7

»Verdammte Kacke«, flüsterte Vanessa. »In Fort Knox einzubrechen wäre nicht so kompliziert.«

Im Mondlicht, das vom weißen Sand zurückgeworfen wurde, konnte sie Wades gerunzelte Stirn sehen.

»Das Reinkommen macht mir eigentlich keine Sorgen«, sagte er. »Eher das Rauskommen.«

»Was meinen Sie?«

Er deutete auf die massive Mauer, die ebenso gelb gestrichen und grün bewachsen war wie das schindelgedeckte Cottage und das angebaute Poolhäuschen. »Das wird schwieriger, als ich dachte.«

»Sie haben die Mauer doch vom Hotelfenster aus gesehen und gemeint, es dürfte kein Problem sein.«

Entgegen dem versprochenen direkten Blick auf die Villa, mit dem er sie in seine Suite gelockt hatte, hatte man vom Balkon aus nicht wirklich viel erkennen können. Doch bevor sie sich noch darüber aufregen konnte, hatte er ihr ein hervorragendes Menü servieren lassen, über das sie wie ausgehungert hergefallen war. Anschließend hatte er einen Laptop mit einem ultracoolen Programm hervorgezaubert, mit dessen Hilfe er ein Satellitenbild der Anlage und ein erstaunlich exaktes dreidimensionales Abbild des Cottages fertigte. Und getreu seinem Versprechen waren sie nachdem Vanessa Jeans und Sneakers angezogen und sich ein dunkelblaues Kapuzenshirt von ihm geliehen hatte um Mitternacht losgezogen, um über dunkle abgeschiedene Pfade zur Palm Grove Villa zu schleichen.

Wenn ihr die Gefahr nicht so bewusst gewesen wäre, hätte Vanessa das mitternächtliche Abenteuer mit diesem coolen Typen genossen. Er bewegte sich wie ein Schatten durch die Nacht, gab ihr Halt mit seiner großen, leicht rauen Hand, und manchmal kam er näher und flüsterte ihr Anweisungen ins Ohr, sodass ihr wohlige Schauder über die Haut prickelten. Er war so selbstbewusst, gründlich und wachsam, dass jede Zelle in ihrem Körper vor Entzücken vibrierte.

Wenn er nicht ausgerechnet der verhasste Überbringer schlechter Nachrichten gewesen wäre, dann hätte sie sich für seine Hilfe gebührend bedankt mit einer Nacht in seiner Suite, die er mit Sicherheit nie vergessen würde. Allein der Gedanke daran brachte ihre Hormone in Wallung.

Sie wagte einen verstohlenen Seitenblick auf seinen zu einer schmalen Linie zusammengepressten Mund. Es war unmöglich, diese Lippen anzusehen, ohne ans Küssen zu denken. Ihr Magen hüpfte beim Anblick seiner breiten Schultern. Er war groß, knapp ein Meter neunzig, und breit gebaut, aber kein Muskelprotz. Waschbrettbauch, auf den Punkt trainiert, stark und

»Möchten Sie hochklettern?« Er tippte auf die Schulter, die sie gerade bewundert hatte, und sein Lächeln verriet, dass ihm ihr Blick nicht entgangen war.

»Kann ich machen anders werden wir wohl nicht reinkommen.«

»Wir müssen die Überwachungskameras meiden.« Wade deutete auf einen Punkt vor ihnen. »Dort, auf der Mauer, sie sind im Abstand von etwa drei Metern angebracht. Sehen Sie sie?«

Sie spähte in Dunkelheit und Blätterwald, sah aber nur tropische Blüten und üppige Palmwedel, die die zwei bis zwei Meter fünfzig hohe Mauer zum Großteil überdeckten.

»Ich kann gar nichts erkennen«, gestand sie. »Woher wissen Sie, dass da Kameras sind?«

»Jahrelange Erfahrung. Ich gehe sogar davon aus, dass die Bilder in diesem Augenblick überwacht werden. Vermutlich steigen hier vor allem Promis ab, die ihre Ruhe vor Paparazzi und allzu aufdringlichen Fans haben wollen.«

»Das sieht Clive gar nicht ähnlich«, überlegte sie. »Er liebt es, im Mittelpunkt zu stehen.«

»Dann hat es vielleicht Sicherheitsgründe.«

Aber warum sollte er sich um seine Sicherheit sorgen? Wobei die wichtigere Frage lautete: War er überhaupt da drin? Sie hatte vergeblich sein Handy angerufen, und als sie die Hausleitung der Villa anwählen wollte, hatte Wade es ihr ausgeredet. Solche Dinge blieben nicht unbemerkt und konnten dazu führen, dass der Wachdienst misstrauisch wurde, weil jemand offensichtlich nach einem Gast suchte. Es war besser, gar nicht erst auf sich aufmerksam zu machen.

Das machte Sinn. Wie alles, was dieser Mann sagte.

»Ich denke, hier, zwischen den beiden Kameras, kommen wir am besten über die Mauer. Sobald wir drin sind, ducken wir uns und sehen erst einmal, ob im Haus Licht oder Bewegung zu erkennen ist.«

»Und was machen wir, wenn das so ist?«

»Das überlegen wir, sobald wir wissen, ob es sich um Ihren Freund handelt oder nicht.«

»Und wenn niemand da ist? Wenn das Haus leer ist?«

Er warf ihr einen herausfordernden Blick zu. »Ihre Entscheidung: Entweder wir gehen rein oder wir ziehen uns zurück. Ich sage, wir stürmen.«

Ein Adrenalinstoß durchfuhr sie, angereichert mit erregend warmen elektrischen Impulsen. »So spricht ein echter Marine.« Sie lächelte. »Auf geht’s, Sergeant.«

Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu der Stelle der Mauer, die sie ausgesucht hatten. Sie waren kaum ein paar Schritte gegangen, da ertönte ein tiefes Motorengeräusch, und Autoscheinwerfer erhellten einen schmalen asphaltierten Weg, der rund um die Anlage führte und an dem eingefriedeten Grundstück der Palm Grove Villa endete.

»Runter«, befahl Wade im Flüsterton und drückte Vanessa flach auf den Boden. »Das ist der Wachdienst vom Hotel.«

Zwischen den Grashalmen sah Vanessa, wie der Fahrer des Wagens flüchtig seinen Blick schweifen ließ. Am hinteren Ende des Grundstücks, das an den Strand grenzte, wendete er das kleine Fahrzeug. Als er in ihre Richtung spähte, hielt Vanessa die Luft an. Einen Sekundenbruchteil später gab er schon wieder Gas und holperte den Weg entlang zurück zum Hauptgebäude.

»Ihr Herz pocht«, sagte Wade, eine Hand auf ihrem Rücken und den Mund nur Zentimeter von ihrem Ohr entfernt.

»Es schlägt und tut seinen Dienst«, verbesserte sie. »Das beweist nur, dass ich noch lebe.«

»Sind Sie sicher, dass Sie das durchziehen wollen?«

»Ja, ich bin sicher.« Sie rollte sich auf die Seite, sodass ihr Gesicht ganz nah an seinem lag, ganz nah an diesem zum Küssen geschaffenen Mund. »Ich will Clive finden. Und so nah wie jetzt war ich « Schon lange nicht mehr an einem so erotischen Mann dran. »… ihm noch nie auf meiner Suche.«

Wades Augen wanderten prüfend über ihr Gesicht. »Sie sind ganz schön mutig für ein Mädchen, wissen Sie das?«

»Für ein Mädchen? Na, und Sie sind ganz süß für einen Neandertaler.«

Er lachte kurz auf und zog sie langsam hoch. »Ein bisschen Angst schadet nicht. Es kann einem das Leben retten.«

»Ich verstehe mich aufs Überleben. Ich arbeite an der Wall Street, und ich bin seit meiner Kindheit in den Straßen von New York unterwegs. Ich habe keine Angst vor einem Typen von der Hotell-Security, der im Golfwägelchen herumkurvt. Außer er hat eine Waffe.«

Wade schob ein paar Äste zur Seite, um die Mauer freizulegen. »Das ist ziemlich wahrscheinlich.«

»Aber kann er sie auch benutzen?«

»Kann er – oder wird er?« Er blickte über die Schulter. »Ich schätze, er würde sie benutzen, wenn er der Meinung wäre, dass wir etwas Ungesetzliches tun und genau das tun wir.« Er verschränkte die Finger zu einer Räuberleiter. »Nach Ihnen, Ma’am.«

Sie stellte ihren Fuß in seine Hände. »›Ma’am?‹ Sie sind wirklich aus dem letzten Jahrhundert. Ich bin noch nicht mal dreißig.«

Er sah sie wortlos an.

Ach so, die Akte. »Okay, einunddreißig. Aber Schluss jetzt mit ›Ma’am‹, ja?«

»Ich werde mir alle Mühe geben. Fassen Sie meine Schultern und drücken Sie sich mit Schwung vom Boden ab.«

Sie schloss ihre Finger um stahlharte Muskeln und rückte ihren Fuß in seinen Händen zurecht. »Was mache ich, wenn ich auf der anderen Seite gelandet bin?«

»Zusammenrollen und Gesicht und Hände mit der Jacke bedecken. Ich bin direkt hinter Ihnen. Aber jetzt los, bevor der Wachmann zurückkommt und auf uns anlegt.«

Sie schwang sich geschickt hoch, indem sie Wade und die Mauer zum Abstützen nutzte. Oben angekommen konnte sie auf ein stattliches Haus, den Pool und einen angeschlossenen Pavillon sehen. Alles lag finster, still und verlassen da. Nicht einmal am Pool brannten Lichter. Es herrschte absolute Dunkelheit.

»Sieht nicht so aus, als wäre jemand hier«, sagte sie.

»Kommen Sie drüber?«

Sie lugte über die Mauer nach unten, um zu sehen, ob auf der inneren Seite irgendetwas war, das sie als Stufen benutzen konnte, aber da war nichts. »Ich werde springen müssen.« Und zwar ganz schön tief.

Sie blickte wieder auf das Haus. War es das wert? War Clive da drin und versteckte sich mit einem Vorrat an Psychopharmaka im Dunkeln?

Sie verlagerte ihr Gewicht, stellte einen Fuß auf die Mauer und schwang sich darüber. Beim Aufprall schlugen ihre Zähne hart gegeneinander, dann stürzte sie ins Gras. Eine Sekunde später hörte sie ein Zischen, gefolgt von einem dumpfen Schlag, als Wade neben ihr landete, auf den Fußballen wie ein Panther.

»Alles okay?«, fragte er und zog sie mit sich zu Boden.

»Ja.«

»Gut gemacht. Ab jetzt ducken wir uns tief hinter der Mauer, damit uns die Kameras nicht erwischen.«

Sie folgte ihm, während er wie ein Soldat auf das Haus zurobbte, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was sie da tat, sondern nur, warum und für wen. Als sie den Poolpavillon erreichten, legte er seine gekrümmten Hände an die Augen und spähte durch ein Fenster.

»Da drin ist nicht viel, und ich will uns nicht noch weiter den Kameras aussetzen, indem wir um die Seite herum zum Vordereingang gehen. Am besten rennen wir am Pool entlang auf die Terrassentüren neben der Bar zu. Verstanden?«

Sie folgte der angewiesenen Richtung mit dem Blick, hob sich startbereit auf die Fußballen und sprintete zusammen mit ihm los. Sie umrundeten den dunklen Pool, kamen an ein paar Liegen und einem Tisch vorbei und schlüpften unter die Terrassenüberdachung.

Vanessa horchte angespannt in die Nacht, als sie wieder standen, wartete auf das Zischen einer Kugel, das Heulen einer Alarmanlage. Doch alles blieb ruhig, bis auf ihren Puls, der ihr bis zu den Ohren hämmerte.

»Sollen wir anklopfen?«, fragte sie.

Er krümmte erneut seine Hände, um hineinzuschauen, und tippte dann leicht an die Scheibe. »Ich würde sagen, es ist niemand da.« Er deutete in eine Ecke der Überdachung, wo eine kleine Kamera hing, die auf die Schiebetüren gerichtet war. »Bleiben Sie hier stehen. Ich werde mal das Programm ändern.«

Er hob sein schwarzes T-Shirt zum Mund, schlug die Zähne hinein und zog, bis das Reißen von Stoff laut durch die Stille tönte. Er schob das T-Shirt hoch, sodass sein trainierter Bauch zu sehen war, und nach zwei weiteren Rissen hatte er ein Stück schwarzen Stoff in der Hand. Er trat um den Tisch herum, zog lautlos einen Stuhl hervor und kletterte darauf, um das Kameraobjektiv zu verhängen.

Er tat alles so still und geschmeidig, so locker und gekonnt, dass Vanessa vor Staunen der Mund offen stand.

»Sie haben nicht zufällig in einem anderen Leben Banken ausgeraubt?«

»Nein.«

»Also nur ganz normale Wohnungen?«

»Ich sagte doch, dass ich für eine Sicherheitsfirma arbeite. Wenn man etwas zusammenbauen kann, kann man es in der Regel auch zerlegen.«

Ohne ihn hätte sie das hier niemals geschafft. Schuldete sie ihm etwas dafür? Sie sah ihm zu, wie er von dem Stuhl stieg, in dem zerrissenen T-Shirt, das ihn unglaublich hart, gefährlich und sexy wirken ließ.

Vielleicht konnten sie ja noch einmal neu verhandeln, und sie könnte sich auf traditionelle Weise revanchieren. Dann hätten sie beide etwas davon.

Er prüfte eines der Schiebeelemente, indem er mit den Fingern am Alurahmen entlangstrich und leicht daran rüttelte. »Wir müssen nur das Ding hier öffnen.«

»Wie denn?«

»Nichts leichter als das, Ma’am « Schuldbewusst sah er sie an. »Oh, Verzeihung.« Mit einem suchenden Blick über die Terrasse sagte er: »Ich brauche nur noch eine Kleinigkeit von der Bar.« Er ging zur Theke, trat dahinter und sah sich um. »Perfekt. Damit müsste der Trick gelingen.« Er hielt einen Eispickel, der im Mondlicht schimmerte.

»Was für ein Trick?«

»Nun, man könnte es als unerlaubtes Entfernen einer Glasschiebetür aus ihrem vorgesehenen Schienensystem bezeichnen.«

Zurück an der Tür, ließ er mit geschlossenen Augen die Hand über die untere Laufschiene gleiten, während er die Zungenspitze zwischen den Lippen hervorlugen ließ. »Oder anders ausgedrückt: die Tür aushebeln.«

»Haben Sie das bei den Marines gelernt?«

»Nein. Meine Mom hat mich gern mal ausgeschlossen, wenn ich abends zu spät heimkam.« Er sah auf und warf ihr ein verschmitztes Grinsen zu, das ihren Herzschlag noch mehr beschleunigte. »Das kam oft vor.«

Darauf hätte sie gewettet. Sie konnte sich gut vorstellen, wie ihn all die berühmt-berüchtigten Schönheiten des Südens mit Beschlag belegten, und zwar bis weit nach Mitternacht.

»Es sei denn« er fuhr weiter über die Scheibe »diese Luxushütte für zwei Riesen die Nacht wurde ausgestattet mit diesem « Er ging auf die Knie und beugte sich so weit vornüber, dass sie seinen Hintern in den Jeans sehen konnte. »… Yamamoto-System, das kürzlich erst patentiert wurde, um genau solche kriminellen Tricks unmöglich zu machen. Wenn, dann heißt das aber nur, dass ich zu « Er wischte sich eine Hand am Oberschenkel ab und wiederholte den Versuch. »… rabiateren Mitteln greifen muss.«

Es gab ein rumpelndes Geräusch, dann knackte etwas, und schließlich hob Wade die Tür aus dem Rahmen.

Die Tür fest in der Hand, stand er auf. »Nach Ihnen.«

Sie nickte bewundernd, während sie die Sichtblende zur Seite schob. »Nicht schlecht.« Alles andere als schlecht.

Der Sichtschutz glitt lautlos beiseite, und sie trat in einen dunklen, klimatisierten Raum. Im nächsten Moment hatte Wade die Tür bereits wieder eingesetzt.

»Was auch immer Sie tun, schalten Sie kein Licht an«, warnte er, machte die Tür hinter sich zu und verschloss sie. »Nur für den Fall, dass die Hotel-Security noch mal vorbeikommt, während wir uns hier umsehen.«

»Sie haben nicht zufällig eine Taschenlampe dabei?«, fragte Vanessa.

»Nein, aber Sekunde « Er bog um eine Ecke in die Küche. »Die Kühlschrankbeleuchtung wird uns genügen.«

Weiches Licht ergoss sich in den Raum, der sich als großer, hoher Salon erwies, ausgestattet im eleganten Stil der Four-Seasons-Hotels, mit schimmerndem Marmorboden und Edelholzvertäfelungen.

Hoffnung keimte in ihr auf, als ihr überraschter Blick auf allerlei Lebenszeichen im Raum fiel. Auf dem Couchtisch eine aufgeschlagene Zeitung, neben dem Sofa ein Paar vertraut aussehende Flipflops, eine halb leere Flasche Wein, ein Glas und ein von Kippen überquellender Aschenbecher.

Und dann der ultimative Hinweis auf Clive Easterbrook: ein psychologischer Ratgeber. Der Titel: Wie verstehe ich mich selbst.

»Er ist hier«, flüsterte sie. »Zumindest war er hier.« Sie nahm das Buch und tippte an den widerlichen Aschenbecher. »Er läuft nur Marathon und raucht nur, wenn er hoffnungslos depressiv ist. Außerdem ist er abhängig von Psycho-Ratgebern.« Bei dem Wein handelte es sich um einen Merlot, in dem Clive bevorzugt seine Seelenpein ertränkte, dabei die Stimme einer Bluessängerin vom iPod in den Ohren.

Wie schlimm war sein Absturz diesmal gewesen? Sie blickte sich erneut um und stellte fest, dass die Mahagoniverzierungen mit einer dicken Staubschicht überzogen waren; auf dem Boden lagen Krümel und klebten die eingetrockneten Tropfen irgendeiner Flüssigkeit. »Seltsam, dass hier noch keiner sauber gemacht hat.«

Wade kam schon wieder vom Haupteingang zurück. »Das liegt an der ›Bitte-nicht-stören‹-Verriegelung«, sagte er.

»Henry meinte, Clive sei seit etwa einer Woche nicht mehr am Pool gewesen.« Vanessa griff zur Zeitung und hielt sie ins Licht, um das Datum zu entziffern. »Würden die das Cottage wirklich eine Woche lang völlig unbeachtet lassen? Haben die denn keine Angst, dass hier jemand «

»Vanessa, kommen Sie hier rein.«

… gestorben war?

Sie versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Die Zeitung in der Hand folgte sie Wades Stimme durch einen kurzen Flur. Sie musste sich zwingen, durch die Tür zu treten, und rechnete mit dem Schlimmsten.

Vor ihr öffnete sich einfach nur ein furchtbar unaufgeräumtes Schlafzimmer, vom gedämpften Schein der Wandschrankbeleuchtung schwach erhellt.

»Was ist?«, fragte sie. »Haben Sie was gefunden?«

Die Schubladen waren aufgezogen, manche waren voll zerknüllter Kleidung, manche leer. Das antike Himmelbett war zerwühlt, auf der Kommode lagen Kleingeld, eine Uhr und mehrere Reiseführer. Im offenen Schrank hingen ein paar Hemden und ein Jackett, alles zu einer Seite geschoben. Auf dem Boden lag Schmutzwäsche verstreut. Aus einer Steckdose hing ein Handy-Ladekabel.

»Was für ein Saustall«, sagte Wade, als legte er Wert auf Ordnung.

»Clive war ein halber Messie. Das Chaos hier bedeutet also nicht, dass er Hals über Kopf abgehauen ist oder so. Aber Zigaretten und Wein verraten mir, dass es ihm richtig elend geht.« Ganz zu schweigen von Wie verstehe ich mich selbst, Hauptindiz dafür, dass er sich alles andere als verstanden fühlte. »Ich denke, er hat Liebeskummer.«

»Hier ist nur eine Kuhle im Kopfkissen.«

Ein Detail, das ihr nie aufgefallen wäre. »Tatsächlich. Aber das hier sind alles seine Sachen. Ich erkenne sie wieder.«

»Vielleicht hatte er sich eine Nacht lang einsam und allein die Kante gegeben, dann ist er aufgewacht und «

»Losgezogen, um seinen Geliebten zu finden«, ergänzte sie. »Und weil er nicht damit rechnete, lange weg zu sein, hat er nicht einmal ausgecheckt.« Enttäuschung machte sich in ihr breit. »Ach je, ich hatte wirklich gehofft, ihn hier zu finden. Oder zumindest irgendetwas, das mich auf seine Spur bringt.«

»Sehen wir uns genauer um.«

Seufzend lehnte sie sich an einen der Bettpfosten und warf die Zeitung beiseite. Langsam ließ sie den Blick durch den Raum wandern. Auf dem Boden entdeckte sie, zu einem Haufen zusammengeknüllt, Clives Lieblings-Nylon-Tanktop neben seinen Gelsohlen-Asics, derentwegen sie einen kompletten Samstagnachmittag lang mit ihm durch Midtown Manhattan gestreift war.

Würde Clive jemals ohne seine Laufschuhe losziehen? Das wäre ungefähr so, als wenn sie ohne ihr iPhone aus dem Haus ginge. Also absolut unmöglich.

Sie hörte, wie Wade im Badezimmer Schränke öffnete und schloss.

»Hat er irgendwo Zoloft?«, rief sie. Ohne das konnte er nicht existieren.

»Das nicht, nein aber « Sie hörte ein Geräusch, wie wenn Porzellan auf Porzellan kratzte. »Wow.«

»Wow was?« Sie stieß sich vom Bett ab und ging ins Bad.

Wade stand mit dem Deckel des Toilettenspülkastens in der Hand da und blickte in den Kasten hinein. »Okay, Sie haben gesagt, er ist ein Messie, aber würde er wirklich Klamotten ins Klo stopfen?«

Sie lugte ebenfalls hinein und erkannte sofort das limettengrün-dunkelblaue T-Shirt von Vexell Industries, der Firma, die letztes Jahr einen Zehntausendmeterlauf gesponsert hatte, bei dem Clive mitgelaufen war. »Das ist eins von Clives Lieblings-laufshirts. Warum um alles in der Welt sollte er es da hineinstecken?«

Wade griff vorsichtig mit zwei Fingern nach dem Stoff. Gurgelnd lief das Wasser ab, als er das T-Shirt herauszog.

»Er war damals Zweiter, und er « Sie erstarrte, als ihr Blick auf dunkle Flecken fiel. Schauder überliefen sie, als ihr die bräunlich rote Farbe des Wassers ins Bewusstsein drang. »Ist das Blut?«

Er ließ das T-Shirt in den Spülkasten zurückfallen. »Ja.«

Die Hand auf dem Mund wich sie ein paar Schritte zurück und stolperte fast über ein auf dem Boden liegendes Handtuch. War Clive verletzt? War das sein Blut? Mit vor Angst enger Brust trat sie aus dem Bad und merkte kaum, dass Wade an ihr vorbeiging.

Sie hörte, wie sich die Kühlschranktür leise schloss. Im schwachen Licht des Wandschranks sah sie sich im Schlafzimmer um, auf der Suche nach einem Hinweis, irgendetwas, das mehr aussagte als die Hinterlassenschaften eines Mannes, der nach einem Streit mit seinem Liebhaber auf und davon war.

Sie ließ sich auf das ungemachte Bett sinken und presste ihre brennenden Augen zu. Clive, was ist mit dir passiert?

»Möchten Sie jetzt die Polizei rufen oder lieber bis morgen warten?«, fragte Wade, der in den Türrahmen getreten war.

Sie sah auf. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Er deutete auf die Zeitung. »Nicht, dass es beweisen würde, dass er hier war, aber welches Datum trägt das Blatt?«

Vanessa nahm die Zeitung und studierte die Kopfzeile. »Den sechsten. Von vor acht Tagen also.« Sie ließ ihren Blick sinken, und die Schrift verschwamm vor ihren Augen. »Ich wünschte nur, ich wüsste, ob « Plötzlich fiel ihr Blick auf das Konterfei eines Mannes. Eines Mannes, den sie kannte. »Oh mein Gott!«

»Was ist?«

Mit gerunzelter Stirn nahm sie Bild und Text in sich auf und versuchte, den Inhalt zu verarbeiten. »Russell Winslow, Clives Exlover. Sie haben vor Monaten schon Schluss gemacht « Sie verstummte, während sie las. »Sein Auto ist von den Klippen gestürzt.« In ihrem Kopf drehte sich alles, als sie zu Wade hochblickte. »Oh Gott, Wade, glauben Sie, Clive war bei ihm?«

Wade nahm die Zeitung und las ebenfalls. »Es wird nicht gesagt, dass er allein im Wagen war, nur dass das Auto gefunden wurde und « Er überflog die Meldung und sah dann mit verengten Augen auf. »Man geht davon aus, dass bei dem Unfall Manipulation mit im Spiel war.«

Die Schwere seiner Worte und sein anklagender Blick ließen Vanessa zurückweichen. »Sie meinen doch nicht etwa, Clive hätte etwas damit zu tun?«

»Ich denke, man kann davon ausgehen, dass Clive in irgendeiner Form beteiligt ist. Sehen Sie sich doch um, Vanessa. Jemand ist von hier verschwunden. Er wurde seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Was hatten die beiden für eine Beziehung?«

»Die Trennung war schlimm, aber sie waren auf dem Weg, wieder Freunde zu werden. Ich weiß, was Sie denken, aber da irren Sie sich«, sagte sie trotzig. »Clive ist nicht fähig, jemanden umzubringen. Er ist gut, nett, lustig und «

»Leidet unter Depressionen, ist nicht auffindbar und versteckt blutige Klamotten im Klokasten«, ergänzte Wade.

»Und rät mir per SMS, ich soll auf mich aufpassen.«

»Tja vielleicht stehen Sie als Nächstes auf seiner Liste.«

Sie schnellte hoch. »Schluss jetzt damit! Sie kennen den Mann nicht einmal und wollen ihn am liebsten auf dem elektrischen Stuhl sehen. Haben Sie noch nie etwas von Indizienbeweisen gehört?«

»Runter!« Er stürzte sich auf sie und zog sie in einer blitzartigen Bewegung zu Boden, sodass ihr die Luft wegblieb und die Brille von der Nase flog. »Da draußen ist jemand. Ich habe Licht von einer Taschenlampe gesehen.«

Mit einem beherzten Stoß hatte er sie unter das Bett verfrachtet. »Keinen Laut. Nicht atmen. Nicht rühren.« Er nahm die Brille vom Boden und schob sie ihr hin. »Bleiben Sie in Deckung.«