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Sie war weich, süß, sexy – und viel zu schlau, um den Kuss ernst zu nehmen.
Aber wäre sie auch abgebrüht genug, um diese Sache hier überzeugend durchzuziehen – oder würde er sie tatsächlich dazu bringen müssen, vor Lust zu stöhnen? Die Wanze sah professionell aus, aber selbst ein Billigteil könnte ein Flüstern, ein Säuseln oder ein lustvolles Keuchen noch hundert Meter weit übertragen.
Und das war genau das, was ihr Publikum hören sollte.
Wade öffnete den Mund und schob seine Zungenspitze vor; sie reagierte leidenschaftlich, aber noch immer stumm.
Wie weit würde er gehen müssen, um ihr einen Laut zu entlocken?
Er packte den Hintern, den er vor Minuten noch bewundert hatte, und die Kurven fühlten sich ebenso fest und glatt an, wie er gedacht hatte. Die Berührung brachte ihm das erste kleine Stöhnen ein. Er stieß seine Zunge tiefer in ihren Mund, genoss ihren Geschmack, ihre vollen Lippen und die glatte Oberfläche ihrer Zähne.
Als er sich leicht von ihr löste, um Blickkontakt mit ihr aufzunehmen, sah er, dass sie die Augen geschlossen hatte. Erschauernd teilte sie ihre Lippen. Er lehnte sich zurück, um die Wölbung ihrer Brüste zu betrachten; ihre Haut war vor Erregung gerötet, und die Brustwarzen reckten sich neckisch vor. Instinktiv schaukelte sie mit den Hüften, und nur Zentimeter von ihrem Schoß entfernt wollte seine Erektion dem gleichen Impuls nachgeben.
Hier war gar nichts gespielt.
Er küsste sie erneut und ließ seine Hände über ihren nackten Rücken gleiten, während sie ihre von seinem Hals genommen hatte und ihm über Schultern und Oberarme strich.
Und schließlich bekam er die Laute, die er erhofft hatte – ein tiefes, langes, sattes Stöhnen, eine zufriedene Reaktion auf seinen Körper, die auch noch laut genug für das Mikro war.
Jetzt zog sie sich aus dem Kuss zurück, aber nur, um die Schulter, die sie massiert hatte, anzuknabbern und zu küssen. Dabei legte sie ihren Kopf schief, um ihm besseren Zugang zu ihrem Nacken zu gewähren. Er sog den Duft ihrer Haut ein und küsste eine Spur über ihr zartes Dekolleté. Sie schmeckte köstlich nach Salz, Sonne und Palmen, vermischt mit dem Duft weiblicher Erregung.
»Das ist gut«, murmelte er, das Gesicht dem wenige Meter entfernt liegenden Mikro zugewandt.
Sie antwortete mit einem gehauchten »Ja«, das jedoch nicht laut genug war. Er deutete in Richtung der Wanze und sagte tonlos: »Lauter.«
Ihre Augen glitzerten verschwörerisch, und ihr Körper bebte unter seinen Händen, als sie nickte.
»Ja«, wiederholte sie, in Richtung des Handtuchregals gelehnt. Ihre Stimme war immer noch nicht richtig laut, aber sie klang alles andere als verstellt. »Das ist gut.«
»Und wie ist es damit?« Er fuhr ihr über den Rücken. Das Schauspiel sollte so echt wie möglich wirken. Und doch ließ er seine Daumen nur ganz entfernt über die Seiten ihrer Brüste gleiten, ganz unschuldig und ohne die Grenze zu überschreiten. »Gefällt dir das, Baby?«
Ihre Haut war warm, glatt wie ein Pfirsich und spannte sich fest über trainierten, aber dennoch weiblichen Muskeln. Eine Schockwelle der Erregung durchfuhr ihn.
»Ja …«, sagte sie deutlich stockend in absolut glaubhafter Verzweiflung. Sie drängte sich seiner Berührung entgegen, als wollte sie mehr davon. »Und ob mir das gefällt.«
Sie tauschten einen raschen Blick, seine fragende Miene wurde mit einem Nicken quittiert, dazu stöhnte sie und gab ihm mit einer kleinen Handbewegung zu verstehen, dass er weitermachen solle.
Er trat zwischen ihre Beine, näher an sie heran, bis sich ihre Körper berührten. Sie erbebte und schob sich ihm mit einem überraschten und lustvollen Wimmern entgegen.
Einem sehr authentischen Wimmern.
»Und das?«, fragte er.
»Oh ja, das auch.« Sie lachte aufreizend und kippte ihr Becken, um mit dem winzigen Fetzen Stoff, den sie als Unterwäsche trug, der Länge nach über sein Glied zu reiben. »Genau so.«
Die Grenze zwischen echt und gespielt schwand zusehends, genau wie seine Beherrschung. Das Blut sackte aus seinem Kopf, wo er es gebraucht hätte, direkt in seinen Schwanz, der rasch steifer wurde. Sie bäumte sich ihm entgegen, ihre Mähne fiel ihr über Schultern und Brüste, und die Haarspitzen strichen über ihre Nippel, so wie er es am liebsten getan hätte.
Wasser lief ihm im Mund zusammen. Die Brust wurde ihm eng. Sein Unterleib spannte sich zu einer ausgewachsenen Erektion.
Er legte seine Lippen an ihr Ohr. »Mehr?« Die Frage durfte ruhig von dem Überwachungsmikro aufgefangen werden, schließlich passte sie perfekt in ihr kleines erotisches Hörspiel. In Wahrheit wollte er wissen, wie weit er noch gehen konnte.
Sie lehnte sich zurück, warf ihm einen funkelnden Blick zu und legte ihre Fingerspitzen auf seine Unterlippe.
»Oh ja, mehr«, sagte sie so deutlich, dass er wusste, es war für ihre Zuhörer bestimmt. »Ich will das.« Sie schob ihm einen Finger in den Mund und ließ ihn um seine Zunge kreisen. »Und das.« Sie fuhr mit der feuchten Fingerspitze über sein Kinn, über seinen Hals und die Brust und zeichnete dabei seine Muskeln nach. Mit verstohlenem Lächeln wanderte sie über Berge und Täler seines Sixpacks.
Millimeter von der Spitze seiner Erektion entfernt, die durch den Bund seiner Shorts zu platzen drohte, hielt sie inne.
Sie befeuchtete ihre Lippen. »Und das, Liebling, oh ja, das will ich wirklich.«
Er biss die Zähne zusammen und wappnete sich gegen die atemberaubende Wirkung, die dieser einzelne schmale, weibliche Finger auslösen würde – doch sie berührte ihn nicht. Instinktiv verstärkte er den Griff seiner Hände an ihren Seiten, sodass die weichen Kissen ihrer Brüste sich in seine Ballen schmiegten.
Es schmerzte so sehr, sie nicht anzufassen, dass er vor Frust laut aufstöhnte.
»Der war gut«, flüsterte sie tonlos.
Glaubte sie wirklich, dass er spielte? Sie schloss die Augen und stieß ein langes, sinnliches Stöhnen aus, ehe sie ihn an sich zog, bis ihre Brüste sich fest gegen seinen Oberkörper drückten.
Sie sog einen tiefen, geräuschvollen Atemzug ein.
Hitze und Erregung pulsierten durch ihn hindurch und trieben seinen Puls hoch, während seiner Brust ein unverstelltes, lustvolles Keuchen entstieg.
Sie ließ erneut ein ausdrucksstarkes Stöhnen hören und schien sich dabei voll und ganz unter Kontrolle zu haben. Hatte er wirklich befürchtet, sie könne nicht gut genug schauspielern? Sie gab hier eine oscarreife Vorstellung ab, während er sich verzweifelt bemühte, das Kommando über seine Hormone nicht zu verlieren.
Er bündelte sein Verlangen in einem langen, feuchten Kuss und rammte geräuschvoll die Hände auf die Platte, um den Soundtrack glaubwürdiger zu machen und etwas zum Festhalten zu haben.
Vanessa öffnete ihren Mund ein klein wenig und sog seine Unterlippe ein; das schmatzende Geräusch hätte jeden Volumenmesser in den roten Bereich gejagt, zusammen mit jeder lechzenden Zelle seines Körpers. Schweiß trat ihm auf die Haut, und ihm wurde von Kopf bis Fuß heiß, während seine Eier sich pulsierend zusammenzogen.
»Vanessa …« Er zog sie fest an sich und schockierte sie beide mit einem Stoß seines Beckens. »Du machst mich fertig, Schatz.«
Sie klammerte ihre Beine enger um seine Hüften. »Das ist doch auch der Sinn der Sache, oder?«
Mit einem lüsternen Lachen legte sie ihm die flache Hand auf den Bauch, streichelte seine Haut und liebkoste seine Muskeln. Dabei geriet sie wieder in die Nähe seines Hosenbundes, und ihre Daumen kamen seiner eingesperrten Eichel so nahe, dass er zu spüren glaubte, wie ihre Fingernägel über den feuchten Tropfen dort strichen.
Er lehnte sich zurück und hoffte, dass sie seinen warnenden Blick verstand.
»Jetzt nicht aufhören«, gab sie zurück, so laut, dass es nur gespielt sein konnte, und zog ihn wieder an sich für einen leidenschaftlichen, verzehrenden Kuss.
»Noch einen Schritt weiter …«, knurrte er in ihren Mund, ohne wirklich darauf zu achten, ob die Worte sowohl für sie als auch ihre Zuhörer plausibel klangen. »Und ich kann für nichts mehr garantieren.«
»Ach ja?« Er spürte, wie sie in den Kuss hineinlächelte, während sie über seine feuchte Eichel strich, was ihm kurzzeitig den Atem raubte. »Was passiert dann?«
»Wir ziehen um …« Er hob sie von der Kommode, sodass sie sich mit Armen und Beinen fest um ihn klammern musste, um nicht zu fallen. »Ins Bett.«
Zwischen Lachen und Stöhnen ließ sie sich aus dem Bad tragen. Wade schlug die Tür mit viel mehr Schwung zu, als nötig gewesen wäre, und warf sie auf das Bett.
»Du spielst wirklich mit dem Feuer.« Seine Stimme war rau und angestrengt.
»Ich tue nur, was du –«
Er legte ihr eine Hand auf den Mund und senkte sich schwer auf sie. »Die hören uns immer noch«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie schlang ihre Hände um seinen Nacken und zog sein Gesicht an ihren Mund. »Dann hör auf zu quasseln«, erwiderte sie kaum hörbar. »Sonst fliegen wir noch auf.«
Ihr Kuss war feucht und lang und – für ihre Verhältnisse – überraschend bedächtig.
Pfeif auf das Mikro. Sie brauchten sich keine Mühe zu geben, irgendetwas vorzuspielen, was hier ablief, war authentisch – und laut genug.
Drängende Lust pochte in seinem Unterleib. Seine Brust vibrierte unter dem Keuchen, das aus ihren Lungen aufstieg, während sie beide förmlich um Atem ringen mussten. Ihre Haut rieb bei jedem Stoß ihres vorgespielten Aktes über die Laken.
Doch plötzlich vernahm er aus der Ferne ein anderes Geräusch. Musik. Die britische Nationalhymne?
»God Save The Queen?«
Er hob den Kopf, um besser hören zu können, und identifizierte die Klänge als Handy-Klingelton. »Was ist das?«
»Hm … ein Engelschor vielleicht?« Sie zog seinen Kopf wieder zu sich herunter.
Er verharrte regungslos. »Es ist dein Telefon.«
»Ich hab doch hier gar keinen Empfang.«
»Jetzt offenbar schon.«
Sie erstarrte für einen Moment und stieß ihn dann förmlich von sich weg. Inzwischen war die Melodie zum dritten Mal erklungen. »Oh mein Gott! Das ist –«
Er bedeckte ihren Mund mit der Hand. »Nicht seinen Namen sagen«, flüsterte er.
»– die Londoner Niederlassung meiner Firma«, vervollständigte sie den Satz.
Er warf ihr für die vermeintlich rettende Idee einen bewundernden Blick zu, doch sie schüttelte den Kopf. »Es ist Razor Europe.« Sie schwang sich aus dem Bett, schnappte sich ihre Handtasche und fischte das iPhone heraus.
»Eine SMS«, konstatierte sie, als sie den Bildschirm berührt hatte.
Er betrachtete ihre prachtvollen Brüste, die so süß und weich und rund waren, so unglaublich schön, dass es ihm regelrecht Schmerzen bereitete, sie nicht genießen zu dürfen. Mit ihrem feuchten Dreieck aus rosa Seide zwischen den Schenkeln, ihren langen Beinen, die vom Vorspiel zitterten, und ihrem herrlich zerzausten Haar bot sie einen Anblick, der einen erwachsenen Mann um den Verstand bringen konnte.
»Alles okay mit dir?«, fragte sie und blickte von ihrem Display auf.
Obwohl er am liebsten laut aufgeheult hätte, begnügte er sich mit einem gequälten Lachen, als er zu Boden griff und ihr sein T-Shirt zuwarf. »Was genau meinst du mit ›okay‹?«
Sie fing das T-Shirt auf, stülpte es sich über den Kopf und schlüpfte durch den Halsausschnitt. Dann fasste sie den zerrissenen Saum und führte ihn an ihre Nase, um am Stoff zu riechen, wobei sie die weiche Haut an ihrem Brustansatz offenbarte und leise genießerisch stöhnte.
Etwas Erotischeres hatte er noch nie im Leben gesehen.
»Ich glaube, das zieh ich heute Nacht zum Schlafen an.«
Als ob an Schlaf zu denken wäre.
Er hob einen Finger an den Mund und sie nickte, ehe sie sich wieder ihrem Display zuwandte. Beim Lesen verzog sie ihr Gesicht zu einem Ausdruck äußersten Widerwillens.
»Was ist?« Seine Stimme war immer noch ein heiseres Flüstern.
»Alles Idioten«, murmelte sie, ließ sich auf das Bett fallen und las die Nachricht noch einmal.
»Wer?«
»Die Anwälte.« Sie fing an, das Handy mit dem Daumen zu bearbeiten und nagte an der Lippe, die er eben noch geküsst hatte. »Mann, ich hasse sie alle. Macht’s dir was aus, wenn ich das hier rasch erledige? Danach können wir … weitermachen.«
Sie sagte das, als könnte man einfach auf Knopfdruck aufhören und wieder anfangen.
Nun, für sie war es offensichtlich so. Er hob beiläufig die Schulter, fasziniert von ihrer konzentrierten Miene – ebenso grimmig hatte sie vor fünf Minuten auch ausgesehen, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
Ohne vom Bildschirm aufzublicken, tippte sie unter empörten Zischlauten.
»Juristen sind doch nur dazu da, einem Steine in den Weg zu legen.« Sie biss sich wieder auf die Unterlippe, überlegte und bearbeitete wieder das Display. »Verkäufe … als …«, las sie murmelnd, was sie schrieb, »… private Placings … abwickeln … um die … Regulierung … zu umgehen.« Sie drückte einmal fest zu. »Senden. So, ihr Arschlöcher. Das habt ihr jetzt davon.«
Er ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Wer auch immer sie belauschte, würde sich von diesen Worten entweder völlig verwirren lassen oder kaputtlachen – über diesen armseligen Typen, der es nicht schaffte, die Frau im Schlafzimmer zu halten.
»Alles klar. Erledigt.« Sie legte das iPhone weg und blickte ihn an. »Wo waren wir?«
»Wo du warst, weiß ich nicht«, sagte er mit empörtem Schnauben. »Ich jedenfalls –«
Derselbe Klingelton wie eben ertönte und unterbrach ihn. Leise vor sich hin schimpfend griff sie nach dem Handy.
»Ich muss Marcus anrufen«, sagte sie sichtlich erbost. »Die werden diesen Deal sonst total verhauen. Wie spät ist es jetzt in New York?«
»Genauso spät wie hier.« Er sah auf den Wecker, der auf dem Nachttisch stand. »Zwei Uhr dreißig. Zeit fürs Bett.«
Sie quittierte die Anspielung mit einem Nicken, lehnte sich Richtung Badtür und hob die Stimme. »Ich bin sofort wieder bei dir, Baby, versprochen.« Sie hielt sich das Telefon ans Ohr. »Ich muss ihm nur eben eine kurze Nachricht schicken. In London ist es jetzt frühmorgens, in wenigen Stunden könnte der Deal geplatzt sein. Immerhin, er steht gewöhnlich um halb fünf auf – oh, Marcus, hi. Hier ist Vanessa. Ich hätte nicht gedacht, dass du um diese Uhrzeit wach bist.« Sie schwieg einen Augenblick. »Dann weißt du ja, was diese Blödmänner in London treiben.«
Sie glitt vom Bett und steuerte auf die Balkontür zu. Das T-Shirt war so kurz, dass es den Schatten ihres herzförmigen Hinterns offenbarte.
Mit einem unterdrückten Stöhnen schwang Wade sich aus dem Bett, schnappte sich seinen Colt M1911 von der Kommode und ging ins Bad. Ohne einen Laut nahm er ihre Brille und gesellte sich zu ihr auf den Balkon.
Das Telefon am Ohr lehnte sie an der Brüstung und lauschte. Nach einer Minute legte sie es an das andere Ohr und setzte zu einem längeren Vortrag zum Thema Übernahmeangebote und Kursschwankungen bei Anleihen an.
Wade stand direkt vor ihr, nahe genug, um die noch immer vor Erregung flirrende Luft zu spüren, die sie umgab. Sie sah auf, hielt einen Finger hoch, um anzudeuten, dass sie noch eine Minute brauche, und fuhr dann mit ihren Ausführungen fort.
Erstaunlicherweise hatte seine Erektion noch nicht nachgelassen. Er wartete darauf, dass ihr trockenes Börsenlatein ein paar hormongetränkte Zellen zurück in sein Gehirn schicken würde, doch nichts dergleichen geschah – sie blieben, wo sie waren, zwischen seinen Beinen, um ihn weiter zu quälen.
Wade spähte in die Landschaft hinter ihr und nahm die im Dunkeln liegende Palm Grove Villa ins Visier, obwohl sie hinter der hohen Einfriedung ohnehin kaum zu sehen war. Da er wusste, dass sie seinem Blick trotz des Telefonats folgen würde, sah er trotzdem weiter hin.
Er machte ein paar Schritte und starrte in die Nacht hinaus.
Vanessa, die immer noch dozierte, inzwischen über Vertragsänderungen, wandte die Augen in die Richtung, die er anvisierte, und verstummte plötzlich mitten im Satz. »Nein, ich bin noch da, Marcus, aber es ist leider so, dass der Empfang hier lausig ist, wir könnten jeden Moment unterbrochen werden.«
Einige Sekunden lang starrten sie beide auf den gleichen Fleck. Dann deutete Wade … ins Nichts.
»Nur noch ein paar Tage«, fuhr sie fort, ganz offensichtlich abgelenkt, weil sie auf Zehenspitzen in die Schwärze hinausstarrte, zu dem Punkt, auf den er deutete. Stirnrunzelnd sah sie Wade an, ehe sie wieder in ihr Telefon sprach. »Genau genommen, bin ich auf Nevis.«
Dabei verzog sie das Gesicht, als erwartete sie keine wohlwollende Reaktion auf diese Auskunft.
»In Wahrheit bin ich …« Sie stockte. »Um ehrlich zu sein, bin ich aus mehreren Gründen hier.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen. »Aber ich brauchte auch dringend mal Urlaub.«
Sie klang alles andere als überzeugend. Jede Wette, dass der Typ am anderen Ende ihr das nicht abkaufte.
»Ach«, machte sie und straffte sich leicht, ohne den Blick von der Villa zu wenden. »Wirklich? Das wäre toll, Marcus, ich habe die Kreuzfahrt nämlich unterbrochen, weil … äh …« Sie suchte nach Worten. »Aus privaten Gründen. Ich könnte also durchaus ein paar Tage dafür erübrigen. Eigentlich fände ich das richtig klasse.«
Sie stupste Wade an und zeigte ihm den hochgereckten Daumen, während sie kopfnickend weiter in ihr Handy lauschte.
»Warte, du warst für einen Moment weg. Sagtest du Nevis Properties?« Sie schloss die Augen und hielt sich mit einem Finger ihr freies Ohr zu. »Wie war das? Soll ich einfach da hingehen und denen deinen Namen nennen oder … Marcus? Bist du noch da?« Sie blickte auf das Display und drückte eine Taste. »Shit. Ich hab ihn verloren.«
Wade nickte mit dem Kinn Richtung Palm Grove Villa. »Sah das nicht aus, als wäre da ein Schatten auf uns zugekommen?«
»Nein«, erwiderte sie knapp und wechselte das Thema. »Pass auf, das war mein Chef aus New York. Einer unserer Kunden hat ein Haus auf der Insel und meinte, wir könnten dort wohnen. Wahrscheinlich müssen wir einfach nur zur Immobilienverwaltung gehen – leider war die Verbindung dann weg. Ich bin sicher, das ist irgend so ein Minibüro. Wenn wir morgen dahin gehen, bekommen wir den Schlüssel.«
Er sah sie misstrauisch an. »Warum hast du ihm nicht erzählt, warum du hier bist?«
»Ich will nicht, dass er es weiß. Er ist stinksauer, dass Clive die Firma verlassen hat, und würde komplett ausrasten, wenn er wüsste, dass ich blaumache, um ihm zu helfen. Aber das ist eine geniale Lösung, Wade. Hier können wir nicht bleiben. Das Zimmer ist verwanzt. Nach allem, was wir wissen, könnte es sogar schon verwanzt gewesen sein, bevor wir kamen. Eine neue, geheime Unterkunft wäre jetzt perfekt. Wir könnten in aller Ruhe einen Plan ausarbeiten, um Clive zu finden.«
Als ob sie je im Leben einen Plan gemacht hätte. »Warum lügst du deinen Chef an?«
»Das war ja nicht richtig gelogen«, wandte sie ein. »Ich habe ihm nur nicht die ganze Geschichte erzählt.«
»Warum lügst du mich an?«
Ihr Blick war scharf und abwehrend. »Ich lüge dich nicht an.«
»Ach nein? Du hast genauso gut wie ich gesehen, was da draußen war.«
»Da war nichts außer Bäumen und ein paar Liegestühlen.«
»Wie viele Liegestühle?«
Mit verengten Augen blickte sie wieder zu der Villa. »Vier.«
Er hob die Hand, in der er immer noch ihre Brille trug, und schob sie ihr vor die Augen. »Ziemlich viel Sehkraft für jemanden, der kurzsichtig ist.«
Sie öffnete den Mund, doch er schloss ihn mit einem Finger, bevor ein Laut herausdrang.
»Kleine Zusatzvereinbarung zu unserem Deal, Vanessa Porter. Lüg mich nie wieder an.«
»Ich habe nicht gelogen. Ich habe nie gesagt, dass ich die Brille brauche.« Sie schluckte. »Ich trage sie einfach als … modisches Accessoire.«
»Und bitte keine Spitzfindigkeiten.«
»Okay.« Sie rückte die Brille zurecht und nickte Richtung Zimmer. »Sollen wir wieder reingehen und ein wenig weiterspielen?«
Er schob sich an ihr vorbei. »Ich habe nicht gespielt.«
Sie packte ihn am Arm, um ihn zu sich herumzuziehen, nahm dann ihre Brille ab und sah ihm direkt in die Augen. »Ich auch nicht.«
Als Jack Culver das letzte Mal bei Rebecca Aubry gewesen war, hatte er der heute siebzigjährigen ehemaligen Krankenschwester ein Foto gegeben, das er im Archiv des Post and Courier, des Charlestoner Lokalblattes, gefunden hatte. Im Gegenzug hatte sie ihm ein Dokument überlassen, durch welches bewiesen war, dass eine Familie namens Whitaker aus Virginia eines von Eileens Drillingsmädchen adoptiert hatte.
Für fünf kurze Minuten war Hoffnung in ihm aufgekeimt. Vielleicht funktionierten seine Instinkte als Ermittler wieder, vielleicht stand er kurz davor, die vermisste Tochter zu finden und Eileens Leben zu retten. Und vielleicht konnte er endlich diesen Mord aufklären, den sie nach seiner festen Überzeugung nicht begangen hatte.
Doch dann raubte ihm ein Straßendieb jäh diese Hoffnung, mitsamt fünfundsiebzig Dollar und dem vermaledeiten Umschlag.
Zum Glück hatte er sich vor dem Überfall die Informationen auf dem Stück Papier eingeprägt und beschlossen, dass es nicht lohnte, sich den Knaben zu greifen, ihm an seine dürre Kehle zu gehen und aus ihm herauszuprügeln, wer ihn geschickt hatte. Als Jack das letzte Mal so reagiert hatte, hatte er einen hohen Preis dafür bezahlt. Es gab weniger riskante Möglichkeiten, sich zu besorgen, was er brauchte.
Er klopfte energisch an die Tür, damit ihn die schwerhörige alte Dame auch hören konnte, selbst wenn sie einen Mittagsschlaf machte. Drei Minuten würde sie mindestens brauchen, um zur Tür zu schlurfen. Doch nichts geschah.
Er klopfte erneut, wartete eine weitere Minute und sah sich dann um, wie er wohl am besten in das Haus eindringen könnte, um zu überprüfen, ob sie vielleicht doch da war.
Da wurde der Türriegel zur Seite geschoben, und die Tür öffnete sich.
»Möchten Sie zu der alten Dame?«
Er wandte sich der weiblichen Stimme zu. In dem dunklen Flur hinter der Fliegengittertür war die Gestalt, zu der sie gehörte, kaum zu erkennen. »Allerdings.«
»Sie ist weg.«
Er nahm die Sonnenbrille ab, konnte aber dennoch nicht mehr erkennen. Aus dem jugendlichen Klang ihrer Stimme schloss er zumindest, dass sie nicht die Schreckschraube war, die ihn bei seinem ersten Besuch hier hatte abwimmeln wollen.
»Sie ist doch aus Florida zurück, oder?« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Ist sie gut gelandet gestern Abend?«
Die weibliche Silhouette kam dem Fliegengitter so nah, dass er erkennen konnte, dass sie etwa Mitte zwanzig, brünett und attraktiv war – oder zumindest entsprechend zurechtgemacht war. »Sie befand sich nicht in dem Flugzeug.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Und wer sind Sie?«
Er quittierte ihre prüfenden Blick mit einem Lächeln. »Wer sind Sie denn?«
»Ich habe zuerst gefragt.«
»Mein Name ist Jack. Ich bin ein Freund von Rebecca.«
»Gina. Ich bin eine Freundin von Rebeccas Neffen.«
Jack ging auf die Schnelle durch, was er über Rebecca Aubry wusste. Sie war nie verheiratet gewesen und besaß keine Geschwister. Also konnte es auch keinen Neffen geben.
»Hallo, Gina.« Er legte eine Hand auf den Türknauf und schob die andere in seine Gesäßtasche. »Ist Rebeccas Neffe denn da?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte noch etwas zu erledigen, aber er kommt wieder. Wenn Sie nicht warten möchten, kann ich ihm ausrichten, dass er Sie anrufen soll.«
»Ich würde wirklich gern mit Rebecca reden«, sagte er. »Haben Sie denn eine Ahnung, wann sie zurückkommt?«
»Sie kommt nicht mehr zurück.« Gina blickte über die Schulter und deutete auf zwei offene Kartons. »Deshalb sind wir hier. Er hat ihr einen Platz in einer betreuten Senioren-WG in Florida besorgt. Wir sind gekommen, um ihre Sachen zu packen und ihr nachzuschicken. Hab ich wir gesagt? Blödsinn. Ich packe. Willie tut nichts anderes, als Papiere durchzusehen.«
Willie? Etwa Willie Gilbert, der pensionierte Cop, der Eileen in der Nacht des Mordes an Wanda Sloane festgenommen hatte?
Was um alles in der Welt machte er in Rebecca Aubrys Haus?
Jack spähte an ihr vorbei in das Esszimmer. Auf dem Tisch lagen Papiere und Aktenordner verstreut.
Vielleicht hatte Rebecca Aubry der Polizei doch nicht alles gesagt, als der illegale Adoptionsring vom Sapphire Trail aufflog. Und jetzt versuchte Willie Gilbert, alle Hinweise zu finden und zu vernichten, die den Vater der Mädchen verraten könnten.
Weil er selbst der Vater war …? Oder weil der Vater ihn dafür bezahlte? Jack musste sich rasch etwas ausdenken, um in dieses Haus zu gelangen und sich umsehen zu können.
»Was ist mit Karamell?«, fragte er.
»Karamell?« Sie zog die Nase kraus.
»Die Katze. Schicken Sie sie auch nach Florida?«
»Ich weiß nicht, was er mit dem Tier vorhat. Ich weiß nur, dass ich sie auf keinen Fall anfasse, weil ich nämlich allergisch bin.«
»Ich könnte sie Ihnen doch abnehmen. Ich würde Rebecca dann Bescheid geben, dass ich sie habe.«
»Ich weiß nicht …«
»Es sei denn, ihr Neffe möchte das Tier behalten.«
Mit gekräuselten Lippen blickte sie über ihre Schulter. »Hoffentlich nicht. Das Biest haart ohne Ende.« Sie maß Jack erneut mit den Augen. »Wenn ich nur in seine Nähe komme, muss ich danach eine Stunde lang niesen.«
»Ich hole sie.« Jack hob die Hände und zwinkerte ihr zu. »Vertrauen Sie mir. Ich bin ganz harmlos.«
Sie öffnete die Tür, richtete sich gerade auf und offenbarte damit einen eindrucksvollen Vorbau. »Wie harmlos kann denn jemand sein, der Katzen mag?«, bemerkte sie mit kokettem Lächeln. Sie sah nicht schlecht aus, ein bisschen abgekämpft vielleicht, aber in ihrem knappen Top, ihren hautengen Jeans und den High Heels machte sie eine richtig gute Figur.
Lächelnd trat er ein und ging ins Esszimmer. »Vollkommen harmlos. Ich glaube, ich habe sie hier durchflitzen sehen.«
»Seit wir hier sind, hockt sie auf dem Sofa.« Sie deutete in den hinteren Teil des Hauses. »Ich werde mal sehen, ob ich sie finde. Sie warten hier, okay?«
Kaum war sie in den Flur hinausgetreten, war Jack schon am Tisch und sah durch, was er an Papieren in die Finger bekam. Da waren ein Karton mit Kochbüchern und Rezepten und stapelweise Kreuzworträtselbücher, Zeitschriften und Fotoalben.
»Hier ist sie nicht«, rief Gina von draußen.
Jack warf einen Blick unter den Tisch. »Hier auch nicht. Schauen Sie doch in der Waschküche nach Leckerlis – normalerweise lässt sie sich damit bestechen.«
In der Hoffnung, noch eine Minute gewonnen zu haben, klappte er ein Fotoalbum auf und blickte auf ein altes Babyfoto in Schwarz-weiß. Er schloss das Album und öffnete eine vergilbte Hemdenschachtel, die daneben stand – und amtlich aussehende Papiere mit goldenen Kanten enthielt.
Geburtsurkunden.
»Da drin werden Sie sie nicht finden.«
Jack drehte sich um und sah Gina mit vorwurfsvoller Miene in der Esszimmertür stehen.
»Ich weiß«, gab er zu. »Ich dachte nur, ich könnte vielleicht ein Bild von Rebecca stibitzen, bevor Sie alles nach Florida schicken.«
In ihren Augen standen Zweifel. »Woher kennen Sie sie überhaupt?«
»Ich habe mal hier in der Straße gewohnt.«
Sie hob eine Braue. »Mit Ihrem Akzent? Ich soll Ihnen abnehmen, dass Sie jemals irgendwo außerhalb von New York gelebt haben?«
»Warum sollte ich lügen?«
Sie zuckte die Achseln. »Jetzt mal raus mit der Sprache. Wonach suchen Sie?«
Er seufzte. »Nach einem Foto.« Er schloss das Album und wandte sich ihr zu. »Ich habe Rebecca ein Foto gegeben, das ich mir beim Post and Courier geliehen hatte – und die wollen es jetzt zurückhaben.«
»Ich habe heute schon viele Fotos von ihr gesehen«, sagte sie. »Was soll das für eines sein?«
»Es zeigt Rebecca, vor etwa dreißig Jahren, mit einem Baby auf dem Arm.«
Sie schnaubte. »Es gibt ungefähr fünfzig Fotos von ihr mit Baby. Sie war mal Hebamme, wussten Sie das nicht?«
»Könnte ich die mal sehen? Bestimmt finde ich das, was ich suche.«
Sie schüttelte den Kopf. »Willie hat sie mitgenommen, gleich nachdem wir die Box geöffnet hatten. Er meinte, er wollte Abzüge machen lassen, bevor er sie ihr schickt.«
»Na ja, das, was ich meine, hat sie ja erst vor wenigen Monaten bekommen. Vielleicht ist es noch da. Darf ich mal schauen?« Lächelnd beugte er sich etwas näher zu ihr. »Ich kann die Katze trotzdem mitnehmen.«
Sie musterte ihn argwöhnisch. »Ich weiß nicht. Wir warten lieber, bis Willie zurück ist.«
Bis Willie zurückkam, wäre Jack längst über alle Berge. Jack hatte den ehemaligen Polizisten einmal getroffen, um ihn über Eileens Verhaftung auszuhorchen. Wenn Willie irgendetwas mit Wandas Tod zu tun hatte … vielleicht war er sogar der Erzeuger der Drillinge … dann durfte er auf keinen Fall erfahren, dass Jack ihm auf der Spur war.
»Ich habe nicht so viel Zeit«, sagte Jack. »Ich nehme einfach die Katze mit. Soll ich sie holen?«
Gina überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »Ich kann sie kurz hochnehmen, wenn ich mir anschließend gleich die Hände wasche. Warten Sie kurz im Flur.«
Sobald sie verschwunden war, packte er die Hemdenschachtel und ging zum offenen Fenster; mit einem energischen Stoß hebelte er das Fliegengitter aus dem Rahmen. Er hielt die Schachtel durch die Fensteröffnung, blickte kurz nach draußen, um zu sehen, wo sie landen würde, und ließ sie dann fallen.
Als sie um die Ecke gebogen kam, stand er wieder an seinem ursprünglichen Platz.
»Bitte schön.« Sie setzte ihm die orangebraune Tigerkatze auf den Arm und schniefte. »Sie gehen jetzt besser. Vermutlich wird ihm das gar nicht passen, dass ich Sie reingelassen habe.«
Er grinste verschwörerisch. »Dann sollte es unser Geheimnis bleiben.«
Sie zwinkerte schalkhaft. »Abgemacht. Ich werde ihm erzählen, dass die Katze weggelaufen ist, als ich die Hintertür aufgemacht habe.«
»Wenn Sie mich dort hinauslassen, ist es noch nicht einmal gelogen.«
»Okay.« Sie lachte leicht. »Kommen Sie.«
Jack folgte ihr, den Blick auf ihren trainierten Hintern gerichtet, der rhythmisch von einer Seite zur anderen schwang. Sie bewegte sich graziös und geschmeidig und schien sich in ihrer Haut unter den sexy Klamotten rundum wohlzufühlen.
»Sind Sie Tänzerin, Gina?«
Sie warf ihm einen koketten Blick über die Schulter zu. »So was in der Art.«
»Lassen Sie mich raten … exotisch?«
Sie lachte und deutete mit einem Finger auf ihn. »So könnte man es nennen.«
»Wo arbeiten Sie?« Nur falls er noch Fragen zu Willie Gilbert hätte.
»Im Diamonds«, erwiderte sie und öffnete den Hinterausgang des Hauses. »Dienstags und samstags.«
»Und wann kommt Willie immer?«
Sie sah ihn grinsend an, als er vor der Tür stehen blieb. »Jeden Samstag, pünktlich wie ein Uhrwerk.«
Er musterte ihr Gesicht, blieb an ihrem Mund hängen und hob den Blick dann wieder zu ihren Augen, während ihr die Röte in die Wangen stieg. »Ich werde an einem Dienstag kommen.«
Sie erwiderte seinen Blick, wobei sie sich mehr auf die Regionen unterhalb seines Halses konzentrierte. »Tun Sie das, Jack.«
Als sich die Tür schloss, wand sich die Katze unter lautem Miauen, doch Jack hielt sie fest im Arm, während er um das Haus herum zum Wohnzimmerfenster lief. Als er dort ankam, bog ein grauer BMW in die Einfahrt, und Willie Gilbert stieg aus.
Jack duckte sich und nahm mit der freien Hand die Hemdenschachtel, bereit, sofort in Richtung seines Wagens loszusprinten, den er eine Querstraße weiter geparkt hatte. Doch weil er neugierig war, ob Gina ihn verriet, blieb er unter dem Fenster und kraulte die Katze unter dem Kinn, damit sie ruhig war.
Die Vordertür fiel geräuschvoll ins Schloss, und Ginas Begrüßung drang durch das Fenster. Willies Antwort jedoch war zu leise, als dass Jack sie hätte verstehen können. Die Frage, die sich anschloss, war jedoch gut hörbar, mitsamt dem vorwurfsvollen Unterton: »Bist du immer noch nicht fertig?«
»Ich bin abgelenkt worden«, entschuldigte sie sich.
»Wie denn das? Du hattest doch nur eine Sache zu erledigen, Gina, und noch nicht mal die hast du fertig gemacht.«
»Fick dich«, murmelte sie.
Braves Mädchen. Er würde definitiv im Diamonds vorbeischauen und ihr ein saftiges Trinkgeld geben. Er brachte sich in Startposition und suchte mit den Augen den Weg zur Straße, auf dem er möglichst nicht gesehen werden konnte.
»Wo ist die Schachtel, Gina?« Die Worte dröhnten durch das Fenster. »Wo ist die Scheißschachtel, die hier stand?« Die Frage war von einem Krachen begleitet, wie von einem Hieb auf den Tisch.
»Ich … ich weiß nicht.« Aber besonders sicher klang sie dabei nicht. Ob sie ihn jetzt doch noch verpfeifen würde?
Jack straffte sich, um loszulaufen, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als er einen klatschenden Schlag und Ginas schmerzvollen Aufschrei hörte.
»Such sie, du blöde Kuh. Wegen dieses verdammten Teils bin ich überhaupt hier.«
»Ich schwör’s, Will.« Ihre Stimme brach. »Ich weiß nicht –« Wieder ertönte ein klatschendes Geräusch, gefolgt von einem Laut des Schmerzes.
Oh fuck. Was er da hörte, ließ die nackte Wut in ihm aufsteigen.
»Vielleicht hab ich sie versehentlich weggeworfen«, murmelte sie schniefend. »Ich sehe hinten nach, beim Abfall.«
»Besser, du findest sie.«
Jack sah auf die Schachtel. Sie enthielt Antworten, Hinweise, mit deren Hilfe sich ein dreißig Jahre altes Verbrechen aufklären lassen würde. Doch wenn Willie sie nicht fand, würde Gina, die hübsche Stripperin, für Jacks Tat bezahlen müssen.
Verdammt noch mal.
Er schlich sich lautlos zum Hinterausgang zurück und erreichte den Hinterhof, noch bevor dort die Tür aufging. Er legte die Schachtel ab und setzte die Katze daneben.
Auf dem Weg durch den Garten der Nachbarn zu seinem Auto meldete sein Handy summend eine SMS.
Lucy? Ja, schau einer an. Die Wölfin lud ihn in ihren Bau ein.
Er schrieb sofort zurück. Um zwölf Uhr morgen bin ich da.
Sie hatten viel gemeinsam, Lucy und er. Sie würde das nie zugeben, aber sie sehnten sich beide gleichermaßen nach Gerechtigkeit – und sie konnten einer ohne den anderen nicht existieren.