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Maya arbeitete in Thereses Laden auf dem Viktualienmarkt. Der Laden hatte eine Backsteinfassade mit einem großen Schaufenster und war vollgestopft mit Klamotten und Schuhen. Hinten lag ein winziges Büro, in dem Therese ums Überleben kämpfte. Die meisten Geschäfte wickelte sie in bar ab, häufig auf Tauschbasis, bisweilen auch gegen Edelmetalle. Maya wohnte im Laden, trug Thereses Klamotten und schlief unter ihrem Schreibtisch. Therese nächtigte in der Hochhauswohnung ihrer Eltern, zusammen mit wechselnden schmuddeligen, gefährlich wirkenden, wortkargen Freunden.
Es bedeutete eine große Erleichterung für Maya, zur Arbeit gezwungen zu sein, anstatt ständig frei, glücklich und zuversichtlich sein zu müssen. Das war auf die Dauer fürchterlich anstrengend.
Eines Nachts gegen Ende Februar erwachte Maya im Laden und stellte fest, dass sie schlafwandelte und zwanghaft damit beschäftigt war, die Waren in Ordnung zu bringen. Das war Mia zuzuschreiben. Mia ging es gut. Mia mochte dieses Leben. Mia fühlte sich jetzt, da sie eine Aufgabe hatte, ganz in ihrem Element.
Maya arbeitete hart, ohne sich zu beklagen und ohne großen Lohn zu erwarten, und das beeindruckte Therese. Wie die meisten jungen Leute, die sich in der modernen Wirtschaft selbständig gemacht hatten, wusste Therese unentgeltliche Leistungen sehr zu schätzen. Gleichwohl war Maya unzufrieden. Sie konnte die Etiketten nicht lesen, und sie konnte sich nicht richtig mit den Kunden unterhalten. So ging es nicht weiter.
Maya erbettelte sich ein wenig Bargeld von Therese, ging zu einer preiswerten Sprachschule in Schwabing und erstand 500 Milliliter Lehrtinktur. Dieser spezielle Trank sollte einen für Sprache besonders empfänglich machen und dem ›Erwachsenenhirn die syntaktische Aufnahmefähigkeit eines dreijährigen Kindes‹ verleihen. Zwar konnten sämtliche intelligenten Drogen der Welt nicht bewirken, dass die deutsche Sprache leicht zu erlernen gewesen wäre - das mit der ›Aufnahmefähigkeit eines dreijährigen Kindes‹ aber stimmte. Die Neuraldroge machte ihre verinnerlichten Englischkenntnisse ausfindig und stieß unmittelbar hinein, so wie ein Stiefel eine Glasscheibe zerbricht.
»Ist mein Deutsch wirklich so schlecht, Fräulein Obermufti?«
Therese seufzte. »Maya, du überanstrengst dich. Die Leute mögen Ausländerinnen in Boutiquen. Es ist schick, Ausländerin zu sein. Du gibst das Wechselgeld jedenfalls korrekt heraus, und das ist mehr, als Klaudia je zuwege gebracht hat.«
»Ich verstehe nur Wurstsalat. Am Montag muss ich wieder malochen.«
»Würdest du bitte aufhören? Das ist grauslich.«
»Ich muss das tun ... äh ... könnten Sie mir mal das Dingsda im Schaufenster zeigen?«
»Hör mal, meine Liebe, du kannst Kunden in Modefragen nicht beraten. Dir fehlt das Gespür für Chic. Du kleidest dich wie eine kalifornische Göre.« Therese erhob sich. »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass du den Job wie eine Erwachsene angehen würdest. Entspann dich. Du bist eine Illegale, oder hast du das vergessen? Wenn du immer nur ans Geld verdienen denkst, wird irgendwann die Polizei auf dich aufmerksam werden.«
Maya runzelte die Stirn. »Jede Arbeit, die getan werden muss, ist es wert, ordentlich getan zu werden.«
Therese dachte darüber nach. Der Tonfall und die dahinterstehende Haltung sagten ihr gar nicht zu. »Das hätte von meiner Großmutter stammen können. Ich glaube, ich kenne da ein paar Leute, die dir helfen könnten. Hör auf mit dem Unsinn, heute ist sowieso nicht viel los.«
Therese tätigte einige Netzanrufe, dann schloss sie den Laden. Sie fuhren mit der U-Bahn in die Landsbergerstraße und überquerten die Hackerbrücke. Hinter dem Bahnhof ragten die Türme der Marienkirche auf, dem Wahrzeichen des alten Munchen - vereint mit der verführerischen Möglichkeit augenblicklicher Flucht.
Alle jungen Leute schienen Therese zu kennen. Therese hatte zahllose lebendige Freunde. Therese kannte sogar ein paar alte Leute, und es war rührend zu beobachten, dass diese beinahe von gleich zu gleich mit ihr verkehrten. Bisweilen hatte es den Anschein, als sei Thereses Laden nur Fassade. Der Laden war nichts weiter als die physische Konkretisierung ihres weitläufigen, zart geknüpften Graumarktnetzes von Tipps, Unterpfänden, Geld- und Tauschgeschäften, Klamotten von der Stange, subtilen Verpflichtungen und unverhohlenen Schmiergeldzahlungen.
Heute besuchte Therese Freunde, die im Keller eines Wohnhauses in Neuhausen ein Produktionsstudio unterhielten. In der Munchener Innenstadt gab es eindeutige Vorschriften, welche verhindern sollten, dass das Stadtbild mit Hochhäusern verschandelt wurde, daher waren die hiesigen Bauunternehmer unter die Erde gegangen. Die damals so beliebten unterirdischen Gebäude waren mit Anlagen zur Belüftung und Wärmeableitung überbaut und gingen so häufig kaputt, dass man sie irgendwann nur noch an Jugendliche hatte vermieten können.
Thereses Freunde waren Bildner. Ihr Studio lag tief im Innern des Gebäudes, eigentümlich geschnitten und erfüllt vom Röcheln des Ventilators neben der Tür. »Ciao, Franz.«
»Ciao, Therese.« Franz war ein stämmiger Deutscher, mit braunem Bart und einem zerknitterten Laborkittel. An seiner Halskette war eine Cyberbrille befestigt. »[Das ist also das neue Model?]«
»Ja.«
Franz fummelte an seiner Brille herum und scannte Maya, während er ins Studio hinüberging. Er lächelte. »[Interessanter Knochenbau.]«
»[Was meinst du?]« fragte Therese. »[Kannst du mir ein Modell von ihr anfertigen? Vielleicht eine hübsche poröse Plastik?]« Sie feilschten miteinander, in einem mit so vielen Slangausdrücken durchsetzten Deutsch, dass Mayas Übersetzer streikte.
Aus den Tiefen des Labors näherte sich ein weiterer Mann. »He, hallo, wie schön.«
»Ich heiße Maya. Und ich spreche auch englisch.« Maya schüttelte dem Mann die Hand. Er trug einen Plastikhandschuh.
»Ciao, Maya. Ich bin Eugene.« Eugene nahm die Brille ab, ließ sie an der Halskette baumeln und musterte Maya eingehend. »Mir gefällt dein Gespür für Farben. Du hast echt Mut.«
»Bist du Amerikaner?«
»Aus Toronto.« Ohne die Brille sah Eugene richtig nett aus. Ein wenig schlaksig und mit scharf gezeichneten Gesichtszügen, aber voller Energie. Eugene hatte seit längerem nicht mehr gebadet, doch er verströmte einen faszinierenden Geruch, der an warme Bananen erinnerte. »Du warst noch nicht in unserem Studio, hab ich Recht? Komm, ich führ dich mal herum.«
Eugene zeigte ihr eine mit Kameras gespickte Scanmulde und zwei große, durchscheinende Assembletanks. »Hier erfassen wir die Modelle«, erklärte Eugene, »und darin findet die physische Umsetzung statt. Dieser alte Kasten«, er tätschelte die transparente Tankhülle, »ist ein thermoplastischer Realisator mit Laserhärtung. Aber wir betreiben hier keine industrielle Fertigung. Wir sind Kunsthandwerker. Franz hat ein paar faszinierende kulturtechnische Modifikationen entwickelt.«
»Wirklich? Wunderbar.«
»Kennst du dich mit thermogehärteten Arbeiten aus?«
»Nein.«
Eugene war sehr geduldig. Offenbar gefiel sie ihm. »Man füllt den Tank mit einem speziellen Flüssigkunststoff. Dann feuert man Laserstrahlen in den Kunststoff hinein, bis er sich dauerhaft verfestigt. Die Umrisse des Objekts werden von den Bewegungen des Strahls definiert - im Fokus des kohärenten Lichts verfestigt sich die Flüssigkeit. Der Strahl ist natürlich Ausfluss unseres virtuellen Designs - somit können wir reale Gegenstände vollständig im Computer entwerfen. Oder aber wir fotokopieren 3-D-Realitäten. Zum Beispiel deinen Körper. Was wir heute tun werden.«
Der technische Wortschwall schien die Sprachtinktur aus ihrem Kopf zu vertreiben. »Ich glaube, ich habe es begriffen. Das ist so etwas ähnliches wie Fotografie.«
»Genau! Ganz ähnlich wie Fotografie! Plastische Fotografie. Der Kunststoff ist teuer, aber wir können ihn karbonisieren. Wir fertigen davon billige 3-D-Schaumobjekte an, die hauptsächlich aus Gas bestehen. Am meisten Spaß macht es, das Plastik zu einem schaumigen Aerogel zu schlagen. Auf diese Weise können wir ein Gebilde von der Größe eines Elefanten herstellen, das nicht einmal drei Kilo wiegt.«
Maya blickte das Gerät respektvoll an. »Das ist ein großer Tank, aber nicht groß genug für einen Elefanten.«
»Elefanten stellt man in Einzelteilen her, die anschließend zusammengeklebt werden«, erklärte Eugene und verdrehte ein wenig die Augen.
»Tut mir Leid«, sagte sie vorsichtig. »Normalerweise bin ich nicht so begriffsstutzig, aber ich stehe unter Drogen.«
Eugene brach in Gelächter aus. »Du machst mir wirklich Spaß.«
»Dann bist du also eine Art Bildhauer? Ein Künstler?«
»Kunsthandwerk ist nicht dasselbe wie Kunst.«
»Dann bist du also ein Techniker?«
»Kunsthandwerk ist auch nicht bloß Technik. Ich will dir noch etwas zeigen. Du bist ein Model, okay? Das müsste dir eigentlich gefallen.«
Eugene geleitete sie zu einer lebensgroßen unbekleideten Plastikfigur. Die Nackte lag auf dem Rücken, hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt und strahlte animalische Gelassenheit aus.
»Wer war das Modell?«
»Niemand. Und jeder. Die Munchener sonnen sich gern nackt, verstehst du. Also gingen wir letzten Sommer eines Sonntags zum Flauchersteg und scannten ein paar Leute mit unserer Brille. Dann fertigten wir ein virtuelles Mischbild an, das wir im Kunststoff abbildeten; und das kam dabei heraus: die Munchener sonnenbadende Durchschnittsnackte.« Eugene betrachtete die Figur voller Stolz, dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter. »Ihr männliches Gegenstück, der Munchener Durchschnittsnackte, steht dort in der Ecke; im Moment ist er nicht so leicht zu erkennen, weil sich die Beschichtung abgenutzt hat und er aus durchsichtigem Material besteht.«
»Ah ja.«
»Du siehst, dass sie als Model nicht sonderlich attraktiv ist; ich meine, Durchschnittsmenschen sind definitionsgemäß nicht sonderlich auffallend, nicht wahr? Aber das war bloß der erste Schritt. Als Nächsten haben wir sie von etwa hundert Männern betrachten lassen - die alle Brillen trugen, damit wir ihre Augenbewegungen registrieren konnten.«
»Wie hast du hundert Männer dazu bekommen, eine nackte Plastikfigur anzustarren?«
»Wir sind einfach zum Marienplatz geradelt und haben eine Performance veranstaltet. Die Touristen haben bereitwillig mitgemacht.«
»Oh.«
»Dann haben wir die Aufmerksamkeitsstatistik in Algorithmen zusammengefasst, virtuell umgesetzt und das Ergebnis ausgehärtet. Schau dir das mal an.«
Er ging zu einer Ecke und hob ein dünnes schwarzes Tuch hoch.
»Warte einen Moment«, sagte Maya. »Das ... das kenne ich doch. Das ist ...«
»Die Venus von Willendorf.«
»Ja, das ist sie. Genau.«
»Anfangs habe ich geglaubt, wir würden die schönste Frau der Welt herstellen«, sagte Eugene, »eine Frauengestalt, welche die männliche Aufmerksamkeit wie ein Magnet fesselt! Aber herausgekommen ist eine recht ordentliche Replik einer Figur, die irgendein paläolithischer Kerl vielleicht aus einem Mammutzahn geschnitzt hat. Wenn man sich mit Archetypen beschäftigt, kommt automatisch so etwas dabei heraus.«
»Wie sieht der Mann aus?«
»Aus Sicht der Männer oder aus Sicht der Frauen?«
»Aus Sicht der Frauen.«
Eugene zuckte die Achseln. »Ich wusste, dass du das fragen würdest ... Gut, sehen wir ihn uns an.« Er entfernte ein weiteres Tuch.
»Was ging schief?«, fragte Maya.
»Also, das wissen wir nicht genau. Wir glauben, dass es vielleicht am Samplevorgang lag. Ich meine, da rennen ich und Franz, zwei ziemlich merkwürdige Kunsthandwerker, auf dem Marienplatz rum und bitten Fremde, die Brille aufzusetzen und einen nackten Plastikmann anzugucken ... Wir hatten ein paar Freiwillige, aber die Gruppe war zufällig zusammengesetzt, und das ist dabei herausgekommen.«
Die Figur sah aus wie eine große, zornig blickende gehörnte Maske, verbunden mit zwei angeschwollenen Kugeln.
»Sieht so aus, als hätten sie versucht, ihn zu kochen.«
»Siehst du diese drei ... äh ... beinartigen Anhängsel? Eigentlich sollten sie frei im Raum schweben, aber das konnten wir natürlich nicht realisieren. Uns ist immer noch nicht klar, was eigentlich mit der Nase passiert ist; es sieht so aus, als hätten sie unmittelbar durch ihn hindurchgeguckt.«
Maya betrachtete die Statue versonnen. Nach einer Weile verlor sich der anfängliche Eindruck von Hässlichkeit. Es fiel ihr immer schwerer, den Blick davon zu wenden. Sie spürte eine wachsende Erregung. Es war, als entstammte die Figur einem düsteren Winkel ihrer eigenen Vorstellung. »Eugene, dieses Kunstwerk übt eine starke Wirkung auf mich aus. Das kommt mir sehr ... unwirklich vor.«
»Danke.« Eugene zuckte die Achseln. »Als wir dahinterkamen, dass es einen Fehler in der Vorgehensweise gab, verloren wir das Interesse daran. Ich glaube jetzt, dass Selbstportraits vielleicht der nächste Schritt sind. Wir werden dich scannen, dann zeigen wir dir das Ergebnis und zeichnen deinen Aufmerksamkeitsalgorithmus auf, während du deinen eigenen replizierten Körper betrachtest. Auf diese Weise können wir dein Selbstbild in dauerhaftes Plastik gießen.«
»Ich glaube, dieser verbrühte Kugelmann wäre weniger furchteinflößend, wenn er kleiner wäre«, meinte Maya versonnen. »So klein, dass ich ihn zum Beispiel als Amulett an einer Halskette tragen könnte.«
»Das solltest du Franz mal sagen. Franz ist bei uns für die Vermarktung zuständig.«
Therese trat hinzu. »Franz hat gemeint, er gewährt mir einen
Preisnachlass, wenn wir sechs Kopien von dir machen«, wandte sie sich an Maya.
»Ich dachte, wir wollten bloß eine hübsche Puppe fürs Schaufenster anfertigen.«
»Klar, aber wenn wir sechs Kopien machen lassen, kann ich dich weiterverkaufen. Vorausgesetzt, es besteht Nachfrage.«
»Das Mädchen wird sich bestimmt gut verkaufen«, meinte Franz zuversichtlich.
»Das Problem bei Schaufensterpuppen ist, dass sie nicht sehr berührungsfreundlich sind«, bemerkte Eugene. »Aber wir haben uns große Mühe mit den Oberflächen gegeben. Die neuen Beschichtungen fühlen sich an wie nasse Robbenhaut.«
Therese gab einen Laut des Abscheus von sich. »Wir wollen nicht, dass die Leute die Puppen betasten, Eugene. Dabei zerknittern sie bloß die Klamotten.«
Eugene wirkte enttäuscht. Er überlegte, ob er etwas erwidern sollte, dann sah er auf die Uhr. »Also, ich kann nicht länger bleiben, ich muss mich mit einem Hund treffen ...« Er sah Maya an. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Es war richtig nett, mit dir zu plaudern. Hättest du vielleicht Lust, am nächsten Dienstag im Tete du Noye in Prag vorbeizuschauen, falls du nicht zu viel zu tun hast? Weißt du, wo das ist?«
»Nein.«
»In der Prager Altstadt, der Staromestska. Das Tete ist ein Treffpunkt für Kunsthandwerker. Wir sind ein recht munterer Haufen und treffen uns einmal im Monat in Prag. Ich glaube, jemand wie du würde gut dazupassen.«
Franz und Eugene lieferten die sechs Mayas am folgenden
Montag ab. Eugene hatte Schultern, Knie, Ellbogen und Hüften mit Gelenken versehen. Den Schädel hatte er virtuell bearbeitet, sodass die fertigen Schaufensterpuppen kahlköpfig waren.
Der Laden verfügte nun über sechs große Plastiknackte mit leicht verwundertem Gesichtsausdruck. Jede Puppe wog nur etwa fünf Kilo, sodass man ihre Füße beschweren musste, damit sie nicht umfielen.
Maya und Klaudia verbrachten den Tag damit, die Plastikpuppen anzukleiden, ihnen Perücken aufzusetzen, sie zu schminken und vor dem Laden in Position zu bringen.
Klaudia war erstaunlich gut darin. Klaudia war kein Genie im Umgang mit Geld, aber sie verstand sich darauf, die Puppen zur Geltung zu bringen - Puppen, die über Cafetische kletterten, Tennisschläger schwangen oder einander hingebungsvoll an den Zehen knabberten. Diese Freiluftorgie gut gekleideter Mayas war ein wahrer Publikumsmagnet. Maya nahm zwischen den reglosen Plastikpuppen Platz und vollführte auf Klaudias Stichwort hin plötzlich eine Bewegung. Die Wirkung war erstaunlich.
Maya gefiel es, vom Publikum bewundert zu werden. In aller Öffentlichkeit, und noch dazu gleich in mehrfacher Ausführung. Die romantische, naive Maya; die pink gepuderte Maya; die tanzende Maya, behängt mit Modeschmuck und auffallendem, weit geschwungenem Lidstrich; die Maya im weißen, batteriebetriebenen Neonanzug; die lebhafte, Hallo-SeemannMaya im rot-weißen Hosenrock; die sportliche Maya auf Gebirgswanderung; die kühle, klassisch gekleidete Maya mit einem Frappeglas in der Hand. Gleich mehrfach vorhanden zu sein, machte ihr Spaß; ein kleines Spektakel. Als der Tag vorbei war, fühlte Maya sich gleichwohl ausgelaugt und merkwürdig erschöpft.
Es war Thereses kommerziell erfolgreichster Tag seit Monaten. Sie verkauften so viel Ware (einschließlich sämtlicher Maya-Puppen), dass Therese beschloss, die Stadt zu verlassen, um sich auf Einkaufstour zu begeben.
»Du kannst dich ruhig in Prag vergnügen, während ich unterwegs bin«, meinte Therese zu Maya. »Aber du solltest Klaudia mitnehmen. Soviel ich weiß, ist dies das erste Mal, dass Eugene ein Mädchen um ein Date bittet. Wenn du Klaudia mitnimmst, stehen dir mehr Optionen offen.«
»Eugene hat mich nicht um ein Date gebeten, und ich mag ihn nicht mal. Jedenfalls nicht besonders. Außerdem, weshalb sollte ich nach Prag fahren? Hier in Munchen gibt es genug interessante Cafes.«
»Sei doch nicht so stur, Schätzchen. Prag ist eine bedeutende Modestadt. Das Tete du Noye ist in. Du bist ein Model in der Modebranche, daher ist es wichtig für dich, Kontakte zu knüpfen.«
»Das klingt nach mächtig viel Arbeit.«
»Na ja, zumindest ist es eine andere Art Arbeit. Klaudia hat sich mal Ausgang verdient, und du auch. Und wenn du nicht auf Klaudia aufpasst, bekommt sie bloß Ärger. Den kriegt sie immer, wenn sie ausgeht.«
»Das klingt alles so umsichtig und praktisch, Therese. Du bist immer so voller Schliche und Ränke.«
»Ich habe einiges zu erledigen. Von einem leeren Laden kann ich nicht leben, das weißt du ebenso gut wie ich. Schaff mir Claudia für eine Weile aus den Augen - und nimm deine Kamera mit. In Prag gibt es Scharen interessanter Frauen.« Therese kniff die Augen zusammen. »Die lebendigen Prager Mädchen ... Die verstehen sich darauf, fragil und exotisch zu wirken.«
Wenn Therese sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war Widerstand zwecklos. Maya und Klaudia packten ihre Rucksäcke und Kleidersäcke und bestiegen am Dienstagvormittag den Zug nach Prag. Klaudia zahlte. Klaudia zahlte fast immer; sie bekam ein kleines Gehalt sowie eine erkleckliche Summe von ihren wohlhabenden und einflussreichen Munchener Eltern.
Sie machten es sich sogleich in den Sitzsäcken bequem. Maya fühlte sich gereizt und erschöpft. Klaudia war zweiundzwanzig; die Aufregung und die anstrengende Arbeit vom Vortag hatten ihre Laune nur gehoben. Klaudia war zu allem bereit. »[Du solltest besser etwas essen, Maya]«, sagte sie auf deutsch. »[Du isst nie.]«
»Ich bin eben nie hungrig.«
Klaudia stellte ihren Übersetzer richtig ein. Trotz der guten, jahrelangen staatlichen Ausbildung, die sie genossen hatte, war Klaudia im Englischen sehr unsicher. »[Also, heute isst du etwas, sonst kriegst du es mit mir zu tun. Du bist so blass. Schau dir bloß mal die Perücke an. Kannst du dir nicht etwas Mühe geben?]« Klaudia rückte grob Mayas gebrauchten blonden Haarschopf zurecht. »[Du hast wirklich seltsames Haar, Mädchen, weißt du das? Dein eigenes Haar fühlt sich eher nach Perücke an als die Perücke.]«
»Das kommt von meinem Shampoo.«
»[Von welchem Shampoo? Willst du mich verarschen? Du benutzt niemals Shampoo. Ich sollte dir mal einen ordentlichen Proteinkräftiger verabreichen. Ich weiß, dass du dir das Haar lang wachsen lassen willst, aber du solltest es doch ein bisschen schneiden. Ohne Perücke siehst du aus wie eine große ragazzina.]«
»Ja, Klaudia, ich bin die große Ragazzina.«
Klaudia sah sie so an, wie Deutsche sie immer ansahen, wenn sie gebrochen deutsch sprach - als zweifelte sie mit einem Mal an ihrer Intelligenz.
Der Zug fuhr so geschmeidig und lautlos an, wie ein Schlittschuh übers Eis gleitet. Die Plätze waren zu zwei Dritteln besetzt. Klaudia musterte jeden einzelnen Passagier mit der unverhohlenen Neugier der Deutschen. Plötzlich stupste sie Maya mit dem Ellbogen an. »Na, Maya!«
»Was ist denn?«
»[Siehst du die alte Dame mit dem Polizeihund und dem Jungen dort drüben? Das ist die Präsidentin von Magyae Koztarsasag.]«
»Die Präsidentin wovon?«
»[Von Ungarn.]«
»Oh.« Maya schüttelte den Kopf. »Ich weiß, man soll heute alle Leute bei ihren richtigen Namen nennen, aber ungarisch zu sprechen scheint mir zu viel verlangt.«
»[Sie ist eine bedeutende Politikerin. Du solltest dich bei ihr nach der Zugangsadresse ihres Publicity-Palasts erkundigen.]«
»Ich? Ich bin so müde«, erwiderte Maya.
»[Sie ist eine bedeutende Politikerin. Sie spricht bestimmt englisch. Schade, dass du so schlecht gekleidet bist. Ich wünschte, ich wüsste ihren Namen. Du könntest mich mit ihr zusammen fotografieren.]«
»Wenn sie wirklich eine Politikerin ist, wird sie es zu schätzen wissen, dass wir ihre Privatsphäre respektieren.«
»[Wieso?]« fragte Klaudia skeptisch. »[Politiker hassen alles Private. Regierungsleute haben mit Privatsphäre nichts am Hut.]«
Maya gähnte. »Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich fühle mich fix und fertig heute. Mir ist ganz flau. Ich glaube, ich mache ein Nickerchen ...«
»[Ich hol dir was]«, erbot sich Klaudia mit funkelnden Augen und bewegte die Füße in den hochhackigen Schuhen. »[Einen Aufguss. Wie wär’s mit Koffein?]«
»Koffein? Das macht doch süchtig. Und ist die Wirkung nicht unheimlich stark?«
»[Wir haben heute unseren freien Tag! Lass uns mutig sein! Trinken wir Koffein, bis wir sternhagelvoll sind! Wir werden den ganzen Tag in Prag rumlaufen! Prag, die Goldene Stadt!]«
»Okay«, sagte Maya, ließ sich in ihren pastellblauen Sitzsack sinken und klopfte sich gegen das Bündchen. »Nur zu. Hol mir etwas…«
Maya entspannte sich in der wohligen Tiefe des Sitzsacks und blickte zur Wagendecke hoch. Ein leere, glänzende Metallfläche. Dieser Wagen war wirklich antik. Er war für Werbung gebaut worden, bevor man die Werbung weltweit verboten hatte. Zwischen den kahlen Bäumen am Schienenrand hindurch fielen Sonnenstrahlen an die funkelnde Decke. Blitz, blitz, blitz.
Sie erwachte aus dem Schlummer mit einem bohrenden Schmerz hinter den Augen. Irgendetwas tat ihr im Ohr weh. Sie nahm es heraus. Ein Ohrhörer. Die Haut darunter war ganz wund, als trüge sie das Ding schon seit Wochen. Sie hielt das kleine Gerät in der Hand, starrte es verständnislos an, dann ließ sie es auf den Boden fallen ... Was hatte sie da eigentlich an?
Sie trug eine rote Jacke über einem langärmligen, tief ausgeschnittenen Hemdkleid, ein hautenges Teil, das wie Spitze und Schlangenhaut an ihr klebte. Das Kleid endete in der Mitte des Schenkels. Darunter trug sie eine metallische Hose und Halbstiefel mit hohen Absätzen.
Mia erhob sich schwankend. Sie wankte in den grotesken Stiefeln den Mittelgang entlang. Ihre Zehen waren zusammengequetscht, und die Knöchel taten ihr weh. Sie hatte ein sehr eigenartiges Gefühl - sie war ausgehungert, hatte Kopfschmerzen und fühlte sich richtig mies.
Sie befand sich zusammen mit zwanzig bis dreißig Fremden in einem Zugabteil. Am Fenster raste mit erschreckender Geschwindigkeit eine unbekannte Landschaft vorbei.
Ihr wurde ganz mulmig zumute; sie erlebte eine jähe Identitätskrise und einen Kulturschock, sodass sie schwankte und ihr der Schweiß aus allen Poren brach. Dann ließ das Schwindelgefühl nach, und auf einmal fühlte sie sich vollständig verwandelt.
Sie war Mia Zeemann. Sie war Mia Ziemann und reagierte sehr eigenartig auf die Behandlung.
Ein Hund starrte sie an. Es war der Polizeihund der ungarischen Präsidentin. Der Hund hockte auf seinem Sitzsack am Rand des Mittelgangs und wirkte sehr tüchtig in seiner mit Riemen und Knöpfen versehenen Polizeiuniform. Mit wachsam aufgestellten Ohren fixierte er Mia.
Neben dem Hund saß die ungarische Präsidentin mit einem zehnjährigen Jungen. Sie zeigte dem Jungen etwas auf dem Bildschirm ihres Notebooks, deutete mit einem VR-Stab in die virtuelle Tiefe, ein schlankes, elegantes Zugangsgerät, das aussah wie ein Essstäbchen aus Elfenbein. Der Junge blickte vertrauensvoll und fasziniert auf den Bildschirm, und die Präsidentin erklärte ihm mit sanfter Stimme etwas auf ungarisch.
Die alte Frau hatte erstaunliche Hände. Faltige, grobe, starke Hände. Ein Gesicht voller Charakter, ein postmortales Gesicht. Das Gesicht einer willensstarken, sehr gesunden, sehr intelligenten Frau, die hundertzwanzig Jahre alt war, viel Elend gesehen, zahlreiche schmerzhafte Entscheidungen getroffen und alle Illusionen, aber niemals die Selbstachtung oder ihre Hilfsbereitschaft verloren hatte.
Die Dame sprach bestimmt englisch. Sie war eine europäische Intellektuelle, sie sprach bestimmt nicht nur englisch, sondern beherrschte auch noch fünf oder sechs weitere Sprachen. Sie strahlte Autorität aus - nein, sie war eine Autorität. Also würde Mia diese heiligmäßige Frau um Hilfe bitten und sagen, ich bin krank, ich bin hungrig, ich bin schwach, ich habe mich verlaufen, ich bin weggelaufen, ich habe unredlich gehandelt und all meine Verpflichtungen vernachlässigt, ich habe etwas Schlimmes getan, und es tut mir Leid. Es tut mir ja so Leid, bitte helfen Sie mir.
Und die Präsidentin würde sie ansehen und sogleich Herrin der Situation sein. Sie würde weder verlegen noch verärgert reagieren, sondern sehr weise, und sie würde genau wissen, was zu tun sei. Die Präsidentin würde sagen: Meine Liebe, beruhigen Sie sich, setzen Sie sich einen Moment, natürlich werden wir Ihnen helfen. Man würde Netzkonferenzen abhalten, Erklärungen abgeben, sie bekäme Rat und Hilfe und etwas zu essen und einen warmen, sicheren Platz zum Schlafen. Und die zerfledderten Fetzen ihres Lebens würden wieder zusammengeflickt werden und Mia Ziemann in einen großen, warmen Umhang des offiziellen Verzeihens und der Gnade hüllen.
Sie stolperte vorwärts.
Der Hund sagte etwas auf deutsch.
»Wie bitte?«, sagte Mia.
Der Hund wechselte ins Englische. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Miss? Soll ich den Steward rufen? Sie riechen ein wenig aufgeregt.«
Die Präsidentin lächelte Mia höflich an.
»Nein«, sagte Mia, »nein. Es geht mir schon wieder besser.«
»Ein hübsches Kleid. Wie heißen Sie?«, fragte die Präsidentin.
»Maya.«
»Dieser reizende junge Mann ist Laszlo Ferencsi«, sagte die Präsidentin, dem Jungen die Schulter tätschelnd.
»Ich habe im Aufsatzwettbewerb gewonnen!«, platzte Laszlo auf englisch heraus. »Den heutigen Tag darf ich mit der Präsidentin verbringen!«
Maya schluckte mühsam. »Das ist ja toll. Da kannst du wirklich stolz sein.«
»Ich bin die Zukunft«, erklärte Laszlo schüchtern.
»Ich bin ein großes Straßenkind«, erwiderte Maya. Sie tappte zur Toilette, kniete mit quietschenden Strümpfen auf dem Boden nieder und würgte, doch es kam nichts heraus.
Klaudia fand sie auf der Damentoilette, schleppte sie heraus und nötigte sie zum Essen. Als die Kraftbrühe in ihren Kreislauf überging, begann Maya sich wieder besser zu fühlen.
Klaudia drückte Maya behutsam den Übersetzer ins Ohr. »[Als ich den Übersetzer fand, wusste ich, dass du in Schwierigkeiten bist ... Nur gut, dass Therese mich als Aufpasserin mitgeschickt hat!]«
Maya tupfte sich kalten Schweiß von der Stirn. »Kaninchen haben solange keine Probleme, bis sie sich richtig postkaninchenhaft verhalten.«
»[Kein Wunder, dass Eugene dich mag. Du redest genauso verrücktes Zeug wie er. Du solltest bei der Party heute Abend besser in meiner Nähe bleiben. Diese Kunsthandwerker sind ziemlich eingebildete Käuze.]«
Maya blickte aus dem Fenster und löffelte farblose Brühe. Es war ein gutes Gefühl, jemand anders zu sein. Wieder man selbst. Lebendig. Es war viel, viel wichtiger, lebendig zu sein, als eine bestimmte Person. Der dichte böhmische Wald draußen vor dem Fenster, die Bäume schlugen bereits aus. Dann glitten sie mit hoher Geschwindigkeit auf skelettartigen Bögen lautlos über intensiv bebaute grüne Felder hinweg. Künstlich bewässerte Anpflanzungen hoch aufragender Manschettenpilze.
Die riesigen Pilze waren keine Pflanzen. Diese biotechnischen Erzeugnisse waren so konstruiert, dass sie Luft, Wasser und Licht mit einem bislang in der Natur unbekannten Wirkungsgrad in Fette, Kohlenhydrate und Proteine umwandelten.
Ein Feld von Manschettenpilzen konnte eine kleine Stadt versorgen. Die Pilze waren zwei Stockwerke hoch: grün, blattlos, eckig geformt und so porös wie ein Schwamm. Hatte man sich an den Anblick dieser monströsen Gebilde erst einmal gewöhnt, wirkten sie sogar recht hübsch. Und das war gut so, denn sie bedeckten den Großteil des europäischen Ackerbodens.
Den Nachmittag verbrachten sie im Prager Stadtzentrum. In Mala Strana. In der Altstadt, Stare Mesto. Kopfsteinpflaster. Kirchen. Türme, alter Backstein und abgewetzte Steine. Vergoldete Spitztürme, Brücken, feucht glänzende Skulpturen. Die Moldau. Jahrhundertealte Architektur.
Klaudia shoppte wie wild und mästete Maya systematisch mit dem Fast Food der Imbissbuden. Der schmackhafte, nahrhafte Brei hatte auf Maya die Wirkung einer Droge, und die Welt sah auf einmal rosiger aus. Alles war schön und sinnerfüllt.
Sie nahmen die Kameras zur Karel-Brücke mit. Dies war nicht der Höhepunkt der Touristensaison, aber Prag war stets in Mode. Prag war eine Kunststadt, eine Modestadt. Die Menschen kamen hierher, um sich zu zeigen.
Die meisten Touristen waren natürlich alte Leute. Es gab überhaupt viele alte Leute. Und nirgendwo sonst kleideten sich die Frauen bis ins hohe Alter mit solchem Chic. Die Brücke wimmelte von älteren Frauen, von Europas weiblichen Gerontokraten, von gelassenen, heiteren, erfahrenen, besonnenen und allein stehenden Damen. Von energischen, aber sanftmütigen femmes du monde, die menschlichen Schwächen gerade deshalb so große Nachsicht entgegenbrachten, weil ihnen selbst so wenige geblieben waren. Von eleganten Frauen, die sich aufs Zuhören verstanden und ihre Feinde liebten, bis diese zerbröselten. Von schönen, klugen, kultivierten Frauen, die von der Elektrizität ihrer entschlossenen und ausgiebig getesteten Egos ganz sachte vibrierten.
Alte Frauen in Skijacken und weitmaschigen nattierblauen Pullovern. Alte Frauen in schicken, hoch geschlossenen Geschäftsanzügen in pinkfarbenem Apricot, Uniformblau, Eukalyptus. Frauen in modisch gepolsterten Winterpyjamas in Blassgelb und Zwielichtblau. Strenge, elegante Frisuren ohne jede Spur von Grau, kurz geschnitten und mit Seitenscheitel, dazu Schultertücher, über eine Schulter geworfen und mit Muschelbroschen säuberlich befestigt. Chorhemden und Fransenrevers, Musselin, Ripsseide, Chiffons aus Polycarbonat, Marquisette, Matelasse, prachtvoller Krepp und zurückhaltender Lame. Futteralkleider über den schlanken, flachen Linien unauffälliger medizinischer Korsetts. Ein schlankes, postsexuelles Profil mit einer Taille, die in der Mitte des Oberschenkels anzusetzen schien und in schicke Volants und elegante kleine Knoten aus Astrachan und Breitschwanz auslief. Ein wundervolles Gewimmel posthumaner Frauen.
Die alten Männer in der Menge kleideten sich mit säulenhafter abweisender Würde in gegürtelte Mäntel, dunkle medizinische Westen und maßgeschneiderte Jacketts, als wären sie aus der Phase intimen zwischenmenschlichen Kontakts hinausgewachsen. Die alten Männer wirkten distinguiert, unwirklich und äußerst distanziert, eine Rasse gelehrter Eiskönige, die in ihren wunderschönen glänzenden Schuhen so gemessen einherschritten, als würden sie für jeden einzelnen Schritt bezahlt.
Und dann waren da die lebendigen Menschen. Sie waren natürlich in der Minderheit, doch in Prag gab es mehr von ihnen als anderswo, und das machte sie kühn und auffallend.
Junge Männer. Scharen von kühnen, auffallenden jungen Männern, der Männerüberschuss, mit dem jede Generation sich brüstete, bevor ihre erhöhte Sterblichkeitsrate zum Tragen kam. Hüften schwingende junge Kerle mit der glatten, faltenlosen Haut von Engeln, denn Akne war ebenso ausgestorben wie die Pocken. Sie bevorzugten glänzende Jacken, eigenartige schwere Stiefel und gemusterte Halstücher. Diese Generation junger Männer war von Geburt an mit biochemischem Manna gefüttert worden, sie hatte makellose Zähne, scharfe Augen und bewegte sich mit tänzerischer Anmut. Die wahren Dandies unter ihnen trugen dekorative Ohrübersetzer und verschmähten auch nicht einen Hauch von Rouge, um die Wangenknochen zu betonen.
Lebendige Frauen. Gemusterte Kleider mit schwarzen Ärmeln, grell gemusterte Schals, wirbelnde Capes aus Webpelz, Galoschen aus Geschützlegierung mit geschwungenen kleinen Knöchelkrägen. Kokette kurze Jäckchen, jede Menge roter Lack. Rucksäcke mit kleinen Glöckchen, klirrende Spangen und dick aufgetragener Lippenstift. Prag hatte eine Vorliebe für karierte Winterhandschuhe, die an den Fingerspitzen abgeschnitten waren, sodass die dolchartigen lackierten Fingernägel herausschauten. Breite, eng geschnallte Gürtel, welche die Hüften betonten. Und Decolletes, hormonpralle halb enthüllte Busen, trotz des Winters. Große, kissenartige, lebendige Brustansätze, die jenseits allen modischen Anspruchs zum politischen Statement wurden.
Die jungen Frauen ließen sich bereitwillig fotografieren. Sie lachten Maya an und posierten vor der Kamera. Viele Leute in Prag, selbst die Kinder, trugen Cyberbrillen, jedoch keiner mehr eine Sehbrille. Korrekturlinsen als Sehprothese waren ebenso ausgestorben wie das Holzbein.
Prag vermittelte Maya neue Einsichten.
Auf einmal begriff sie die tiefe Verbundenheit zwischen den alten europäischen Stadtzentren und den jungen Europäern. Die realen und ernsthaften Geschäfte wurden in den riesigen, hochtechnisierten, intelligenten Hochhaussiedlungen rings um die Stadtzentren getätigt - in Gebäuden mit hoch entwickelter Infrastruktur, in denen die Technik des späten einundzwanzigsten Jahrhunderts in Diamantgerippe und optisch leitende Glasfasern eingebettet war.
Gleichwohl brachten es die Machthaber nicht über sich, ihr kulturelles Erbe zu zerstören. Ohne ihre kulturellen Wurzeln wäre ihnen nicht einmal mehr die Fiktion einer Alternative geblieben, und sie wären in der schrecklichen Leere des postindustriellen Pragmatismus gefangen gewesen. Sie schätzten die alternden Backsteine und verschimmelten Mauern, und die europäische Jugend wurde aus ganz ähnlichen Gründen hoch geschätzt und gleichzeitig an den Rand gedrängt.
Junge Menschen lungerten in alten Städten herum. Sie bildeten eine urbane Symbiose mit dem wirtschaftlichen Abseits, das Bindeglied zwischen der unzerstörbaren Vergangenheit und einer Zukunft, die man noch nicht zulassen wollte.
Maya und Klaudia kleideten sich auf einer Toilette um und ließen das Gepäck in einem öffentlichen Schließfach zurück. Das Tete du Noye lag in der Opatovicka-Straße; ein dreistöckiges Gebäude mit einem schindelgedeckten Steildach. Man gelangte über eine kleine Treppe mit abgewetzten Stufen und schmiedeeisernem Geländer hinein und musste anschließend eine etwas längere Holztreppe zu einem fensterlosen Kellerraum hinuntersteigen, in dem die Bar untergebracht war. Die ganzen Treppen machten architektonisch kaum Sinn, doch das Gebäude war mindestens fünfhundert Jahre alt. Es hatte so viele historische Umbrüche mitgemacht, dass es eine Patina hatte wie ein metamorpher Stein.
Klaudia und Maya wurden am Fuß der Treppe von einer älteren gefleckten Dogge in einem zerschlissenen Pullover und gestreifter Hose in Empfang genommen, wahrscheinlich das hässlichste intelligente Tier, das Maya jemals gesehen hatte. »Wer hat euch hergebeten?«, fragte der Hund auf englisch und knurrte unverhohlen drohend.
Maya blickte sich rasch in der Bar um. Der Raum wurde von ein paar flackernden bläulichen Glühbirnen und einem blass schimmernden rechteckigen Wandbildschirm erhellt. Es roch nach Jod und Tang. Vielleicht auch nach Blut. Zwanzig Leute waren anwesend, düstere Gestalten, die sich um niedrige Tische herum auf Sofas fläzten. Viele von ihnen trugen Brillen. Das Licht des Cyberraums sickerte an den Linsenrändern vorbei. Von Eugene war nichts zu sehen.
»Der Typ dort drüben hat uns eingeladen«, log Maya schlagfertig, zeigte in eine Ecke und winkte. »Hey!«, rief sie. »Na, Mensch! Ciao!«
Der Fremde schaute natürlich hoch und winkte höflich zurück. Maya zwängte sich am Hund vorbei.
»[Na, Maya]«, flüsterte Klaudia, Tuchfühlung haltend. »[Wir sind ein bisschen overdressed. Das ist ja ein Leichenkeller.]«
»Mir gefällt’s«, sagte Maya voller Optimismus und Zuversicht. Sie ging zur Bar.
Es spielte leise, blecherne Instrumentalmusik. Der Barkeeper war damit beschäftigt, ein winziges Ventil an einem gewaltigen, verästelten Tinkturenset zu reparieren und blickte ratsuchend auf einen Bildschirm. Das Tinkturenset nahm die ganze Breite der Mahagonibar ein, wog etwa vier bis fünf Tonnen und sah aus, als wären die damit hergestellten Getränke in der Lage, ein ganzes Stadtviertel zu zerstören.
Der Barkeeper trug einen dünnen, geschmeidigen, transparenten Schutzanzug. In dieser Kleidung hatten mutige Sozialdienstler dereinst verseuchte Orte aufgesucht. Unter dem glänzenden, luftdichten Überzug war der Barkeeper nackt. Sein Körper war von Kopf bis Fuß mit dichtem grauem Pelz bedeckt. Aus der Ferne betrachtet wirkte seine Körperbehaarung wie ein graues Wolltrikot.
Beunruhigenderweise nahm der Barkeeper nun endlich Notiz von ihnen. Er klappte das Notebook lautstark zu und kam herbeigeschlurft. Er war entweder sehr alt oder sehr krank und bewegte sich, als habe er Fußschmerzen.
Sein Gesicht war vollständig von grauem Bart überwuchert - weder die Augenbrauen noch Nase, Stirn, Ohren oder Schläfen waren zu sehen. Die unbehaarten Lippen und Augenlider waren drei bleiche Flecken inmitten des ausladenden, alles erstickenden Schnäuzers.
»Ihr seid neu hier«, bemerkte der Barkeeper mittels eines Außenlautsprechers.
»Das stimmt. Ich bin Maya, das ist Klaudia. Wir machen Mode.«
Der Barkeeper musterte sie im relativ hellen Licht der unmittelbar über der Mahagonibar angebrachten Lampen. Auf dem Scheitel hatte er einen kleinen, schorfigen kahlen Fleck. »Ich mag junge Mädels in hübschen Klamotten«, meinte er schließlich augenzwinkernd. »Wenn der Hund Ärger macht, sagt ihm, er soll sich an den alten Klaus wenden.«
Maya schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Vielen Dank. Es ist sehr freundlich von dir, uns in dein berühmtes Lokal einzulassen. Wir machen auch bestimmt keinen Ärger. Dürfen wir fotografieren?«
»Nein. Was wollt ihr trinken?«
»Koffein«, sagte Klaudia tapfer.
Nach einer Weile knallte Klaus zwei Mokkatassen auf die Bar. »Wollt ihr tierische Sahne?«
»Nein, danke«, entgegnete Klaudia mit kaum verhohlenem Abscheu.
»Dann kostet’s nichts«, meinte Klaus und nahm seine Reparaturarbeit wieder auf.
Maya und Klaudia nahmen die Tassen und Unterteller zu einem Couchtisch mit und setzten sich nebeneinander aufs Sofa. Klaudia legte den gerippten Umhang ab und schauderte in ihrem pinkfarbenen zerknitterten Top.
»[Hier bin ich offenbar auf der falschen Party]«, stöhnte sie verhalten. »[Ich dachte, hier gibt es Tanz und Musik und öffentlichen Sex und vielleicht ein paar Anandamine. Diese Bar ist ja eine Gruft. Was spielt da eigentlich für eine fürchterliche Musik?]«
»Das ist alte akustische Analogmusik. Damals hatte der Sound wenig vertikale Farbe. Die Instrumente wurden aus Holz und Tierorganen gefertigt.«
Klaudia nippte nervös am Mokka. »[Weißt du, wo das Problem liegt, Maya? Das hier ist eine Party für Intellektuelle.
Wenn man jung ist, ist es dämlich, intellektuell zu sein. Intellektuell sollte man sein, wenn man hundert ist und nichts mehr empfindet. Intellektuelle sind ja so eingebildet! Sie verstehen nicht zu leben!]«
»Klaudia, entspann dich, okay? Es ist noch früh am Abend.«
Der Wandschmuck war das Wärmste und Einladendste am Tete du Noye. Er wirkte weder glas- noch bildschirmartig, sondern eher wie Leinwandmalerei. Der Bildschirm war in Hunderte von Fragmenten aufgeteilt, in ein Wabenmuster einzelner Zellen, die langsam durcheinander wogten. Die Zellen schwammen umeinander, pulsierten, rotierten und veränderten sich. Ein digitaler Blumentanz.
Maya hob die Mokkatasse, führte sie vorschriftsmäßig an die Unterlippe und setzte sie wieder ab. Sie beobachtete eine Weile, wie Klaudia nervös auf dem Sofa herumrutschte, dann blickte sie wieder den Wandschirm an. Das bernsteinfarbene Blumenmuster war fast vollständig verschwunden und hatte einer wachsenden Anzahl kalter, geometrischer Kristalle Platz gemacht.
Sie wusste nicht genau, wie sie darauf kam, hatte aber irgendwie das Gefühl, die Wand beobachte sie. Vielleicht waren Kameras hinter dem Bildschirm versteckt. Sah man das Wandbild unmittelbar an, verlangsamte sich die Bewegung drastisch. Es geriet erst dann in Bewegung, wenn niemand hinsah.
Maya öffnete den Rucksack und betrachtete die Wand verstohlen im Make-up-Spiegel. Die Wand wähnte sich offenbar unbeobachtet. Die kleinen Zellen wurden quicklebendig, wechselten Informationsfunken aus, paarten sich, wirbelten umher, veränderten sich ständig. Maya klappte das Etui zu und wandte das Gesicht abermals dem Bildschirm zu. Sogleich erstarrten die Zellen schuldbewusst und krochen nur mehr brav umher.
Eugene kam hereingeschlendert. »Ciao, Maya!«
»Ciao, Eugene.« Sie war froh, ihn zu sehen. Eugene hatte gebadet. Er hatte sich gekämmt. Er sah sehr elegant aus in dem langen Brokatmantel und den Röhrenhosen.
Eugene lächelte einnehmend. »Was ist los, Camilla?«
»Klaudia«, sagte Klaudia stirnrunzelnd und zog die Beine aufs Sofa.
Eugene setzte sich. »Ihr hättet euch an der Bar einloggen sollen! Das ist hier im Tete so üblich. Ich wusste nicht mal, dass ihr schon da seid.«
»Es gibt immer ein erstes Mal, Eugene.«
»Die meisten Leute loggen sich schon zu Hause ein und kündigen an, dass sie kommen. Die Szene ist voll vernetzt. Das Tete ist unser Treffpunkt, wenn wir mal Tuchfühlung brauchen. Freut mich, dass ihr gekommen seid. Wie gefällt euch unser Wirt?«
»Mir gefällt er nicht besonders«, erklärte Klaudia in affektiertem Englisch.
»Ein erstaunlicher Typ, findet ihr nicht? Er ist ein faszinierender Geschichtenerzähler. Hat zahllose Stories auf Lager. Er war mal Kosmonaut.«
»Tatsächlich?«
»Ja, in der einzigen tschechischen Mondkolonie. Hat die Seuchenjahre auf dem Mond verbracht. Deshalb trägt er den Anzug. Damals haben sie aufgrund der Langzeitstrahlung Probleme mit dem Immunsystem bekommen. Anfangs hat er es auf der Erde ohne Schutzanzug versucht, aber da bekam er Staphylokokken und hat ‘ne Menge Narben zurückbehalten. Deshalb hat er sich auch den dichten Pelz machen lassen.«
»Einem Kosmonauten bin ich noch nie begegnet.«
»Also, jetzt kennst du einen. Klaus gehört das Tete. Ich muss dich warnen, Klaus redet nicht gern über die Zeit auf dem Mond. Die meisten seiner Freunde sind bei der Explosion, dem Putsch und den Säuberungen umgekommen. Aber für die hiesige Szene ist er eine Bereicherung. Er ist der einzige tschechische Lunarier, ein Nationalheld. Daher lässt ihm der Prager Stadtrat freie Hand. Klaus ist kein spießiger Gerontokrat, er hat eine Menge durchgemacht. Mit ihm konnte man Pferde stehlen.«
»Wegen mir brauchst du nicht deutsch zu sprechen«, meinte Klaudia schmollend.
»Deutsch ist kein Problem! Dort drüben sitzt ein Skipetare, der jemanden sucht, der Gegisch spricht. Gegisch oder Toskisch.«
»Wo kommt er her?«
»Aus Tirana.«
Klaudias Miene hellte sich ein wenig auf. »[Ich mag Skipetaren]«, sagte sie auf deutsch. »[Sie sind so industriell und romantisch. Was macht er so?]«
»VR«, antwortete Eugene.
»[Prima].« Klaudia erhob sich und ging weg.
Maya klopfte auf den freien Platz. »Komm, setz dich zu mir.«
Eugene rückte vorsichtig näher.
»Erzähl mir von der Frau, die das Wandbild gemacht hat.«
»Woher weißt du, dass es von einer Frau stammt?«
»Das sehe ich einfach.«
Eugene blickte zur Wand, deren Bewegung sich sogleich verlangsamte. »Das ist ein automatisches Zelldisplay. Offenbar aus den Sechzigern. Ich hoffe, sie hat es solide gebaut, denn eine so alte Plattform zu reparieren, ist ziemlich schwierig.«
»Es ist wunderschön, findest du nicht? Dieser Trick hat mich fast wütend gemacht, bis mir klar geworden ist, was sie damit sagen wollte.«
Eugene kratzte sich am Kopf. »Da muss ich passen. Das geht über meinen Horizont. Paul weiß bestimmt darüber Bescheid, Paul ist ein Gelehrter.«
»Wer ist Paul?«
Eugene lächelte zurückhaltend. »Paul macht die Gesetze der Szene. Weißt du, ich hab’s nicht gern, wenn man mir vorschreibt, was ich denken soll. Für Ideologie hab ich nichts übrig. Aber Paul vertraue ich. Und ich glaube, Paul vertraut mir.«
»Ist Paul zufällig hier? Stellst du mich ihm vor?«
»Klar.«
Eugene geleitete sie durch die Bar. Ein halbes Dutzend Leute drängten sich um einen muskulösen rothaarigen jungen Mann in einem auffallenden Display-Anzug. Auf der Jacke war ein eindrucksvolles Satellitenbild des nächtlichen Prag abgebildet, beleuchtete Straßen zogen sich über das schwarze Revers und beide glänzende Ärmel. Er gab gerade auf französisch eine amüsante Anekdote zum Besten. Die hingerissenen Zuhörer lachten laut, vermischt mit den geselligen Lauten, wie sie Insider-Witze begleiten.
Maya wartete geduldig, bis die Geschichte in unverständlichem Kauderwelsch endete. Dann ergriff sie eilig das Wort. »Ciao, Paul! Würde es dir etwas ausmachen, englisch zu sprechen?«
Der Rothaarige kratzte sich im Bart. »Ich schätze die englische Sprache durchaus, aber Paul sitzt dort am Tischende, Schätzchen.«
»Oh.«
»Mach das nicht wieder, okay?«, murmelte Eugene. Er geleitete sie an einem Durcheinander von Beinen und Getränken vorbei.
Paul war dunkelhaarig, untersetzt, glattrasiert und in eine Unterhaltung mit einer hakennasigen Frau mit schwarzem Pony und ungeschminkten Lippen vertieft. Paul hantierte mit einer übergroßen Serviette. Das quadratische Tuch besaß anscheinend ein Eigenleben. Es zuckte und wand sich und wollte offenbar Pauls Unterarm hinaufklettern.
»Ich hol dir was zu trinken«, flüsterte Eugene.
»Ein Mineralwasser? Danke.« Maya setzte sich auf die Sofakante und hörte zu, wie Paul und die dunkelhaarige Frau in fließendem Italienisch über das funkelnde, eigenwillige Tuch plauderten.
Paul trug graue Stoffhosen und ein verblasstes, khakifarbenes geknöpftes Stoffhemd; den Mantel hatte er über die Sofalehne geworfen. Die Frau trug eine dunkle Strumpfhose, Stiefel und ellbogenlange weiße Datenhandschuhe. Sie gab sich große Mühe, Maya zu übersehen.
Paul kniff nachdrücklich in eine Ecke des Tuches. Das sich windende Tuch erschlaffte. Er verband das Tuch mit einem dünnen Kabel, zog ein Notebook unter dem Sofa hervor, hämmerte, unablässig auf italienisch weiterredend, auf die Tasten und kommentierte die Anzeige in grusligem englischem Technikjargon.
Schließlich drückte Paul die Entertaste. Dann wandte er sich wachsam Maya zu. »Amerikanerin?«
»Ja.«
»Kalifornierin?«
»Das stimmt.«
»Aus San Francisco.«
»Gut geraten.«
»Ich bin Paul, aus Stuttgart. Ich programmiere. Das ist Benedetta, eine Programmiererin aus Bologna.«
»Maya. Ich komme eigentlich nirgendwo her. Und ich mache auch nicht viel.« Sie reichte der Frau die Hand über den Tisch.
»Du bist ein Model«, sagte Benedetta gelangweilt.
»Ja. Manchmal. Hin und wieder.«
»Schon mal einen Gedanken in deinem hübschen Kopf hin und her gewälzt?«
»Eigentlich nicht, aber sollte ich mal über einen stolpern, kann ich mir alleine den Staub abklopfen.«
Paul lachte. »Benedetta, sei nicht taktlos.«
Benedetta streifte mit dem Datenhandschuh über Mayas Finger und ließ sich ins Polster zurücksinken. »Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um mich mit diesem Mann zu unterhalten. Ich hoffe, du kannst dich mit dem Flirten so lange zurückhalten, bis alle besoffen sind.«
»Benedetta ist katholisch«, erklärte Paul.
»Ich bin nicht katholisch! Bologna ist die unkatholischste Stadt in ganz Europa! Ich bin Anarchistin, Künstlerin und Programmiererin! Ich will den letzten Gerontokraten an den Eingeweiden des letzten Priesters baumeln sehen!«
»Benedetta ist ein Musterbeispiel an Takt«, meinte Paul.
»Ich wollte mich bloß nach dem Wandbild erkundigen«, sagte Maya.
»Der Garten Eden, Eva Maskova, 2053«, antwortete Paul.
Eugene war mittlerweile von der Bar zurückgekehrt, wurde aber von einer weiteren Geschichte des Erzählers aufgehalten. Eugene stützte sich mit den Ellbogen auf die Sofalehne, lachte prustend und nippte geistesabwesend an Mayas Mineralwasser.
»Erzähl mir von dieser Eva. Wo lebt sie jetzt?«
»Sie hat zu viele Tinkturen getrunken, ist vom Fahrrad gefallen und hat sich den Hals gebrochen«, erklärte Benedetta ungerührt. »Die Ärzte haben sie aber wieder zusammengeflickt. Dann hat sie einen reichen spanischen Banker geheiratet und arbeitet jetzt in einem dämlichen Hochhaus in Madrid für die Politas.«
Paul schüttelte leicht den Kopf. »Du bist nachtragend. Damals hatte Eva das heilige Feuer.«
»Das sagst du, Paul. Ich habe sie getroffen. Sie ist eine perfekte kleine Bourgeoise in mittleren Jahren, die ihre Topfpflanzen pflegt.«
»Trotzdem hatte sie das heilige Feuer.«
Maya ergriff das Wort. »Das Wandbild. Das sagt eine Menge aus über Leute wie euch, nicht wahr? Wenn ihr allein seid, bewirkt ihr wahre Wunder. Aber wenn man auch genauer unter die Lupe nimmt und von außerhalb analysiert, dann vertrocknet ihr.«
Paul und Benedetta wechselten überraschte Blicke, dann wandten sie sich Maya zu.
»Ich hoffe doch, du bist keine verhinderte Schauspielerin«, sagte Benedetta.
»Keineswegs.«
»Du tanzt nicht? Singst nicht?«
Maya schüttelte den Kopf.
»Du beschäftigst dich überhaupt nicht mit Kunst?«, fragte Paul.
»Nein. Na ja - hin und wieder fotografiere ich.«
»Hab ich’s mir doch gedacht«, meinte Benedetta triumphierend. »Zeig mir deine Brille.«
»Ich habe keine Brille.«
»Dann zeig mir deine Kamera.«
Maya holte die Touristenkamera aus der Webtasche. Benedetta lachte auf. »Ach, das ist hoffnungslos! Welche Erleichterung! Einen fürchterlichen Moment lang habe ich gedacht, ich hätte eine Intellektuelle vor mir, die gerne Paillettenhosen trägt.«
Ein hochgewachsener Mann in einem langen grauen Mantel und schmutziger Arbeitshose kam die Treppe heruntergestolpert. »Emil ist da«, meinte Paul erfreut. »Emil hat es nicht vergessen! Erstaunlich! Einen Moment.« Er stand auf und entfernte sich.
Benedetta sah Paul irritiert nach. »Jetzt hast du es geschafft«, sagte sie. »Wenn Paul sich erst einmal mit diesem Narren im Geiste einlässt, findet er kein Ende mehr.« Sie zog den sich windenden Datenhandschuh aus und erhob sich.
So wollte Maya sich nicht abspeisen lassen. Nicht jetzt, wo sie kurz vor dem Durchbruch stand. »Benedetta, bleib hier.«
Benedetta war verblüfft. Sie blickte Maya unmittelbar in die Augen. »Weshalb sollte ich?«
Maya senkte die Stimme. »Kannst du ein Geheimnis wahren?«
Benedetta runzelte die Stirn. »Was für ein Geheimnis?«
»Ein Programmiergeheimnis.«
»Was weißt du schon vom Programmieren?«
Maya beugte sich vor. »Nicht viel. Aber ich brauche einen Programmierer. Weil mir ein Erinnerungspalast gehört.«
Benedetta nahm wieder Platz. »Tatsächlich? Ein großer?«
»Zweimal ja.«
Benedetta beugte sich vor. »Illegal?«
»Wahrscheinlich.«
»Wie kommt eine wie du an einen illegalen Erinnerungspalast?«
»Was glaubst du denn, wie eine wie ich an einen illegalen Erinnerungspalast kommt?«
»Ich spekuliere nicht gern«, sagte Benedetta und spitzte die Lippen. »Soll ich raten? Als Gegenleistung für sexuelle Gefälligkeiten.«
»Nein, bestimmt nicht! Na ja ... Ja, irgendwie schon. Könnte man so sagen.«
»Dann wollen wir mal deinen Palazzo aufsperren und einen Blick hineinwerfen.« Benedetta wickelte sich das Tuch energisch um den Hals. Es zuckte ein wenig, dann leuchtete es in einem goldfarbenen und braunen Muster auf. Benedetta ergriff ihr kleines Notebook und die mit Zierknöpfen besetzte Handtasche. »Wir ziehen uns besser hinter die Bar zurück, dort ist es diskreter.«
»Du hast so viel Geduld mit mir, Benedetta. Ich möchte nicht aufdringlich sein.«
Benedetta starrte sie eine Weile an, dann senkte sie den Blick. »Schon gut. Ich war unhöflich. Tut mir Leid. Ich werde mich bessern. Können wir?«
»Ich nehme deine Entschuldigung an.« Maya erhob sich. »Gehen wir.«
Benedetta führte sie in eine besonders blau ausgeleuchtete Nische hinter der langgestreckten Mahagonibar. Jemand hatte auf dem Tisch Blutproben untersucht. Zerknüllte Chromatogramme und ein Moskito mit Diamantrüssel lagen auf dem Tisch.
Benedetta wischte den Abfall beiseite, stellte das Notebook ab und zog die Antenne heraus. »So. Was brauchen wir noch? Handschuhe? Brille?«
»Ich brauche einen Touchscreen für mein Passwort.«
»Einen Touchscreen! Muss wohl Schicksal sein, dass ich meinen Furoshiki dabeihabe.« Benedetta riss sich das Tuch herunter, legte es auf den Tisch und strich glättend darüber. »Damit wird es gehen. Er ist aus Japan. Die Japaner lieben seltsame Geräte.« Sie steckte einen Zipfel des reglosen Tuchs ins Notebook, worauf das Tuch plötzlich das strahlende Weiß einer Eierschale annahm.
»Einen Furoshiki habe ich noch nie gesehen.« Maya beugte sich über den Tisch. »Davon gehört allerdings schon ...« Das intelligente Tuch bestand aus einem dichten Geflecht optisch leitender Fäden, organischer Schaltkreise und piezoelektrischer Faser. Die hauchdünnen optischen Fäden sonderten winzige farbige Lichtpixel ab. Ein gewebter Bildschirm. Ein biegsamer Stoffcomputer.
Benedetta öffnete die Handtasche, holte eine exquisite italienische Designerbrille hervor und setzte sie auf.
»Die ist toll«, sagte Maya.
»Brauchst du Brille und Handschuhe? Da bist du hier richtig. Am besten fragen wir mal Bouboule. Bouboule können wir vertrauen. Einverstanden?«
»Ich denke schon.«
Benedetta schloss die Brille an und tippte in paar Befehle in die Luft. »Du wirst Bouboule mögen«, meinte sie. »Jeder mag Bouboule. Sie ist reich, großzügig, komisch, promiskuitiv und zeigt den Bullen gern eine lange Nase. Mit vierzig ist sie tot.«
Benedatta streichelte die Notebooktasten. Dann fixierte sie Maya über den Tisch hinweg. Mayas farbiges Ebenbild erschien auf dem Tuch.
»Das Wunder der Heiligen Veronica!«, scherzte Benedetta. »Zeig mir mal die Passgeste.«
»Die ist ein großes Geheimnis. In der Beziehung bin ich vorsichtig. Das wirst du doch wohl verstehen, Benedetta.«
»Du bist sehr hübsch«, meinte Benedetta bedächtig, blickte auf den Bildschirm und tippte etwas. »Du solltest nicht so hübsch sein und mich nicht so sehr unter Druck setzen.«
»Mein Aussehen ist eine Frage der Technik. Du bist hübsch. Wenn du möchtest, sorge ich dafür, dass du richtig lebendig aussiehst.«
»Ich hasse Körperverschönerung«, sagte Benedetta und ließ die Finger kundig über die Tasten gleiten. »Jetzt, da Frauenkörper ewig in Form bleiben, ist es noch schlimmer geworden. Wir Frauen sind so sehr weiblicher Körper, dass es geradezu tödlich ist, wir müssen sogar in Schönheit sterben. Selbst Paul ... er unterhält sich mit mir über irgendein theoretisches Problem.
Wie ein Kollege! Wie ein Philosoph! Dann taucht dieses Glamourgirl mit den geschminkten Lippen und der Perücke auf, und man könnte meinen, seine kleine Muse sei eben aus dem Zug gesprungen. Frauen werden niemals klug! Männer denken über Schönheit nach, wir aber müssen schön sein. Daher verkörpert immer die andere das Weibliche, und wir stehen niemals im Mittelpunkt.«
Maya blinzelte. »Männer und Frauen denken einfach unterschiedlich, das ist alles.«
»Ach, das ist doch dumm! ›Anatomie ist Schicksal.‹ Das alles gilt jetzt nicht mehr, verstehst du? Anatomie ist jetzt ein Geschäft! Du möchtest ein paar komplizierte männliche Gleichungen lösen, kleines Glamourgirl? Dann ramm dir ein paar Stecker in den Kopf, und in einer Woche bringe ich dir das Rechnen bei!«
»Dabei können Blutgefäße platzen.«
»Hab dich doch nicht so, Schätzchen. Ich wette, was du mit deinen Brüsten angestellt hast, war tausendmal radikaler als Mathematik. Warte mal - ich hab’s gleich.«
Benedettas eierschalenfarbener Furoshiki färbte sich schiefergrau. »Das ist gut. Gleich habe ich eine öffentliche Netsite gefunden ... So, das wär’s.«
Bouboule gesellte sich zu ihnen. Bouboule hatte einen lackierten, klassisch geformten Mund, kein Kinn und große, leuchtende braune Augen. Sie trug einen bowlerartigen Hut mit schmaler Krempe, eine schicke Brille an einer Halskette, einen Strickpullover, ein langes Halstuch und einen großen gelben Rucksack.
»Ciao, Benedetta.«
»Bouboule ist aus Stuttgart«, sagte Benedetta. »Wie heißt du noch gleich?«
»Maya.«
»Maya wird uns ein Geheimnis zeigen, Bouboule.«
»Ich liebe Geheimnisse«, sagte Bouboule und nahm kichernd Platz. »Wie reizend von dir, Maya, deine Geheimnisse mit Nobodys wie uns zu teilen. Hast du was dagegen, wenn mein Affe zusieht?«
Ein goldfarbener Krallenaffe kletterte Bouboules kräftigen Rücken hoch und setzte sich auf ihre Schulter. Der Affe trug Abendkleidung, Schlips und Smoking. Seine Augen waren zwei funkelnde metallische Knöpfe. Eine implantierte Spiegelbrille.
»Spricht dein Affe?«, fragte Maya. Der Affe trug keine Schuhe. Die pelzigen Pfoten, die aus den Hosenbeinen herausschauten, wirkten eigentümlich abstoßend.
»Mein Affe ist ein Virtualist«, meinte Bouboule leichthin. »Maya, wo hast du deine Brille?«
»Ich habe keine Brille. Und auch keine Handschuhe.«
»Quel dommage!«, sagte Bouboule hocherfreut. »Meine Onkel stellen hier in Stuttgart Brillen her. Ich habe vier Onkel. Alles Brüder meiner Mutter. Weißt du, wie selten heutzutage vier Brüder sind? Fünf Kinder! Sowas kommt kaum noch vor! Aber mir passieren immer unwahrscheinliche Sachen.« Bouboule öffnete den Rucksack und reichte Maya eine in Plastik verpackte Brille mit Metallfassung.
»Flüssigkeitsfilm?«, bemerkte Maya, als sie die Linsen begutachtete.
»Wegwerflinsen«, meinte Bouboule achselzuckend. »Nimm diese Datenhandschuhe - allerdings würde ich nicht gerade behaupten, die seien der letzte Schrei. Sowas trägt man auf Parties, wenn man nicht weiß, wo man am nächsten Morgen aufwacht. Brich dir nicht die Finger, streck sie vorsichtig aus ... so ist’s gut.«
»Das ist nett von dir, dass du sie mir ausborgst«, sagte Maya.
»Ich hab auch was für dich, Maya«, meinte Benedetta impulsiv. Sie langte mit zwei Fingern hinter den Rollkragen ihrer Bluse und zog ein Diamantcollier mit einem an einer dünnen Goldkette befestigten Anhänger hervor. »Hier. Für dich. Du hast eher Verwendung dafür als ich.«
»Eine Diamanthalskette?«
»Guck nicht so überrascht, jeder Idiot kann Diamanten herstellen«, sagte Benedetta. Sie reichte das Collier Maya. »Sieh dir mal den Anhänger an.«
»Eine kleine Nachtigall in einem goldenen Nest! Das ist wirklich hübsch, Benedetta. Aber das kann ich nicht annehmen.«
»Gold ist Dreck. Krieg dich wieder ein und hör zu. Das Vogelnest steckst du dir ins Ohr. Die Diamanten sind Speicher, sie enthalten die europäischen Sprachen. Siehst du die kleinen Zahlen? Der Vogel bebrütet im Moment gerade Englisch, Italienisch und Französisch. Italienisch brauchst du nicht so dringend, also leg Englisch ein, das ist das Ei Nummer eins ... Leg Englisch mitten ins Nest und befestige Italienisch wieder am Halsband. Italienisch ist das Ei Nummer siebzehn.«
»Italienisch kommt an siebzehnter Stelle?«
»Das ist ein Schweizer Gerät. Aus Basel.«
»Was sind die Schweizer doch für humorlose Leute«, meinte Bouboule. »Bloß weil Mailand Genf gekauft hat ... Welch ein Groll.«
Maya löste das englische Ei von der Kette. Sie nahm das italienische Ei aus dem goldenen Nest und steckte das englische Ei behutsam unter die leitenden Füße des Vogels. Die winzigen Eier rasteten mit einem angenehmen Klicken ein.
Sie steckte sich den kleinen Anhänger vorsichtig ins rechte Ohr. Der Anhänger wand sich wie ein metallener Ohrwurm. Irgendetwas Dünnes, Wachsartiges kroch in ihre Gehörwindung. Maya hätte das Gerät am liebsten gleich wieder herausgerissen, ließ die kitzelnde Penetration aber schaudernd über sich ergehen.
»[Er hat keine Batterie]«, erklärte Benedetta auf Italienisch. »[Du musst den Vogel ständig am Körper tragen. Wenn er auskühlt, stirbt er.]«
Der neue Übersetzer erzeugte einen wundervollen Flötenton, unmittelbar an ihrem Trommelfell. »Die Sprache ist so wohlklingend! So klar!«
»Und keine Batterie - stell dir mal vor.«
»Keine Batterie. Okay. Aber das kommt mir eher wie ein Versehen vor.«
»Das ist kein Versehen, sondern gewollt«, meinte Bendetta düster. »Der Vogel ist Shareware. Die Schweizer haben sich alle Mühe gegeben.«
Maya legte das Collier an und stopfte es unter die Bluse. Sie freute sich. »Das ist sehr großzügig von dir. Möchtest du meinen Deutschübersetzer haben?«
Bendetta besah ihn sich. »Deutsch-Englisch. Kein Bedarf. Das ist Touristenramsch.« Sie schob ihn wieder Maya hin. »[Jetzt können wir uns endlich wie zivilisierte Menschen unterhalten. Zeig uns deinen Palazzo.]«
»Ich hoffe, es klappt.« Maya vollführte auf der glänzenden Oberfläche des Stoffcomputers die Passgeste. »Sind die Handschuhe angeschlossen?«
»[Da tut sich was]«, bemerkte Benedetta skeptisch.
Bouboule streifte maßgeschneiderte zitronengelbe Datenhandschuhe über und justierte sorgfältig die Brille. »Das ist ja so aufregend. Patapouff und ich, wir lieben Erinnerungspaläste. Nicht wahr, Pouffpouff?«
Maya straffte sich in Erwartung einer Antwort des Affen. Doch der schwieg. Maya entspannte sich wieder. Sprechende Hunde waren okay. Sprechende Affen aber waren unheimlich.
Mayas Brille zeigte ein verschwommenes Testmuster. Sie fuhr mit dem Finger an der rechten Linse entlang, bis das Muster scharf wurde. Sie drückte den Brillensteg, um Tiefe hineinzubringen. Dies waren Gewohnheitsgesten, kleine technische Handlungen, die sie seit Jahrzehnten vollführte.
Mit einem Mal aber war sie ganz aufgeregt. Ihr Sehfehler war verschwunden. Vollständig behoben, und bis jetzt hatte er sich noch jedes Mal bemerkbar gemacht.
»[Das ist ein Büro!]« sagte Benedetta triumphierend. »[Was für ein seltsames, altes Büro! Ich schaue mich mal um, okay?]«
»Ein Männerbüro«, meinte Bouboule gelangweilt.
»[Wo hat der Kerl die Pornos versteckt?]«, fragte Benedetta.
»Was?«, sagte Maya.
»[Hast du seine Pornos etwa noch nicht entdeckt? Es gibt keinen lebendigen Mann, der nicht irgendwo in seinem Erinnerungspalast Pornos versteckt hätte.]«
»Er lebt nicht mehr«, erklärte Maya.
Bouboule machte eine anzügliche Bemerkung und lachte.
»Ein französisches Wortspiel«, säuselte der Vogelübersetzer in seinem wohlklingenden, aber eigentümlich unpersönlichen Englisch. »Der Kontext ist unverständlich.«
»[Ich sehe da gerade den großen Bauplan]«, meinte Benedetta. »[Die Sechziger, wie? Damals haben sie wie die Wahnsinnigen gebaut. Bibliothek. Galerie. Ein Zoo für Kunstgeschöpfe - das klingt gut! Geschäftsakten. Gesundheitsakten. CAD-CAM-Muster-Speicher.] ›Filme‹. Gibt es Filme in dem Palast?«
»Wie übersetzt man das Wort ›Filme‹?«, fragte Bouboule.
»Cinematographique.«
»Prima.«
»[Schneidermaße ... Aufgussrezepte. Baupläne. Ach, das ist ja reizend! Reale Baupläne in einem Palast zu verwahren. Drei oder vier verschiedene Häuser! Der Mann muss ziemlich reich gewesen sein.]«
»Er ist mehrmals in seinem Leben zu Reichtum gekommen«, sagte Maya.
»[Oh, seht euch das mal an! Er hatte einen Ptydepe-Scanner.]«
»Was ist das?«, wollte Maya wissen.
Jetzt, da es um technische Informationen ging, wechselte Benedetta wieder ins Englische. »Das kommt von der Abkürzung PTP kommt - ›Public Telepresence Point‹, öffentliche Telepräsenzsite. Er ist - er war im Besitz eines Scanners, der Telepräsenz-Daten aufzeichnen kann. Eignet sich gut dazu, Freunden nachzuspionieren. Oder Feinden. Das Programm zeichnet über Jahre hinweg Millionen von Telepräsenzsitzungen auf und katalogisiert sie entsprechend der Eigenschaften der Zielperson. Das ist eine wahre Datenfundgrube. Für die Industriespionage.«
»Illegal?«, fragte Bouboule interessiert.
»Wahrscheinlich. Wenn er das Gerät selbst entwickelt hat, dann vielleicht nicht.«
»Weshalb sagst du ›Ptydepe‹ dazu?«, fragte Maya.
»Ptydepe nennt man hier in Prag die PTPs ... Tschesky ist schon eine eigenartige Sprache.«
»Tschesky ist nicht das Substantiv«, warf Bouboule ein. »Das ist, wie sagt man noch, das Adverb. Die Sprache wird Czestina genannt.«
»Czestina ist das Ei Nummer zwölf, Maya.«
»Danke«, sagte Maya.
Sie spürte, wie sich kleine Pfoten in ihren Ärmel schoben. Maya schrie auf und riss sich die Brille herunter.
Der erschreckte Affe brachte sich auf Bouboules Schulter in Sicherheit, wo er seine spitzen Zähne entblößte.
Bouboule tastete blind in der Luft herum. »Schlechte Taktilität?«
»Veraltete Protokolle«, meinte Benedetta, die wegen der Brille ebenfalls nicht sah, was um sie herum vorging.
Maya fixierte stumm die silbrig überwölbten Augäpfel des Affen. »Wenn du mich noch einmal anfasst, schlag ich dich«, formte sie lautlos mit den Lippen. Der Affe strich glättend über das Smokingrevers; sein Greifschwanz zuckte, dann sprang er von der Sofalehne hinunter.
»Ich habe einen Ausgang gefunden!«, verkündete Benedetta. »Lasst uns aufs Dach gehen!«
Maya setzte die Brille wieder auf. In der Wand öffneten sich Schiebetüren. Sie traten in die virtuelle Dunkelheit. Weiße Ringe liefen ihnen voraus wie galoppierende Zebrastreifen.
Sie gelangten auf ein mit Zinnen versehenes Dach. Der Boden war bedeckt mit virtuellem Kies.
Es gab noch weitere Erinnerungspaläste. Vielleicht Warshaws Geschäftspartner bei kriminellen Machenschaften? Maya verstand nicht, weshalb Leute, die Erinnerungspaläste einrichteten, ihre Räumlichkeiten fremden Blicken preisgaben. War es vielleicht beruhigend zu sehen, dass auch andere Leute etwas zu verbergen hatten? In der virtuellen, horizontbegrenzten Ferne ragte eine chinesische Klippe aus dem Dunst empor, ein digitaler Stalagmit, gefärbt in den subtilen Monochromtönen der Suiboku-Tuschemalerei. In einem eindeutig nichteuklidischen Abstand davon befand sich ein gewaltiges, aufgeblähtes Gebilde, das Ähnlichkeit mit einer Gewitterwolke hatte und schimmerte wie gemaserter schwarzer Marmor, während es gleichzeitig den Eindruck gläserner Luftigkeit oder vielleicht eher luftiger Sprödigkeit vermittelte ... Eine glatte, mit eleganten Lamellen versehene Konstruktion mit pilzartigem Abschluss, unten fädig und an den Seiten mit Säulen und Adern versehen. Ein weiterer Palast wie eine hochkant gestellte Honigwabe, umringt von Hunderten von Motten, die das Bauwerk langsam umflatterten, daran saugten und sich wieder lösten, eine Art Taubenschlag für virtuelle Flugsaurier.
»Eine eigenartige Metapher«, meinte Boulboule erregt. »Einen so alten, noch immer funktionsfähigen virtuellen Raum habe ich noch nie gesehen.«
»Ich frage mich, wo wir sind«, sagte Maya. »Ich meine, ich wüsste gern, wo, in aller Welt, das alles läuft.«
»Das beruht womöglich gar nicht auf realer Rechenleistung«, meinte Benedetta. »Es sieht phantastisch aus, könnte aber auch der Ausfluss eines kleinen Geräts in irgendeinem Kabuff in Macao sein. Man sollte sich vom Augenschein nicht blenden lassen. Durch ein anderes Interface betrachtet sieht das womöglich ganz banal und bourgeois aus.«
»Sei doch nicht so biestig, Benedetta«, meinte Bouboule aufgeregt. »So leben Gerontokraten nicht! Wer einen solchen Palast bewohnt, würde niemals herkommen, um sich etwas vormachen zu lassen. Das ist die Seelenherberge eines alten Mannes. Ein exklusiver Zufluchtsort! Eine kriminelle Enklave.«
»Ich frage mich, ob manche dieser seltsamen Orte noch bewohnt sind. Vielleicht sind die Besitzer ja alle tot, und alles läuft automatisch weiter. Spukschlösser in virtuellem Sand.«
»Sag sowas nicht«, meinte Maya beklommen.
»Lasst uns fliegen!« Benedetta sprang anmutig von der Brüstung.
Die Brille verdunkelte sich.
Benedetta schnappte nach Luft. »Schade! Das hat den Kontakt unterbrochen.«
Sie nahmen die Brillen ab und blickten einander schweigend an.
»Wie bist du hierher gekommen?«, fragte schließlich Bouboule.
»Stell keine Fragen«, sagte Benedetta.
»Ah.« Bouboule lächelte. »Ich hoffe, der alte Mann hat dir auch Geld hinterlassen?«
»Falls ja, so habe ich den Schatz nicht gefunden«, antwortete Maya und klappte die Brille zusammen. »Jedenfalls bis jetzt noch nicht.« Sie wollte Bouboule die Brille zurückgeben.
»Nein, nein«, meinte Bouboule, »behalt sie nur. Ich besorg dir auch noch eine hübschere. Wie lautet deine Adresse?«
»Ich habe keine feste Adresse. Keine Netzadresse. Ich bin wirklich bloß auf der Durchreise.«
»Wohn doch bei mir, wenn dich dein Wanderjahr schon nach Stuttgart geführt hat. Bei meinen Onkeln ist jede Menge Platz.«
»Das ist sehr freundlich von dir«, sagte Maya. »Ihr seid beide so nett und großzügig - ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
Benedetta und Bouboule sahen einander merkwürdig an. »Keineswegs«, meinte Benedetta. »So ist es bei uns üblich. Wir merken es immer, wenn wir eine Schwester im Geiste vor uns haben.«
»In der Szene sind wir moderne Frauen«, erklärte Bouboule dunkel, »die beschlossen haben, frei zu sein! Wir alle haben Wünsche, die sich mit dem Status quo nicht vereinbaren lassen. Wir sind Frauen der Gegenwart! Wir blicken alle gemeinsam auf die Sterne, sonst verrecken wir eine nach der anderen in der Gosse.«
Bouboule beugte sich plötzlich vor. »Was ist denn das? Patapouff hat einen hübschen Moskito gefunden! Das ist ein gutes Omen. Lasst uns unser Blut testen, und dann genehmigen wir uns zur Feier des Tages ein paar Pflaster. Irgendetwas Warmes, Behagliches.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Benedetta, »mein Lipidspiegel ist in letzter Zeit so niedrig ... Vielleicht ein Mineralwasser.«
»Für mich auch«, sagte Maya.
»Suchen wir uns einen netten Kerl, der uns die Drinks holt«, meinte Bouboule. Sie zupfte den reglosen Stoffcomputer los und schlang ihn sich um den Kopf.
»Was ist mit dem Typen, mit dem du gekommen bist?«, wandte Benedetta sich an Maya. »Mit diesem Eugene?«
»Ich bin nicht mit Eugene hergekommen.«
»Eugene ist ein Idiot, findest du nicht? Leute, die Algorithmen und Archetypen durcheinander bringen, kann ich nicht ausstehen. Übrigens ist er aus Toronto.«
»Est-il Quebecois?«, fragte Bouboule interessiert.
»Toronto liegt nicht in Quebec«, erwiderte Maya.
»C’est triste. Oh, ciao, Paul.«
»Du hast mir die Party verdorben, Benedetta«, sagte Paul lächelnd. »Das ist Emil, aus Prag. Er ist Keramiker. Emil, das ist Maya, ein Model, und das ist Benedetta, Programmiererin. Und das ist Bouboule. Sie ist die Schutzheilige unseres Gewerbes.«
Emil verneigte sich vor Bouboule. »Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet.«
»Könnte man so sagen«, erwiderte Bouboule, deren Miene sich verdüstert hatte. Sie erhob sich, küsste Emil flüchtig auf die Wange und entfernte sich. Der Krallenaffe rannte ihr nach und sprang ihr auf die Schulter.
»Sie waren einmal ein Liebespaar«, erklärte naserümpfend Benedetta.
Emil setzte sich betrübt. »Stimmt das wirklich?«
»Red kein dummes Zeug, Benedetta«, scherzte Paul. »Zeig mir mal deinen Furoshiki.« Er stellte sein Notebook ab. »Emil, dieses Teil ist faszinierend, du solltest es dir mal genauer ansehen.« Er krempelte sich die Ärmel hoch.
Emil blickte Maya an. Er hatte wunderschöne dunkle Augen. »Waren wir vielleicht einmal ein Liebespaar?«
»Weshalb fragst du?«, entgegnete Maya.
Emil seufzte schwer. »Paul ist so hartnäckig«, murmelte er. »Er schafft es jedes Mal, mich zu solchen Parties zu überreden, und dann begehe ich schreckliche Peinlichkeiten.«
Paul schaute vom Bildschirm hoch. »Hör auf zu jammern, Emil. Du hältst dich prima heute. Guck dir mal das Gerät an, das wird dich aufmuntern. Es ist wundervoll.«
»Ich bin kein digitaler Mensch, Paul. Ich mag Ton. Ton! Das am wenigsten digitale Material auf Erden.«
»Du sprichst wirklich gut englisch«, sagte Maya und rückte ein Stück näher.
»Danke, meine Liebe. Sind wir uns wirklich noch nie begegnet?«
»Nein. Ich war noch nie in Prag.«
»Dann solltest du dir von mir die Stadt zeigen lassen.«
Maya blickte von Paul zu Benedetta. Sie unterhielten sich angeregt auf italienisch, fasziniert von dem Stoffcomputer. »Das wäre bestimmt nett«, meinte sie bedächtig. »Was machst du nach der Party?«
»Was mache ich im Moment?«, konterte Emil. »Bringe mich und alle anderen in Verlegenheit, so ist das. Lass uns Spazierengehen. Ich brauche frische Luft.«
Maya ließ den Blick durch die Kellerbar schweifen. Niemand beobachtete sie. Es stand ihr frei, zu tun, wonach ihr der Sinn stand. »Also gut«, sagte sie. »Wenn du magst.«
Sie holte ihre rote Jacke. Emil zog einen langen, schmutzigen Mantel an und setzte einen Schlapphut auf. Klaudia ließ sich nicht blicken. »Ich bin mit einer Freundin hier ins Tete gekommen«, sagte Maya zu Emil. »Wir müssen später wieder herkommen. Bloß eine kleine Runde um den Block, okay?«
Emil nickte geistesabwesend. Sie verließen das Tete. Emil steckte seine langen, knochigen Hände in die Manteltaschen. Der Himmel war klar und wolkenlos, und es wurde immer kälter. Emil ging die Opatovicka entlang.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte Emil.
»Nein.«
Emil ging schweigend weiter, den Blick aufs Pflaster gesenkt. Sie kamen an Straßen mit unaussprechlichen Namen vorbei: Kremencova, Vjircharich, Ostrovni.
»Sollten wir nicht allmählich wieder umkehren?«, sagte Maya.
»Ich befinde mich in einer Krise«, erklärte Emil mit matter Stimme.
»Worum geht es?«
»Das sollte ich dir besser nicht sagen. Das ist eine komplizierte Geschichte.«
Emil hatte einen tschechisch-britischen Akzent. Maya kam es unglaublich vor, dass sie in einer so klaren Nacht durch eine so schöne Stadt spazierte und dabei einen so anrührend exotischen Akzent ihrer Muttersprache vernahm. »Das macht mir nichts aus. Jeder hat Probleme.«
»Ich bin fünfundvierzig.«
»Wieso ist das eine Krise?«
»Es liegt nicht an meinem Alter«, sagte Emil, »sondern an den Schritten, die ich unternommen habe, um anderen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Ich war Töpfer, verstehst du. Ich war fünfundzwanzig Jahre lang Töpfer.«
»Ja, und?«
»Ich war ein schlechter Töpfer. Hab das Rad getreten und im
Dreck gewühlt. Technisch versiert, aber ohne das heilige Feuer. Ich konnte mich dem Handwerk nicht vollständig hingeben, und je besser ich in technischer Hinsicht wurde, desto weniger Inspiration war im Spiel. Ich habe unter meiner Unzulänglichkeit gelitten.«
»Das klingt sehr ernst.«
»Es ist in Ordnung, ein glücklicher Amateur zu sein. Und es ist in Ordnung, wirklich begabt zu sein. Aber eine Kunst, die man schätzt, mittelmäßig auszuüben - das ist ein Albtraum.«
»Ich hätte den Unterschied nicht bemerkt«, sagte Maya.
Diese Bemerkung schien Emil endgültig zu zerschmettern. Er zog sich den Schlapphut tief in die Stirn und stapfte weiter.
»Emil«, sagte Maya schließlich, »würde es dir helfen, tschechisch zu reden? Ich habe zufällig einen Tschechischübersetzer dabei.«
»Vielleicht kannst du das nicht verstehen, aber mein Leben war unerträglich«, sagte Emil. »Ich kam zu dem Schluss, dass ich zu weit gegangen war. Ich musste meine Fehler wiedergutmachen und einen Neuanfang wagen. Daher redete ich mit ein paar Freunden. Mit Drogenleuten. Die wirklich hart drauf sind. Sie gaben mir ein starkes Breitbandamnetikum.«
»Du meine Güte.«
»Ich habe es injiziert. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich nicht einmal mehr sprechen. Ich wusste nicht, wer oder was ich war und wo ich mich befand. Ich wusste nicht mehr, was eine Töpferscheibe ist. Ich konnte bloß erkennen, dass ich mich in einem Atelier mit einer Töpferscheibe und einem feuchten Dreckklumpen befand. Scherben lagen herum. All die wertlosen, hässlichen Sachen hatte ich am Vorabend nämlich zerbrochen.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen den Schädel. »Bevor ich mir den Kopf ruiniert habe.«
»Und dann?«
»Ich legte den Dreckklumpen auf die Scheibe, versetzte sie in Drehung und machte mich ans Werk. Es war ein Wunder. Ich konnte töpfern, ohne mir Gedanken darüber zu machen, es floss alles aus meinen Händen. Ton war alles, was ich hatte - alles, was ich war. Ton war alles, was von mir übrig geblieben war. Ich war ein Tier, das töpferte.«
Emil lachte. »Ich töpferte ein Jahr lang. Die Sachen waren wirklich gut. Das sagten alle. Ich verkaufte sie alle. An große Sammler. Für viel Geld. Ich hatte es endlich drauf. Und ich war gut.«
»Das ist eine erstaunliche Geschichte. Wie ging es weiter?«
»Ach, ich kassierte das Geld und lernte wieder Lesen und Schreiben. Und ich nahm Englischunterricht. Bis dahin hatte ich nie richtig Englisch gelernt, aber in meinem damaligen Zustand fiel mir das Lernen leicht. Nach und nach stellten sich auch wieder einige Erinnerungen ein. Der Großteil meiner Persönlichkeit aber ist unwiederbringlich verloren. Kein großer Verlust. Ich war niemals glücklich.«
Maya dachte darüber nach. Sie war froh, dass sie nach Prag gekommen war. Hier hatte sie endlich einen wahren Wesensverwandten gefunden.
»Lass uns jetzt zurückgehen.«
»Nein, das ertrage ich nicht. Mein Atelier liegt gleich dort drüben.« Emil zuckte die Achseln. »Paul ist ein netter Kerl, er meint es gut. Auch einige seiner Freunde sind in Ordnung. Aber sie sollten jemanden wie mich nicht bewundern. Mir sind ein paar gute Stücke gelungen, aber ich bin nicht Pauls Studienobjekt für die Befreiung des heiligen Feuers. Ich bin ein verzweifelter Mensch, der sich um des Drecks willen zerstört hat. Das sollten sich Pauls Freunde mal klarmachen. Ich bin ein Riesenidiot. Sie sollten aufhören, posthumane Extreme zu verklären.«
»Du kannst jetzt nicht nach Hause gehen und vor dich hinbrüten, Emil. Du hast gesagt, du wolltest mir die Stadt zeigen.«
»Hab ich das?«, fragte Emil höflich. »Das tut mir wirklich Leid, meine Liebe. Weißt du, wenn ich morgens etwas zusage, dann halte ich mein Versprechen meistens auch ein. Jetzt aber ist es spät abends ... ich glaube, das hat etwas mit meinem Biorhythmus zu tun. Ich werde vergesslich.«
»Also, dann zeig mir wenigstens dein Atelier. Wo wir schon mal hier sind.«
Emil sah ihr tief in die Augen. Ein sehr wissender Blick. »Du bist in meinem Atelier willkommen«, sagte er, obwohl er etwas ganz anderes meinte. »Wenn du es unbedingt sehen möchtest.«
Das Haus war dunkel und unglaublich alt. Emils Atelier lag in der zweiten Etage, zu der eine knarrende Treppe hochführte. Der Holzboden war uneben, und die Wände waren mit alten Blümchentapeten bedeckt.
Der größte Teil des Bodens wurde von hohen Holzregalen voller Töpferware eingenommen. Zwei dreckverschmierte Waschbecken, ein Wasserhahn tropfte. Ein weißer Brennofen und fleckige Werkzeugtafeln mit Draht- und Holzgerätschaften. Eine Töpferscheibe, eine unaufgeräumte Werkbank. Verstaubte Säcke mit Glasurmasse. Eine primitive Küche voller selbstgemachter Töpferware in weißen Schränken, die Türen voller schmieriger Fingerabdrücke. Alte Fenster, zugestellt mit feuchten, hübschen Blumentöpfen, darin die verdorrten Überreste verschiedener Pflanzen. Schwämme. Handschuhe. Der durchdringende Geruch von Ton. Keine Dusche, keine Toilette; das Bad lag auf dem Gang. Ein wackliges Holzbett mit schmutzigen Laken.
»Wenigstens gibt es bei dir Strom. Hast du keinen Computer? Keine Netzverbindung? Keine Bildschirme?«
»Ich hatte mal ein Notebook«, sagte Emil. »Ein tolles Gerät. Da hab ich meine Termine drin gespeichert, Adressen, Telefonnummern, Verabredungen. Allerlei Hinweise. Eines Morgens wachte ich mit schlimmen Kopfschmerzen auf. Das Notebook wollte mir vorschreiben, was ich tagsüber zu erledigen hätte. Da öffnete ich das Fenster« - er zeigte darauf - »und warf das Gerät auf die Straße. Jetzt ist mein Leben einfacher.«
»Emil, weshalb bist du so traurig? Die Sachen hier sind wunderschön. Du hast einen medizinisch unwiderruflichen Schritt getan. Na und? Viele Leute haben Pech mit ihren Upgrades. Ist es erst einmal geschehen, hat es keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Du musst dich damit abfinden.«
»Du musst es ja wissen«, knurrte Emil. »Sieh dir das mal an.« Er reichte ihr eine gedrungene, rundliche Urne, glasiert in den Farben Ocker, Cremeweiß und Schwarz. Das Muster wirkte unglaublich energiegeladen, etwa wie ein vom Blitz getroffenes Schachbrettmuster, gleichwohl aber strahlte es eine enorme Klarheit und Ruhe aus. Die Urne war dicht und schwer und glatt, wie ein fossiliertes Ei, das einem zeitlosen Geisteszustand als Hülle dient.
»Meine neueste Arbeit«, sagte er verbittert.
»Aber Emil, das Stück ist wundervoll. Es ist so schön, dass ich wünschte, darin bestattet zu werden.«
Er nahm ihr die Urne wieder ab und stellte sie ins Regal. »Und jetzt sieh dir das mal an. In dem Katalog sind alle meine Arbeiten seit der Veränderung aufgeführt.« Er seufzte. »Ich wünschte, ich würde die Kraft aufbringen, dieses blöde Ding zu verbrennen.«
Maya setzte sich auf Emils Arbeitshocker und blätterte in dem Katalog. Darin waren Emils Töpferwaren abgebildet, liebevoll ausgeleuchtet und dokumentiert. »Wer hat die Fotos gemacht?«
»Irgendeine Frau. Zwei oder drei verschiedene Frauen, glaube ich ... Die Namen habe ich vergessen. Sieh dir mal Seite vierundsiebzig an.«
»Oh, ich verstehe. Das Stück ähnelt deiner letzten Arbeit. Gehört das zu einer Serie?«
»Es ähnelt ihr nicht nur, es ist identisch. Dabei habe ich das Stück spontan gemacht. Ich hatte eine Inspiration. Begreifst du, was das bedeutet? Ich fange an, mich zu wiederholen. Ich habe mich erschöpft. Ich bin an meine schöpferische Grenze gelangt. Meine so genannte schöpferische Freiheit ist nichts weiter als ein billiger Schwindel.«
»Du hast das gleiche Stück zweimal hergestellt?«
»Genau! So ist es! Kannst du dir mein Entsetzen vorstellen? Als ich das Foto sah - das war, als hätte mir jemand ein Messer ins Herz gestoßen.« Er ließ sich aufs Bett sinken und barg den Kopf in Händen.
»Ich verstehe, dass dir das Sorge bereitet.«
Emil zuckte zusammen und schwieg.
»Weißt du, viele Keramiker arbeiten mit Abgüssen. Sie stellen von einem Stück Hunderte identischer Kopien her. Was ist schon dabei?«
Emil öffnete die Augen. Er wirkte verletzt und verbittert. »Du hast mit Paul über mich gesprochen!«
»Nein, hab ich nicht! Aber ... Weißt du, ich fotografiere. So etwas wie ein digitales Originalfoto gibt es nicht. Die digitale Fotografie war schon immer eine Kunst ohne Originale.«
»Ich bin keine Kamera. Ich bin ein Mensch.«
»Dann denkst du halt in falschen Bahnen, Emil. Anstatt dich zu quälen, solltest du dich vielleicht mit der Tatsache abfinden, dass du posthuman bist, dann ginge es dir bestimmt besser. Ich meine, die Menschen verändern sich halt heutzutage, hab ich Recht? Damit muss sich jeder früher oder später abfinden.«
»Tu mir das nicht an«, stöhnte Emil. »Sag das nicht. Wenn du solches Zeug schwätzen willst, geh zurück zur Party. Du verschwendest hier mit mir deine Zeit. Red mit Paul, mit dem kannst du ewig labern.«
Emil kickte einen zerknautschten Bademantel von der Bettkante. »Ich bin nicht posthuman. Ich bin bloß ein dämlicher, beschädigter Mensch, der kein Talent hatte und einen schweren Fehler begangen hat. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, aber ich weiß genau, wer ich bin. All diese klugscheißerischen Theorien lassen mich kalt.«
»Wirklich? Mir scheint, du hast dich bereits entschieden. Wie gedenkst du aus dieser so genannten Krise herauszukommen?«
»Was habe ich schon für Möglichkeiten?«, sagte Emil. »Was soll ich denn tun? Ich kann nicht mein ganzes Leben lang im Kreis herumrennen. Ich werde aus dem Fenster springen.«
»Du meine Güte.«
»Die Einnahme des Amnetikums war ein fauler Kompromiss. Bloß ein halber Schritt. Ich bin nicht der, der ich werden wollte. Ich werde niemals diese Person sein. Und mit weniger kann ich nicht leben.«
»Also«, sagte Maya, »ich bin bestimmt nicht grundsätzlich gegen den Freitod. Der Freitod ist in Ordnung, er stellt eine ehrenhafte Option dar ... Aber…«
Emil schlug die Hände über die Ohren.
Maya setzte sich neben ihm aufs Bett und seufzte. »Emil. Es ist dumm, sterben zu wollen. Du hast so schöne Hände.«
Er schwieg.
»Es wäre doch schade, wenn sich diese schönen, starken Hände in Staub verwandeln würden. Tief in der kalten, harten Erde. Wo du sie mir stattdessen doch unter den Rock schieben kannst.«
Emil richtete sich auf. Seine Augen funkelten. »Warum tun Frauen mir das an?«, fragte er schließlich. »Siehst du denn nicht, dass ich ein emotionales Wrack bin? Ich kann dir nichts geben. Morgen früh erinnere ich mich nicht einmal mehr an deinen Namen!«
»Das weiß ich«, sagte Maya. »Das ist mir schon klar. Ich bin noch niemandem wie dir begegnet. Das ist eine sehr reizvolle Eigenschaft. Ich weiß nicht warum, aber die Verlockung ist so groß, dass ich ihr kaum widerstehen kann.« Sie küsste ihn. »Ich weiß, das klingt grausam. Also lass uns aufhören zu reden.«
Sie erwachte mitten in der Nacht, in einem fremden Bett in einer fremden Stadt, und vernahm den leisen Atem eines anderen Menschen. Das Gefüge ihres Universums hatte sich erneut verändert. Sie verspürte eine angenehme Erschöpfung, eine wohlige Wärme, die von dem schlafenden Mann ausging. Einen Geliebten zu haben, das war, als hätte man eine zweite Seele. Sie hatte genug Seelen für alle Männer auf der Welt.
Am Morgen bereitete sie das Frühstück. Wie vorausgesagt, hatte Emil ihren Namen vergessen. Ein rasches Gerangel im Bett brachte ihre Beziehung wieder ins Lot. Emil frühstückte und machte sich mit einem triumphierenden Grinsen an die Arbeit. Maya, die Unordnung nicht vertrug, machte sich ans Aufräumen.
Nach dem Zustand des Katalogs zu schließen, lebte Emil jetzt seit zwei bis drei Monaten allein. Das Werkverzeichnis war nicht mehr auf dem neuesten Stand. Sie würde sich darum kümmern müssen, wieder Ordnung hineinzubringen. Dies war offenbar der Preis dafür, mit Emil zusammen zu sein. Der unterschiedlichen Qualität der Fotos nach zu schließen, war sie die vierte in der Reihe.
Das Aufräumen war noch aufschlussreicher. Die verschiedenen Frauen waren wie aufeinander folgende Sturmfronten durch Emils Wohnung gefegt. Haarnadeln hier. Ein einzelner zusammengeknüllter Strumpf dort. Schuheinlagen. Ein aufgebrauchter Lippenstift. Pinkfarbene Federn von einem längst verschollenen Kostüm. Eine billige Sonnenbrille. Nicht zusammenpassende Kochutensilien. Gleitmittel. Bluttests. Und natürlich die Fotos. Die Frauen hatten sich wirklich Mühe gegeben.
»Ich fühle mich gut heute«, erklärte Emil, wie man wohl auch erwarten konnte. »Ich werde heute ein neues Stück extra für dich erschaffen, Maya. Ein Stück, das deine einzigartigen Qualitäten einfangen soll. Deine Großzügigkeit. Deine Güte.«
»Ich bin nicht dein Tongefäß, weißt du.«
»Aber natürlich bist du das, meine Liebe! Wir sind alle Tongefäße. Weshalb sollte man der Heiligen Schrift widersprechen?« Emil machte sich kichernd daran, einen Tonklumpen zu klopfen.
Maya fand den Weg ins Stadtzentrum und holte ihren Koffer aus dem Schließfach. Klaudias Rucksack und ihre Reisetasche waren verschwunden. Klaudia hatte ihr eine Notiz dagelassen. Auf Deutsch. Maya konnte natürlich nicht lesen, was sie geschrieben hatte, doch anhand des eckigen Gekritzels und der zahlreichen Ausrufezeichen schloss sie, dass Klaudia rasend gewesen war.
Maya suchte einen öffentlichen Netzzugang. Sie schloss die Kamera an und schickte Therese ihre Fotos in den Laden. Dann aß sie zu Mittag.
Als sie sich pflichtbewusst gestärkt hatte, rief sie in Munchen an.
»Wo steckst du?«, fragte Therese.
»Ich bin immer noch in Prag. Was macht Klaudia?«
»Sie ist wieder da. Sie ist außer sich. Sie macht sich Sorgen. Sie hat einen Kater. Sie fühlt sich gedemütigt. Das war nicht nett von dir, Maya.«
»Ich habe einen Typ aufgerissen.«
»Das hab ich mir schon gedacht ... Wann kommst du zurück?«
Maya schüttelte den Kopf. »Therese, wenn ich mich nicht um ihn kümmere, springt er aus dem Fenster.«
Therese lachte. »Hast du den Verstand verloren? Das ist doch ein ganz alter Hut. Sei vernünftig und komm auf der Stelle zurück. Ich habe eine Menge neuer Sachen eingekauft.«
»Therese ...« Maya seufzte. »Du hattest Recht. Das Tete ist ein richtiger Szenetreff. Dieses Künstlervolk hat’s mir angetan. Sie werden mir zeigen, wie man lebt. Ich komme nicht nach Munchen zurück.«
Therese schwieg.
»Therese, hast du die Fotos gesehen?«
»Die Fotos sind gar nicht so schlecht«, sagte Therese. »Ich könnte vielleicht was damit anfangen.«
»Sie sind grässlich. Aber ich will Unterricht nehmen. Im Fotografieren und in VR-Design. Ich will besser werden. Ich will mir eine bessere Ausrüstung besorgen und mich ernsthaft mit Kunst beschäftigen. Ich will einer von denen sein.«
»Bist du hier im Laden nicht glücklich, Schätzchen?«
»Ich will nicht glücklich sein, Therese. Dazu reicht es bei mir nicht. Ich bin noch keine richtige Frau, ich muss noch lernen, ich selbst zu sein. Ich glaube, diese Künstler können mir dabei helfen. Sie haben die gleiche Sehnsucht wie ich.«
»Du scheinst dir ja auf einmal sehr sicher zu sein. Was hat dich zu deiner Sinnesänderung bewogen? Eine Nacht in einem fremden Bett? Weshalb steigst du nicht in den Zug und kommst wieder zurück? Es geht ganz leicht.«
»Wenn du möchtest, schicke ich dir jede Menge Fotos. Aber in den Laden komme ich nicht mehr zurück.«
»Wenn du nicht nach Munchen zurückkommst, muss ich mir jemand anderen suchen. Dann ist hier kein Platz mehr für dich.«
»Such dir jemand anderen, Therese.«
»Arme, kleine Maya! Stets so ehrgeizig. Und Künstler sind ja so schick.« Therese seufzte. »Cleverness allein macht noch keine netten Leute, weißt du. Du bist sehr unerfahren, und sie könnten dir weh tun.«
»Wenn ich nette Leute um mich haben wollte, wäre ich in Kalifornien geblieben. Ich lebe gefährlich. Ich bin eine Illegale. Ich bin unterwegs, das ist mein Wanderjahr. Du warst sehr gut zu mir, aber Munchen ist nicht mein Zuhause. Irgendwann musste ich fortgehen. Das hast du gewusst.«
»Ja, das wusste ich«, räumte Therese ein. Sie senkte die Stimme. »Aber du stehst trotzdem in meiner Schuld. Findest du nicht?«
»Das stimmt. Ich stehe in deiner Schuld.«
»Ich habe dir zu essen gegeben, dich gekleidet und bei mir aufgenommen, und ich habe dich nie hängen lassen. Das war eine ganze Menge, meinst du nicht?«
»Ja. Das war eine ganze Menge.«
»Deswegen werde ich dich um einen großen Gefallen bitten, Schätzchen. Irgendwann.«
»Was immer du verlangst.«
»Du wirst sehr diskret sein müssen.«
»Ich kann diskret sein«, versprach Maya. »Diskretion ist meine Spezialität.«
»Wenn es so weit ist, melde ich mich. Aber vergiss nicht, dass du mir etwas schuldig bist. Und pass auf dich auf. Auf Wiedersehen, Schätzchen.« Therese legte auf.
Obwohl er nicht dazu zu bewegen war, sich vernünftig zu ernähren, aß Emil doch ausgesprochen gerne. Jetzt, da er mit einer Frau zusammenlebte, beklagte er sich heftig, wenn es nicht regelmäßig etwas zu essen gab, ganz so, als werde dadurch das Universum in seinen Grundfesten erschüttert.
Emil hatte nicht viel Geld. Er war zu zerstreut, um mit seinen Einnahmen vernünftig umzugehen; in den Winkeln und Ecken seines Ateliers lagen überall halb leere Geldkarten herum. Und so ging Maya einkaufen und aß regelmäßiger und mit größerer Entschlossenheit als je zuvor. Tschechische Gesundheitsnahrung wie Noki. Chutovky. Knedliky. Kascha und Gulasch. Die Nahrung war schmackhaft und nahrhaft, und sie machte ihr gute Laune und kräftigte sie.
Hatte Emil ordentlich gegessen, wurde er im Allgemeinen munter. Es war angenehm, Emils Geliebte zu sein, denn er war niemals gleichgültig. Jedes Mal, wenn er mit seinen flinken, geschickten Händen über ihren Körper streichelte, ging mit seiner Liebkosung ein Überraschungsmoment einher. Sex erstaunte ihn, machte ihn froh und dankbar.
Unter Mayas liebevollem Regiment wurde Emil sehr produktiv. Sein Brennofen wurde niemals kalt. Die Wärme wurde nicht mit Mikrowellen erzeugt, sondern mit einem speziellen Resonator. Wie die meisten modernen Geräte war Emils Brennofen narrensicher und sehr sauber und arbeitete mit beinahe unheimlicher Geschwindigkeit. Mit einer großen gepolsterten Zange holte er den frisch gebrannten Gegenstand heraus. Der bestrahlte Ton gab ein grässliches kristallines Kreischen von sich, wenn er mit der Luft in Berührung kam und abzukühlen begann. Er verstrahlte Hitze wie ein Kaminziegel. Dann wurde es im Atelier richtig gemütlich. Maya lief in Pantoffeln und offenem Bademantel umher, darunter bis auf das Collier nackt. Ihr Haar war mittlerweile so lang, dass man etwas damit anfangen konnte. Es war ziemlich steif und unansehnlich, aber die Wachstumsgeschwindigkeit war erstaunlich.
Gefiel ihm das neue Stück, warf er Maya aufs Bett, um zu feiern. Gefiel es ihm nicht, warf sie ihn aufs Bett, um ihn zu trösten. Hinterher schlichen sie auf Zehenspitzen auf den Korridor, um gemeinsam ein heißes Bad zu nehmen. Anschließend aßen sie etwas. Sie sprachen englisch miteinander, in intimeren Momenten tat Emil hin und wieder auch gutturale Äußerungen auf tschechisch. Das Leben war sehr einfach und direkt.
Emil hasste es, von der Arbeit abgehalten zu werden. Seiner Ansicht nach bedeutete jeder Tag, der für die alltäglichen Erfordernisse des Lebens draufging, ein kleines Stück verlorener Ewigkeit. Mit einem unerschöpflichen magischen Vorrat an Nahrungsmitteln und Strom wäre Emil dem Solipsismus anheimgefallen.
Morgens war Emil schwer erträglich, weil er jedes Mal so überrascht von ihrer unerwarteten Anwesenheit war. Nach einer Woche stellte sich auf unbewusster Ebene dennoch eine Art Vertrautheit ein. Ihre intime Kenntnis seiner Wünsche und Vorlieben versetzte ihn nicht mehr so sehr in Erstaunen, und er wurde zugänglicher für ihre Vorschläge.
Eines Abends schickte sie ihn fort mit dem Auftrag, neue Unterwäsche zu besorgen und sich die Haare schneiden zu lassen; die Geschäfte, die er aufsuchen sollte, und die benötigten Gegenstände und Dienstleistungen schrieb sie ihm genau auf. Sie notierte alles auf einer Geldkarte, die sie ihm an einem Kettchen um den Hals hängte.
»Weshalb tätowierst du es mir nicht gleich auf den Arm?«
»Sehr komisch, Emil. Und jetzt los.«
Als er fort war, fühlte sie sich gleich viel besser. Vielleicht lag es an der regelmäßigen, nahrhaften Ernährung, vielleicht an der niemals nachlassenden Intensität ihrer Beziehung, aber heute war sie unruhig. Reizbar, im Begriff, aus der Haut zu fahren. Deshalb zog sie Hose und Pullover an.
An der Tür wurde geklopft. Sie nahm an, dass es Emils Händler war, ein obskurer Galeriebesitzer namens Schwartz, der alle paar Tage vorbeischaute, doch er war es nicht. Vor der Tür stand eine korpulente Tschechin in taubenblauer Uniform. In der Hand hielt sie einen Koffer.
»»Dobry vecer.«
Maya steckte sich rasch den Vogelnestübersetzer ins Ohr, was ihr mittlerweile zur Gewohnheit geworden war. »Guten Tag. Sprechen Sie englisch?«
»Ja, ein wenig. Ich bin die Vermieterin. Das Haus gehört mir.«
»Ah, ja. Freut mich, Sie kennenzulernen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Ja. Bitte lassen Sie mich rein.«
Maya trat beiseite. Die Hauseigentümerin stürmte ins Zimmer und blickte sich aufmerksam um. Nach und nach glätteten sich ihre Sorgenfalten. Maya schätzte sie auf fünfundsiebzig, vielleicht achtzig. Sehr kräftig. Sehr gut erhalten.
»Sie gehen hier seit Tagen ein und aus«, erklärte die Vermieterin schroff. »Sie sind seine neue Freundin.«
»Ich schätze schon. Äh ... jmenuji se Maya.« Sie lächelte.
»Ich bin Frau Najadova. Sie sind viel reinlicher als das letzte Mädchen. Sind Sie Deutsche?«
»Also, ich bin von Munchen hergekommen. Aber eigentlich bin ich bloß auf der Durchreise.«
»Willkommen in Prag.« Frau Najadova öffnete den Koffer und wühlte in mehreren Faltmappen. Sie nahm einen dicken Stapel laminierter Blätter in englischer Sprache heraus. »Die Broschüren sind für Sie. Lesen Sie sie. Da steht drin, wo man gefahrlos essen kann. Unterkünfte sind aufgeführt. Medizinische Beratung. Ein Stadtplan von Prag. Kulturelle Ereignisse. Das ist ein Gutschein für Schuhe. Bahn- und Busfahrpläne. Hier eine Broschüre der Polizei.« Frau Najadova reichte Maya die Broschüren und einen kleinen Stapel billiger Smartcards. »Viele junge Leute kommen nach Prag. Junge Leute sind sorglos. Einige sind böse. Ein Mädchen im Wanderjahr muss vorsichtig sein. Lesen Sie die offiziellen Broschüren aufmerksam durch. Lesen Sie alles.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wirklich, das bedeutet eine enorme Hilfe für mich. Dekuji.«
Frau Najadova holte eine Smartcard mit goldenem Prägedruck aus der Jackentasche. »Da sind die Gottesdienste drauf gespeichert. Sind Sie religiös?«
»Eigentlich nicht. Vor Drogen nehme ich mich sehr in Acht.«
»Armes Mädchen, da entgeht Ihnen das Beste im Leben.« Frau Najadova schüttelte betrübt den Kopf. Sie setzte den Koffer ab und nahm einen Teleskopgriff und eine Packung steriler Saugschwämme heraus. »Ich muss das Zimmer jetzt untersuchen. Das verstehen Sie doch?«
Maya legte die Broschüren auf die neue Tagesdecke. »Sie meinen, Sie wollen feststellen, ob Ansteckungsgefahr besteht. Ja, das habe ich mich auch schon gefragt. Haben Sie vielleicht ein paar maßgeschneiderte Bazillen oder vielleicht Colibakterien? Irgendetwas, um andere Pathogene zu vertreiben. Dort unter dem Waschbecken riecht es verschimmelt.«
»Die bekommen Sie bei der medizinischen Beratung«, antwortete Frau Najadova sichtlich erfreut. »Melden Sie sich dort zur offiziellen Untersuchung. Dort bekommen Sie alles, was sie zur ordentlichen Haushaltsführung brauchen.«
»Gibt es nicht eine andere Möglichkeit, an Bakterienkulturen heranzukommen? Meine nächste Untersuchung steht eigentlich noch nicht an.«
»Aber die Untersuchung ist kostenlos! Finanziert von der Stadt! Das steht alles in den Broschüren. Wohin man sich wenden soll. Wo man sich melden soll.«
»Ich verstehe. Okay. Vielen Dank.«
Frau Najadova setzte den Mopp zusammen und kroch systematisch wischend und tupfend durchs Atelier. »Der Töpfer hat Mäuse.«
»Hm.«
»Seine Hygiene lässt zu wünschen übrig. Er lässt Essensreste herumstehen, und die ziehen Ungeziefer an.«
»Ich werde darauf achten.«
Frau Najadova war zu einem Entschluss gelangt und hob den Kopf. »Mädchen, Sie sollten das wissen. Die Freundinnen von diesem Verrückten sind nicht glücklich. Vielleicht am Anfang. Am Ende weinen sie immer.«
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich wegen mir Gedanken zu machen. Aber seien Sie unbesorgt. Ich verspreche Ihnen, ihn nicht zu heiraten.«
Die Tür ging auf. Herein trat Emil mit ordentlichem Haarschnitt und einer Einkaufstüte in der Hand. Sogleich entspann sich eine heftige Auseinandersetzung auf tschechisch. Es wurde geschrien und gestampft, man überhäufte sich gegenseitig mit Verwünschungen und Vorwürfen. Der Streit wollte gar kein Ende nehmen. Schließlich flüchtete Frau Najadova aus dem Atelier, indem sie den Mopp schüttelte und eine letzte Salve ätzender Drohungen ausstieß. Emil schlug die Tür zu.
»Also wirklich, Emil. War das nötig?«
»Diese Frau ist eine dumme Kuh!«
»Es wundert mich, dass du dich überhaupt an ihren Namen erinnerst.«
Emil funkelte sie an. »Eine Geliebte zu vergessen, ist betrüblich. Eine Tragödie. Aber einen Feind zu vergessen, wäre eine tödliche Dummheit! Sie ist ein Bulle! Und ein Spion! Und eine Gerontokratin! Sie ist eine Bourgeoise, ein Philister! Ein fetter, reicher Privatier! Und obendrein ist sie noch meine Vermieterin! Als wenn das nicht schon schlimm genug wäre!«
»Du hast Recht, Vermieterin im Verein mit all diesen sozialen Funktionen ist ziemlich stark.«
»Sie spioniert mir nach! Sie schwärzt mich beim Gesundheitsamt an. Sie wiegelt meine Freundinnen gegen mich auf.« Er legte die Stirn in Falten. »Habt ihr euch unterhalten? Was hat sie gesagt?«
»Wir haben uns nicht richtig unterhalten. Sie hat mir bloß ein paar Gutscheine gegeben. Schau mal, damit kann ich ein Fahrrad mieten. Und auf dieser Chipkarte ist das Prager Netzverzeichnis auf englisch gespeichert. Ich bin gespannt, was für Fotostudios darin aufgeführt sind.«
»Das ist alles Blödsinn. Wertlos! Kommerzielle Lockangebote!«
»Wann hast du ihr eigentlich zum letzten Mal Miete gezahlt? Ich meine, wie schaffst du es, daran zu denken?«
»Oh, selbstverständlich zahle ich Miete. Natürlich zahle ich! Glaubst du etwa, die Najadova ließe mich aus reiner Nächstenliebe hier wohnen? Ich bin sicher, sie erinnert mich rechtzeitig daran.«
Maya kochte. Sie aßen. Emil war immer noch aufgebracht. Der vertane Morgen und der Streit mit der Vermieterin hatten ihn aus der Bahn geworfen. Sein Haar sah jetzt viel hübscher aus, doch Emil war Verschönerungsmaßnahmen gegenüber weitgehend resistent. Den Abend verbrachte er damit, in seinem Werkverzeichnis zu blättern. Das war kein gutes Zeichen.
Maya fiel es schwer, den Streit zu vergessen - er hatte an ihren Nerven gezerrt. Im Laufe des Abend wurde sie immer reizbarer. Sie war unstet, nervös. Sie empfand eine eigenartige Anspannung.
Ihre Brüste schwollen an und schmerzten. Dann auf einmal dämmerte es ihr. Es war so lange her, dass es ihr beinahe wie eine Krankheit vorkam. Sie war im Begriff, ihre erste Periode seit vierzig Jahren zu bekommen.
Sie legten sich ins Bett. Der Sex zerstreute ihre schlechte Stimmung, doch anschließend kam sie sich vor, als habe man sie mit Sandpapier bearbeitet. Allmählich wurde ihr klar, dass ihr eine schwere Zeit bevorstand und nicht bloß eine Unterbrechung der erotischen Lustbarkeiten. Das Ereignis, das ihren Körper beschlich, bedeutete eine Art Rache und war postfraulicher und medizinischer Natur. Ihre Augenlider waren geschwollen, ihr Gesicht fühlte sich wächsern und aufgedunsen an, und im Beckengürtel baute sich ein Schmerz auf. Ihre Stimmung schwankte stark. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Atemzug entweder in die Höhe katapultiert zu werden oder in die Tiefe zu stürzen.
Emil schlief ein. Nach einer Stunde begann sie vor Verwirrung und Schmerzen lautlos zu weinen. Das Weinen half ihr in letzter Zeit sehr, die Tränen spülten jegliche Traurigkeit mit sich fort, wie klares Wasser über sauberen Sand. Als die Tränen versiegten, fühlte sie sich geistig sehr klar und körperlich matt.
Sie schüttelte Emil wach, der friedlich an ihrer Seite schlummerte.
»Liebling, wach auf, ich muss dir etwas sagen.«
Emil erwachte, hustete, setzte sich im Bett auf und schaffte es anscheinend nur unter Mühe, seine Englischkenntnisse zu reaktivieren. »Was ist denn? Es ist spät.«
»Du weißt doch noch, wer ich bin, oder nicht?«
»Du bist Maya, aber wenn du mir jetzt etwas sagst, hab ich’s morgen vergessen.«
»Ich will nicht, dass du dich daran erinnerst, Emil. Ich möchte es dir bloß sagen. Ich muss es dir sagen. Jetzt gleich.«
Emil war mittlerweile hellwach geworden. Er stopfte den schweren Vorhang hinter das Kopfbrett des Bettes, sodass Mondschein und Straßenlicht ins Atelier fielen. Er sah ihr in die Augen. »Du hast geweint.«
»Ja ...«
»Und du willst mir ein Geständnis machen? Ja, das sehe ich ... Ich weiß es bereits. Ich erkenne die Wahrheit in deinen Augen ... Du hast mich betrogen!«
Verwundert schüttelte sie den Kopf.
»Nein, nein«, beharrte er und hob die Hand. »Sag nichts mehr! Leugnen ist zwecklos! Ein hübsches junges Mädchen und ein verrückter Spinner - niemand wäre leichter zu betrügen! Ich weiß - ich habe einer Frau nichts zu bieten - weshalb sollte sie mir dann treu sein? Meine Arme, meine Lippen - was zählen die schon? Wenn Emil ein Gespenst ist! Ein Mann, den es kaum gibt!«
»Emil, jetzt hör mir mal zu!«
»Habe ich dich jemals gebeten, mir treu zu sein? Niemals! Ich habe dich bloß gebeten, mich nicht zu erniedrigen. Ich habe dir alle Freiheit gelassen - nimm dir ein Dutzend Liebhaber, nimm dir hundert! Du darfst es mir bloß nicht sagen. Aber du musst es mir sagen, nicht wahr? Du musst meine Illusionen mit diesem ... diesem letzten schändlichen Geständnis zerstören.«
»Emil, hör auf! Du bist kindisch.«
»Nenn mich nicht kindisch, du Flittchen! Ich bin doppelt so alt wie du!«
»Nein, das bist du nicht, Emil. Jetzt sei mal still! Ich bin viel, viel älter als du. Ich bin alt, eine alte Frau. Ich heiße Mia Ziemann und bin fast hundert Jahre alt.« Sie brach in Tränen aus.
Emil verschlug es die Sprache. Es entstand ein unangenehmes Schweigen. Nach und nach wich Emil bis an die Bettkante zurück.
»Das soll wohl ein Scherz sein, oder was?«
»Nein, ich scherze nicht. Ich bin vierundneunzig Jahre alt - oder fünfundneunzig -, und ich bin anders als du. Ich habe mich einer radikalen Verjüngungsbehandlung unterzogen. Erst vor wenigen Monaten. Dadurch bin ich so geworden, wie ich bin, und ich bin dabei zerbrochen und zu einem Außenseiter geworden.«
»Du hast mich nicht betrogen?«
»Nein! Emil, dein Verdacht ist an den Haaren herbeigezogen! Ich sage dir die Wahrheit. Kapier das endlich.«
»Du willst behaupten, du wärst hundert Jahre alt. Obwohl du ganz offensichtlich um die zwanzig bist.«
»Ja.«
»Aber du bist keine alte Frau. Mit alten Weibern kenne ich mich aus. Ich habe sogar schon mit alten Weibern geschlafen. Du magst alles Mögliche sein, meine Liebe, aber eine alte Frau bist du nicht.« Er seufzte. »Du hast irgendwas genommen. Du bist high.«
»Falls ich high bin, dann allenfalls von neo-telomerischer dissipativer Zellentgiftung, und glaub mir, verglichen mit dem harmlosen Tinkturendope, mit dem ihr Kids herummacht, ist das ein echter Hammer.«
»Willst du behaupten, du wärst eine Gerontokratin? Weshalb bist du dann nicht in deinem behaglichen Penthouse und lässt dich von hundert Scannern überwachen?«
»Weil ich die Scanner abgelegt und die Stadt verlassen habe, deshalb. Ich habe erst sämtliche Verträge für eine sehr weitgehende Behandlung unterzeichnet und dann gegen sämtliche Gesetze verstoßen. Ich bin ohne zu bezahlen nach Europa geflogen. Ich bin auf der Flucht. Ich bin eine Illegale und habe mich aus einem Forschungsprogramm abgesetzt. Und irgendwann wird man mich schnappen, Emil. Ich weiß nicht, weshalb ich das getan habe. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Sie schluchzte bitterlich.
Er wartete eine Weile, und als er weitersprach, hatte sich sein Tonfall verändert. Jetzt klang er eigenartig verstört. »Warum erzählst du mir das?«
Sie war zu gefangen in ihrem Schmerz, um fortzufahren.
Er wartete wiederum, dann wechselte er abermals den Tonfall. Jetzt klang er neugierig, verblüfft. »Was soll ich jetzt mit dir anfangen?«
Sie heulte laut.
»Ich glaube, jetzt begreife ich«, sagte Emil abschließend. »Du bist ein richtiger Freak, hab ich Recht? Du bist ein kleiner Vampir! Du nährst dich von mir! Von meinem Leben und von meiner Jugend! Du bist eines dieser Fabelwesen, wie sie in Büchern vorkommen. Ein kleiner ... blutsaugender ... posthumaner ... dämonenhafter ... Inkubus!«
»Hör auf! Schluss damit! Sonst bringe ich mich um!«
»So etwas kann auch nur in Prag passieren«, erklärte Emil bedächtig und voller Genugtuung. »Nur hier in der Goldenen Stadt. In der Stadt der Alchemisten. Du hast mir da eben eine sehr, sehr seltsame Geschichte erzählt. So seltsam, dass man sie fast nicht glauben möchte! Hat man sowas schon mal gehört! Irgendwie bin ich stolz, ein Tscheche zu sein.«
Sie wischte sich mit dem Lakenzipfel die strömenden Tränen ab. »War das alles?«
»Ich bin doch in dieser Geschichte das Opfer, oder? Ich bin das Opferlamm. Ich bin das Spielzeug eines sexuellen Golems. Also, das ist wirklich erstaunlich ... das ist geradezu mystisch ... Es ist so dunkel und seltsam und erotisch.« Er blickte sie an. »Weshalb hast du ausgerechnet mich ausgewählt?«
»Ich mochte ... ich mochte einfach deine Hände.«
»Das ist wirklich erstaunlich.« Emil rückte das Kissen zurecht. »Du kannst jetzt aufhören zu weinen. Mach schon, hör auf!« Er lehnte sich zurück und faltete die Hände auf seiner behaarten Brust. »Ich werd’s auch niemandem sagen. Deine grauenhaften Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben. Außerdem würde mir sowieso niemand glauben.«
Das Ausmaß seiner Selbstgefälligkeit setzte sie dermaßen in Erstaunen, dass sie ihre Verzweiflung beinahe vergaß. »Du glaubst doch nicht etwa ... dass ich mich umbringen sollte?«, fragte sie kleinlaut.
»Meine Güte, Frau, was ist los mit dir? Mit dir ist alles in Ordnung. Du bist keine Kriminelle, du hast die Gerontokraten bloß um ein paar Laborrattentests geprellt. Was können sie dir schon anhaben - sollen sie dich etwa wieder alt machen? Dich bei Tageslicht verschrumpeln lassen wie einen Apfel im Keller? Das können sie nicht tun. Sie glauben, sie würden die Welt beherrschen, aber sie sind alle verdammt, sie sind eine Bande kranker Hundertjähriger mit lächerlichen Techniken ... Mit Menschen herumzupfuschen, ohne jede Ahnung von der Macht der Imagination ... Und das alles, bloß um dich mir zu schicken! Dich! Wie eine kleine rosa Strandkrabbe, die eben aus der Schale gekrochen ist!«
»Ich bin keine kleine Strandkrabbe. Und ich bin auch kein Inkubus.« Sie sog scharf den Atem ein. »Ich bin eine Gesetzlose.«
Er lachte.
»Ja, wirklich! Ich habe mich als jemand anders ausgegeben, als ganz jemand anders, damit ich mich nicht mit meinen wahren Wünschen beschäftigen musste. Aber das war falsch, denn ich war die ganze Zeit Mia, ich war immerzu Mia, und ich bin auch jetzt im Moment Mia, und ich hasse diese Leute! Sie wollen nicht, dass ich lebe! Sie wollen bloß, dass ich vegetiere und meine Zeit absitze, genau wie sie! Ich könnte jetzt auf die Straße gehen - jedenfalls wenn ich vorher was anziehen würde - und das Labor in San Francisco anrufen und sagen: ›Hallo, ich bin’s, Mia Ziemann, ich hab schlecht auf die Behandlung reagiert, tut mir Leid, ich bin in Europa, ich hab vorübergehend den Kopf verloren, bitte holt mich zurück, steckt eure Instrumente in mich rein, pflastert mich voll damit, ich hab mich wieder gefangen, ich werd auch ganz brav sein.‹ Und sie würden mich holen! Sie würden ein Flugzeug schicken und wahrscheinlich auch gleich einen Reporter, und sie würden mir meinen Job zurückgeben und mir einen nassen Waschlappen auf die Stirn legen. Sie sind ja so blöde, sie sollen alle krepieren! Ich werde nie wieder in dieses Leben zurückkehren, lieber sterbe ich, eher springe ich aus dem Fenster.« Sie zitterte.
Emil berührte schweigend ihre Hand. Schließlich stand er auf und holte ihr ein Glas Wasser. Sie trank gierig und wischte sich die Augen.
»War’s das, was du mir sagen wolltest?«
»Ja.«
»Das war alles?«
»Ja, schon.«
»Hast du mir das schon einmal erzählt?«
»Nein, Emil, noch nie. Weder dir noch sonst jemandem. Du bist der erste, ehrlich.«
»Glaubst du, du musst es mir noch einmal erzählen?«
Sie überlegte. »Glaubst du, du wirst es im Gedächtnis behalten?«
»Ich weiß nicht. Könnte sein. Es kommt nicht oft vor, dass ich etwas behalte, was man mir spät nachts sagt. Mit einer anderen Frau wäre es auch wieder was anderes, aber zwischen uns besteht eine tiefe Verbindung. Ich glaube ... ich glaube, es war Schicksal, dass wir uns begegnet sind.«
»Also ... vielleicht ... Nein. Nein, das glaube ich nicht, Emil. Ich bin nicht religiös, ich bin nicht abergläubisch, halte nichts von Esoterik, ich bin nun einmal nicht mystisch veranlagt, ich bin bloß posthuman. Ich bin posthuman, ich habe mich dafür entschieden, hinter die Grenze vorzustoßen. Diese Entscheidung habe ich sehenden Auges getroffen, und jetzt muss ich lernen, mit meinem privaten Albtraum weiterzuleben.«
»Ich wüsste einen Ausweg.«
»Und wie sähe der aus?«
»Du müsstest sehr tapfer sein. Aber ich könnte dich wieder heil machen. Keine Zweifel, keine Geheimnisse, keine Schmerzen mehr. Du wärst wieder eine vollständige, neue Frau. Wenn du willst.«
»Ach, Emil ...« Sie starrte ihn ungläubig an. »Kein Amnetikum.«
»Natürlich das Amnetikum. Du glaubst doch hoffentlich nicht, ich könnte etwas so Kostbares verlegt haben. Diese Ziemann, von der du gesprochen hast, diese alte Frau, dein Inkubus ... Wir könnten dich von ihr befreien. Wie durch Zauberei.«
»Würde uns das wirklich helfen? Ich wäre immer noch eine Illegale.«
»Nein, wärst du nicht. Dieses Problem würden wir ebenfalls lösen. Du wärst meine Frau. Du wärst jung. Und neu. Und frisch. Und du würdest mich lieben. Und ich würde dich lieben.« Er setzte sich gestikulierend im Bett auf. »Wir könnten alles aufschreiben. Wir könnten festhalten, wie wir vorgehen wollen, dann könnten wir es morgen lesen. Paul würde uns helfen. Paul ist in Ordnung, er ist klug, er hat Freunde und verfügt über Einfluss, er mag mich. Wir heiraten, verlassen die Stadt, gehen nach Böhmen. Wir legen einen Garten an und arbeiten mit Ton. Wir werden ganz neue Menschen sein und miteinander auf dem Land leben, und wir werden auf ewig außerhalb der Gesellschaft stehen!«
Er war erfüllt von leidenschaftlicher Begeisterung und aufrichtig überzeugt von seinem Plan, und sie hätte sich von ihm gern mitreißen lassen, als sie vom schwarzen Blitz des Misstrauens getroffen wurde und ihr auf einmal bewusst wurde, dass er dieses Angebot auch schon anderen Frauen gemacht hatte.
Als sie am Morgen erwachte, war Emil verschwunden. Es roch nach Blut. Ihr Blut hatte sich im ganzen Bett verteilt. Sie stand auf, stopfte sich einen Lappen in den Slip, zog ein Kleid an und bereitete eine Schmerztinktur. Sie trank den Aufguss, dann zog sie das Bett ab, drehte die verschmutzte Matratze um und legte sich erschöpft wieder hin.
Gegen Mittag wurde an der Tür geklopft. »Geh weg«, stöhnte sie.
Der Schlüssel klirrte im Schloss, und die Tür ging auf. Es war Paul.
»Ach, du bist es«, stieß sie hervor. »Ciao, Paul.«
»Guten Tag. Darf ich reinkommen?« Paul trat ins Atelier. »Wie ich sehe, lebst du noch. Das ist eine ausgezeichnete Neuigkeit. Bist du krank?«
»Nein. Ja. Nein. Wie soll ich mich ausdrücken? Ich bin unpässlich.«
»Das ist schon alles? Mehr nicht? Na gut.« Paul lächelte kurz. »Ich verstehe.«
»Wo ist Emil?«
»Tja«, meinte Paul ausweichend. »Lass uns drüber reden, okay? Du heißt Maya, nicht wahr? Wir haben uns beim letzten Monatstreffen im Tete kennengelernt. Du warst in Begleitung einer Modedesignerin, die sehr high war und sich mit Niko angelegt hat.«
»Das tut mir Leid.«
»Hast du schon gegessen?«, fragte Paul und ließ den Rucksack neben dem Brennofen zu Boden gleiten. Er strich sich das dunkle Haar mit beiden Händen zurück. »Ich habe heute noch nichts gegessen. Lass uns etwas kochen. Die Küche ist ja anscheinend gut bestückt. Wie wär’s mit Gulasch?«
»Bloß nicht.«
»Ein wenig Kascha. Etwas Leichtes, Nahrhaftes.« Paul ließ Wasser in einen Topf laufen. »Wie lange kennst du unseren guten Freund schon?«
»Ich wohne hier seit dem Abend im Tete.«
»Drei Wochen mit Emil! Du bist eine tapfere Frau.«
»Ich bin nicht die erste.«
»Du hast hier einiges verändert«, sagte Paul und ließ den Blick durchs Atelier schweifen. »Ich bewundere deine Hingabe.
Emil braucht viel Zuwendung. Er hat mich heute Morgen angerufen. Er war sehr aufgeregt. Ich bin gleich mit dem Express von Stuttgart hergekommen.«
»Ach so.« Maya zog die Bettdecke über die Knie hoch. »Er meinte, du wärst ein guter Freund von ihm. Er hält große Stücke auf dich.«
»Tatsächlich? Das ist ja rührend. Dass Emil mich anruft, damit war zu rechnen. Schließlich hat er sich meine Netzadresse auf den Unterarm tätowiert.«
Sie blinzelte überrascht. »Die Tätowierung ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Sie ist sehr unauffällig. Die Tätowierung wird nur dann sichtbar, wenn er sehr aufgeregt ist.«
»War Emil heute Morgen aufgeregt?«
Paul schüttete gelbes Pulver in eine Pfanne. »Er hat mich aufgeweckt und mir gesagt, in seinem Bett liege eine Fremde im Sterben. Vielleicht sei sie auch schon tot. Ein Inkubus. Ein Golem. Er war völlig konfus.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er entspannt sich in der Sauna. Schwartz kümmert sich um ihn. Ich rufe ihn mal an. Einen Augenblick.« Paul löste das Netzgerät von seinem Kragen und sprach auf deutsch hinein, während er behutsam in der Pfanne rührte. Paul war einfühlend, dann komisch, dann autoritär, dann leicht ironisch. Als Paul den Sinn und die Ordnung des Universums wiederhergestellt hatte, klemmte er sich das Telefon wieder an den Kragen.
»Du solltest auf deinen Flüssigkeitshaushalt achten«, sagte er. »Wie wär’s mit einem Mineralka? Vielleicht mit zweihundert Mikrogramm Enkephalin und einem harntreibenden und entspannenden Mittel. Das würde dir gut tun.« Er öffnete seinen Rucksack und holte einen Beutel mit Reißverschluss hervor. Darin verwahrte er ein ganzes Arsenal von Pflastern und luftdicht verschlossenen Kapseln.
»Hast du beim Hereinkommen geglaubt, ich wäre tot, Paul?«
»Möglich ist alles.« Paul öffnete einen Schrank, nahm Löffel und Schüsseln heraus. »Ich wollte einfach als erster hier sein, das ist alles.«
»Um die Indizien zu beseitigen, bevor die Polizei auftaucht?«
»Schon möglich.« Er brachte ihr eine schöne Keramikschüssel mit dampfendem Brei und eine Porzellanvase mit schmalem Hals, gefüllt mit Mineralwasser. »Wenn du das gegessen hast, wirst du dich besser fühlen.« Er ging seine eigene Schüssel holen.
Sie probierte das sprudelnde Mineralka. »Merci beaucoup.«
»Englisch ist schon in Ordnung, Maya. Ich bin Programmierer, ich bin ein Opfer des globalen Technikjargons. Wir können ebensogut englisch sprechen. Es hat keinen Zweck mehr, sich dagegen zu wehren.«
Sie schnitten eine gelbe Lipidstange in Scheiben, rührten weiße Zuckerwürfel in die Kascha und aßen beide auf dem Bett. Das gemütliche kleine Ritual bewirkte, dass Maya sich wieder wie fünf vorkam. Sie fühlte sich sehr schwach und gereizt. Es schien ihr nicht ratsam, sich mit Paul zu streiten.
»Wenn ich meine Tage habe, bin ich unleidlich«, sagte sie. »Gestern Abend hatten wir einen Streit, und er hat sich aufgeregt. Es ist nicht gut, wenn man ihm spät nachts etwas erzählt, dann schläft er schlecht.« Sie seufzte. »Abgesehen davon, dass ich heute Morgen aussehe, als wär ich halbtot.«
»Keineswegs«, sagte Paul. »Ohne Perücke und ungeschminkt hat dein Gesicht eine Menge Charakter. Nach konventionellen Maßstäben ist es weniger attraktiv, dafür aber viel reizvoller. Es drückt eine Art melancholische Entrücktheit aus, eine Art Weltschmerz. Dein Gesicht hat etwas Ikonenhaftes.«
»Du bist sehr taktvoll und galant.«
»Nein, ich spreche bloß als Ästhet.«
»Was machst du in Stuttgart, Paul? Es tut mir Leid, dass ich dich heute von der Arbeit abhalte, was immer das sein mag.«
»Ich programmiere. Und ich lehre an der Universität.«
»Wie alt bist du?«
»Achtundzwanzig.«
»Und in dem Alter lässt man dich schon lehren?«
»Das europäische Universitätssystem ist sehr alt, verknöchert und bürokratisch, aber wenn man Publikationen vorweisen kann und Sponsoren hat, und es besteht Nachfrage seitens der Studenten, dann darf man lehren. Sogar mit achtundzwanzig.« Er lächelte. »C’est possible.«
»Was lehrst du denn?«
»Ich lehre Kunsthandwerk.«
»Oh. Natürlich.« Sie nickte mehrmals hintereinander. »Weißt du, ich suche jemanden, der mir das Fotografieren beibringt.«
»Josef Novak.«
»Wer?«
»Josef Novak, er lebt hier in Prag. Seine Arbeiten kennst du bestimmt nicht. Aber er ist ein wahrer Meister seines Fachs. Ein Pionier der Virtualität. Ich bin mir nicht sicher, ob Novak noch Schüler annimmt, er kam mir halt in den Sinn.«
»Ist er ein Gerontokrat?«
»Ob er ein ›Gerontokrat‹ ist? Einen guten Lehrer sollte man nicht geringschätzen. Der Umgang mit Novak ist natürlich nicht leicht. Sehr alte Menschen sind meistens schwierig im Umgang.«
»Josef Novak ... warte mal, ist das nicht der, der Anfang des Jahrhunderts die Desktop-Umgebung Glaslabyrinth entworfen hat?«
»Das war lange vor meiner Zeit.« Paul lächelte. »Novak war in seiner Jugend sehr produktiv. Die meisten Arbeiten sind mittlerweile natürlich verloren. Der tragische Verlust der frühen digitalen Standards und Plattformen ... das war eine kulturelle Katastrophe.«
»Klar, Glaslabyrinth, Der Skulpturengarten, Verschwundene Statuen, das stammte alles von Novak. Damit hat er damals großen Erfolg gehabt! Das waren wundervolle Arbeiten! Ich wusste gar nicht, dass er noch lebt.«
»Er wohnt ganz in der Nähe.«
Sie setzte sich auf. »Tatsächlich? Dann lass uns zu ihm gehen! Du stellst mich ihm vor, würdest du das tun?«
Paul sah aufs Handgelenk. »Ich habe heute Nachmittag eine Vorlesung in Stuttgart ... Tut mir Leid, ich stehe im Moment ein wenig unter Zeitdruck.«
»Ach, das ist aber schade.«
»Aber es freut mich, dass es dir wieder besser geht.«
»Die Wirkung des Schmerzmittels hat eingesetzt. Vielen Dank. Außerdem geht’s mir immer besser, wenn ich gegessen habe.«
»Dann kennst du also Josef Novaks Frühwerk. Du bist ja eine richtige Altertumsforscherin, Maya. Das ist wirklich interessant. Erstaunlich. Wie alt bist du?«
»Paul, vielleicht sollte ich Emil in den nächsten Tagen aus dem Weg gehen. Es wäre vielleicht besser, wenn ich für eine Weile aus seinem Leben verschwände. So wie die Dinge liegen. Was würdest du mir raten?«
»Ich glaube, Emil geht es morgen bestimmt wieder besser. So ist es bei ihm meistens. Aber wahrscheinlich hast du trotzdem Recht. In Anbetracht der Umstände.«
»Vielleicht sollte ich mich ein paar Tage lang einfach herumtreiben. Hättest du was dagegen, wenn ich dich nach Stuttgart begleiten würde? Dann könnten wir uns unterwegs unterhalten. Aber ich will mich nicht aufdrängen.«
»Davon kann doch gar keine Rede sein, ich würde mich über deine Gesellschaft freuen.«
»Ich ziehe mich an. Okay?«
Im Atelier gab es keine Gelegenheit, sich unbeobachtet umzukleiden. Die jungen Leute machten um die Privatsphäre kein großes Aufhebens. Maya zwängte sich unbeholfen in eine Freizeithose und einen Pullover. Paul wusch ab, ohne sie zu beachten.
Als sie einen Blick in den Taschenspiegel warf, war sie entsetzt. Die Wahrheit war so offensichtlich, als wenn sie ihr in Leuchtfarben auf die Stirn gemalt gewesen wäre. Dies war nicht das Gesicht einer jungen Frau.
Das Gesicht war posthuman, blass, abgehärmt und randvoll mit exotischen Spielarten des Schmerzes, deren vollständiger Ausdruck ihm nicht gestattet war. Das künstlich geformte, wächserne Gesicht einer altmodischen Schaufensterpuppe.
Sie eilte zur Küchenspüle und machte sich mit Reinigungsgel an die Arbeit. Toning-Lotion. Porenreiniger. Nährlösung. Grundierung. Rougepinsel. Lidstrich. Lipgloss. Wimperntusche. Skleralaufheller. Die Brauen nachziehen. Das Zähneputzen hatte sie vergessen. Dazu war es jetzt zu spät.
Der Spiegel lieferte ihr die Bestätigung dafür, dass sie die Wahrheit erfolgreich in die Schranken gewiesen hatte. Mit Kosmetika zugekleistert. Ihr Haar sah noch immer schrecklich aus, aber Naturhaar war stets problematisch.
Sie legte einen hellen tschechischen Schal um, schlüpfte in die Schuhe, setzte sich die große warme, graue Baskenmütze auf. Sie steckte ein paar noch halb volle Geldkarten in den Rucksack. Irgendwie würde es schon gehen. Jetzt war sie eingemummt, geschützt. Voller Optimismus und Zuversicht.
Paul hatte sich derweil geduldig Emils neueste Arbeiten angeschaut. Er öffnete einen Holzkasten. »Hat er dir das schon mal gezeigt?«
»Ich glaube nicht.«
»Das ist sein Lieblingsstück.« Paul griff mit übertriebener Vorsicht in den mit zerschlissenem Futter ausgekleideten Kasten hinein und holte eine zarte weiße Tasse mit Unterteller heraus. Beides stellte er auf Emils Werkbank. »Das hat er kurz nach der Veränderung gemacht. Damals hat er sich gegen die Realität gewehrt wie ein Ertrinkender.«
»Eine Tasse«, sagte Maya.
»Fass sie an. Nimm sie in die Hand.«
Maya wollte die Tasse ergreifen, doch sie prickelte, sodass sie die Hand zurückriss. Paul kicherte.
Maya tippte die Untertasse behutsam mit dem Zeigefinger an. Sie spürte ein schwaches elektrisches Kribbeln, als streife ihr etwas Stachliges über die Haut. Ein knisterndes SandpapierGefühl.
Paul lachte.
Sie packte entschlossen die Tasse. Obwohl sie die Hand nicht rührte, hatte Maya den Eindruck, die Tasse summe und winde sich in ihrer Hand. Sie setzte sie wieder ab. »Ist da eine Batterie drin? Funktioniert der Trick so?«
»Das ist kein Porzellan«, meinte Paul.
»Was ist es dann?«
»Keine Ahnung. Es sieht aus wie Porzellan und glänzt auch so, aber ich glaube, es ist piezoelektrisches Schaumglas. Ich habe mal beobachtet, wie er eine Tinktur in die Tasse gegossen hat. Die Flüssigkeit sickerte langsam durch die Tasse und den Unterteller hindurch. Aufgrund irgendeiner Eigenschaft - sei es die Porösität, die Fraktaldimension oder vielleicht durch van der Waals-Kräfte - reagiert das Material eigentümlich bei Berührung.«
»Aber warum?«
»Das ist ein objet gratuit. Ein Kunstwerk, das den Bankrott des Alltäglichen demonstrieren soll.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Ist Emil ein Witz?«, entgegnete Paul. »Ist es witzig, kein Mensch mehr zu sein? Sicherlich. Was ist ein Witz? Ein Witz bringt das gewohnte Vorstellungsgebäude ins Wanken.«
»Aber das ist noch nicht alles.«
»Natürlich nicht.«
»Erzähl mir den Rest.«
Paul packte Tasse und Unterteller wieder in den Kasten und stellte den Kasten behutsam ins Regal. »Bist du fertig? Dann sollten wir allmählich aufbrechen.« Er nahm ihren Rucksack, hielt ihr die Tür auf und schloss hinter sich sorgfältig ab.
Sie polterten die knarrende Treppe hinunter. Draußen war es bedeckt und windig. Sie wandten sich zur U-Bahnhaltestelle Narodni. Maya hielt sich dicht bei Paul. In ihren flachen Schuhen war sie ebenso groß wie er. »Paul, bitte verzeih mir, wenn ich zu direkt bin. Ich komme aus einem anderen Land, und ich bin naiv. Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen. Du bist ein Lehrer, ich weiß, dass du mir die Wahrheit sagen kannst.«
»Dein Vertrauen rührt mich«, sagte Paul.
»Bitte sei nicht so. Was soll ich tun, damit du mir die Wahrheit sagst?«
»Vergegenwärtige dir das Objekt«, riet Paul ihr höflich. »Es durchbricht den alltäglichen Schwindel. Es konfrontiert uns mit einer taktilen Verletzung unserer konventionellen Erfahrung.«
»Und?«
»Die Destruktion unserer normalen Befindlichkeit eröffnet uns eine Unzahl neuer, kreativer Sichtweisen. Diese Möglichkeiten müssen von den Erben der Menschheit assimiliert und systematisch fortentwickelt werden. Kunsthandwerk ist nicht dasselbe wie Kunst. Zwar entfaltet sie die Imagination des Vorbewussten, erkennt dabei aber an, dass die Vorstellungskraft des Unbewussten verarmt ist. Wir respektieren die Irrationalität des schöpferischen Impulses, leugnen aber die Vorherrschaft oder überhaupt die Relevanz der Halluzination. Wir machen uns die ganze Kraft der bewussten Rationalität und der wissenschaftlichen Methode nutzbar, um die menschliche Kultur vorsätzlich zu destruieren und zu überwinden.«
Sie stiegen die Treppe zur U-Bahnstation hinunter. Paul holte diskret einen laminierten Reiseausweis aus der Innentasche seines Jacketts. »Die Conditio Humana ist Vergangenheit. Die Natur ist Vergangenheit. Die Kunst ist Vergangenheit. Das Bewusstsein ist formbar. Die Wissenschaft ist ein unerschöpfliches Pulverfässchen. Wir stehen vor einer neuen Realität, die bislang von den angeborenen Beschränkungen der Säugetierprimaten verdeckt wurde. Wir müssen Werke erschaffen, welche diese neue Wirklichkeit ans Licht bringen, eine Abfolge uneigennütziger Gesten, die in ihrer Gesamtheit das Bewusstsein der Posthumanität formen werden.« Pauls ruhiger Blick wurde intensiver. »Gleichzeitig dürfen wir in politischer Hinsicht die fragile Oberflächenspannung einer alternden Zivilisation, die vorgibt, utopische Gelassenheit erlangt zu haben, obwohl sie insgeheim unheilbar traumatisiert ist, nicht zerstören. Unter der abstoßenden Hülse der absterbenden menschlichen Agenda müssen wir die biologische Basis der Wahrnehmung und die Verfassung der Kultur systematisch verändern und von den Ergebnissen aufrichtig, objektiv und demütig Zeugnis ablegen. Das ist im wesentlichen unser Programm als Kunsthandwerker.«
»Ich verstehe. Kannst du mir ein Ticket kaufen?«
»Ein Ticket für die U-Bahn oder eins nach Stuttgart?«
»Könntest du mir vielleicht beide kaufen? Inklusive Rückfahrt.«
»Weshalb nimmst du nicht meinen Europapass? Der ist bis Mai gültig.«
»Meinst du wirklich, Paul? Das ist sehr großzügig.« Er reichte ihr den laminierten Ausweis. »Nein, nein, ich bekomme eine neue Smartcard von den Universität. In Europa gibt es lauter Vergünstigungen.« Er machte sich an einem Automaten zu schaffen.
Sie stiegen in die U-Bahn und hielten sich an Haltegurten fest. Maya musterte Paul. Sie mochte die Art und Weise, wie er sich das Haar hinter die Ohren streifte. Sie bewunderte den grazilen Schwung seiner beweglichen dunklen Augenbrauen, den Schnitt seiner Lider. Seine Nähe tat ihr gut. Er war so jung.
»Erzähl mir noch mehr, Paul. Red weiter.«
»Wir müssen uns bereit machen, die kommende Epoche kreativ in Besitz zu nehmen. Eine Epoche mit so großem poetischem Reichtum, so unendlich siegreich, so aufgeladen mit Bedeutung, dass nur diejenigen, welche darauf vorbereitet sind, im Kataklysmus zu baden, die Singularität transzendieren werden. Eines Tages werden wir allem Hass auf das Wunderbare die Spitze nehmen. Das Erstaunliche am Phantastischen ist, dass der Inhalt zum Gefäß wird; das Fantastische infiltriert unausweichlich den Alltag. Das ist bloß eine Frage der Zeit, und Zeit ist ein unerschöpfliches Gut. Die Normalität hat keine Kraft mehr; es gibt bloß noch Routine.«
»Das hast du wunderschön gesagt.« Er lächelte. »Das möchte ich auch fast meinen.«
»Ich wünschte, ich wäre auch so schön.«
»Ich glaube, du verwechselst da die Kategorien, meine Liebe.«
»Also gut - dann wünschte ich, ich könnte etwas Schönes erschaffen.«
»Vielleicht hast du das bereits getan.« Er stockte. »»Schönheit ist ein wirklich interessantes Konzept. Der Schnittpunkt dreier Welten ...«
Die U-Bahn hielt am Museum, und eine plappernde Touristenhorde strömte in den Wagen, eine drängelnde Ansammlung von Rucksäcken und Taschen. Maya und Paul standen mitten in der Menge, an den Haltegriffen schwankend. Er hatte sie davon zu überzeugen versucht, dass er das Universum zu erschüttern vermochte, dabei waren sie inmitten einer Horde teilnahmsloser Fremder wie in einem Viehtransporter eingekeilt.
Allmählich wurde es heiß im Wagen. Irgendetwas verkrampfte sich tief in ihrem Innern, und als sie den Schmerz ausgeschwitzt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie heute etwas wahrhaft Verrücktes tun würde. Irgendetwas Wahnsinniges, Spontanes, das sich ganz von selbst ergab. Vom Boden abheben. Von einem Gebäude springen. Sich auf den Bauch werfen und die Füße eines Polizisten küssen. Zum Mond fliegen und die Füße in den kreidig-weißen Boden graben und nach Luna suchen ... Paul musterte sie mit unverhohlener Besorgnis. Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.
Am Hauptbahnhof schleppte sie sich auf die Toilette. Sie hantierte mit den Hygienegeräten, trank zwei Becher Wasser und trat in besserer Verfassung wieder auf den Gang. Das hübsche Gesicht im Spiegel mit den großen Augen und den kleinen Schweißperlen unter den verschiedenen Schminkschichten glühte, als werde es vom heiligen Feuer verzehrt.
Paul war aufmerksam. Er besorgte zwei Sitzsäcke mit einem hübschen Klapptisch in der Ersten Klasse. Der Stuttgart-Express fuhr sehr schnell.
»Ich liebe die europäischen Züge«, plapperte Maya drauf los.
»Auch die richtig schnellen, die den größten Teil des Weges unterirdisch zurücklegen.«
»Vielleicht solltest du mal nach Wladiwostok fahren«, sagte Paul.
»Warum sollte ich das tun?«
»Das hat in unserer Gruppe Tradition. Wladiwostok, der äußerste Punkt des eurasischen Kontinents. Du hast jetzt einen Europass und hast gesagt, du wolltest dich treiben lassen. Warum nicht nach Wladiwostok? Du wärst eine ganze Weile allein. Du könntest dich erholen und deine Gedanken sammeln. Bis zum äußersten Rand von Asien und wieder zurück bräuchtest du etwa fünf Tage.«
»Und was fängt man am pazifischen Rand an?«
»Also, wenn du einer von uns bist, dann gehst du in Wladiwostok zu einem gewissen obskuren Ptydepe - Verzeihung, ich meine natürlich eine öffentliche Telepräsenzsite - und vollziehst dort eine spontane Handlung. Unsere Gruppe überwacht diese PTS ständig mittels eines Konzeptfilters. Jede Geste, welche die Aufmerksamkeit des Scanners erregt, wird automatisch an alle Teilnehmer der Mailingliste übermittelt.«
»Wie erfahre ich, ob meine Geste spontan genug ist?«
»Mittels Intuition, Maya. Es ist hilfreich, wenn du dir vorher andere Performances anschaust. Das ist nicht bloß eine menschliche Ermessensfrage - unser Filterprogramm entwickelt seine eigenen Standards. Das ist die Schönheit der inhärenten Schönheit.« Paul lächelte. »Woher weiß man, dass etwas ungewöhnlich ist? Was ist gewöhnlich? Was lässt das Alltägliche so zerbrechlich und doch so allgegenwärtig erscheinen? Die Membran zwischen dem Bizarren und dem Langweiligen ist notwendigerweise durchlässig.«
»Offenbar entgeht mir als Nichtteilnehmer an eurem Netzwerk eine Menge.«
»Zweifellos.«
»Weshalb trefft ihr euch überhaupt noch physisch in dieser Prager Bar, wo ihr doch so eng vernetzt seid?«
Paul ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. »Hast du einen Übersetzer? Funktioniert er?«
»Ja. Benedetta hat mir im Tete einen Übersetzer geschenkt.« Sie zeigte Paul das Collier.
»Wirklich reizend von meiner geschätzten Kollegin Benedetta. Ich nehme an, dann beherrscht das Gerät auch Französisch. Schalt es ein.« Paul steckte sich ein kleines Gerät ins Ohr.
Maya hantierte mit den Diamanten und steckte sich das goldene Vogelnest ins Ohr. Paul sprach französisch weiter. »[Ich nehme an, du verstehst mich immer noch.]«
»Ja. Das Gerät funktioniert ausgezeichnet.«
»[Es zirkulieren zahllose Ohrübersetzer. Die sind heutzutage allgemein verbreitet. Du sprichst englisch, ich spreche französisch, das Gerät übersetzt für uns. Und wenn der Hintergrundlärm gering ist ... und wenn wir nicht allzu viele Jargonausdrücke gebrauchen ... und wenn nicht zu viele Leute gleichzeitig reden ... und wenn wir nicht irgendwelche Bezüge einfließen lassen, die das Begriffsvermögen des Minirechners übersteigen ... und wenn wir unsere Unterhaltung nicht mit zu vielen nonverbalen Interaktionen wie Gesten und Mimik anreichern - nun, dann verstehen wir einander.]« Er vollführte eine weit ausholende Geste. »[Das heißt, allen Unzulänglichkeiten zum Trotz pressen wir ein Fünkchen Bedeutung durch diese schrecklich intime technische Ohrmembran hindurch].«
»Ja, das trifft es! Genau so funktioniert es.«
»[Betrachte mal mein Gesicht, während ich spreche. Verschiedene Muskeln treten in Aktion, es stellt sich ein gewisser Spannungszustand ein, der das Gesicht zu einer charakteristischen Abfolge verbaler Äußerungen befähigt - auf französisch. Bewusst nehme ich keinen Einfluss auf meine Mimik. Bewusst nimmt man nicht wahr, was da vor sich geht. Gleichwohl sind große Bereiche unseres Gehirns mit der Analyse des Gesichtsausdrucks und der Sprache beschäftigt. Untersuchungen haben ergeben, dass wir uns gegenseitig nicht aufgrund unserer Haltung, unserer Gene oder der Kleidung als Fremde wahrnehmen, sondern weil die jeweilige Sprache unser Gesicht geformt hat. Das ist vorbewusste Wahrnehmung. Ein Übersetzer ist dazu nicht in der Lage. Auch ein Netzwerk nicht. Netzwerke und Übersetzer denken nicht. Sie rechnen bloß.]«
»Ja, und?«
»[Du siehst mich im Moment, hörst mich mit einem Ohr französisch sprechen und empfängst mit dem anderen Ohr rechnergenerierte Daten. Irgendein Teil von dir, der sich deiner Wahrnehmung entzieht, spürt, dass das ein einziges Durcheinander ist.]«
Er langte über den Tisch und ergriff ihre Hand. »[Jetzt halte ich deine Hand, während ich französisch mit dir rede. Sieh mal, ich halte deine Hand mit beiden Händen umfasst. Ich streichle deine Hand. Wie fühlt sich das an?]«
»Angenehm, Paul.«
»Und wie fühlt es sich an, wenn ich englisch mit dir rede?«
Überrascht entzog sie ihm ihre Hand.
Er lachte. »Da. Hast du gesehen? Deine Reaktion enthüllt die Wahrheit. Mit Netzwerken ist es das gleiche. Wir treffen uns physisch, weil wir die Netzwerke ergänzen müssen. Nicht deshalb, weil es den Netzwerken an Intimität mangeln würde. Im Gegenteil, Netzwerke sind viel zu intim, auf einer zu schmalen Bandbreite. Wir müssen uns auf eine Weise begegnen, die unseren grauen Zellen Nahrung gibt.«
»Das ist sehr klug. Aber sag mal - was wäre eigentlich gewesen, wenn ich meine Hand nicht weggezogen hätte?«
»[Dann]«, sagte Paul mit großem Scharfsinn und Feingefühl, »[hätte man daraus schließen können, dass deine Wahrnehmung gestört ist. Was offenbar nicht der Fall ist.]« Und damit war das Thema erst einmal erledigt.
Jetzt erst fiel ihr auf, dass er am Mittelfinger der Rechten einen Ring trug. Der Ring sah aus wie ein eingraviertes dunkles Band - doch es war gar kein Ring. Es war ein schmaler Pelzstreifen. Ein dichtes braunes Pelzband, das in Pauls Finger verwurzelt war.
Auf Magnetfeldern schwebend, glitten sie mit enormer Geschwindigkeit durch die mit Diamantbohrern ausgehöhlten Tunnel in der europäischen Erde. Maya empfand in Pauls Gesellschaft großes Vergnügen und verspürte überhaupt kein Bedürfnis, mit ihm zu flirten. Das wäre das gleiche gewesen, als machte man einem Stalaktiten aus Kalkstein schöne Augen. Es reizte sie nicht, mit ihm intim zu werden. Tagtäglich die Qual einer solchen Bewusstseinsklarheit zu ertragen, hätte einer Frau eine Menge Selbstverleugnung und Geduld abverlangt. Falls er eine Freundin hatte, so saß sie ihm bestimmt mit der Gabel in der Hand am Frühstückstisch gegenüber und wurde von den vier Stahlzinken seiner Intelligenz, seiner Auffassungsgabe, seines Ehrgeizes und seines Selbstbewusstseins durchbohrt.
Paul musterte sie schweigend, offenbar mit ganz ähnlichen Gedanken beschäftigt. Sie meinte beinahe, das Hochgeschwindigkeitsknistern der neurochemischen Denkprozesse in den feuchten Drüsentiefen seines Löwenhauptes wahrzunehmen.
Um ein Haar hätte sie alles gebeichtet. Dies wäre eine große Dummheit gewesen, die sie bereits zum zweiten Mal begangen hätte, doch sie war heute dermaßen aufgedreht, dass sie das Risiko so dringend brauchte wie Sauerstoff zum Atmen, und vor allem war ihr wirklich danach. Sie wollte Paul nicht berühren, ihn in den Armen halten und liebkosen, aber sie verspürte das Bedürfnis, sich ihm zu offenbaren. Sich zu opfern und ihn dadurch zu zwingen, sie ernst zu nehmen.
Doch bei ihm wäre es anders als bei Emil. Armer Emil, auf seine eigentümliche animalische Art stand er außerhalb der Zeit und war unverwundbar, unzerstörbar. Paul war ganz gegenwärtig. Paul redete über kosmische Umwälzungen und befand sich trotzdem nicht jenseits des Jordans. Paul war jung, er war bloß ein junger Mann. Ein junger Mann, der keinen Bedarf für ihre Probleme hatte.
Ihre Blicke trafen sich. Auf einmal bestand eine wahnsinnige Spannung zwischen ihnen. Bei jedem anderen hätte es sich wie sexuelle Anziehung angefühlt. Mit Paul war es ein telepathischer Angriff.
Er starrte sie an. Die Überraschung war ihm deutlich anzumerken. Seine zarten Brauen wölbten, seine Augen weiteten sich.
»Was denkst du gerade, Paul?«
»Ist die Frage ernst gemeint?«
»Ja, klar.«
»Ich überlege, warum ich diese frivole junge Schönheit vor mir sehe. Hier, auf der anderen Seite des Tisches.«
»Weshalb sollte ich nicht da sein?«
»Weil das eine Fassade ist. Hab ich Recht? Du bist nicht frivol. Und ich bin mir auf einmal ziemlich sicher, dass du nicht jung bist.«
»Wieso sagst du das?«
»Du bist sehr schön. Aber das ist nicht die Schönheit einer jungen Frau. Du bist wunderschön. In deiner Gegenwart empfinde ich einen Anflug von Grauen.«
»Vielen Dank.«
»Jetzt, da ich es erkannt habe, frage ich mich, was du von uns willst. Bist du ein Polizeispitzel? Bist du vom Sozialdienst?«
»Nein. Bin ich nicht, ehrlich.«
»Ich war mal beim Sozialdienst«, sagte Paul ruhig. »Bei der Jugendliga, in Avignon. Ich war ziemlich engagiert und habe eine Menge interessanter Dinge gelernt. Aber ich hab aufgehört, hab’s hingeschmissen. Weil sie die Welt zum Besseren verändern wollten. Und ich wusste, dass ich das nicht wollte. Ich wollte, dass die Welt interessanter wird. Findest du das verbrecherisch, Maya?«
»Auf diese Weise habe ich es noch nicht betrachtet. Mir erscheint es nicht sonderlich verbrecherisch.«
»Eine ganz gute Bekannte von mir ist Polizeispitzel. Du erinnerst mich stark an sie. Sie verfügt über die gleiche eigentümliche Selbstbeherrschung wie du und besitzt eine ähnlich intensive Ausstrahlung als Frau. Als ich dich gerade so angeschaut habe, wurde mir bewusst, dass du der Witwe ähnlich siehst. Und dann wurde mir auf einmal alles klar.«
»Ich bin keine Witwe.«
»Sie ist eine erstaunliche Frau. Unglaublich schön, sublim. Sie ist eine Art Sphinx. Ein unberührbares mythisches Wesen. Sie interessiert sich sehr fürs Kunsthandwerk. Vielleicht lernst du sie ja mal kennen. Falls du in unserer Nähe bleibst.«
»Diese Witwe - ist eine Kunstpolizistin? Ich wusste gar nicht, dass sich die Polizei auch mit Kunst beschäftigt. Wie heißt sie?«
»Sie heißt Helene Vauxcelles-Serusier.«
»Helene Vauxcelles-Serusier ... Du meine Güte, was für ein wundervoller Name!«
»Wenn du Helene noch nicht kennst, kannst du sie kennen lernen.«
»Ich will sie bestimmt nicht kennen lernen. Ich bin nämlich keine Informantin. In Wirklichkeit bin ich eine flüchtige Kriminelle.«
»Informantin, Kriminelle ...« Er schüttelte den Kopf. »Der Unterschied ist geringer, als man meinen möchte.«
»Wie immer hast du Recht, Paul. Das ist wie der verschwommene Unterschied zwischen Grauen und Schönheit. Oder Jugend und Alter. Oder Kunsthandwerk und Verbrechen.«
Er blickte sie verwundert an. »Gut gesagt«, meinte er schließlich. »So hätte Helene es auch ausgedrückt.«
»Ich schwöre dir, ich bin keine Polizeiagentin. Wenn ich könnte, würde ich’s dir beweisen.«
»Vielleicht bist du wirklich keine. Nicht, dass Sozialdienstler nicht hübsch sein könnten, aber normalerweise finden sie deine Art des Glamours verdächtig.«
»Ich bin nicht verdächtig. Weshalb sollte ich verdächtig sein?«
»Ich verdächtige dich, weil ich meine Freunde schützen muss«, sagte Paul. »Wir leben unser Leben, das ist keine bloße theoretische Übung. Unsere Generation wurde oft getäuscht. Wir müssen unsere Vitalität behüten, denn die wird systematisch erstickt. Andere Generationen hatten dieses Problem nicht. Wenn ihre Eltern ins Grab sanken, fiel ihnen die Macht in den Schoß. Wir aber sind nicht einmal eine richtige Generation. Wir sind die ersten wahrhaft posthumanen Menschen.«
»Und ihr habt Wünsche, die mit dem Status quo unvereinbar sind.«
»Mais oui.«
»Also, die habe ich auch. Sogar eine ganze Menge.«
»Niemand hat dich gebeten, sich uns anzuschließen.«
Diese Bemerkung verletzte Maya. Sie hatte das Gefühl, man habe ihr ein Messer in den Leib gerammt. Paul starrte sie herausfordernd an, doch Maya fühlte sich auf einmal zu müde, um ihm zu trotzen. Er war zu jung, zu stark und schlagfertig, und sie war zu aufgeregt und innerlich zerbrochen, um ihn in die Ecke zu drängen. Sie brach in Tränen aus. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie. »Soll ich dich um Erlaubnis bitten, leben zu dürfen? Wenn du willst, bettele ich darum. Du musst es mir bloß sagen.«
Paul blickte sich verlegen im Abteil um. »Bitte mach jetzt keine Szene.«
»Ich muss weinen! Ich will weinen, ich hab’s nötig! Mir geht es nicht gut. Ich habe keinen Stolz. Ich habe keine Würde - ich habe überhaupt nichts. Ich bin so verletzt, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst. Was bleibt mir anderes übrig, als zu weinen? Du hast mich ertappt. Ich bin dir auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Wenn du willst, kannst du mich vernichten.«
»Du könntest uns vernichten. Vielleicht willst du das ja.«
»Nein, das will ich nicht. Gib mir eine Chance! Ich kann lebendig sein. Ich kann sogar schön sein. Lass es mich versuchen. Gib mir eine Chance, Paul - ich wäre ein interessantes Studienobjekt für euch.«
»Ich würde ja gern«, sagte er. »Ich schmause gern mit Raubkatzen. Aber die Sicherheit meiner Freunde aufs Spiel setzen? Ich weiß nichts von dir, bloß dass du gut aussiehst und posthuman bist. Weshalb sollte ich dir vertrauen? Warum fliegst du nicht einfach wieder heim?«
»Weil ich nicht nach Hause zurückkehren kann. Man würde mich wieder alt machen.«
Paul riss die Augen auf. Sie war zu ihm durchgedrungen, sie hatte ihn berührt. Schließlich reichte er ihr ein Taschentuch. Sie blickte ihn übers Taschentuch hinweg an, betastete es sorgfältig, um sicherzugehen, dass es keine Hardware war, dann wischte sie sich die Tränen ab und putzte sich die Nase.
Paul drückte einen Knopf am Rand des Tisches.
»Du hast Emil in der Gruppe bleiben lassen«, meinte sie schließlich, »und Emil ist gefährlicher als ich.«
»Ich bin für Emil verantwortlich«, sagte er düster.
»Was soll das heißen?«
»Er hat das Amnetikum auf meine Veranlassung eingenommen. Ich habe alles arrangiert.«
»Du warst das? Wissen das die anderen?«
»Es war eine gute Idee. Du hast Emil damals nicht gekannt.«
Eine Riesenkrabbe stakste die Decke des Abteils entlang. Sie bestand aus Knochen, Chitin, Pfauenfedern, Innereien und Stahldraht. Sie hatte zehn mehrgelenkige Beine und kleine Gummifüße, die an hakenförmigen stählernen Knöcheln befestigt waren. An der Oberseite des flachen, gesprenkelten Rückenschilds war mittels Saugnäpfen ein Tablett befestigt.
Sie tastete sich an kaum wahrnehmbaren Vertiefungen in der Decke entlang und ließ sich neben Maya und Paul zu Boden fallen. Die Krabbe musterte sie mit ihren kreisförmig angeordneten babyblauen Augen. »Oui, monsieur?«
»[Die Mademoiselle möchte eine Flasche eau minerale und zweihundert Mikrogramm Alcion]«, sagte Paul. »[Ich nehme ein limoncello und ... ach, bring uns doch ein halbes Dutzend Croissants].«
»Tres bien.« Die Krabbe stakste davon.
»Was war das denn?«, fragte Maya.
»Das ist der Steward.«
»Das habe ich mir auch schon gedacht, aber was war das? Lebt es? Ist es ein Roboter? Eine Art Krabbe?«
Paul wirkt leicht genervt. »Mit Verlaub, das ist der StuttgartExpress, weißt du?«
»Oh. Okay Tut mir Leid.«
Paul musterte sie nachdenklich. »Armer Emil«, meinte er schließlich.
»Sag das nicht! Dazu hast du kein Recht! Ich tue ihm gut. Davon verstehst du nichts.«
»Tust du Emil wirklich gut?«
»Was soll ich tun, damit du mir vertraust? Du kannst mich nicht einfach abschreiben, du kannst mich nicht einfach rauswerfen. Du sagst, du möchtest, dass ungewöhnliche Dinge passieren. Also, ich bin wirklich ungewöhnlich, findest du nicht? Und ich passiere.«
Paul trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch und ließ sich das durch den Kopf gehen. »Ich würde gern einen Bluttest mit dir machen«, sagte er.
»Einverstanden. Klar.« Sie krempelte sich den Pulloverärmel hoch.
Er erhob sich, nahm seinen Rucksack aus dem Gepäckfach, öffnete ihn, wühlte darin und zog ein Bluttestmoskito hervor. Er legte ihr das kleine Gerät auf den Unterarm. Es schnüffelte umher, hockte sich hin und versenkte den haardünnen Rüssel. Es tat überhaupt nicht weh. Allenfalls spürte sie ein leichtes Jucken.
Paul nahm ihr das blutgefüllte Gerät wieder ab. Es klappte die Flügel aus, auf denen daumennagelgroße Displays angebracht waren. Paul beugte sich vor und betrachtete die Anzeigen.
»So«, meinte er nach einer Weile. »Wenn du dein Geheimnis wahren willst, solltest du dein Blut besser nicht testen lassen.«
»Okay.«
»Du bist ausgesprochen anämisch. In deinen Adern kreisen außer Blut noch eine Menge anderer Flüssigkeiten.«
»Ja, das sind die Entgiftungsdetergentien und katalytischen Sauerstoffträger.«
»Ach so. Jedenfalls reicht die DNS aus, um deine Identität festzustellen. Und dich an den Sozialdienst auszuliefern. Sollte das jemals erforderlich sein.«
»Hör mal, Paul, du brauchst dir gar nicht erst die Mühe zu machen, meine Krankenakte ausfindig zu machen. Jetzt kann ich dir auch ebenso gut sagen, wer ich bin.«
Paul veranlasste den Moskito, ein Chromatogramm auszustoßen, und faltete das Papier sorgfältig zusammen. »Nein«, sagte er, »das ist nicht nötig. Ich halte es nicht einmal für ratsam. Ich will gar nicht wissen, wer du bist. Das geht mich nichts an. Ich erwarte etwas anderes von dir.«
»Und das wäre?«
Er sah ihr in die Augen. »Ich möchte, dass du mir beweist, dass du immer noch eine Künstlerin bist, obwohl du kein Mensch mehr bist.«
Stuttgart war eine große, laute Stadt. Groß, laut, stickig und grün. Eine Stadt des Keuchens, Grunzens, Schnaufens und des komplexen organischen Gurgelns. In Stuttgart schrien die Menschen einander an. Aus schließmuskelartigen Wandöffnungen quollen plötzlich Horden von Fußgängern hervor.
Die Hochhäuser waren weithin bekannt, doch ihr rhythmischer Atem ließ eher an ein beruhigendes Meer denn an Berge denken. Der Atem der Monstertürme klang rau und tuberkulös. Er wehte über die pelzigen Straßen hinweg und roch nach Dampf und Zitronen.
»Meine Familie war am Bau der Stadt beteiligt«, bemerkte Paul, während er einen Bogen um eine Pfütze machte, die wie Müsli aussah. »Meine Eltern waren Müllschürfer.«
»Waren?«
»Sie haben’s aufgegeben. Mit dem Müll lief es wie mit anderen Industrien zur Gewinnung von Rohstoffen auch. Die besten, ergiebigsten Vorkommen waren bald erschöpft. Heutzutage beschäftigen sich vor allem Einzelgänger damit, Kleinunternehmer, die es auf Methan abgesehen haben.«
»Ich verstehe.«
»Schade drum war’s nicht, meine Mutter hat ihren Schnitt gemacht. Ich bin ein privilegiertes Kind.« Paul lächelte. Er wirkte entspannt, froh darüber, wieder daheim zu sein.
»Sind deine Eltern Franzosen?«
»Ja. Ursprünglich stammen wir aus Avignon. Die halbe Einwohnerschaft von Stuttgart ist französisch.«
»Wie das?«
»Weil Paris zu einem Museum geworden ist.« Das Licht veränderte sich. Von einem Hochhaus schälte sich eine gewaltige geriffelte Membran ab und breitete sich über die Straße. Ein Schwarm weißer Kraniche zog darunter seine Kreise, dann landeten die vielen weißgefiederten Nachzügler auf der Straße. Die Vögel pickten so heftig auf den Gehsteig ein, dass sich einzelne Brocken lösten.
»Die besten Extrakte der Müllhalden«, sagte Paul, »wie Eisen, Aluminium, Kupfer und so weiter verloren rapide an Wert, als sich die modernen Materialien durchsetzten. Billiger Diamant übertrifft natürlich alles. Aber Zuckerglas, optisch leitende Kunststoffe, Fullerene und Aerogele ...« Er deutete auf die Stadtlandschaft ringsumher. Ein kleiner, gewandter Mann mit einem ganz persönlichen Interesse an vierhundertstöckigen Gebäuden. »Die kohlenstoffbasierten Produkte haben die Metallkonstruktionen vom Markt verdrängt. Die Stuttgarter sind progressiv, sie verachten Platitüden.«
»Die Stadt hat große Ähnlichkeit mit Indianapolis.«
»Keineswegs! Überhaupt nicht!«, protestierte Paul. »Indianapolis ist aus einem politischen Willensakt heraus entstanden, die Missgeburt revanchistischer Asiaten. Stuttgart ist ernsthafte Architektur! Stuttgart bedeutet etwas! Es ist die einzige wirklich moderne Stadt in Europa! Die einzige Stadt, deren Erbauer ernsthaft an die Zukunft glaubten - anstatt immer nur die Vergangenheit zu recyclen.«
»Ich möchte nicht, dass die Zukunft so aussieht.«
»Das wird sie auch nicht. Ebensowenig wie die Welt vor einem Jahrhundert aussah wie New York. Es reichte aus, dass die Welt eine Zeit lang wie New York City aussehen wollte. Stuttgart ist auch so eine urbane Attraktion. Die einzige Stadt der Welt, bei deren Entstehung es der modernen Gesellschaft gestattet war, sich architektonisch authentisch auszudrücken.«
»Mir fällt auf, dass du in der Vergangenheit sprichst.«
»Es wird nicht viele weitere Stuttgarts mehr geben. Der gerontokratischen Gesellschaft mangelt es an der nötigen Willenskraft und Energie, um eine Innovation in so großem Maßstab zu erschaffen. Es sei denn, irgendeine Großstadt würde bei einer Katastrophe zerstört und die Überlebenden hätten gar keine andere Wahl.« Paul hob die Schultern. »Keine angenehmen Aussichten! Es mag einige Fanatiker geben, die glauben, der Holocaust sei ein angemessener Preis für den Wandel, aber ich habe den Holocaust studiert, und der Holocaust ist abscheulich. Der Wandel tritt unausweichlich ein. Das Überleben hat eine Menge für sich. Wer lang genug lebt, dem bricht die Realität unter den Füßen weg.« Er stockte, dachte nach. »Prag mag ich sehr gern. Die Stadt hat der Welt wahrscheinlich ebenso viel zu sagen wie Stuttgart. Prag hat seine eigene Epoche überlebt und sich in einen wundervollen Freak, einen reizvollen Atavismus verwandelt. Prag hat eine zweite Chance bekommen. Jetzt ist Prag die Puppe, worin die Larvenform der Posthumanität beheimatet ist.«
Sie gingen weiter. Der Himmel über Stuttgart war voller Lufttransportmittel, die sich wie Schmetterlingszungen von einem Hochhaus ausgehend entfalteten, an einem fernen Gebäude festmachten und sich dort anschließend wieder zusammenrollten. Im flexiblen Innern dieser Verbindungselemente befanden sich Gleitkapseln. Sie waren unheimlich effizient und erinnerten an geschmeidige Fußgängerboas.
Paul geleitete Maya eine lange Treppe hinunter und durch einen beeindruckenden Gewölbebogen mit mehreren dicken Perlenvorhängen. Der Himmel verschwand. Es wurde wärmer. Sie gelangten unter ein moosbewachsenes Dach mit Höckern, die aus Stoff zu bestehen schienen, aber so fest wie Beton waren. Die Wände waren schwammig und unregelmäßig, an der Decke führten lange, sonnenhelle Streifen optisch leitender Fasern entlang. Es war schwül wie in einem steinernen Gewächshaus. Es roch nach Vanille und Bananen. »Dieses Stadtviertel mag ich am liebsten«, sagte Paul. »Hier habe ich jahrelang gewohnt, bevor ich den Lehrauftrag bekommen habe. Das Viertel wurde von Theoretikern des essbaren Stadtbilds geplant und verwirklicht.«
»Von was für Theoretikern?«
»Die Wände hier bestehen aus Manschettenpilz. Man kann die Stadt verzehren. Die Wände sind sehr nahrhaft.« Ihr schien es wenig ratsam, die Pilzwände zu essen. Die Einheimischen hatten mit irgendeinem Herbizid Graffiti eingeätzt. Fleckige, gelbliche Buchstaben. UNTER DEM PFLASTER LIEGT DER STRAND. Geschwungene arabische Schriftzeichen. Ein Kilroy-Gesicht mit Lockenschopf.
Seite an Seite schlenderten sie durch das hell erleuchtete vielstöckige Gebäude. Auf den offenen Etagen gab es durchnummerierte Mulden. Darin lagen Menschen unter dem blendend hellen künstlichen Sonnenlicht. Sie trugen Brillen und waren von Kopf bis Fuß mit einem graugrünen organischen Überzug bedeckt.
»Was ist das hier? Ein Leichenschauhaus?«
»Das ist ein öffentliches Bad.«
»Wo ist das Wasser?«
»Hier wird nicht in Wasser gebadet, sondern man lässt sich die Haut abschälen. Man taucht in Gelatine ein, dann legt man sich unter die Lampen. Man wird mit Pilzsporen bestäubt, die sich in der Haut verwurzeln. Wenn der Schimmel zu wachsen aufhört, wird man mit mechanischen Schabern bearbeitet. Der Schimmel schält sich ab. Der ganze Schmutz und die Hautflora werden dabei entfernt. Es ist sehr belebend.«
»Die Leute baden in lebenden Schimmelpilzen?«
»Ja, das ist ein mühevoller Prozess. Um die Zeit im Tank zu überbrücken, tragen die Leute Cyberbrillen, wie du siehst. Das ist eine kleine Annehmlichkeit, zumal für die Leute, die im essbaren Viertel ein schweres Leben führen. Der Service ist kostenlos. Wenn man fertig ist, wird man mit der hiesigen Mischung körpereigener Mikroben bepinselt.«
»Ja, aber es ist Schimmel.«
»Eine völlig harmlose, nützliche Schimmelart. Völlig ungefährlich.« Er stockte. »Ich hoffe, du findest öffentliche Nacktheit nicht schockierend. In Stuttgart ist das ganz normal.«
»Natürlich bin ich nicht geschockt, aber es ist Schimmel!«
»Wie provinziell«, meinte Paul, angestrengt lächelnd. Offenbar war er gekränkt. »Das Ziel der Planung war es, die menschenfreundlichste Stadt in ganz Europa zu errichten. Nicht, dass die Einwohner besonders umgänglich wären - das sind Menschen wie in anderen Großstädten auch. Aber die Stadt als solche ist besonders benutzerfreundlich.«
Paul deutete zur anderen Straßenseite, wo sich mit tiefem Summen ein Mückenschwarm sammelte. »Solltest du das Glück haben, in dieser exklusiven Herberge dort drüben ein Zimmer zu bekommen - nun, sie ist durch und durch organisch. Man kann die Mauern essen. Man kann seine Ausscheidungen hinterlassen, wo man will. Legt man sich zum Schlafen nieder, bildet sich unter einem ein weiches Mooslager. Es ist ständig warm und feucht. Sehr sinnlich, sehr hautfreundlich, extrem zivilisiert. Hier sind die Mikroben alle domestiziert. Das Leben wird recycelt, aber die Verwesung ist besiegt. Die Verwesung hat sich verflüchtigt wie ein böser Traum.«
»Hmmm.« Sie musterte die Fassade, eine zottelige, feuchte Kaskade verschiedenfarbiger Moose. »Wie du es ausdrückst, klingt es gar nicht so schlecht.«
Als ein Lastwagen vorbeifuhr, der die Umgebung in dichten gelben Nebel hüllte, zogen sie sich in einen Eingang zurück.
»Die Erbauer waren Visionäre. Eine Stadt, die den Bewohnern keinerlei biologische Zwänge auferlegt. Die ihnen eine Heimstatt bietet, Nahrung, Anregung und natürlich dauerhaften Schutz vor den Schrecken der Pest. Mag sein, man hat das Ergebnis so nicht gewollt, aber die Stadt selbst ist so großzügig, dass sie die Gesetze der Ökonomie außer Kraft setzt. Es erfordert schon einen besonders uneigennützigen Charakter, dauerhaft hier zu leben. Rebellen, Träumer, Philosophen ... Auch bei den geistig Minderbemittelten ist dieses Viertel sehr beliebt ... Im Laufe der Jahre hat es immer mehr Mystiker angezogen.«
»Büßer?«
»Ja, katholische Extremisten jeglicher Couleur, aber auch viele Sektierer. Ekstatiker, Charismatiker. Mohammedaner. Bedauerlicherweise sind die Ekstatiker und Charismatiker erbitterte Rivalen und hassen einander bis aufs Blut.«
»Ist es nicht immer so?« Sie machten drei nackten Frauen Platz, die auf Fahrrädern vorbeisausten, die angeschwollenen, steinharten Waden unermüdlich pumpend.
»Fanatiker hassen und fürchten ihre eigenen Abtrünnigen stets mehr, als sie die Bourgeoisie verachten. Daran erkennt man sie ... Dies ist ihre große Schwäche. In der Vergangenheit gab es Gewaltausbrüche in Stuttgart, Straßenkämpfe, sogar Morde ... Hast du schon mal Entheogene probiert, Maya?«
»Nein, noch nie.«
»Ich schon. Und zwar hier.«
Sie blickte sich um. Zottelige Wände, frisches Grün, heiße, neblige Beleuchtung, ein urbanes Universum voller Krabbeltiere. »Wie war es?«
»Ich habe Gott geschaut. Gott war sehr warmherzig, liebevoll und weise. Ich empfand eine überwältigende Dankbarkeit und Liebe zu Ihm. Es war eine klare, ausgesprochen platonische Realität, völlig authentisch, das kosmische Licht. Es war die Realität, wie Gott sie sieht, nicht die fragmentarische, schwankende Rationalität des menschlichen Geistes. Es war eine elementare mystische Erkenntnis, über jeden Zweifel erhaben. Ich befand mich in der lebendigen Gegenwart des Schöpfers.«
»Warum hast du das getan? Waren deine Eltern religiös?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe es getan, weil ich erlebt habe, wie andere Menschen von Religion verzehrt wurden. Ich wollte wissen, ob ich stark genug wäre, mich dagegen zu wehren.«
»Und?«
»Ja, ich war stark genug.« Pauls Blick schweifte in die Ferne. »Ah, dort drüben ist eine Rohrpost. Ich habe Vorlesung. Tut mir Leid, aber ich muss dich jetzt allein lassen.«
»Wirklich? O je.«
Paul näherte sich der Rohrpost und tippte eine Adresse ein. Eine Klapptür öffnete sich. Er warf den Rucksack in die gepolsterte Kapsel. »Ich lasse dich allein, weil ich muss«, sagte er geduldig, »aber du befindest dich im schönen Stuttgart. Ich hoffe, du wirst deinen Aufenthalt gut nutzen.« Die Kapsel verschwand. Sogleich nahm eine andere Kapsel ihren Platz ein. Paul drückte die Wiederholtaste, kroch behende ins gepolsterte Innere und legte die Arme um die angezogenen Knie. »Wir sehen uns in Prag wieder, Maya.«
»Au revoir, Paul.« Sie winkte ihm zum Abschied, und die Tür schloss sich mit einem pneumatischen Plopp.
Maya verbrachte drei seltsame Tage in Stuttgart und trieb sich auf den wabenartigen Plätzen und in den besonders freizügigen Apothekenmalls herum. Im Nachtzug nach Prag ließ sie sich erschöpft in den Sitzsack sinken und genoss die Stille und das Alleinsein. Es war ein angenehmes Gefühl, sich wieder in der vertrauten Umgebung eines fahrenden Zuges zu befinden. Sie vibrierte von Hormonen und dem Kulturschock und hatte längere Zeit nicht mehr richtig gegessen. Mit jeder Stunde drang sie in neue Erfahrungsbereiche vor, in fremdartige, weite somatische Räume, die sich mit Begriffen wie ›Hunger‹ und ›Erschöpfung‹ nur unvollständig charakterisieren ließen.
Der Schlaf lockte. Doch dann begann auf einmal der Übersetzer zu tönen, der noch immer in ihrem Ohr steckte. Zunächst ganz leise, eine ferne Musik, die allmählich lauter wurde. Bislang hatte das Gerät immer tadellos funktioniert, daher war sie vorbereitet, als es eine Art musikalisches Räuspern ertönen ließ, worauf es sie unmittelbar ansprach. »[Hallo, Benutzerin Maya.]«
»Hallo?«, sagte sie.
»[Dies ist eine interaktive Nachricht von Ohrschmuck Enterprises in Basel. Wir haben das Übersetzungscollier entwickelt und hergestellt. Verstehen Sie uns? Bitte bestätigen Sie mit ›Ja, ich verstehe Sie‹ auf englisch, in ihrer Vorzugssprache.]«
»›Ja, ich verstehe Sie.‹«
Sie blickte sich im Abteil um. Obwohl sie laut ins Leere sprach, nahm niemand Anstoß an ihrem ungewöhnlichen Gebaren. Anscheinend nahm man an, sie benutze ein Netzgerät.
»[Benutzerin Maya, das Collier befindet sich seit zwei Wochen in Ihrem Besitz. Sie haben seine Funktionen bereits auf englisch, italienisch, tschechisch, deutsch und französisch kennengelernt. Wir hoffen, dass die Übersetzungen prompt und präzise erfolgten.]«
»Ja, das war sicherlich der Fall.«
»[Haben Sie die exquisite Ausführung des Colliers bemerkt? Es wäre ein Leichtes gewesen, eine billige Ausführung in Kupfer und Silizium zu wählen, wir aber ziehen den klassischen Chic echter Juwelen vor. Wir von Ohrschmuck sind stolz auf unsere traditionelle europäische Handwerkskunst, und dass sie unsere Shareware benutzen, weist Sie als Frau von gutem Geschmack aus. Jede beliebige Firma kann heutzutage Übersetzer für den Touristenbedarf herstellen. Wir von Ohrschmuck bieten Ihnen eine ganze Bibliothek moderner europäischer Sprachen an, einschließlich gesetzlich geschützter Wortschätze, welche die moderne Umgangssprache sowie Fachsprachen abdecken. Es ist nicht leicht, unser Niveau sprachlicher Dienstleistungen aufrecht zu erhalten.]«
»Das leuchtet mir ein.«
»[Sollte unser Sharewarecollier Ihren persönlichen Ansprüchen genügen, wäre es nur angemessen, wenn Sie unsere Mühe belohnen würden. Finden Sie das nicht auch, Maya?]«
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»[Wenn Sie uns siebenhundert Mark überweisen, statten wir Ihren Übersetzer mit den neuesten Wortschatzupdates aus. Darüber hinaus werden Sie bei uns registriert, erhalten Unterstützung im Problemfall und können sich mit Fragen an uns wenden.]«
»Sollte ich jemals eine solche Summe besitzen, werde ich Ihnen das Geld bestimmt überweisen.«
»[Wir halten den Preis für angemessen, Benutzerin Maya. Wir verlassen uns darauf, dass Sie uns bezahlen werden. Unser Geschäft basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Wir wissen, dass wir Ihnen vertrauen können. Schließlich vertrauen Sie unserem
Gerät das Trommelfell Ihres rechten Ohrs an, ein sehr zartes und intimes Organ. Wir glauben, dass gegenseitiger Respekt zu einer langen Bindung führen wird. Unsere Netzadresse ist überall auf der Welt erreichbar und nimmt auch Bargeld entgegen. Wir freuen uns darauf, in Kürze von Ihnen zu hören.]«
Um Mitternacht war sie wieder in Prag angelangt, bepackt mit ihrem Rucksack und einer Einkaufstüte, ein wenig schwindelig, erschöpft, mit Blasen an den Füßen und von Schmerzen geplagt. Prag aber sah wunderschön aus. So solide, so anorganisch, so gegenwärtig, so wundervoll alt. Die Bartolomejskastraße sah wundervoll aus. Das Haus sah wundervoll aus. Vor Emils Tür zögerte sie kurz, dann stieg sie die Treppe zu Frau Najadovas Wohnung hoch.
»Was gibt es?« Frau Najadova stutzte, musterte Maya von oben bis unten. »Was hat er Ihnen angetan?«
»Es gibt gewisse Tage im Monat, an denen eine Frau Zeit für sich selber braucht. Aber das versteht er nicht.«
»Ach, dieser schmutzige, gedankenlose Grobian. Das sieht ihm ähnlich. Kommen Sie rein. Ich sehe gerade fern.« Frau Najadova bot ihr einen Platz auf dem Sofa an. Sie holte Maya eine Decke und ein Heizkissen und machte ihr einen Frappe. Dann nahm sie in einem Schaukelstuhl Platz und beschäftigte sich mit ihrem Notebook, während der Fernseher auf tschechisch daherplapperte.
Frau Najadovas Wohnzimmer war vollgestopft mit Weidenkörben, Krügen, Flaschen, Treibholz, Vogeleiern, Nippes. Darunter eine blaue Glasvase mit einem Strauß Gewächshauslilien. Und ausgesprochen nostalgische Erinnerungsstücke an Herrn Najad, einen großen, stämmigen Burschen mit breitem Grinsen, der offenbar Skilaufen und Angeln gemocht hatte. Dem Schnitt seiner Sportkleidung nach zu schließen, war er entweder tot oder seit mindestens zwanzig Jahren abwesend.
Beim Betrachten der Fotos verspürte Maya jähes Mitgefühl mit all den Frauen, die ein Menschenleben lang verheiratet gewesen waren und ihren Mann geliebt und überlebt hatten. Mit all den echten und virtuellen Witwen und denen, die nach dem Witwenstand strebten oder denen er auferlegt worden war. Man konnte über die Sexualität hinauswachsen, aber ganz darüber hinwegkommen, das konnte man nicht - so wenig wie über die eigene Kindheit.
Mayas goldener Vogel meldete sich zu Wort. Neuerdings sagte er die Stunden an, mit leisen, aber deutlich vernehmbaren Kuckucksrufen, offenbar ein taktvoller Hinweis auf die ohne Bezahlung verstreichende Zeit. Sie steckte sich den Vogel ins Ohr. Sogleich übersetzte er das Fernsehergebrabbel.
»[Eigentlich sind wir eine Spezies des ontologischen Übergangs]«, sagte der Fernseher. Es war Aquinas, der Hund mit der deutschen Talkshow. Der Hund war tschechisch synchronisiert. »[Was ich als meine Intelligenz bezeichne, hat seinen Ursprung in drei Welten. In meiner angeborenen hündischen Erkenntnisfähigkeit. In dem künstlichen intelligenten Netzwerk außerhalb meines Schädels. Und in den internen Schaltungen, die in den Zwischenräumen meines Hundehirns gewachsen sind, programmiert mit menschlicher Sprache. Wo innerhalb dieser dreifachen Intelligenz ist nun meine Identität angesiedelt? Bin ich das Anhängsel eines Computers oder ein Hund mit einem cybernetischen Bewusstsein? Und welcher Anteil dessen, was ich als Denken bezeichne, beruht lediglich auf meiner flüssigen Ausdrucksweise?]«
»[Ich nehme an, dieses Problem stellt sich jedem Talkshowmoderator]«, pflichtete der Gast ihm bei.
»[Ich verfüge über bemerkenswerte kognitive Fähigkeiten. Beispielsweise vermag ich mathematische Probleme beinahe jeden Schwierigkeitsgrades zu lösen. Gleichwohl versteht mein Hundehirn so gut wie nichts von Zahlen. Ich löse die Probleme, ohne sie zu verstehen.]«
»[Das Verständnis der Mathematik stellt eines der größten intellektuellen Vergnügen dar. Ich bedaure, dass Ihnen diese geistige Erfahrung abgeht, Aquinas.]«
Der Hund nickte wissend. Ungeachtet seiner Kleidung war es eigenartig, einen Hund im Verlauf einer Unterhaltung nicken zu sehen. »[Diese Einschätzung bedeutet mir umso mehr, als sie von Ihnen kommt, Professor Harald. Sie sind ein Mann mit großen wissenschaftlichen Meriten.]«
»[Wir haben mehr gemeinsam, als der Laie meinen mag]«, erklärte der Professor huldvoll. »[Schließlich besitzt jedes Säugetierhirn, das menschliche Gehirn eingeschlossen, zahlreiche funktionale Bereiche mit unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten. Ich muss Ihnen etwas gestehen, Aquinas. Die moderne Mathematik ist ohne Rechnerunterstützung undenkbar. Ich habe mir einen Simulator implantieren lassen]« - der Gast tippte sich taktvoll an die gefurchte Stirn - »[und bin doch nicht in der Lage, die Lösungen zu fühlen, obwohl ich sie laut ausspreche und intuitiv spüre, dass sie richtig sind.]«
»[Beschäftigen Sie sich manchmal im Schlaf mit Mathematik, Professor?]«
»[Ständig. Auf diese Weise komme ich zu meinen besten Ergebnissen.]«
»[Bei mir ist es auch so. Im Schlaf - vielleicht treffen sich die Säugetiere in diesem Punkt.]«
Der Professor schüttelte dem Hund bedächtig die elegante Greifpfote. Das Publikum spendete höflichen Beifall.