»Wir sehen nicht mal entfernt verwandt aus.« Sie gab dem Foto einen schwungvollen Stoß.
»Drillinge sind nicht immer eineiig«, sagte Wade. »Manchmal sind zwei eineiig, und der dritte stammt aus einem anderen Ei. Das könnte erklären, warum Sie sich wenig ähnlich sehen, und es könnte dafür sprechen, dass Sie eine geeignete Knochenmarkspenderin sind – im Gegensatz zu Ihrer Schwester.«
»Sie ist keine …?« Die Auskunft traf sie hart. Wenn diese angebliche Schwester ihr Mark hätte spenden können, hätte Eileen Stafford dann überhaupt jemals nach ihr suchen lassen? Natürlich nicht. Wie sehr sie diese Frau hasste.
Sie wandte sich zur Theke und hob mit einer Hand ihr Haar, um eine nicht vorhandene Brise an ihren erhitzten Nacken zu lassen. »Wo bleibt mein Wodka?« Das war alles so furchtbar und so kompliziert und so überhaupt nicht das, was sie auf St. Kitts hatte tun wollen – oder irgendwo sonst.
Wade schob ihr das Foto mit einem Ausdruck letzter Hoffnung wieder entgegen, wie ein Spieler, der eine leidlich gute Karte ausspielt, weil ja immer die Möglichkeit besteht, dass der andere ein noch schlechteres Blatt auf der Hand hat.
»Sie heißt Dr. Miranda Lang.«
In Vanessa löste sich etwas. Miranda.
Es war ihr egal, wie diese Frau hieß. Es war ihr völlig egal. Kapierte er das nicht?
»Was ist sie für ein Doktor?«, fragte sie so beiläufig, dass es nur nach Smalltalk klingen konnte.
»Für Anthropologie. Sie hat ein Buch geschrieben, das einiges Medieninteresse hervorgerufen hat, über den Maya-Kalender und den Mythos, dass die Welt 2012 untergehen soll. Haben Sie davon gehört?«
Sie hob gleichgültig eine Schulter. »Solange es sich nicht auf den Geldmarkt oder den Dow-Jones-Index ausgewirkt oder sieben- bis achtstellige Gewinne generiert hat – nein.« Sie fächelte sich Luft in den Nacken. Die Hitze lag schwer auf ihrer Brust. Zumindest meinte sie, die Hitze müsste schuld an dem Druckgefühl sein.
Schließlich wurde ein Tablett mit Getränken auf ihren Tisch gestellt.
»Danke, wurde auch Zeit«, murmelte Vanessa, und ihr Blick glitt über den heiß ersehnten Wodka, um an dem irgendwie verstörenden Bild hängen zu bleiben.
Kastanienbraune Locken, breites Lächeln, hübsches Gesicht. Eine schöne und offenbar auch noch kluge Frau. Eine Anthropologin.
Sie nahm das eiskalte Glas und fischte die verflixte Limette heraus. »Das ist ganz offensichtlich ein Missverständnis. Tut mir leid, wenn ich die Dame enttäuschen muss. Aber mein Vater und ich haben umfassende Recherchen angestellt und sind nirgends auf Schwestern gestoßen.«
Sie setzte das kalte Glas an die Lippen.
»Ich habe noch ein Foto.«
Vanessa trank nicht. Sie konnte nicht. Stattdessen verfolgte sie, wie er in seine Brieftasche griff und ein zweites Bild herauszog. Am liebsten hätte sie ihn angestoßen, damit er schneller machte und diese ganze Scheiße endlich vorbei wäre. Doch es war einfacher, ihm dabei zuzusehen, wie er mit seinen unglaublich männlichen Händen nach etwas suchte, das sie gar nicht sehen wollte. Schöne Hände, erotische Finger, aber schlechte Nachrichten.
»Ich denke, das hier dürfte Sie wirklich interessieren.« Er warf ihr einen brennenden Blick zu, der als Warnung gedacht sein mochte oder auch als etwas anderes. Es war schwer, diesen Mann zu durchschauen, zu sehen, was sich hinter diesen Augen und der attraktiven Fassade verbarg.
Hatte Eileen das bewusst so gemacht? Schickt einen Typ, dem sie nicht widerstehen kann. Ich brauche unbedingt das Knochenmark. Ihr Magen ballte sich zusammen, und sie legte das kalte Glas an ihre Wange.
»Dieses Foto«, erklärte Wade mit einer Stimme, die ebenso beherrscht war wie seine Bewegungen, »zeigt Mirandas Nacken.«
Als sie nach Luft schnappte, schwappte Wodka über den Glasrand. Nein, bitte nicht. Nicht auch noch das.
»Diese Stelle hier.« Er legte ihr die Hand in den Nacken und beschrieb mit einer Fingerspitze einen winzigen Kreis, sodass ihr Millionen kleine Härchen zu Berge standen und Schauder über den Rücken jagten.
»Sie hat genau hier ein Tattoo. Alle drei Babys bekamen hier eins. Sie haben auch eins, nicht wahr?«
Das Glas glitt ihr aus der Hand und prallte am Tischrand ab, wodurch sich der Wodka mitsamt dem Eis über ihre Shorts und Beine ergoss.
Sie schob sich vom Tisch weg und wischte sich energischer ab, als es hätte sein müssen. »Wissen Sie was? Sie können mich mal.«
Er griff sofort nach einer Serviette und begann ihre nassen Schenkel zu trocknen. Seine Hand fühlte sich heiß an auf ihrer Haut, und sie zuckte zurück, um dann aufzustehen.
Er sah zu ihr hoch. »Ich deute das als Ja, was das Tattoo angeht.«
»Dann liegen Sie falsch.« Sie entriss ihm die Serviette und verfluchte sich im Stillen dafür, dass sie verunsichert, ja fast hysterisch klang. Aber was sollte sie machen? Es kostete sie ihre ganze Kraft, um nicht laut aufzuschluchzen. »Ich finde es schrecklich. Ich finde es einfach unfassbar …« Welche Gefühle Sie in mir auslösen. Sie schlug mit der Serviette nach dem Bild, einer klinisch aussehenden Nahaufnahme eines weiblichen Hinterkopfes mit hochgenommenem Haar über einem kleinen schwarzen Mal nahe dem Haaransatz. »Oh mein Gott.« Sie beugte sich herab und schob die Brille näher an ihre Augen. »Heißt das ›hi‹?«
»Miranda meint, es seien die Ziffern eins und vier – auf den Kopf gedreht sieht das wie ›hi‹ aus.« Er drehte das Bild. »Und Sie sagen, Sie haben kein solches Mal?«
»Allerdings.« Jedenfalls nicht mehr seit der Laserentfernung. »Zum Glück. Mit einer Mörderin will ich nichts zu tun haben.«
»Das verstehe ich. Andererseits …« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Manche glauben, dass das Verfahren nicht fair war und sie für ein Verbrechen sitzt, das sie nicht begangen hat.«
Keine Chance. »Ich habe genug darüber gelesen, um zu wissen, dass sie bis zum Schluss die Aussage verweigert hat, dass die Waffe in ihrem Besitz war und dass sie auf die Frau, die sie erschossen hat, eifersüchtig war. Das sind alles ziemlich belastende Momente.«
Er zuckte mit der Schulter. »Jede Geschichte hat zwei Seiten. Also, haben Sie so ein Tattoo?«
»Nein.« Zur Hölle mit ihm. Zur Hölle mit dieser schrecklichen Frau. Zur Hölle mit dieser ganzen Situation.
»Sicher?«, hakte er nach. »Es ist eine Stelle, die Sie selbst gar nicht richtig sehen können.«
»Ich bin sicher.« Sicher, dass sie eine blasse rote Narbe hatte, die er im Licht der Sonne erkennen würde. Sicher, dass diese Narbe nicht im Mindesten an das Mal auf dem Bild erinnerte. Und verdammt sicher, dass sie mit all dem hier gerade schwer überfordert war.
Sie wollte Clive finden, zurück in ihre vertraute Umgebung nach New York, zurück in die bequeme Überschaubarkeit ihres Büros bei Razor Partners. Vielleicht könnte sie dort, in dem schützenden Kokon, den sie um sich gebildet hatte, nachdem ihre Mutter sich aus dem Staub gemacht hatte und ihr Vater getötet worden war, in aller Ruhe überlegen, wie sie vorgehen sollte. Aber nicht hier, wo sie der erbarmungslosen Sonne ebenso hilflos ausgesetzt war wie diesem erbarmungslosen Kerl, der einen eigenen Plan verfolgte.
Der Wodka lief wie eine Träne an ihrem Schenkel entlang.
»Würden Sie mich bitte entschuldigen?«, sagte sie so ruhig, als säße sie in einer Übernahmeverhandlung und hätte gerade beschlossen, ihre Strategie zu wechseln. »Ich würde mir das gern abwaschen.«
»Klar. Ich bestelle Ihnen einen neuen.«
»Danke«, erwiderte sie und griff nach dem Schulterriemen ihrer Handtasche.
Wade stand auf und deutete auf den hinteren Bereich des Restaurants. »Ich werde auf Sie warten.«
Er blieb so lange stehen, bis sie gegangen war. Ein echter Südstaaten-Gentleman. Superattraktiv, superhöflich und im Gepäck jede Menge Neuigkeiten, auf die sie liebend gern verzichtet hätte.
Sie ging um die Theke herum und sah den Barmann fragend an. »Die Toiletten?«
Er deutete mit dem Daumen in einen Flur hinter der Theke. In dem schwach beleuchteten Durchgang war es wesentlich kühler als draußen. Als sie den Türknauf ergriff, spürte sie, wie eine schweißfeuchte Hand sie am Oberarm packte und sie herumriss, sodass sie vor Schreck aufkeuchte.
Beinahe rechnete sie damit, in kristallblaue Augen zu sehen, doch der Blick, der sie traf, war dunkel und blutunterlaufen und maß sie aus tief liegenden Höhlen.
»Was wollen Sie?«, fragte sie und entwand sich dem kraftlosen Griff des dünnen jungen Latinos.
»Für Sie.« Er drückte ihr ein mehrfach gefaltetes Stück Papier in die Hand. »Von einem Freund von Clive«, sagte er und verschwand hinaus ins Sonnenlicht. Zurück blieb der Geruch von Haschisch.
Mit klopfendem Herzen drehte sie den Zettel in der Hand. Ein Freund von Clive?
Sie drückte die WC-Tür mit der Schulter auf und betrat einen schmuddeligen Raum mit einer gelb verkrusteten Toilettenschüssel und einem billigen Waschbecken. Einzige Lichtquelle war ein Außenfenster über dem Becken. Nachdem sie die Tür verriegelt hatte, faltete sie das Papier auf.
Der Mann, den du suchst, ist auf Nevis.
Nevis? Clive war auf Nevis? Das war wie weit entfernt – vielleicht sieben Meilen? Mehrere Teilnehmer ihrer Kreuzfahrt hatten heute die Fähre genommen, um von St. Kitts aus die Nachbarinsel zu besuchen.
Wer hatte ihr diese Nachricht geschickt?
Und – viel wichtiger noch – sollte sie darauf eingehen? Hatte sie überhaupt genügend Zeit, um eine weitere Insel zu besuchen, ehe das Schiff wieder ablegte?
Um die Kreuzfahrt ging es ihr ohnehin nicht. Die war ihr so was von egal. Sie wollte nur Clive finden, jetzt, da sie plötzlich selbst im Schlamassel steckte, dringender denn je. Er würde diese Geschichte sicherlich mit einer lässigen Handbewegung beiseiteschieben. Darin war er richtig gut. Zumindest solange er sein Zoloft nahm.
Sobald sie Clive gefunden hätte, würde sie ihn aus seiner wie auch immer gearteten Lebenskrise oder gescheiterten Liebesaffäre retten, und dann würde er ihr bei ihrem Problem helfen. Er würde wissen, wie sie dieser Wendung ihres Schicksals begegnen sollte.
Ihr Hirn raste, während sie ihre nächsten Schritte plante.
Sie könnte zurück zum Schiff rennen, schnell eine Tasche packen und nach Nevis übersetzen. Nachdem sie Clive gefunden hätte, könnte sie ihre Sachen nach New York zurückschicken lassen, oder – falls es sich nur um ein oder zwei Tage handelte – sie würden einfach dem Schiff zum nächsten Etappenhafen folgen.
Ja – das war ein realistischer Plan. Nevis war eine Miniinsel, und die Schwulenszene war dort mit Sicherheit ziemlich überschaubar. Es würde nicht lange dauern, Clive ausfindig zu machen.
Sie betastete das Papier. Der Mann, den du suchst, ist auf Nevis.
Zwei kryptische Botschaften an einem Tag. Diese hier und: Nimm dich in 8!
Welcher sollte sie glauben? Der von Clives Handy oder der, die aus dem Nichts gekommen war? Und was war mit dem Fremden, der da draußen auf sie wartete und ihr die schlimmste aller Neuigkeiten überbracht hatte?
Wenn sie zu viel Zeit mit Wade Cordell verbrachte, würde er sie irgendwann mit seinen unglaublich blauen Augen, den maskulinen Händen und seinem Südstaaten-Charme weichklopfen. Ganz behutsam und gentlemanlike würde er sie so lange bearbeiten, bis sie Ja sagte.
War es nicht das, was sie in Wahrheit wollte?
Nein. Nein! Sie hatte Clive wesentlich mehr zu verdanken als Eileen Stafford.
Sie besah sich die verschmierte Platte um das Waschbecken herum, kniete sich darauf, schob das Fenster hoch und spähte durch die Öffnung in die Seitengasse hinaus. Ein rascher Sprung, und sie wäre weg. Wade würde wahrscheinlich noch mindestens zehn Minuten warten, bis er nach ihr sah. Bevor er etwas merkte, wäre sie längst auf dem Weg zurück zum Schiff.
Die Handtasche über der Schulter, kletterte sie durch das Fenster, sprang hinaus und rannte ohne Unterbrechung bis Port Zante.
»Sie ist auf und davon«, sagte Adrien Fletcher, und in seinem australischen Akzent schwangen Enttäuschung und Empörung mit.
»Sie ist bitte was?« Jack Culver stellte seinen Kaffeebecher unsanft ab.
»Er hatte sie, hat’s ihr gesagt und sie dann verloren. Das Tattoo hat er gar nicht zu Gesicht bekommen.« Fletch klappte sein Handy zu. »Wade meinte, sie sei durch ein Toilettenfenster entwischt.«
»Autsch, das tut weh.« Jack nahm einen Schluck von dem kalten entkoffeinierten Kaffee, an dem er schon saß, seit sie hier in der Krankenhaus-Cafeteria auf Miranda warteten. »Will sie denn ihre Mutter und ihre Schwester nicht kennenlernen? Warum sollte sie denn davonlaufen?«
Fletch sah ihn fassungslos an. »Was meinst du wohl, was Miranda gemacht hat, als ich mit der gleichen Botschaft in Kalifornien aufgetaucht bin?«
»Sich auf der Stelle in dich verliebt?«
»Abgesehen davon.« Er grinste schelmisch und sah dabei voll und ganz aus wie der geschmeidige Rugby-Spieler, der er war. »Sie ist geflohen wie ein angeschossenes Känguru, obwohl sie von den Schwestern noch gar nichts wusste. Ich weiß, dass das hier eine große Sache für dich ist, Kumpel. Ich weiß, dass du dran bist, seit du Eileen Stafford kennst, und dass du dir in den Kopf gesetzt hast, ihre Töchter für sie zu finden. Aber versetz dich doch mal in die Mädchen. Es ist nicht einfach zu verarbeiten, dass die eigene Mutter eine Mörderin ist, die im Sterben liegt und auf eine Knochenmarkspende hofft.« Er warf sein langes Haar zurück und fing an, sein Handy auf dem Tisch zu drehen. »Und glaub mir, es ist auch nicht einfach derjenige zu sein, der die Nachricht überbringt.«
»Die möglicherweise eine Mörderin ist«, korrigierte Jack, als hätte er den ganzen Rest von Fletchs kleiner Ansprache gar nicht gehört. »Ich habe in den letzten Monaten intensiv in der Vergangenheit gewühlt und haarsträubende Unstimmigkeiten in dem Verfahren festgestellt. Das Ganze ist vielleicht schon dreißig Jahre her, aber unser Rechtswesen hat sich nicht sehr verändert. Eileen Stafford hat keinen fairen Prozess bekommen.«
»Warum hat sie sich dann so passiv verhalten?« Fletch lehnte sich in seinem Plastikstuhl zurück und verschränkte seine muskulösen Arme. »Warum hat sie nicht ausgesagt? Auf der Waffe waren nicht ihre Fingerabdrücke, sondern die einer anderen Person – jemand, der nie identifiziert wurde. Sie hatte keine Schmauchspuren an der Kleidung, und ihr Motiv war absolut erbärmlich. Also – warum hatte sie keine Verteidigungsstrategie?«
Jack nahm seine Tasse und stellte sie dann wieder ab. Er hätte jetzt sein rechtes Ei für ein Bier gegeben, doch Fletch als selbst ernannter Sittenwächter und Sohn eines Alkoholikers hätte das nie zugelassen.
»Seit ich sie zum ersten Mal – in einer ganz anderen Sache – befragt habe und schließlich an diesen Fall geriet, hat sie das Gleiche gesagt: ›Er ist zu allem fähig.‹«
»Und was bedeutet das deiner Meinung nach?«
»Dass es irgendjemanden auf dieser Welt gibt, vor dem Eileen eine Heidenangst hat.«
»Die Frau liegt im Koma und hat nicht mehr lange zu leben – ich denke nicht, dass die noch vor irgendjemand Angst hat.«
An der Stelle irrte Fletch. Jack hatte in den letzten Monaten ausgiebig mit Eileen gesprochen, und zwei Dinge waren in ihren Gesprächen immer wiedergekehrt. Sie hatte vor jemandem Angst, und sie wollte nicht sagen, wer der Vater ihrer Kinder war.
»Was mich am meisten interessieren würde«, sagte er, halb zu sich selbst. »Wer ist der Erzeuger der Drillinge?«
»Mach dir keine allzu großen Hoffnungen«, wiegelte Fletch ab. »Dieses Farmhaus am Sapphire Trail hatte eine lausige Buchführung, und Lucy stehen praktisch unbegrenzte Ermittungsmöglichkeiten zur Verfügung. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, wer der Vater ist.«
Jack war lange genug bei Bullet Catcher gewesen, um zu wissen, dass Lucy Sharpe nahezu alles schier unbegrenzt zur Verfügung stand. Es war einer der Punkte, die er am meisten vermisste, seit er nicht mehr dabei war. Einer von vielen.
»Vielleicht gibt es irgendwo anders einen Vermerk«, sagte Jack.
Fletch schüttelte den Kopf. »Glaub mir, während du unterwegs warst, um die anderen Schwestern zu finden, haben Miranda und ich überall nach Hinweisen gesucht. Sie möchte schließlich auch wissen, wer ihr leiblicher Vater ist.«
Jack sah seinen Freund durchdringend an, während er überlegte, wie viel er von seinem Wissen preisgeben sollte. Er vertraute Fletch, aber konnte er sich darauf verlassen, dass er Miranda nichts erzählte? Oder, noch schlimmer, Lucy?
Aber es ging nicht anders. »Ich denke«, sagte er und beugte sich vor, um die Stimme zu senken, »ich denke, die Antwort liegt in den Tattoos.«
Fletchs bernsteinfarbene Augen standen voller Zweifel, während er auf Jacks Erläuterungen wartete.
»Aber ich muss erst die anderen sehen, ehe ich sicher sein und irgendeine Theorie entwickeln kann«, fuhr Jack fort.
»Wir werden sie schon noch zu Gesicht bekommen. Wade wird Vanessa wieder einfangen. Lucy hält große Stücke auf ihn.«
Jack schnaubte. »Wenn du mich fragst, hat er den Bullet-Catcher-Einstellungstest gerade verhauen.«
»Ich habe dich nicht gefragt. Erzähl weiter von den Tattoos. Ist das etwas, das Eileen dir gesagt hat, oder mehr Spekulation?«
»Nichts, was sie konkret gesagt hat, dafür viel Spekulation. Nachdem ich Mirandas Tattoo gesehen hatte, habe ich sämtliche Verfahrensprotokolle und Zeitungsartikel über den Mord an Wanda Sloane durchgearbeitet, auf der Suche nach irgendetwas oder jemandem im Zusammenhang mit den Buchstaben H und I.«
Fletchs Brauen hoben sich interessiert. »Du meinst, die Buchstaben sind Initialen? Das ist brillant, Kumpel. Gibt es denn niemanden mehr aus der damaligen Zeit, mit dem du sprechen könntest? Was ist mit dem Cop, der sie festgenommen hat? Du hast doch schon mit ihm geredet, oder? Hast du ihm von deiner Theorie erzählt?«
Willie Gilbert wäre der Letzte, den Jack ins Vertrauen ziehen würde. »Ich war selbst Cop, und ich hatte schon immer einen guten Riecher für falsche Fuffziger. Willie Gilbert gehört dazu.«
»Er ist pensioniert.«
»Ja, und er lebt besser als jeder andere pensionierte Cop, den ich kenne. Von seiner Pension allein jedenfalls könnte er es sich nicht leisten, in einer schicken Residenz zu wohnen und täglich golfen zu gehen.«
Fletch nickte bedächtig.
»Ich habe einen besseren Kontakt«, fuhr Jack fort. »Erinnerst du dich noch an die Hebamme, Rebecca Aubry, die die Tätowierungen gemacht hat? Sie hat mich auf die Whitakers in Virginia gebracht. Ich werde noch mal mit ihr reden. Allerdings muss ich mir gut überlegen, wie ich etwas aus ihr herausbekomme.«
»Deine übliche Methode wird wohl bei einer Frau über siebzig nicht mehr ganz so gut funktionieren.«
Jack lächelte. »Ich glaube, dass sie mit einem der Mädchen Kontakt hält. Deshalb wollte sie auch unbedingt das Foto, das ich aus dem Archiv des Charlestoner Lokalblatts hatte, auf dem sie bei Eileens Prozess zu sehen ist, mit einem Baby auf dem Arm. Wenn ich ihr erzähle, dass ich eine, vielleicht sogar zwei Schwestern gefunden habe, wird sie bestimmt reden. Allerdings ist sie schon seit Wochen nicht mehr zu Hause gewesen.«
»Was ist deine Theorie? Hat sie den Mädchen die Initialen des Vaters tätowiert?«
»Vielleicht auch den Geburtstag. Irgendetwas in der Art. Als ich Rebecca zum ersten Mal traf, erzählte sie mir, dass es gar nicht so unüblich sei, Schwarzmarktbabys zu tätowieren. Es sei eine Möglichkeit für die Mütter, ihre Kinder zu markieren, die sie womöglich nie wiedersehen, weil es keine amtlichen Einträge gibt.«
»Das Zeichen könnte sich also auch auf die Mutter beziehen statt auf den Vater«, sagte Fletch.
»Schon möglich.« Jack schob seinen endgültig kalt gewordenen Kaffee zur Seite und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Fletch, was, wenn es der Vater der Drillinge war, der Wanda Sloane umgebracht hat?«
Fletchs Brauen schossen nach oben.
»Nur mal angenommen …«, fuhr Jack fort, »ihre letzten Worte, bevor sie ins Koma sank, waren: ›Er ist zu allem fähig.‹ Ich hatte von Beginn an den Verdacht, dass sie schweigt, um ihre Kinder zu schützen. Nun, wer würde Eileens Geheimnis besser kennen als der Vater ihrer Kinder?«
»Das wäre nicht unmöglich«, sagte Fletch und strich sich über das goldfarbene Kinnbärtchen unter seiner Lippe. »Aber das Timing passt nicht. Sie hat die Babys im Juli 1977 zur Welt gebracht, und sie wurden gleich nach der Geburt tätowiert und verkauft, oder? Das heißt, sie bekamen die Tattoos acht Monate bevor Wanda Sloane getötet wurde. Warum hätte sie das tun sollen? Scheint mir ziemlich weit hergeholt, da einen Zusammenhang zu sehen.«
»Mir scheint es eher dumm, keinen zu sehen.«
Fletch grinste. »Ich habe dich schon immer für einen Weltklasse-Ermittler gehalten.«
»Wenn sie wach wäre, würde ich es ihr auf den Kopf zusagen.« Jack blickte zu der Tür, die zur Krankenstation führte. »Bislang hat sie sich geweigert, über den Mord zu sprechen. Vielleicht überlegt sie es sich jetzt anders, nachdem wir Miranda zu ihr bringen konnten und vielleicht sogar die beiden anderen Schwestern finden. Bis dahin allerdings haben wir nicht mehr als ›hi‹, ›HI‹ oder ›14‹.«
»Lass uns doch Lucy einschalten, dann –«
»Nein.« Jacks Tonfall ließ keine Widerrede zu.
»Warum denn nicht?«, wunderte sich Fletch und versetzte Jack einen finsteren Blick. »Erinnere dich, wie schnell sie Vanessa Porter aufgespürt hatte. Sie hat unglaubliche Ressourcen, und seit ich sie für die Sache gewinnen konnte, verhält sie sich dir gegenüber auch wieder anständig. Mach dir ihre Möglichkeiten zunutze –«
»Niemand macht sich Lucy Sharpe zunutze, Fletch. Und ja, es stimmt, du hast wirklich etwas bei ihr erreicht, als du mir den Gefallen getan hast, Miranda zu suchen. Aber nichts, was seither in diesem Fall passiert ist, hat etwas damit zu tun, dass Lucy plötzlich ein Faible für den Ex-Mitarbeiter entwickelt hat, den sie am wenigsten leiden kann. Sie hilft Mirandas wegen und weil ihr beide heiraten werdet.«
»Aber was macht es schon, aus welchem Grund sie hilft? Sie hat alle Möglichkeiten, dich bei den Ermittlungen zu unterstützen.«
»Auf keinen Fall werde ich zulassen, dass Lucy Sharpe sich einmischt.« Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Sie ist ein Kontrollfreak, und das hier ist mein Fall.«
Als guter Freund und loyaler Mitarbeiter gab Fletch an dieser Stelle achselzuckend auf. »Wie du willst, Kumpel, aber du kennst sie nicht besonders gut.«
Da irrte Fletch wieder einmal. Jack kannte Lucy besser als jeder andere Bullet Catcher, einschließlich ihres Goldjungen Dan Gallagher.
»Versprich mir, dass du ihr von dieser Theorie nichts erzählst«, bat Jack. »Lucy ist nicht die Einzige, die erstaunliche Ressourcen hat. Rebecca Aubry wird bald aus Florida zurückkommen. Bei ihr werde ich ansetzen.«
»Wie hast du denn das herausgefunden?«
»Im Netz lässt sich alles rausfinden.«
Fletch lachte ungläubig auf. »Seit wann setzt du dich denn an eine Tastatur?«
»Tu ich gar nicht. Ich habe eine … Freundin, die früher Reisekauffrau war und sich für mich in das Reservierungssystem gehackt hat.«
»Ich hätte –« Fletchs Lächeln erstarb, und er stand so schnell von seinem Stuhl auf, dass der klappernd auf den Boden stürzte. »Was ist?«
Miranda kam mit hochroten Wangen in die Cafeteria gerannt. »Sie ist wach!« Sie packte Fletch am Arm und zog ihn zur Tür. »Sie hat etwas gemurmelt, die Augen geöffnet und mich angesehen!«
»Gehen wir«, sagte Jack und drängte sich an ihnen vorbei auf die Krankenstation zu.
»Der Arzt ist bei ihr«, meinte Miranda. »Er hat mich rausgeschickt.«
»Keine Sorge, Liebes«, versicherte Fletch und legte ihr den Arm um die Schultern, während sie zu dritt den Gang entlangeilten. »Wenn sie wirklich wach ist, bist du der Mensch, den sie auf jeden Fall als Erstes sehen will.«
Vor der Tür stand ein finster dreinblickender, bewaffneter Wärter, dessen Miene und Haltung unzweideutig waren. »Kein Zutritt«, sagte er, offenbar für den Fall, dass sie seine Körpersprache nicht verstanden hatten.
»Tut mir leid, Jack.« Risa, die tüchtigste und gründlichste Krankenschwester, die er je erlebt hatte, kam mit warnendem Blick auf sie zu. »Sie können da jetzt nicht reingehen.«
»Risa, Süße, bitte –«
»Kommen Sie mir nicht so. Es ist das erste Anzeichen von Klarheit seit fast zwei Monaten. Ich kann die Vorschriften nicht umgehen, das wissen Sie genau.«
Er wusste das durchaus, doch er zog es gelegentlich vor, zu vergessen, dass dies der Krankentrakt eines Frauengefängnisses war.
»Wann?«, fragte er unbeeindruckt.
»Warten Sie, ich finde das heraus.« Damit verschwand sie in Eileens Zimmer, und Jack wandte sich an Miranda.
»Was hat sie denn gesagt, als sie wach wurde?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Miranda. »Es ging alles so schnell. Ich saß da, hielt ihre Hand und erzählte, wie ich es immer mache, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie mich doch hört.«
»Wovon hast du erzählt?«, fragte Fletch.
»Von dir.« Sie lächelte. »Ich habe ihr erzählt, wie wir uns begegnet sind und was dann passiert ist. Ich habe ihr erzählt, dass wir heiraten, und ich schwöre, in dem Moment hat sie meine Finger gedrückt.« Sie rieb sich die Arme. »Es hat mich kalt überlaufen. Es war wirklich, als … als würde sie mich hören.«
»Du hast gesagt, sie hätte etwas gemurmelt«, fuhr Jack fort. »Konntest du es nicht verstehen?«
»Nicht wirklich. Am Anfang war es mehr ein Stöhnen. Dann war es so ein Kauderwelsch. Ich will jetzt da rein.«
»Risa wird uns helfen«, beruhigte Jack sie. »Wenn es irgendjemand schafft, dann sie.«
Der Wärter schnaubte leise. »Das kann man wohl sagen.«
Die Tür ging auf, und Risa stand zwischen ihnen und Eileen. »Tut mir leid«, sagte sie und schüttelte bedauernd den Kopf.
Miranda schnappte nach Luft und legte die Hand auf ihren Mund. »Nein.«
»Oh, nein, sie ist nicht wieder weg«, setzte Risa rasch nach. »Sie schläft nur tief und fest. Aber der Arzt möchte mit Ihnen reden, Ma’am. Er möchte wissen, wie das war, als sie die Augen geöffnet hat, ob ihr Blick klar war und dergleichen.«
»Sie hat die Augen aufgeschlagen und mich angeschaut.« Ihre Stimme brach leicht. »Sind Sie sicher, dass sie nicht wieder ins Koma gefallen ist? Sie war definitiv aufgewacht.«
»Ich weiß, das ist frustrierend. Man hat das Gefühl, ganz nah dran zu sein, und dann ist wieder nichts«, sagte Risa.
Jack versetzte Miranda einen sanften Stoß. »Geh rein. Vielleicht wacht sie wieder auf, wenn sie deine Stimme hört.«
Er wandte sich Fletch zu, dem einzigen Freund, den er bei Bullet Catcher noch hatte. »Behalte meine Theorie für dich, okay? Ich mein’s wirklich ernst.«
»Mach ich. Trotzdem finde ich, dass du einen Fehler machst, wenn du Lucy nicht einschaltest.«
»Das werde ich auf keinen Fall tun.« Er hatte im Zusammenhang mit Lucy viel zu viele Fehler gemacht. Das würde ihm nicht noch mal passieren.