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Was den Umfang, die technischen Details und die Fähigkeit zu onkelhafter Beruhigung betraf, kam der medizinischen Netzberatung niemand gleich. Eine umfassende Lebensverlängerung war eine persönliche Krise, ähnlich der Pubertät, dem Bau eines Hauses oder dem Eintritt in die Armee.

Der medizinisch-industrielle Komplex nahm in der globalen Ökonomie eine dominierende Stellung ein. Die Biomedizin wies von allen Industrien die höchsten Investitions- und Innovationsraten auf. Die Biomedizin war in einem Zustand kontrollierter Raserei begriffen und gab dabei genug Hitze ab, um die ganze Kultur voranzutreiben. Die Regierungsausgaben auf diesem Gebiet übertrafen die Aufwendungen für Verkehr, Polizei und die so genannte Verteidigung. Auf dem Gebiet, das früher einmal als privater Sektor gegolten hatte, war die Biomedizin größer als die chemische Industrie und fast so groß wie die Computerindustrie. Die verschiedenen Bereiche des medizinisch-industriellen Komplexes beschäftigten 15 Prozent der arbeitenden Weltbevölkerung. Der Bereich der gerontologischen Forschung allein war größer als die Landwirtschaft.

Der Preis hieß Überleben. Niemand ließ sich von der Aussicht zu scheitern abhalten. Das Spektrum der Forschung war breit gefächert. Für jede einzelne lebensverlängernde Maßnahme, die für die Anwendung beim Menschen zugelassen wurde, gab es Hunderte von Vorhaben, welche über die gewaltigen Mengen gepeinigter Labortiere niemals hinausgekommen waren. Neue Verfahren wurden von Medizinethikern zugelassen. Ältere und weniger erfolgreiche Techniken wurden ausgemustert und mit ihnen die glücklosen Investoren.

Es gab hundert verschiedene kluge Methoden, eine Lebensverlängerung zu beurteilen. Hielt man sich an die Standardmethoden, war einem eine durchschnittliche Lebensverlängerung praktisch garantiert. Stellte man sich jedoch einer brillanten Neuerung als Freiwilliger zur Verfügung, überlebte man möglicherweise den Rest seiner Generation. Dabei galt es allerdings zu bedenken, dass Neuheit und technische Raffinesse an sich keine Garantie für lang anhaltenden Erfolg waren. Zahlreiche Entwicklungslinien des medizinischen Fortschritts beschrieben eine nach innen gerichtete Spirale, bis sie in einer Art Schwarzem Loch verschwanden, während die Überlebenden als körperliche und seelische Wracks zurückblieben.

Die Technik medizinischer Upgrades entwickelte sich nicht stetig, sondern in konvulsiven organischen Sprüngen. Ein beliebiges, in den Neunzigern zugelassenes Standardupgrade war (grob geschätzt) etwa doppelt so wirksam wie das beste Upgrade der achtziger Jahre. In den Sechzigern und Siebzigern hatte es auf dem Gebiet der Lebensverlängerung paradigmatische Durchbrüche gegeben. Die Kunststückchen, die man in den Fünfzigern als ›Medizin‹ bezeichnet hatte (und die damals höchst eindrucksvoll gewesen waren), konnten nach modernen Maßstäben kaum als Lebensverlängerung gelten. Die medizinischen Techniken der Fünfziger hatten heute allenfalls noch als allgemein gebräuchliche Hygienemaßnahmen Gültigkeit. Sie waren sogar erschwinglich.

Und was die traditionellen medizinischen Verfahren aus der Zeit vor 2050 betraf, so waren diese kaum mehr gebräuchlich. Sie waren gefährlich, kontraproduktiv und basierten auf einer grundlegend falschen Sicht der biologischen Realität.

Unter diesen Umständen war man gut beraten, sein Upgrade möglichst lange hinauszuschieben. Je länger man wartete, desto bessere Wahlmöglichkeiten hatte man. Bedauerlicherweise schritt der natürliche Alterungsprozess in der Zwischenzeit voran, sodass man aufgrund des natürlichen metabolischen Verfalls kumulative Schäden erlitt, wenn man zu lange wartete. Früher oder später musste man sich an die eigene Nase fassen und eine Entscheidung treffen. Da der Erfolg der Avantgardeforschung definitionsgemäß ungewiss war, gaben die staatlichen Behörden auch keine Garantien ab. Das Streben nach einem längeren Leben war somit zu einem fundamentalen Freiheitsrecht geworden, welches der Entscheidung des Einzelnen unterworfen war. Die Politas bot einem ihren Rat an, der in endlosen öffentlichen Anhörungen einer Unzahl von Experten zustandegekommen war, doch ein Rat war eben bloß ein Rat.

Wenn man schlau war oder Glück hatte, wählte man eine Upgrademethode mit ausgezeichnetem Langzeitpotenzial. Dann standen die eigenen Chancen gut. Man hatte eine ganze Weile zu leben. Die gewählte Methode würde populär werden und es auch bleiben. Die Basis der Anwender würde breiter werden, und das brächte einige Vorteile mit sich. Kam es zu Komplikationen, dann stünde eine Menge Sachverstand zur Verfügung, um damit umzugehen.

Hatte man kein Glück oder war man einfach dumm, bezahlte man den kurzfristigen Nutzen mit langfristigen Nachteilen. Im Laufe der Jahre geriet man in die Isolation und wurde zum Außenseiter.

Die wahrhaft schlechten Methoden waren die, welche den Wechsel zu anderen und besseren Upgrades erschwerten. War die eigene Lebensqualität erst einmal irreparabel beeinträchtigt, blieb einem keine andere Wahl mehr, als sich um die Todesqualität zu kümmern.

Es gab zahlreiche Methoden, die eigenen Chancen zu verbessern. Beispielsweise konnte man sich durch wiederholtes Wohlverhalten hervortun. Man beteiligte sich stets an der Wahl, engagierte sich bei wohltätigen Einrichtungen, kümmerte sich mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Lied im Herzen um seine Mitmenschen. Man trat dem Sozialdienst bei und beteiligte sich an Netzkomitees. Man nahm aufrichtig und nachprüfbar am grundlegenden Wohlergehen der Gesellschaft Anteil. Offiziell wollte die Gesellschaft, dass man am Leben blieb. Wahrscheinlich war man alt, angepasst und eine Frau. Die Politas, welche das wertvolle öffentliche Engagement zu schätzen wusste, belohnte einen mit gewissen Vergünstigungen. Dann war man genau die Art Person, die in der modernen Gesellschaft im wesentlichen die Macht ausübte.

Übernahm man selbst die Verantwortung für seine tägliche Gesundheitspflege, zeigte sich die Politas für die Entlastung des Gesundheitswesens erkenntlich. Man hatte seinen Lebenswillen objektiv unter Beweis gestellt. Die Ernsthaftigkeit, mit der man sich um Langlebigkeit bemühte, ließ sich aufgrund der allgemein zugänglichen medizinischen Daten von jedermann mühelos überprüfen. Man zeigte Disziplin und Weitblick. Man war verhältnismäßig kostengünstig am Leben zu erhalten, denn man hielt sich gut in Schuss. Man hatte es verdient zu leben.

Manche Leute zerstörten ihre Gesundheit, jedoch nur selten mit Absicht. Vielmehr mangelte es ihnen an Weitblick, denn sie waren leichtsinnig, ungeduldig und handelten unverantwortlich. Es gab viele medizinisch leichtsinnige Menschen auf der Welt. Früher waren es sehr viel mehr gewesen, doch die leichtsinnigen Menschen waren an den Seuchen der dreißiger und vierziger Jahre zu Milliarden gestorben. Die Überlebenden waren im wesentlichen vorsichtig und weitblickend. Der Bevölkerungsanteil der leichtsinnigen Menschen war im Schrumpfen begriffen.

Früher einmal war ein Vermögen nahezu eine Garantie für gute Gesundheit oder zumindest gute medizinische Versorgung gewesen. Heutzutage garantierte Reichtum weit weniger. Menschen, die öffentlich ihre Gesundheit zerstörten, hatten es sehr schwer, vermögend zu bleiben - nicht weil Gesundheit erforderlich gewesen wäre, um reich zu werden, sondern weil man das Vertrauen anderer Menschen brauchte, um Geld zu verdienen und es zu behalten. War öffentlich bekannt, dass man sich gegen die eigene Gesundheit versündigte, so genoss man heutzutage kein Vertrauen mehr. Man war ein Kreditrisiko und ein schlechter Geschäftspartner. Man bekam Punkte abgezogen und erhielt eine billige medizinische Versorgung.

Auch die billigen Behandlungsmethoden wurden ständig radikal verbessert, daher konnte man ziemlich sicher sein, nach historischen Maßstäben gut abzuschneiden. Doch wer seine Gesundheit zerstörte, starb im Vergleich zur Elite noch immer jung. Es stand jedem frei, seine Gesundheit zu zerstören. Hatte man sich erst einmal ruiniert, ermutigte einen die Politas zum Sterben.

Es war ein unerbittliches System, doch es war von Menschen erfunden worden, welche zwei Jahrzehnte verheerender Seuchen überlebt hatten. Nach den Seuchen war alles anders geworden, so wie nach einem Weltkrieg nichts mehr bleibt, wie es einmal war. Die Erfahrung des Massensterbens, der Ansteckungsangst und der entvölkerten Städte hatte der Kultur die Bedenken ausgetrieben. Manche Menschen starben, andere nicht. Diejenigen, die sich gegen den Tod zur Wehr setzten, wurden systematisch belohnt, und die, welche sich wie Narren verhielten, wurden zusammen mit dem Rest begraben.

Natürlich gab es auch Leute, die das ganze Konzept der technischen Lebensverlängerung für moralisch fragwürdig hielten. Ihre moralische Entscheidung wurde respektiert, und es stand ihnen frei, auf der Stelle tot umzufallen.

Mias Upgrademethode wurde als neotelomerische dissipative Zellentgiftung oder NTDZ bezeichnet. Es handelte sich um eine äußerst radikale, noch wenig angewandte und sehr kostspielige Behandlung. Mia wusste eine ganze Menge über die NTDZ, denn sie war schließlich Medizinökonomin. Sie war zu der Behandlung berechtigt, weil sie gut auf sich achtgegeben hatte. Sie entschied sich dafür, weil sie ihr vielversprechend erschien und weil sie in Spielerlaune war.

Mia steckte 90 Prozent ihres gesamten Vermögens in die dreißig Jahre gültige Berechtigung, mit NTDZ behandelt zu werden und an ihrer kontinuierlichen Weiterentwicklung zu partizipieren.

Die NTDZ galt als besonders vielversprechender Entwicklungspfad. In medizinischer Hinsicht erwies sich die Umsetzung als äußerst schwierig. Bei medizinischen Upgrades waren der Umfang des Versprechens und die Schwierigkeit der Umsetzung zumeist eng verknüpft. Wollte man sich für ein solch luxuriöses Upgrade qualifizieren, musste man erschreckend hohe Opfer erbringen. Patienten, die sich für diese Behandlung qualifizierten, investierten auf Zeit ihr gesamtes Vermögen in die Behandlung und die Forschung und Weiterentwicklung. Die finanziellen Aufwendungen wurden mit ordentlichem Gewinn zurückerstattet, falls sich der eingeschlagene Entwicklungsweg auszahlte. Falls nicht, dann war der Geldgeber möglicherweise schon verstorben, ehe die Mittel wieder flüssig wurden.

Auf Jahre hinaus die Verfügungsgewalt über sein Vermögen zu verlieren, war ein hoher Preis, doch das war nicht das Schlimmste. Der Verlust des Geldes war nicht mehr so schmerzhaft wie in früheren Zeiten. Geld war nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Die Politas war niemals eine Gesellschaft der freien Marktwirtschaft gewesen. Von Seuchen bedrohten Menschen lag nichts an freien Märkten. Die Politas war eine von Seuchenpanik getriebene Zwangsverteilungsgesellschaft, und die Peitsche schwangen die lächelnden, beherzten Angestellten des medizinischen Rettungsdienstes. Und die Sozialarbeiter. Und die netten alten Leute.

 

Mias bevorstehende Tortur war in allen Einzelheiten ausgearbeitet.

Als erstes musste sie das Essen einstellen. Ihr gesamter Verdauungstrakt würde mit einer sterilisierenden Masse gefüllt werden.

Dann musste sie aufhören zu atmen. Man würde ihre Lungen mit einer sterilisierenden, sauerstoffangereicherten Silikonmischung füllen. Diese beiden Prozesse würden den Großteil der körpereigenen Bakterien abtöten.

Als drittes musste sie aufhören zu denken. Die Blutbarriere zum Gehirn würde von den Schädelkapillaren losgeschabt werden, und die Gehirnflüssigkeit würde durch eine sterilisierende Salzlösung ersetzt werden. Dies hatte tiefe Bewusstlosigkeit zur Folge.

Als Nächstes musste sie aufhören, sich wie ein ausgereiftes Lebewesen zu verhalten, was gar nicht so leicht zu bewerkstelligen war. Man würde Mia wie einen Embryo in einen Tank mit einer zähen Flüssigkeit stecken. Ihr Stoffwechsel würde durch eine frisch angebrachte Nabelschnur vonstatten gehen. Haar und Haut würden sich ablösen. Blutkreislauf und Lymphsystem würden für die verbleibende Zeit der Behandlung dem Tank gegenüber offen sein. Die Produktion der roten Blutkörperchen würde eingestellt und das Plasma durch eine strohfarbene Flüssigkeit ersetzt werden, die allein für Säugetierzellen ungiftig war. Sämtliche Schmarotzerorganismen im menschlichen Körper mussten zerstört werden.

Sobald die Bakterien vollständig zerstört wären, würde die Jagd auf Viren und Prionen eröffnet. Es würde etwa eine Woche dauern, um die genetische Menagerie der im Körper befindlichen Viren aufzuspüren und zu zerstören. Drei Wochen würde es dauern, den riesigen Kosmos der einstmals unverdächtigen menschlichen Prionen zu zerstören. Diese bösartigen Proteine würden vor allem durch magnetische Resonanztechniken zerlegt werden.

Wäre dies vollbracht, hätte Mia sich in einen vollkommen antiseptischen Organismus verwandelt, der in einer fruchtwasserartigen Gelkultur schwamm.

Dann würden die DNS-Behandlungen beginnen. Die interzelluläre Reparatur machte die radikale Lockerung der intrazellulären Bindungen erforderlich, um auf diese Weise den Zugang durch die Zelloberfläche des Körpers als Ganzem zu erleichtern. Der hautlose Körper würde teilweise mit dem Stützgel verschmelzen. Der fluidierte Körper würde auf das zweieinhalbfache Volumen anschwellen.

Zu diesem Zeitpunkt konnten sich flexible Plastikschläuche ins Körperinnere schlängeln. Der hautlose, aufgeblähte, larvenhaft fötalisierte und mit Schläuchen gespickte Körper würde einer chinesischen Elfenbeinpuppe ähneln, wie sie bei der Darstellung von Akupunkturpunkten Verwendung fand.

Im Mark der beiden Oberschenkelknochen und der Wirbelsäule sowie in den Hirnkammern, den Sehnen und anderen tiefliegenden Bereichen würden spezielle Prozeduren stattfinden. Toxische Abfallprodukte und mineralische Ablagerungen in den Arterien, der Gallenblase und dem Lymphsystem - zumal die metabolisch relevanten Ablagerungen in der Zirbeldrüse - würden reduziert oder vollständig beseitigt werden.

Auf genetischer Ebene würde man Mias Zellen nach kumulativen Replikationsfehlern absuchen. Präkanzerogene und/oder verschlackte Zellen würden mit künstlichen Antikörpern markiert und Opfer einer programmierten Apoptose werden. Etwa 15 Prozent der Körperzellen würden in diesem Stadium absterben und von künstlichen Phagozyten entfernt werden. Allein dieser Vorgang würde mehr als einen Monat in Anspruch nehmen.

Die überlebenden Zellen würden anschließend zu neotelomerischem Wachstum angeregt werden. Die telomerischen Enden der Chromosomen waren eine genetische Uhr und nutzten sich in dem Maße ab, wie die menschliche Zelle sich der maximal möglichen Anzahl der Replikationen annäherte. Neues telomerisches Material würde in die Chromosomen eingefügt werden, um den alternden Zellen vorzugaukeln, sie seien wieder jung. Sodann würden die Zellen sich in der Nährlösung hektisch replizieren, und der Körper würde 15 Prozent seines verlorenen Gewichts zurückgewinnen.

Das rasche Wachstum in einem Flüssigkeitstank ähnelte stark dem fötalen Wachstum. Man musste damit rechnen, dass es dabei zu Anomalien kam, zumal in den ausgewachsenen Gelenken und der Muskulatur. Dies war der Preis für das Bad im Jungbrunnen.

Der Erholungsprozess brachte Schwierigkeiten ganz eigener Art mit sich. Die Haut musste nachwachsen, Wirtsbakterien mussten behutsam in den Körper eingeschleust werden, die im Körper befindlichen Lösungen mussten sorgfältig gegen körpereigene Flüssigkeiten ausgetauscht werden. Es war völlig ungewiss, wann der Patient das Bewusstsein wiedererlangen oder welche somatischen Empfindungen damit einhergehen würden.

»Ich glaube, Sie wollen mich darauf vorbereiten, dass es äußerst schmerzhaft sein wird«, sagte Mia.

Ihr Berater war Dr. Rosenfeld, ein äußerst gut erhaltener Kliniker mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und dunklem Haar, das er in der Mitte gescheitelt hatte. Er hatte sich bemüht, Mia zu erklären, dass er sich dem hippokratischen Eid, den er vor siebzig Jahren abgelegt hatte, noch immer verpflichtet fühlte. Dr. Rosenfelds Ansicht nach gab es einige hundert Millionen Medizintechniker, und dann erst kamen die eigentlichen Ärzte. Dr. Rosenfeld war ein traditioneller, ein richtiger Arzt. Er hätte niemals zugelassen, dass sich einer seiner Patienten ohne ausführliche Beratung dieser tiefgreifenden Umwandlung unterzog.

»Der Begriff ›Schmerz‹«, sagte Dr. Rosenfeld, »beruht auf landläufigen Vorstellungen der mentalen Funktionen. Wir müssen unterscheiden zwischen der subjektiven Schmerzempfindung auf einer höheren Ebene und der zugrunde liegenden Abfolge somatischer Nervenreizungen. Sämtliche Prozesse der NTDZ wären bei einem voll funktionsfähigen Gehirn äußerst schmerzhaft, doch die Funktionsweise Ihres Gehirns wird stark beeinträchtigt sein. Haben Sie schon einmal vom Korsakov-Syndrom gehört?«

»Ja, hab ich.«

»In der modernen Praxis unterscheiden wir einunddreißig Substadien des Korsakov-Syndroms ... Man wird sie für die Dauer der Behandlung in einen dieser amnetischen Zustände versetzen. Das ist eine Art von Virtualität, allerdings ausgesprochen heilsam. Extreme Schmerzzustände könnten gewisse, die Reize vorbewusst verarbeitende Hirnzentren zwar durchdringen, doch würden sie nicht durch normale Kanäle weitergeleitet. Wir werden die Emissionen ständig überwachen, und ich kann Ihnen garantieren, dass nichts von dem, was vorbewusst passieren mag, Ihrem Bewusstsein zugänglich werden wird, weder während der Behandlung noch später.«

»Dann fühle ich zwar den Schmerz, nehme ihn aber nicht wahr.«

»Das ist wiederum reine Semantik. ›Fühlen‹ ist ein sehr breitgefasster, ungenauer, umgangssprachlicher Begriff. Das gilt übrigens auch für den Begriff ›Ich‹. Vielleicht könnte man sagen, dass Empfindungen auftreten werden, jedoch ohne jede Ichverknüpfung.« Dr. Rosenfeld lächelte. »Ontologie ist faszinierend, nicht wahr? Ich hoffe, wir können dieses Gespräch fortsetzen, ohne auf Rene Descartes zurückgreifen zu müssen.«

»Ich habe Rene Descartes gelesen.«

»Der alte Bursche hat die Zirbeldrüse vorausgeahnt.« Dr. Rosenfeld breitete seine langfingrigen, gepflegten Hände aus. »Die NTDZ ist keine reine Wartungstechnik. Sie kommt dem, was man als wahre Verjüngung bezeichnen könnte, so nahe wie nur irgend möglich. Dieses Behandlungsprogramm könnte unseren Patienten den Weg zur Unsterblichkeit eröffnen.«

Mia lächelte bloß. Dies hatte sie schon häufiger gehört und gelesen. Medizinunternehmer behaupteten gerne, dass ausgerechnet ihre Methode der Lebensverlängerung die Patienten geradewegs zu einem künftigen medizinischen Durchbruch führen werde.

»Dieser Werbespruch wurde in der Vergangenheit überstrapaziert«, räumte Dr. Rosenfeld ein. »Aber betrachten Sie die Zahlen und den Trend. Es lässt sich nicht übersehen, dass sich das Tempo der Fortschritte bei der Lebensverlängerung beschleunigt. Früher oder später erreichen wir das Plateau. Wir werden die Lebensspanne um ein Jahr pro Jahr erhöhen. Dann werden die Patienten praktisch unsterblich sein.«

»Einige Patienten«, sagte Mia. »Vielleicht.«

»Ich behaupte nicht, wir wären schon so weit oder könnten das Plateau bereits sehen. Offenbar liegen noch viele harte Jahrzehnte der Forschung vor uns. Aber mit der NTDZ könnten einige unserer Patienten diesen Tag erleben.«

»Ich habe Sie nicht um Versprechungen gebeten, Doktor. Ich werde dann an Unsterblichkeit glauben, wenn sie bei Ratten und Hunden verwirklicht ist.«

»Bei Fruchtfliegen und Nematoden sind wir bereits so weit«, meinte Dr. Rosenfeld.

»Ich bin keine Fruchtfliege«, wandte Mia ein.

»Wohl wahr«, sagte Dr. Rosenfeld. »Ich verstehe Ihren Standpunkt. Aber Sie sind eine außergewöhnliche Frau in privilegierter Stellung. Bislang haben sich erst vierzig Personen dieser Behandlung unterzogen. Keine von ihnen hatte exakt die gleiche klinische Vorgeschichte wie Sie. Die Behandlung in ihrer gegenwärtigen Form ist erst zwei Jahre alt. Es gibt kaum postoperative Erfahrungen mit Patienten. Und dies geht uns beide etwas an.«

Mia nickte.

»Sobald Sie den Tank verlassen haben, werden Sie sich der Folgen einer sehr tiefgreifenden metabolischen Veränderung bewusst werden. Wenn Sie in die Rekonvaleszenzphase eintreten, werden Sie nicht mehr die Frau sein, die jetzt hier vor mir sitzt. Sie werden feststellen, dass Sie nicht einmal mehr Herr über Ihren Körper sind. Einen Großteil der Nerven- und Muskelkoordination werden Sie eingebüßt haben.«

Dr. Rosenfeld klappte ein Notebook auf. »Sie sind vierundneunzig Jahre alt. Aus Ihrer Krankenakte geht hervor, dass Sie seit dem zwanzigsten Lebensjahr etwa 12 Prozent des neuronalen und glialen Gewebes abgebaut haben. Das ist ganz normal und natürlich, aber die NTDZ ist alles andere als normal und natürlich. Sie werden all dieses Gewebe zurückerhalten - natürlich nicht das Originalgewebe, aber frisches Gehirngewebe, das im wesentlichen jungfräulich ist. Und Gehirngewebe kann man nicht einfach ein- oder abschalten, ein- oder ausbauen. Es wird ein Teil von Ihnen sein. Ein Teil Ihres neuen Ich.«

»Wie gefährlich ist das?«

»Sagen wir, Sie werden während des integrativen Prozesses eine Menge Zuwendung und Unterstützung benötigen.«

»Was habe ich schlimmstenfalls zu erwarten?«

»Nun ja ... Wie Sie wissen, hatten wir in der Anfangsphase zwei Todesfälle zu verzeichnen. Nervenversagen, Ausfall der höheren Körperfunktionen, Euthanasie. Die übliche ethische Prozedur - tragisch, aber nicht ungewöhnlich. Sie könnten im Verlauf der Behandlung sterben. Das ist bereits vorgekommen.«

»Und was noch?«

»Tiefgreifende psychische Dissoziation. Das, was man früher als schizoides Verhalten bezeichnete. Präepileptische Symptome. Wir verstehen diese psychischen Prozesse auf zellulärer Basis mittlerweile recht gut. Wenn es zu keinen schwerwiegenden körperlichen Schäden wie Gehirnschlag, Infarkt, Amyloidose kommt, lassen wir einfach nicht zu, dass unsere Patienten ins Stadium des Schwachsinns eintreten. Wir greifen vorher ein und verhindern größere neuronale Schäden.«

Er lehnte sich zurück. »Doch es gibt noch andere, subtilere Probleme: Kulturschock, Anomie, postoperatives Trauma, ein paar Hinweise auf bipolare Störungen. Dazu kommt die altbekannte sture Ungeduld des Menschen ... Das menschliche Bewusstsein ist die höchststehende und komplizierteste metabolische Funktion in der ganzen Natur. Wir können die Seele mit medizinischen Begriffen belegen, aber wir vermögen sie nicht in einen Kasten zu sperren. Wir können Menschen nicht so einfach eine Identität verpassen, wie wir ihnen eine Injektion verabreichen; letzten Endes müssen die Menschen ihre Seele selbst finden.«

»Sind Sie religiös, Doktor?«

»Ja, das bin ich. Ich bin katholischer Laienbruder.«

»Ach. Das ist ja interessant.«

»In Ihrer Lage würde ich Ihnen nicht zum Gebrauch von Entheogenen raten, Mia. Wenn Sie Ihrem Heiland von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten wollen, dann wird Er auf Sie warten. Sie haben noch sehr viel Zeit.« Dr. Rosenberg lächelte.

Mia nickte und enthielt sich klugerweise eines Kommentars.

Dr. Rosenfeld zögerte. »Dürfte ich Sie etwas fragen? Wann hatten Sie das letzte Mal einen Orgasmus?«

Mia überlegte. »Ich würde sagen, vor etwa zwanzig Jahren.«

»Sehr klug. Ich bin sicher, das hat Ihrem Metabolismus gut getan. Allerdings werden sich jetzt, da Ihr Stoffwechsel nahezu wiederhergestellt wird, bei Ihnen auch wieder sexuelle Empfindungen einstellen. Ich will nicht sagen, dies sei unangenehm, denn Sexualität ist sehr erfreulich, aber es wird nicht leicht für Sie sein. Tatsächlich stellt die Sexualität das schwerwiegendste Problem dar, mit dem unsere Patienten bei ihrer Genesung konfrontiert werden.«

»Wirklich? Wie eigenartig.«

»Menschen in unserem fortgeschrittenen Alter finden sich mit dem Verlust der Libido ab. Unsere älteren Patienten meinen häufig, sie könnten den Geschlechtstrieb durch einen reinen Willensakt unterdrücken. Das ist eine Täuschung. Könnten Menschen ihre Sexualität beherrschen, wäre die Menschheit bereits im Pleistozän ausgestorben.« Einen Moment lang schwieg er versonnen. »Sie haben die Wechseljahre längst hinter sich. Für die Eileiter können wir nicht viel tun. Wir würden die Eizellen sowieso nicht wiederherstellen wollen, denn die Ethiker missbilligen das. Daher werden Sie nicht wieder fruchtbar werden.«

Mia lächelte. »Hören Sie, Doktor. Ich war einmal eine junge Frau. Ich war verheiratet, ich hatte ein Kind. In meiner Jugend sind viele Menschen an Geschlechtskrankheiten gestorben. In dieser Hinsicht war ich immer sehr vorsichtig.«

»Aber damals hatten Sie Jahre Zeit, die Pubertät zu verarbeiten. Ihr limbisches und hormonales System wurde nicht von einem Moment zum anderen einer Generalüberholung unterzogen. Wir erneuern Ihr Gehirn, und der Großteil des Gehirns denkt und argumentiert nicht. Das menschliche Gehirn ist eine Drüse, kein Computer.«

Dr. Rosenfeld trommelte mit den makellosen Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. »Die Menschen leben nicht aufgrund einer rationalen Entscheidung. Die Menschen stehen morgens nicht aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse aus dem Bett auf. Die Menschen schlafen nicht deshalb miteinander, weil sie aufgrund einer logischen Beweiskette zu diesem Entschluss gelangt sind. Sexualität ist ein Aspekt des Lebens, den man nicht mittels eines Willensaktes unterbinden kann. Sie werden eine vierundneunzigjährige Frau sein, die in der Lage ist, wie ein zwanzigjähriges Mädchen auszusehen, zu handeln und zu empfinden. Dabei wird es selbstverständlich zu Komplikationen kommen.«

»Könnte ich nicht einfach Libidorepressoren einnehmen?«

»Das wäre eine Möglichkeit. Libidorepressoren sind im Moment sehr beliebt, doch ich würde von ihrem Gebrauch abraten. Hormone sind bei der körperlichen Entwicklung von großer Bedeutung. Junge Menschen haben viele Hormone, weil sie diese Hormone brauchen, und auch Sie brauchen die Hormone, damit sich das frische Hirngewebe richtig entwickeln kann. Ich als Arzt rate Ihnen, die damit einhergehenden Probleme in Kauf zu nehmen. Betrachten Sie sie als Wachstumsschmerzen.«

Mia lächelte. »Wollen Sie mir raten, mir Liebhaber zu nehmen?«

»Mia ...« Er legte ungeduldig die Handflächen zusammen. »Selbst wenn Sie Liebhaber finden sollten, was in Ihrer Lage gar nicht so einfach sein dürfte, dann würde Ihnen das auch nicht weiterhelfen. Das ist ein schwieriges Thema. Unsere Patienten sind ältere Menschen, sie waren verheiratet, sie hatten Kinder. Sie wollen nicht wieder anfangen, zu flirten und zu werben. Sie wollen sich keinem Lebenspartner anvertrauen oder neue Familien gründen. Diesen Aspekt menschlicher Erfahrung haben sie bereits durchlaufen, sie haben dadurch dazugelernt und ihn hinter sich gelassen. Das heißt nicht, dass sie unfähig wären, andere Menschen zu lieben, aber sie haben einen Zustand hoher Reife und posthumaner Selbstverwirklichung erlangt. Es entspricht ihnen einfach nicht mehr, eine hingebungsvolle, leidenschaftliche sexuelle Beziehung einzugehen. Gleichwohl ist der Geschlechtstrieb nach der Behandlung sehr stark. Unsere Patienten finden dies verstörend. Es ist entwürdigend und schwer zu integrieren.«

»Wie ich sehe, nehmen Sie das Problem sehr ernst, Doktor.«

»So ist es. Die NTDZ ist eine bedeutsame technische Neuerung. Ich sage das nicht bloß deshalb, weil ich an der Entwicklung beteiligt war. Die Erfahrungen mit den ersten NTDZ-Patienten sind für Gesellschaft und Politas von allerhöchstem Interesse. Bitte schauen Sie sich das einmal an.«

Dr. Rosenfeld klappte das Notebook auf und drehte es herum, sodass sie den Bildschirm sehen konnte.

Ein Video wurde abgespielt. Ein nackter Jüngling tauchte auf. Von Kopf bis Fuß war er anscheinend mit billigem Schmuck herausgeputzt. Mit einer Plastikkrone. Ohrringen. Falschen Augenwimpern. Einer kleinen, festgeklebten Brustplatte. Armbinden. Armspangen. Zehn gleichartigen Fingerringen. Einem Dutzend Klebepflastern auf Brust, Lenden und Schenkeln. Mit Knieschützern, Fußspangen und funkelnden kleinen Zehenringen. Sein Haar war sehr kurz geschnitten. Er tappte unbeholfen in einer Wohnung umher und streichelte währenddessen eine schwarze Katze.

»Das sind Bewegungsdetektoren«, sagte Mia.

»Ja. Außerdem werden der Hautwiderstand, die Hirnströme und die Basaltemperaturen gemessen, sowie Stuhl- und Urinproben genommen. Zweimal wöchentlich kommen umfassende Labortests hinzu.«

»So viele Bewegungsdetektoren an einem Menschen habe ich noch nie gesehen. Als ob er sich im virtuellen Raum bewegen würde.«

»Ja, so in etwa. Die Muskelkoordination ist einer der kritischen Faktoren bei der Rekonvaleszenz. Wir benötigen ständig vollständige und exakte Daten über die Positionierung der Gliedmaßen. Für den Fall, dass Zittern, Krämpfe oder Lähmungserscheinungen auftreten ... Zumal nachts, denn Schlafstörungen sind häufig zu beobachten. Das Enzephalometer, das er auf dem Kopf trägt, dient zur Überwachung der Parameter, die auf Gehirnschlag, Infarkt und neuronale Fehlfunktionen hindeuten ... Der Patient ist Professor Oates, er ist einer unserer Stars. Er ist hundertundfünf.«

»Du meine Güte.« Mia betrachtete ihn. Er war ein gut aussehender junger Mann.

»Er war ausgesprochen kooperativ. Ich muss Ihnen leider sagen, dass die Mitarbeit für unsere Patienten große Unannehmlichkeiten und Mühen mit sich bringt. Sie stellt eine große Beeinträchtigung der Karriere und des sozialen Lebens dar. Professor Oates nimmt die notwendigen Opfer um des medizinischen Fortschritts und des Wohlergehens der Politas auf sich.«

Mia betrachtete den Bildschirm. Der nackte Professor Oates wirkte nicht sonderlich glücklich. Vorsichtig sagte sie: »Ich bewundere den Mut, mit dem er diesen Akt der Selbstverleugnung auf sich nimmt.«

»Professor Oates ist ein sehr disziplinierter, am öffentlichen Wohl interessierter Mann. Was in Anbetracht der Situation nicht verwundern mag ... Er war früher Physiker. Jetzt will er die Physik aufgeben und sich stattdessen der Architektur widmen. Er begeistert sich sehr für Architektur. Wie ein frischgebackener Student.«

Mia beugte sich weiter vor. Trotz seines attraktiven Äußeren wirkte Professor Oates nicht sonderlich menschlich. Er wirkte wie ein begabter Profischauspieler, der vor den Kameras die Rolle des linkischen nackten Studenten gab. »Meinen Sie richtige Architektur oder virtuelle?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Rosenfeld überrascht. »Wenn Sie möchten, können Sie den Professor selbst danach fragen. Wir haben natürlich eine eigene NTDZ-Unterstützungsgruppe. Sie trifft sich regelmäßig im Netz. Brillante Leute, reizende Leute. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass Ihnen schwere Zeiten bevorstehen - zumindest aber werden Sie in guter Gesellschaft sein.«

Mia lehnte sich zurück. »Also, Professor Oates ist sicherlich ein sehr kultivierter junger Mann. Ich bitte um Verzeihung - jung wohl kaum. Ein verdienter Gelehrter.«

»Sie sind nicht die erste, die diesen Fehler macht«, meinte Dr. Rosenfeld erfreut. »Die Leute halten diese Patienten natürlich für jung. Die Menschen glauben gern, was sie sehen.«

»Das ist wundervoll. Das freut mich für ihn. Das macht mir richtig Hoffnung.«

»Da wäre noch etwas. Sie haben die Katze des Professors bemerkt?« Dr. Rosenfeld langte unter den Schreibtisch und holte einen Laborkäfig aus Plastik hervor. Darin befand sich Papierstreu und ein kleines schlafendes Nagetier. Ein Hamster.

»Ja?«, sagte Mia.

»Wir werden dieses kleine Tier der gleichen Prozedur unterziehen wie Sie. Der Hamster ist fünf Jahre alt. Das ist ein hohes Alter für einen Hamster. Alles, was Sie durchmachen, wird auch er durchmachen. Natürlich nicht im selben Tank, aber doch im wesentlichen dasselbe. Sie werden in Kürze posthuman sein. Und dieser weibliche Hamster wird postrodential sein. Wir möchten, dass Sie sich um ihn kümmern, wenn es soweit ist.«

»Ich mag keine Haustiere.«

»Das ist nicht Ihr Haustier. Das ist ein wertvoller Begleiter, der Ihren einzigartigen Zustand mit Ihnen teilen wird. Bitte machen Sie mit. Wir wissen, was wir tun.« Dr. Rosenfeld klopfte mit dem Fingernagel an den Käfig. Der alte Hamster erwachte nicht aus seinem Erschöpfungsschlaf. »Die Prozedur zu überleben und anschließend richtig gesund zu werden, sind zwei grundverschiedene Dinge. Und wir wollen, dass Sie gesund werden, Mia, wir wollen, dass alles glatt geht, und wir wissen, dass sich der Hamster günstig auf Ihren Heilprozess auswirken wird. Aus der Art und Weise, wie Sie mit einem Mitgeschöpf umgehen, welches das gleiche Purgatorium durchlaufen hat wie Sie, können wir eine Menge schließen. Das posthumane Leben kann sehr einsam sein. Betrachten Sie ihn als Glücksbringer und Totemtier. Glauben Sie an ihn. Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück.«

 

Mia machte ihr Testament. Sie fastete drei Tage lang. Dann wurde sie am ganzen Körper enthaart. Man entkleidete sie. Man füllte sie mit der Paste. Dann wendete man sich der Lunge zu, und Mia verlor das Bewusstsein. Alles andere verschwand an jenem Ort, der all die Erfahrungen, die sich nicht erfahren lassen, aufnimmt.

 

Als sie erwachte, war es Januar. Sie war sehr geschwächt und müde und hatte keine Haare mehr. Ihre Haut war fleckig und mit Flaum bedeckt wie bei einem Säugling. An den Fingern steckten kalte harte Ringe, und sie hatte etwas Lästiges, Enges um den Kopf, aber man zwang sie, es anzubehalten. Die ersten beiden Tage verbrachte sie größtenteils damit, die Fäuste zu ballen, die Finger vor die Augen zu heben, sich langsam und genussvoll übers Gesicht zu streicheln und bisweilen an den Fingern und den kalten, glatten Ringen zu lecken.

Sie aß, was man ihr gab, denn wenn sie nicht aß, schimpfte man mit ihr.

Sie konnte nicht mehr lesen.

Als sie am dritten Tag erwachte, verspürte sie eine ungewohnte Klarheit und stellte fest, dass sich die kleinen, eckigen Zeichen wieder zu Buchstaben und Worten fügten. Sie klappte ihr Notebook auf und betrachtete die Eintragungen mit tiefem Erstaunen. Es war vollgestopft mit abstrusem, vollkommen lächerlichem ökonomischem und bürokratischem Blödsinn. Den Tag über brach sie immer wieder in schallendes Gelächter aus, strampelte, betrachtete den Bildschirm und kratzte sich die juckende Kopfhaut.

Nachmittags erhob sie sich rastlos aus dem Bett und tappte im Krankenzimmer umher. Sie gab dem Hamster Futter und frisches Wasser, doch der schlief die ganze Zeit und lag reglos und rosig und nur ganz leicht bepelzt herum. Eine der Krankenschwestern erkundigte sich, ob sie dem Hamster bereits einen Namen gegeben habe. Ihr fiel kein Name ein, der unter den gegebenen Umständen gepasst hätte, daher verzichtete sie darauf, den Hamster zu taufen.

Am Abend rief ihre Tochter aus Djakarta an, Mia aber wollte niemanden aus Djakarta sprechen. Sie bat die Schwestern, ihrer Tochter auszurichten, es gehe ihr gut. Den restlichen Abend über war sie wortkarg und passiv. Sie hatte bemerkt, dass das Zimmer mit Geräten vollgestopft war, die sie beobachteten, und manche der Geräte waren so raffiniert, dass sie praktisch unsichtbar waren.

Am vierten Tag gab man ihr andere Nahrung, die sie kauen musste, und auch ein paar köstlich süße Sachen. Sie bat um mehr und schmollte, als man ihr nichts mehr geben wollte. Dann kleidete man sie in einen sehr hübschen blauen Overall mit doppelten Nähten und brachte sie in einen Raum, der als Kinderzimmer bezeichnet wurde. Doch es waren keine Kinder da, daher hatte sie es ganz für sich allein, und es war ein hübsches Zimmer. Die Farben waren freundlich und die Beleuchtung so klar und frisch wie Sonnenschein im Sommer, und es gab Klettergeräte darin und eine Schaukel. Sie kletterte und schaukelte und ließ sich auf den gepolsterten Boden fallen, bis sie sich in einen Lachanfall hineinsteigerte und ihr ein Malheur passierte. Daraufhin musste sie das Spiel unterbrechen und sich waschen.

Anschließend ging sie wieder auf ihr Zimmer und sah sich auf dem Notebook ein paar politische Nachrichten an. Sie führte mit Dr. Rosenfeld ein langes, intensives Gespräch über die Politik während der globalen Krise in den dreißiger Jahren, und als sie sich vorstellte, was damals geschehen war, regte sie sich so auf, dass sie laut hätte schreien können. Sie ließ sich ausführlich über die ihr meistverhassten Politiker und Themen der Dreißiger aus und redete sich eine Menge Groll von der Seele. Dr. Rosenfeld meinte, sie mache sich sehr gut. Er erkundigte sich, ob sie dem Hamster bereits einen Namen gegeben habe. Sie verstand nicht, weshalb man ein solches Aufhebens darum machte. Sie mochte den Hamster nicht besonders.

Am fünften Tag machte man sie mit einer weiteren NTDZ-Patientin namens Juliet Ramachandran bekannt, einer reizenden jungen Frau, die hundertdreizehn Jahre alt war. Juliet war vor der Behandlung aufgrund einer Netzhautverkümmerung blind gewesen und hatte einen postcaninen Sehhund dabei, der sprechen konnte. Mrs. Ramachandran war viele Jahre lang im Sozialdienst tätig gewesen und hatte sehr gepflegte Umgangsformen. Mia, Juliet und der Hund verstanden sich ausgezeichnet und unterhielten sich ausführlich über die Behandlung und andere Dinge. Dem Hund war das Fell bereits nachgewachsen, während Juliet einen hübschen Seidenturban trug. Der Hund war ein rechtes Plappermaul, doch Juliet meinte, er werde diese Phase bald überwunden haben.

Juliet wiederholte ständig: »Mia Ziemann.« Das brachte sie zum Lachen.

»Wussten Sie, dass Sie Mia Ziemann heißen?«

Mia stellte fest, dass Juliet in Aufregung geriet. »Schon gut, wie Sie wollen, Miasmamann, Miasmamann, reiten Sie nicht drauf rum.« Das Leben war nicht leicht für Juliet, jetzt, da sie wieder sehen konnte. Juliet sprach sehr freimütig über ihre Probleme und redete ständig über das eigentümliche Gefühl, wenn Gegenstände »den Hintergrund meiner Augen berühren«. Man musste Nachsicht mit der armen Juliet haben. Mia nahm sich fest vor, jedes Mal zu reagieren, wenn jemand ›Mia‹ sagte.

Am sechsten Tag reagierte sie, als man sie ›Mia‹ nannte, worauf die Schwestern sie anders und besser behandelten. Als sie sich erkundigten, ob sie dem Hamster einen Namen gegeben habe, antwortete sie: »Fred.« Als die Schwestern meinten, dies sei ein Jungenname, erwiderte sie, Fred sei die Kurzform von Frederike. Sie nahm den Hamster aus dem Käfig, streichelte ihn und achtete darauf, dass er genug zu fressen hatte. Damit zeigten sich die Schwestern sehr zufrieden.

Der Hamster war ein hässliches kleines, rattenhaftes Ding mit Watschelgang, schwarzen Knopfaugen und winzigen zitternden Pfoten. Allmählich aber entwickelte er ein angenehm weiches braunes Fell. Irgendwann bekam der Hamster in seinem Käfig einen kurzen Anfall, Mia aber erzählte niemandem davon. Die Schwestern und der Arzt hätten sich bloß aufgeregt.

Am siebten Tag wurde ihr bewusst, dass man sie früher wirklich Mia Ziemann genannt hatte und dass wahrscheinlich irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Bloß fühlte sie sich überhaupt nicht krank. Sie fühlte sich prächtig, großartig. Sie war sehr froh, das Privileg zu haben, die Person zu sein, die sie offenbar war. Wenn sie ernsthaft darüber nachdachte, dass sie Mia Ziemann war, dann stellte sich ein Geschmack ein, als habe sie sich auf die Zunge gebissen. Dann verspürte sie eine merkwürdige Angst, als verstecke Mia Ziemann sich im Schrank und warte darauf, dass es dunkel wurde. Als würde sie dann hervorkommen und wie ein Gespenst im Krankenzimmer umhertappen.

Nachmittags zog sie ein paar von Mia Ziemanns Sachen an und unternahm einen langen Spaziergang, fünf-, sechsmal um das Krankenhausgelände herum. Mias Sachen waren gut gearbeitet, bedauerlicherweise aber passten sie nicht. Sie war nicht bloß magerer und schlanker, sondern auch fünf Zentimeter größer geworden. Sie konnte wieder recht gut gehen, doch ihre Hüften neigten zu einem eigenartigen Schlenkern. Während des Spaziergangs begegnete sie einer Menge ernstlich kranker Leute. Ihr wurde bewusst, wie glücklich sie sich schätzen konnte.

Am Abend nahm sie zum ersten Mal an der Netzdiskussion der NTDZ-Unterstützungsgruppe teil. Der Umstand, dass so brillante Menschen ihre Intelligenz weit überschätzten, war sehr schmeichelhaft. Sie hatte den Eindruck, dass sie auch selbst etwas beitragen und vielleicht über ihre medizinischen Erfahrungen schreiben solle, kam aber nicht mehr mit dem Tippen zurecht.

Die Untersuchungen ließ sie geduldig über sich ergehen, obwohl sie bisweilen ein wenig schmerzhaft waren. Andere Untersuchungen hingegen waren reine Denksportaufgaben: sie sollte Schachprobleme bewältigen, Kreuzworträtsel lösen und sonderbar geformte Klötze stapeln. Die Worttests waren ziemlich anstrengend, doch das Klötzestapeln fiel ihr leicht. Ihre geometrische Vorstellungskraft hatte sich offenbar um 15 Prozent verbessert. Teilweise war dies wohl ihrer verbesserten Reaktionsschnelligkeit zuzuschreiben, stand den Messergebnissen zufolge aber auch in Beziehung zur neoneuronalen Integration. Als sie sich durch die medizinische Prognose hindurchgearbeitet hatte, war sie sehr stolz auf ihre Fortschritte und nahm sich fest vor, fortan weniger zu reden und stattdessen mehr Bilder zu betrachten. Mit ihren kognitiven Stärken zu spielen. Vielleicht sogar ein paar Bilder zu malen, Fotos zu machen oder mit Ton oder virtuell zu modellieren. Es gab so viele wunderbare Möglichkeiten.

Als man ihr Knetmasse gab, hatte sie eine Eingebung und modellierte den Hamster. Sie gab sich große Mühe. Als sie das Ergebnis betrachtete, zeigte man sich hocherfreut, womit sie fest gerechnet hatte. Man sagte ihr, sie werde bald entlassen werden und könne ihre Rekonvaleszenz in ihrer umgebauten Wohnung fortsetzen.

Sie hatte es schon eine ganze Weile vermutet, doch erst jetzt wurde ihr vollständig bewusst, dass die Aufpasser strohdumm waren. Sie musste unbedingt machen, dass sie von hier fortkam, damit sie sich anderen Aktivitäten zuwenden konnte - etwas Interessanterem, als herumzuhängen und zusammen mit einem Hamster medizinische Pampe zu essen. Diese Aussicht war sehr verlockend. Bedauerlich war bloß, dass einer der männlichen Hilfskräfte wirklich gut aussah und sie sich ein wenig in ihn verliebt hatte. Aber es war schon gut so. Selbst wenn sie ihn gebeten hätte, sie zu küssen, und er ihrer Bitte nachgekommen wäre, so hätte dies doch bloß mit diesen strengen ethischen Standards zu tun gehabt. Er hätte es niemals bis zum Ziel geschafft.

Mittlerweile reagierte sie ständig auf den Namen ›Mia‹. Sie erledigte sogar einen Teil von Mias Arbeit. Da war ein Trick dabei, etwa so, als stellte man seinen Blick unscharf. Sie entspannte sich tief in ihrem Innern und ließ das Mia-Gefühl hochkommen, und dann konnte sie eine ganze Menge nützlicher Dinge tun, viel schneller tippen, im LEL-Bewertungslabor in San Francisco Passwörter eingeben, Tabellen zusammenstellen, ihre Flowware überprüfen, sogar mit dem Namen Mia unterschreiben. Sie gelangte zu der Einsicht, dass diese Mia ihr nicht übel wollte. Mia war nicht eifersüchtig und wollte ihr nicht weh tun. Mia war sanftmütig, verbindlich, entgegenkommend und nicht sehr interessant. Mia war nichts weiter als ein Haufen Gewohnheiten.

Sie hatte gelernt, mit weniger Reden zurechtzukommen, einfach indem sie zuhörte und beobachtete. Es war erstaunlich, wie viel Menschen preisgaben, wenn man ihre Mimik und Gestik aufmerksam beobachtete. Meistens hatten ihre Äußerungen mit ihren wahren Gedanken nichts zu tun. Das galt besonders für die Männer. Man brauchte bloß ein wenig auf dem Stuhl zu rutschen, zu nicken, freundlich zu lächeln und ihnen tief in die Augen zu blicken, und schon schlossen sie einen in ihr Männerherz.

Frauen ließen sich nicht so leicht an der Nase herumführen, doch auch sie zeigten sich beeindruckt, wenn man glücklich wirkte und selbstsicher auftrat. Die meisten Frauen waren weit davon entfernt, glücklich und selbstsicher zu sein. Die meisten Frauen hatten es wirklich nötig, sich zu beklagen. Wenn man sie ermunterte, einem ihr Herz auszuschütten, und häufig nickte und Ach-Sie-Arme und Ich-hätte-genauso-gehandelt sagte, dann schütteten sie einem ihr Herz aus. Sie wurden ganz zutraulich und dankbar. Beim Abschied hielten sie einen für eine famose Person.

Man machte großes Aufhebens darum, dass sie zur Rekonvaleszenz nach Hause ging. Sogar die Presse zeigte Interesse - ein Netzreporter stellte ihr Fragen. Er sah gut aus, und im Verlauf des Interviews flirtete sie ein wenig mit ihm, was ihn ganz wirr machte und rührte. Sie nahm den Hamster mit nach Hause in die Parnassus Avenue und auch den Reporter. Sie bereitete ihm ein leckeres Essen. Der Reporter folgte ihr willig wie ein Lamm. Offenbar mochte er sie wirklich gern.

Sie war froh, Gelegenheit zum Kochen und Essen zu haben, denn im Krankenhaus hatte man ihr gesagt, sie habe Probleme mit ihrem Appetit. Das stimmte auch - stellte man etwas vor sie hin, dann langte sie bereitwillig zu, gab man ihr aber nichts, dann nahm sie auch nichts zu sich. Der Magen knurrte ihr, und sie fühlte sich schwach und vielleicht ein wenig benommen, hatte aber keinen richtigen Hunger. Man hätte meinen können, sie sei ein wenig nahrungsblind geworden. Sie konnte Nahrungsmittel riechen und schmecken und verspeiste sie auch gerne, doch der Stirnreif meinte, ihr Hypothalamus sei nicht ganz in Ordnung. Man hoffte, es werde sich legen. Andernfalls würde man etwas unternehmen müssen.

Das Kochen war großartig - sie brauchte sich nie Gedanken übers Kochen zu machen, sie entspannte sich einfach, und schon floss es ihr aus den Händen. Sie hörte zu, während sich der Reporter zwei Stunden lang über seine wichtigen Kontakte ausließ. Sie setzte ihm Essen vor und bereitete ihm einen Aufguss. Er war bloß ein Junge, gerade erst vierzig. Sie hätte ihn wirklich gern geküsst, war sich aber bewusst, dass dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein schwerer Fehler gewesen wäre. Man hatte ihre Wohnung wie eine Telepräsenzsite ausgestattet. Sie konnte sich nicht einmal kratzen, ohne dass ihre Fingerbewegungen in irgendeiner medizinischen 3-D-Datenbank aufgezeichnet wurden.

Zum Abschied umarmte sie den Reporter an der Tür und küsste ihn. Ein richtiger Kuss war das nicht, aber ihr erster Kuss seit einer Ewigkeit. Sie begriff nicht, wie sie es so lange ausgehalten hatte, ohne jemanden zu küssen. Es war unglaublich dumm, etwa so, als wollte man aufs Trinken verzichten.

Dann war sie wieder allein in der Wohnung. Ein wundervolles, köstliches, unglaubliches Gefühl. Abgesehen von den medizinischen Überwachungsgeräten. Bloß sie. Und die Geräte. Sie wusch das Geschirr ab und räumte auf.

Anschließend saß sie vollkommen reglos am Küchentisch aus lackiertem Karton. Sie hatte ein seltsames Gefühl. Sie spürte, wie sie inwendig wuchs. Ihr Ich fühlte sich so groß und frei an. Größer als ihr Körper. Ihr Ich war größer als die ganze Wohnung. In der Stille und Einsamkeit der Wohnung spürte sie, wie ihr Ich lautlos gegen die Fensterscheiben drückte.

Sie sprang rastlos hoch und legte ein Stück aus Mias Musikvorrat auf. Es handelte sich um diese grässliche Hintergrundmusik, die heute so beliebt war, eine dahinplätschernde, diskrete Musik, die sich anhörte, als bestünde sie aus Staub. An den Wänden hingen scheußliche alte Kartonverpackungen. Die Vorhänge sahen aus wie abgestorben. Irgendjemand war in dieser Wohnung vertrocknet; man fühlte sich darin wie im Innern einer verschrumpelten Walnuss. Die faltige, trockene Haut einer toten Frau.

Sie versuchte, in Mias Bett zu schlafen. Das Bett war eine hässliche Altweiberpritsche mit einem großen, scheußlichen Sauerstoffzelt. Die Matratze verfügte über spezielle Funktionen zur Unterstützung der Wirbelsäule. Sie wollte ihre Wirbelsäule nicht mehr stützen lassen, außerdem hatte sie jetzt ein ganz anderes Rückgrat. Und die Detektoren juckten und drückten gegen das Federbett. Sie ging ins Vorderzimmer hinüber, wickelte sich in eine Decke und legte sich auf den Boden.

Der nachtaktive Hamster war mittlerweile aufgewacht und nagte heftig an den Gitterstäben des Käfigs. Nag, nag, nag. Im Dunkeln. Kratz, kratz, kratz.

Gegen Mitternacht wurde es ihr zu viel. Sie erhob sich, zog Unterwäsche an und schlüpfte in Mias Hose. Zu kurz, die Knöchel guckten hervor. Dann legte sie einen von Mias BHs an. Ein Witz, der BH war einfach abartig. Dann einen von Mias Pullovern. Im Schrank war eine wirklich hübsche rote Jacke. Die Jacke passte großartig. Mias Schuhe drückten ein wenig. Eine Handtasche. Zu klein. Eine große Tasche. Unterwäsche in die Tasche. Lippenstift aufgelegt. Ein Kamm, eine Haarbürste, ein Rasierer. Ein Buch, um unterwegs was zum Lesen zu haben. Ein paar Socken. Rouge und Eyeliner. Eine Zahnbürste.

Ihr Netzgerät begann durchdringend zu piepsen. Das Netzgerät hatte sie satt.

»Ständig müssen sie einen nerven«, sagte sie zum leeren Zimmer. »Das ist nicht meine Wohnung. Das ist gar nichts. So kann ich nicht leben. Das ist kein Leben. Ich bin weg.« Sie trat durch die Tür und warf sie hinter sich zu.

Auf dem Treppenabsatz zögerte sie, dann machte sie kehrt, öffnete die Tür, betrat wieder die Wohnung. »Schon gut, schon gut«, sagte sie. »Komm her, du blödes Vieh.« Sie öffnete den Käfig, packte den Hamster. »Du kannst mitkommen«, sagte sie.

 

Kaum stand sie auf der Straße, warf sie den Stirnreif weg. Ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht traf ein und hielt vor dem Gebäude, in dem sie wohnte. Auf dem Weg durch die Parnassus Avenue riss sie sich die Ohrringe und alle zehn Fingerringe ab. Während sie auf ein Taxi wartete, schlüpfte sie aus den Schuhen, zog die Socken aus und entledigte sich der lästigen Zehenringe. Darunter war die Haut ganz blass und klebrig.

Das Taxi traf ein.

Im Taxi schlüpfte sie aus der Hose und entfernte die Knieschoner und mehrere große, klebrige Pflaster. Aus dem Fenster damit. Im Zug auf dem Weg zum Flughafen ging sie auf die Toilette und befreite sich von der Brustplatte und einem Dutzend weiterer Pflaster. Die Pflaster juckten höllisch, und als sie sie los war, fühlte sie sich himmlisch.

Die schwarze Rollbahn war voller leuchtender Flugzeuge. Es sah hübsch aus, wie sie die Flügel bogen und sich einfach in die kalte Nachtluft emporschwangen, wenn sie abheben wollten. Aufgrund der hauchdünnen Hüllen konnte man die Menschen in den Flugzeugen sehen. Manche hatten die Leselampen eingeschaltet, doch die meisten machten in ihren Sitzsäcken die Beine lang und betrachteten durch den Rumpf hindurch den Nachthimmel. Oder aber sie schliefen, denn dies war ein Billigflug nach Europa. Alles ging nahezu lautlos vonstatten und war wunderschön anzusehen. Und es war überhaupt nichts dabei.

Sie ging zum Abflugsteig und stieg hinauf. Die Stewardess sprach sie auf deutsch an, als sie das Flugzeug betrat. Sie öffnete die Tasche, holte den Hamster heraus und zeigte ihn der Stewardess, steckte den Hamster wieder hinein. Dann wandte sie sich ab und schritt voller Zuversicht über den Mittelgang davon. Die Stewardess unternahm nichts.

Sie wählte einen hübschen braunen Sitzsack in der Business Class aus und legte sich hinein. Später brachte ihr die Stewardess einen heißen Frappe.

Um drei Uhr morgens startete das Flugzeug, und sie schlief endlich ein.

Als sie aufwachte, war es acht Uhr morgens, der 10. Februar 2096. Sie war in Frankfurt.

Sie stieg aus dem Flugzeug und wanderte im Frankfurter Flughafen umher, verloren und mit verklebten Augen und völlig unbeschwert von Plänen. Sie hatte nicht einmal Geld. Keine Geld- und keine Kreditkarte. Keinen Ausweis. Die Sozialdienstleute vom Flug ließen sich brav überprüfen, aber wenn man es nicht darauf angelegt hatte, beachteten einen die deutschen Beamten nicht.

Sie trank etwas Wasser an einem Trinkbrunnen, ging dann auf die Toilette, wusch sich Gesicht und Hände und wechselte Unterwäsche und Socken. Ihr Gesicht hatte offenbar kein Make-up mehr nötig, aber es fehlte ihr doch sehr. Ohne Makeup herumzulaufen verunsicherte sie mehr, als keinen Ausweis zu haben.

Sie trat aus der Toilette und schloss sich anderen Leuten an, damit sie niemandem auffiel.

Die Menge spülte sie durch zahllose verglaste Hallen und Kioske und über Aufzüge hinunter in einen efeuüberrankten Bahnhof. Die Deutschen mochten Efeu offenbar sehr, zumal wenn es unter der Erde wuchs, wo es eigentlich nichts zu suchen hatte.

Sie bemerkte ein junges europäisches Mädchen mit sehr kurzem Haar und einer hellroten Jacke. Da sie ebenfalls sehr kurzes Haar hatte und eine hellrote Jacke trug, hielt sie es für geraten, der jungen Frau zu folgen und das gleiche zu tun wie sie. Dies war ein kluger Plan, denn die Frau wusste genau, wo sie hinwollte. Die Frau erstand an einem Sozialdienstkiosk Kekse in einer Papiertüte. Somit holte auch Mia sich eine solche Tüte. Zu bezahlen brauchte sie nicht. Die Kekse waren richtig gut. Sie spürte, wie die vitaminangereicherten, von der Regierung subventionierten nichttoxischen Bestandteile sich in ihrem dankbaren Körper ausbreiteten.

Als sie ein halbes Dutzend Kekse verschlungen und noch etwas Wasser getrunken hatte, fühlte sie sich recht behaglich und zufrieden mit sich selbst. Ein paar Krümel gab sie dem Hamster.

Im Bahnhofsgebäude spielten zwölf Männer in weiten Webponchos und mit flachen schwarzen Hüten auf dem Kopf mit Flöten und Gitarren Volksmusik aus den Anden. Die Südamerikaner hatten ein Kartenlesegerät auf einem Pfosten aufgestellt, aber wenn man nicht wollte, brauchte man ihnen nichts zu geben. Man konnte einfach dasitzen und der Gratismusik lauschen. Es gab genügend freie Sitzsäcke und kostenloses Wasser und jede Menge Gratiskekse und eine sehr hübsche Toilette. Soweit sie erkennen konnte, sprach nichts dagegen, dass sie den Rest ihres Lebens im schönen alten Frankfurter Bahnhof verbrachte.

Es war warm und behaglich, und es war faszinierend, all die unterschiedlichen Europäer mit ihrem Gepäck vorbeiwandern zu sehen. Sie kam sich ein wenig exponiert vor, wie sie da in dem öffentlichen Sitzsack saß und öffentlich ihre öffentlichen Kekse knabberte, aber schließlich belästigte sie ja niemanden. Vielmehr schienen alle, die sie bemerkten, sie für toll zu halten. Die Deutschen lächelten sie an. Zumal die Männer lächelten viel. Als sie eine Stunde totgeschlagen hatte, bemerkte sie in der Menge eine Gruppe Kinder. Sogar die Kinder lächelten sie an.

Offenbar glaubten alle, sie hätten etwas Wichtiges zu erledigen. Was für ein Witz. Weshalb konnten sie nicht einfach stillsitzen und das Leben genießen? Wozu die ganze Eile? All dieses ziellose Rumgerenne ... Sie würden alle eine Million Jahre leben - war das nicht das Entscheidende? Man konnte einfach in einem Sitzsack liegen, sich im Einklang mit dem Universum fühlen und vollkommen glücklich sein.

Etwa anderthalb Stunden lang amüsierte sie sich prächtig. Dann schlug ihre Stimmung um. Sie empfand Langeweile. Unruhe. Sie wurde nervös und konnte schließlich nicht mehr stillsitzen. Außerdem hatten die Männer aus den Anden damit begonnen, ihre Lieder zu wiederholen, und das Pfeifinstrument, das sie benutzten, war wirklich nervig. Sie erhob sich und wählte einen Zug aus, wie alle anderen es ebenfalls taten.

Im Innern des Zuges war es lärmig. Vor lauter Gerede. Der Zug selbst machte überhaupt kein Geräusch, aber die Leute plapperten und aßen Nudeln und tranken Malzbier aus großen Bechern. Der Zug war äußerst schnell und bewegte sich so lautlos wie ein Aal. Er lief auf Schienen, die er jedoch nicht berührte. Sie verstaute die Tasche unter dem Sitz und wünschte, sie hätte Deutsch gesprochen.

Als sie die Tasche wieder hervorholte, war diese weit geöffnet, und sie stellte fest, dass der Hamster entkommen war. Das hässliche kleine Pelzmonster war geflohen, entweder im Zug oder schon im Frankfurter Bahnhof. Zunächst regte sie sich ein wenig auf, dann aber wurde ihr bewusst, wie komisch das war. Der Hamster ist los! Massenpanik in Europa! Also, Lebewohl und viel Glück, Postnagetier! Kein Bedauern, okay?

 

In Munchen stieg sie aus, weil ihr der Name der Stadt gefiel. Früher einmal hatte sie Munich, Muenchen, Moenchen oder sogar München geheißen, doch im Zuge der gesamteuropäischen Schreibreform war Munchen daraus geworden. Munchen, Munchen, Munchen. Irgendjemand hatte mal gesagt, Stuttgart sei die weltweit bedeutendste Kunstmetropole, doch der Name Stuttgart klang nicht halb so hübsch wie Munchen.

Als sie entdeckte, dass man an den Kiosks Brezeln bekam, wusste sie, dass ihr Munchen gefallen würde. Keine kleinen, vertrockneten amerikanischen Stangenbrezeln mit Jodsalz, sondern große, warme, knusprige Brezeln, die wahrscheinlich noch Spuren von Weizen und Hefe enthielten. Im Munchener Bahnhof standen etwa hundert fröhliche Jugendliche aus ganz Europa für diese handschellengroßen Brezeln an. Die bayerischen Sozialdienstleute von der Bäckerei wirkten angesichts der Situation ausgesprochen blasiert. Man sah ihnen an, dass sie irgendwelche Hintergedanken hatten.

Sie verspeiste genussvoll zwei dieser Riesenbrezeln, trank noch etwas Wasser, und dann suchte sie sich ein anderes, noch hübscheres Mädchen mit langem blondem Haar und einem Mantel aus blauem Samt und folgte ihm. Und so gelangte sie zum Marienplatz.

Auf dem Platz waren U-Bahn-Ausgänge und ein Springbrunnen mit einer kreisförmigen steinernen Brüstung und einer großen Marmorsäule mit vier Bronzeengeln, die Teufeln schräge Blicke zuwarfen. Oben auf der Säule stand eine vergoldete Jungfrau Maria, welche den Platz offenbar überwachte. In einer Ecke war eine Telepräsenzsite und ein paar Boutiquen mit beweglichen Schaufensterpuppen. Viele lange, schlanke EuroFahrräder waren abgestellt. Alle möglichen Leute schlenderten über den Marienplatz. Touristen aus aller Welt. Vor allem Indonesier.

Wie andere Jugendliche auf dem Platz lehnte auch Maya sich an die Brüstung des Springbrunnens. Aus den großen Bronzekübeln dreier muskulöser Bronzestatuen ergossen sich nicht abreißende Wasserströme. Die Sonne ging bereits unter, und es war recht kühl. Die Kinder hatten rote Backen und windzerzaustes Haar und trugen Jacken und bunte Halstücher und seltsame Euro-Kinderstiefel.

Hin und wieder trotteten zwei große Polizeischäferhunde über den Platz, dann verstummten die Kinder und versteiften sich ein wenig.

Der Marienplatz war wunderschön. Es gefiel ihr, dass die Munchener ihre Kirchen gut in Schuss hielten: Spitzbögen, Balkons, das Fleisch transzendierende Heiligenfiguren aus glitschig wirkendem Stein. Besonders gefielen ihr die bunten mittelalterlichen Holzroboter der Turmuhr.

An der Turmspitze waren drei nackte Katholiken an den Füßen aufgehängt, die Hände zum Gebet gefaltet. Offenbar handelte es sich um ein Bußritual. Man konnte nicht behaupten, dass sie um Aufmerksamkeit heischten; die Katholiken dort oben waren sogar recht schwer zu bemerken, wie sie da nackt von den Zacken des gotischen Turms hingen. Sie boten ihre Körper dem Wind und der Kälte dar, fromm und hingebungsvoll, in so großer Höhe, dass nicht einmal ein Drache an sie herangereicht hätte.

Irgendjemand sprach sie an. Sie riss den Blick von den Turmbüßern los und wandte sich um. »Wie bitte?«, sagte sie.

Vor ihr stand ein gut aussehender junger Mann in Schafsfelljacke und Schafsfellhose - eigentlich war der Typ mit einem ganzen Schaf bekleidet, einschließlich des braun verfärbten, augenlosen Kopfes, der Teil des Jackenkragens war. Am ganzen Körper war er mit weißer, lockiger Wolle bedeckt. Allerdings hatte er schwarzes, angeklatschtes Haar, das ihm bis in die ziemlich fliehende Stirn und über die schrägen schwarzen Augenbrauen fiel. »Ah, Englisch«, sagte er. »Kein Problem, ich spreche englisch.«

»Tatsächlich? Schön. Hi!«

»Hi. Woher kommst du?«

»Aus Kalifornien.«

»Heute erst in Munchen eingetroffen?«

»Ja.«

Er lächelte. »Wie heißt du?«

»Maya.«

»Ich heiße Ulrich. Willkommen in meiner wunderschönen Heimatstadt. Dann bist du also ganz allein, ohne Eltern, ohne Freund? Du treibst dich seit zwei Stunden auf dem Marienplatz herum, triffst niemanden, tust nichts.« Er lachte. »Hast du dich verlaufen?«

»Ich habe kein bestimmtes Ziel, ich bin bloß auf der Durchreise.«

»Also hast du dich doch verlaufen.«

»Na ja«, meinte Maya, »könnte man vielleicht so sagen. Aber wenigstens spioniere ich nicht geschlagene zwei Stunden lang anderen Leuten nach, so wie du.«

Ulrich lächelt bedächtig, schwang den großen braunen Rucksack von den Schultern und stellte ihn sich vor die Füße. »Wie hätte ich eine so schöne Frau nicht beobachten sollen?«

Maya spürte, wie sich ihre Augen weiteten. »Ist das dein Ernst? Ach, du meine Güte ...«

»Ja, ja! Ich bin doch bestimmt nicht der erste Mann, der dir das sagt! Du bist schön. Wunderschön! Du bist so niedlich wie ein großes Kaninchen.«

»Ich wette, auf deutsch klingt das richtig nett, Ulrich, aber...«

»Ich kann dir bestimmt helfen. Wo liegt dein Hotel?«

»Ich habe keins.«

»Und wo ist dann dein Gepäck?«

Sie hob die Handtasche hoch.

»Kein Gepäck. Kein Hotel. Keine Adresse. Hast du Geld?«

»Nein.«

»Und wie steht’s mit einem Ausweis? Du hast doch hoffentlich einen Ausweis.«

»Auch nicht.«

»Aha. Dann bist du also eine Ausreißerin.« Ulrich ließ sich das durch den Kopf gehen; offenbar erfüllte es ihn mit Genugtuung. »Dann habe ich eine gute Neuigkeit für dich, Miss Maya, die Ausreißerin. Du bist nicht die einzige Ausreißerin, die es nach Munchen verschlagen hat.«

»Eigentlich wollte ich heute Abend mit dem Zug nach Frankfurt zurückfahren.«

»Nach Frankfurt! Welche Schande! Frankfurt ist eine Gruft. Ein Grab! Komm mit, dann zeige ich dir das berühmteste Lokal der ganzen Welt!«

»Weshalb sollte ich mit einem Typen mitgehen, der so grausam zu Schafen ist?«

Ulrich fasste sich bestürzt an den Schafsfellmantel. »Du machst wohl Witze! Ich bin nicht grausam! Ich habe das Schaf im Kampf Mann gegen Mann getötet! Der Schafsbock wollte mich ermorden! Komm mit, dann zeige ich dir das berühmte Hofbräuhaus. Dort gibt es Fleisch! Und Bier!«

»Du willst mich verarschen.«

»Es ist nicht weit.« Ulrich verschränkte die mit weißem Fell bedeckten Arme. »Du willst es doch bestimmt sehen, oder?«

»Klar. Ich will es sehen. Also gut.«

Wie versprochen führte er sie zum Hofbräuhaus. Es hatte einen überwölbten Eingang und Messingtüren, und davor standen uniformierte Sozialdienstleute. Ulrich streifte die Jacke ab und schlüpfte in Sekundenschnelle aus der Hose. Das Schafsfell stopfte er in seinen geräumigen Rucksack. Unter dem Fell war er mit einem bunt gemusterten Gymnastikanzug bekleidet.

Das Hofbräuhaus hatte eine hohe Gewölbedecke, geschmückt mit Wandmalereien, Eisenbeschlägen und Laternen. Es war wundervoll warm und roch stark nach Kerzen und gebratenem Fleisch. Ergraute Blasmusiker mit komischen Hüten und breiten Hosenträgern spielten zweihundertfünfzig Jahre alte Polkas, die Art Volksmusik, die so abgenutzt war, dass sie wie Flusskiesel durch die Ohren flutschte. Die Besucher drängten sich auf Holzbänken an langen Tischen und gaben sich dem alkoholisierten Frohsinn hin. Zu ihrer Erleichterung stellte Maya fest, dass die meisten keinen Alkohol tranken. Stattdessen tranken sie kühles Malzbier aus großen Gläsern und atmeten den Alkohol aus seitlich angebrachten befeuchteten Inhalatoren ein. Auf diese Weise wurde die Dosis reduziert und die Leber nicht in Mitleidenschaft gezogen.

Es war laut. »Möchtest du etwas essen?«, brüllte Ulrich.

Maya blickte auf ein Tablett, das vorbeigetragen wurde. Tierfleischbrocken schwammen in brauner Soße, dazu gab es zerfetzten Kohl und Kartoffelstücke. »Ich habe keinen Hunger!«, sagte sie.

»Möchtest du Bier trinken?«

»Igitt!«

»Was willst du dann?«

»Keine Ahnung. Vielleicht die seltsamen Leute beobachten. Gibt es hier einen ruhigen Ort, wo man sich hinsetzen und unterhalten kann?«

Ulrich kniff ungeduldig die Augen zusammen, dann musterte er die Menge. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Siehst du die alte Touristin mit dem Notebook dort drüben?«

»Ja?«

»Frag sie doch mal, ob sie einen Stadtplan hat. Rede einen Moment mit ihr, eine Minute, das reicht schon. Bitte sie ... bitte sie, dir zu zeigen, wo der Chinaturm liegt. Dann gehst du nach draußen. Ich warte auf dich. Auf der Straße.«

»Warum?« Sie musterte ihn forschend. »Du hast irgendetwas Schlimmes vor.«

»Nichts richtig Schlimmes. Aber es könnte sehr nützlich für uns sein. Rede mit ihr. Reden ist nicht verboten.«

Maya ging zu der alten Dame hinüber, die mit Messer und Gabel Nudeln in sich hineinschaufelte. Sie trank ein Getränk, das mit ›Fruchtlimo‹ beschriftet war, und war sehr gut gekleidet. »Entschuldigen Sie, Ma’am, sprechen Sie englisch?«

»Ja, allerdings, junge Frau.«

»Haben Sie einen Stadtplan von Munchen? In Englisch? Ich suche nach einem bestimmten Ort.«

»Aber gern. Freut mich, wenn ich Ihnen behilflich sein kann.« Die Frau klappte das Notebook auf und öffnete allerlei Fenster. »Wie heißt der Ort, den Sie suchen?«

»Chinaturm.«

»Ah, ja. Den kenne ich. Da haben wir ihn schon ...« Sie zeigte darauf. »Er liegt im Englischen Garten. Der Park wurde um 1790 von Graf Rumford entworfen. Graf Rumford hieß mit richtigem Namen Benjamin Thompson und war ein amerikanischer Emigrant.« Sie schaute lächelnd hoch. »Ist es nicht seltsam, dass eine so alte Stadt von einem unserer Landsleute umgestaltet wurde!«

»Fast so seltsam wie der Umstand, dass Indianapolis von einem Indonesier umgestaltet wurde.«

»Nun«, meinte stirnrunzelnd die Frau, »damals waren Sie noch nicht geboren. Aber ich bin zufällig aus Indiana und habe dort gelebt, als die Indonesier die Stadt kauften, und glauben Sie mir, das fanden wir damals gar nicht komisch.«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Ma’am.«

»Soll ich Ihnen den Stadtplan ausdrucken? Ich habe einen Scroller in der Handtasche.«

»Schon gut. Ich werde von jemandem erwartet, ich muss jetzt gehen.«

»Aber es ist ein weiter Weg bis zum Turm, Sie könnten sich verlaufen. Ich könnte ...« Sie stockte. »Meine Handtasche ist weg.«

»Sie haben Ihre Handtasche verloren?«

»Nein, nicht verloren. Sie war hier, gleich unter der Bank.« Sie schaute umher, dann sah sie zu Maya auf. Sie senkte die Stimme. »Ich fürchte, jemand hat meine Handtasche mitgenommen. Sie gestohlen. O je. Das ist wirklich schlimm.«

»Das tut mir Leid«, meinte Maya hilflos.

»Ich fürchte, ich muss zur Polizei gehen.« Die alte Dame seufzte. »Das ist wirklich unangenehm. Sie werden so verlegen sein, die armen Leute ... Es ist schrecklich, wenn einem Gast so etwas passiert.«

»Es ist nett von Ihnen, dass Sie sich über ihre Empfindungen Gedanken machen.«

»Das Schlimme ist ja nicht der Verlust der paar Wertsachen, sondern die Verletzung des Gastrechts.«

»Ich weiß«, sagte Maya, »und es tut mir aufrichtig Leid. Ich würde Ihnen gern meine Handtasche geben.« Sie legte ihre Tasche auf den Tisch. »Es ist nicht viel drin, aber Sie können sie haben.«

Die alte Dame sah ihr zum erstenmal in die Augen. Dann geschah etwas Seltsames. Die Frau riss die Augen auf und erbleichte. »Meinten Sie nicht, Sie hätten eine Verabredung?«, sagte sie schließlich mit schwankender Stimme. »Ich möchte Sie nicht aufhalten.«

»Schon gut«, erwiderte Maya. »Leben Sie wohl, und auf Wiedersehen.« Sie trat auf die Straße. Ulrich hatte wieder das Fell angezogen. »Du hast viel zu lange gebraucht«, neckte er sie. »Komm mit.« Er wandte sich zu einer U-Bahnstation.

Auf der Rolltreppe öffnete Ulrich seinen braunen Rucksack und wühlte darin. »Ah! Ja, ich hab’s doch gewusst.« Er holte einen federleichten Ohrclip hervor. »Hier, leg das an.«

Maya klemmte sich den Clip ans rechte Ohr. Ulrich begann deutsch zu sprechen. Ein Schwall deutscher Worte floss von seinen Lippen, während der Clip simultan übersetzte.

»[So ist es besser]«, wiederholte der Clip in melodischem Ostküstenamerikanisch. »[Damit wäre die intellektuelle Parität wieder hergestellt.]«

»Was?«, meinte Maya.

»Der Übersetzer funktioniert doch, oder?« Ulrich sprach englisch und tippte sich nervös ans Ohr.

»Oh.« Maya fasste sich an den Clip. »Ja, er funktioniert.«

Ulrich wechselte sogleich wieder ins Deutsche. »[Dann ist es ja gut! Jetzt kann ich dir beweisen, dass ich schlauer und einfallsreicher bin, als man aufgrund meiner beschränkten Englischkenntnisse meinen mag.]«

»Du hast der Frau eben die Handtasche gestohlen.«

»[Stimmt. Das musste sein. Auf die Dauer wäre es zu mühselig gewesen, mich mit dir zur unterhalten. Ich war mir sicher, dass eine Frau ihres Alters und ihrer sozialen Stellung einen Übersetzer dabei hätte. Und wer weiß, vielleicht sind in der Handtasche ja noch andere interessante Sachen.]«

»Und wenn du erwischt wirst? Wenn wir erwischt werden?«

»[Man wird uns nicht erwischen. Als ich die Handtasche gestohlen habe, hatte ich das bunte Trikot an, das beim Betreten und Verlassen des Gebäudes aufgezeichnet wurde. Es gibt bestimmte Techniken, die es einem gestatten, derlei Transaktionen gefahrlos durchzuführen. Einem Neuling lässt sich das Handwerk schwer erklären.]« Ulrich strich heftig über die wollenen Jackenärmel. »[Aber zurück zum Thema. Ich verstehe recht gut englisch, spreche es aber nicht so gut.]« Er lachte. »[Du kannst also englisch mit mir reden, und ich antworte dir auf deutsch über den Ohrhörer, dann kommen wir schon klar.]«

Sie hatten das Ende der Rolltreppe erreicht und bahnten sich einen Weg durch ein Labyrinth von Kübelpflanzen: Zykadeen, Farne, Ginkgos. »[Wenn jemand eine Sprache nur gebrochen spricht]«, sagte Ulrich, »[neigt man dazu, seinen Intellekt zu unterschätzen. Man wirkt dann immer ein wenig dumm. Dieses Missverständnis hätte uns auf ein völlig falsches Gleis gebracht.]«

»Okay. Ich verstehe. Du kannst dich hervorragend ausdrücken. Aber du bist ein Dieb.«

»[Ja, die europäischen Handtaschendiebe können zumeist auf eine gediegene Erziehung verweisen.]« Trotz der Simultanübersetzung hörte sie; aus Ulrichs Stimme den sarkastischen Unterton heraus. Der Übersetzer quetschte die englischen Worte mit genau der richtigen Betonung auf die gleiche Länge wie die sperrigen deutschen Silben zusammen. Daran musste sie sich erst gewöhnen.

Sie stiegen in die U-Bahn ein und nahmen hinten im Wagen Platz. Ulrich machte sich nicht die Mühe zu bezahlen. »[Man sollte den Schauplatz des Verbrechens möglichst rasch hinter sich lassen]«, murmelte er. Er nahm ihr die Handtasche ab, öffnete sie und leerte den gesamten Inhalt der gestohlenen Handtasche hinein. Diese Operation führte er im höhlenartigen Inneren seines Rucksacks durch. »[Da]«, sagte er und reichte ihr die Handtasche zurück. »[Das gehört jetzt alles dir. Schau mal, was du davon gebrauchen kannst.]«

»Das ist unredlich.«

»[Maya, du bist unredlich. Du reist illegal, ohne Ausweis]«, entgegnete Ulrich. »[Willst du redlich sein und wieder heimfliegen? Willst du wirklich zurück zu den Menschen, vor denen du geflohen bist?]«

»Nein. Nein, das will ich auf gar keinen Fall.«

»[Damit verstößt du bereits gegen die Regeln. Und du wirst gegen noch mehr dumme Regeln verstoßen müssen. Ohne Ausweis kannst du keinen Job bekommen. Du kannst nicht zum Arzt, du kannst dich nicht versichern. Sollte dich die Polizei mal richtig in die Mangel nehmen, wird man sich deine DNS anschauen und herausfinden, wer du bist. Ganz gleich, woher du kommst, ganz gleich, wer du bist. Die medizinischen Datenbanken der Politas sind ausgezeichnet.]« Ulrich rieb sich das Kinn. »[Maya, weißt du, was der Begriff ›Informationsgesellschaft‹ bedeutet?]«

»Klar. Ich denke schon.«

»[Europa ist eine wahre Informationsgesellschaft. Und eine wahre Informationsgesellschaft setzt sich aus Informanten zusammen.]« Ulrich kniff die dunklen Augen zusammen. »[Aus Ratten. Petzen. Judassen. Fieslingen. Bringt der Übersetzer das rüber?]«

»Ja.«

»[Dann ist das Gerät gut! Welch hervorragendes Verständnis der deutschen Umgangssprache!]« Ulrich lachte herzhaft und senkte die Stimme. »[Munchen ist ein guter Ort, um sich zu verstecken, denn die Polizei arbeitet sehr langsam. Wenn man es schlau anstellt und Freunde hat, kann man in Munchen als Ausreißer überleben. Aber man braucht bloß einmal aufzufallen, und schon kommen die Bullen und sperren einen ein. Darauf kannst du dich verlassen.]«

»Bist du ein Illegaler, Ulrich?«

»[Keineswegs, ich bin ein legaler Deutscher. Dreiundzwanzig Jahre alt.]« Er streckte sich, legte ihr den Arm um die Schulter. »[Ich führe das Leben eines Kleinkriminellen spaßeshalber und aus ideologischen Gründen. Zu viel Ehrlichkeit ist schlecht für die Menschen.]«

Maya blickte in die Handtasche. Sie verspürte den vagen Drang, sich weiter zu beklagen, doch als sie sah, was für einen Fang sie da gemacht hatten, beschloss sie, den Mund zu halten. Mit der Minibank konnte sie natürlich nichts anfangen, doch es waren auch ein paar Geldkarten dabei. Außerdem ein Munchener U-Bahnticket. Eine Sonnenbrille. Bürste und verschiedene Kämme. Haarlack. Lippenstift (nicht ihre Farbe), Nachtcreme (eine Feuchtigkeitscreme), pH-regulierende Kreide (mit Pfefferminzgeschmack). Mineraltabletten für Aufgüsse. Ein Spritzen-Set. Papiertaschentücher. Ein hübsches kleines Netzgerät. Ein Scroller. Und eine Kamera.

Maya nahm die Kamera heraus. Ein kleines Digitalgerät für Touristen. Es schmiegte sich wunderbar in ihre Hand. Sie blickte versuchsweise durch den Sucher, dann wandte sie sich herum und zielte auf Ulrichs Gesicht. Er zuckte zurück und schüttelte rasch den Kopf.

Maya überprüfte die Kameraanzeige und löschte die gespeicherten Fotos. »Möchtest du wirklich, dass ich das alles behalte?«

»Ich weiß, dass du es brauchst«, antwortete Ulrich auf englisch.

»Toll.« Sie reinigte die Kamera sorgfältig mit einem Papiertaschentuch.

»[Während du die verrückten Katholiken auf dem Turm angestarrt hast]«, gestand Ulrich, »[habe ich einen Blick in deine Handtasche geworfen. Außer einem angenagten Brezel und ein paar mit Rattenkot verschmutzten Slips war nichts drin. Das hat meine Neugier geweckt.]« Ulrich lehnte sich weiter zu ihr hinüber. »[Ich habe davon Abstand genommen, dir deine wertlose Handtasche zu stehlen. Ich hielt es für besser, dir meinen Schutz anzubieten. Ich weiß nicht, wer du bist, kleine Kalifornierin. Aber du bist ausgesprochen weltfremd. Ohne einen Freund wirst du in Munchen nicht lange durchhalten.]«

Sie schenkte ihm ein Lächeln. Strahlend und voller Zuversicht. »Dann bist du also jetzt mein Freund?«

»[Klar. Ich bin genau die richtige Gesellschaft für dich.]«

»Du bist sehr großzügig. Mit anderer Leute Eigentum.«

»[Ich wäre auch mit meinem eigenen Eigentum großzügig, wenn ich welches hätte.]« Er ergriff ihre Hand und drückte sie ganz sanft. »[Vertraust du mir nicht? Du kannst mir ruhig vertrauen. Dann werden wir viel Spaß miteinander haben.]« Er führte ihre Finger an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf.

Sie entzog ihm ihre Hand, fasste ihm in den Nacken und lehnte sich an ihn. Ihre Lippen trafen sich.

Küssen war einfach toll. Sein Hals, der in dem Wollkragen steckte, strahlte Hitze aus. Sein männlicher Geruch rief alte, erregende Erinnerungen wach. Sie spürte, wie ihre ganze Persönlichkeit ins Wanken geriet und einstürzte, als habe ihr Gehirn in eine Zitrone gebissen. Sie küsste ihn, was das Zeug hielt.

»[Vorsicht, kleine Maus]«, sagte Ulrich und machte sich von ihr los. »[Man beobachtet uns.]«

»Wieso darf ich denn in der U-Bahn keinen Typen küssen?«, fragte sie und wischte sich den Mund am Jackenärmel ab. »Was ist denn dabei?«

»[Eigentlich gar nichts]«, meinte er. »[Aber die Leute könnten sich später an uns erinnern. Das wäre nicht so gut.]«

Maya blickte sich im Wagen um. Ein Dutzend Munchener starrten sie an. Die Deutschen erwiderten ihren Blick ohne ein Fünkchen Zurückhaltung mit tiefem, ernsthaftem Interesse. Maya runzelte die Stirn und hob die Kamera schützend vors Gesicht. Die Deutschen lächelten bloß, winkten ihr zu und schnitten Grimassen. Widerwillig steckte sie die Kamera wieder in die Handtasche. »Wohin fahren wir eigentlich?«

»[Wo möchtest du denn hin?]«

»Irgendwohin, wo wir uns hinlegen können.«

Ulrich lachte erfreut. »[Genau wie ich dachte. Du bist wirklich verrückt.]«

Sie boxte ihn in die Rippen. »Erzähl mir bloß nicht, das hätte dir nicht gefallen, du großer Schwindler.«

»[Klar hat’s mir gefallen. Du bist genau die Frau, nach der ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Du siehst toll aus, weißt du. Wirklich. Du solltest dir das Haar lang wachsen lassen.]« »Ich besorge mir eine Perücke.«

»[Ich besorge dir sieben Perücken]«, versprach Ulrich. Allmählich bekam er einen Schlafzimmerblick. »[Für jeden Wochentag eine. Und Klamotten. Du magst doch hübsche Klamotten, oder? Das sehe ich an deiner Jacke.]«

»Ich mag lebendige Klamotten.«

»[Du bist ausgerissen, um zu leben, kleine Maus? Lebendige Menschen haben eine Menge Spaß.]« Einen Moment lang hatte es ihm den Atem verschlagen, doch die Küsserei hatte noch eine andere Auswirkung auf Ulrich. Er hatte wieder die Initiative übernommen, und es fiel ihm schwer, seine Hände unter Kontrolle zu halten.

»[Fummeln macht mich immer ganz blöd]«, erklärte Ulrich und massierte sich versonnen den linken Oberschenkel. »[Eigentlich sollte ich mit dir in eine billige Absteige gehen, aber ich glaube, ich nehme dich mit in meine Lieblingsräuberhöhle.]« »Eine Räuberhöhle? Wie spannend. Was bräuchte ich mehr?«

»[Bessere Schuhe]«, sagte er ganz ernsthaft. »[Kontaktlinsen. Geldkarten. Perücken. Hautfärbemittel. Minimale Deutschkenntnisse. Einen Stadtplan. Etwas zu essen. Ein Bad. Ein hübsches warmes Bett.]«

In Schwabing stiegen sie aus. Ulrich führte sie zu einem besetzten Haus. Es handelte sich um ein vierstöckiges Wohnhaus aus dem zwanzigsten Jahrhundert, mit einer vulgären, hässlichen Fassade aus gelben Klinkern. Irgendjemand hatte systematisch alle elektrischen Leitungen herausgerissen, sodass es nicht mehr zu vermieten war. Ulrich hob eine Öllampe mit Drahtgriff hoch, die im Eingang stand.

»[Man kann die Gesundheitsinspektoren nicht aus einem besetzten Haus heraushalten]«, meinte Ulrich warnend. Den kaputten Aufzug ließen sie links liegen und stiegen die dunkle, stinkende Treppe hoch. »[Sozialdienstleute sind sture Böcke, und sie sind sehr tapfer. Die Munchener Polizei ist allerdings sehr effizient und daher faul. Sie lassen die Arbeit lieber von Maschinen erledigen, und ein besetztes Haus ohne Strom zu verwanzen oder anzuzapfen, ist nicht leicht.]«

»Wie viele Leute leben in dieser Bruchbude?«

»[Sie kommen und gehen. Etwa fünfzig Personen. Wir sind Anarchisten.]«

»Alles junge Leute?«

»Mit vierzig ist das Leben zu Ende«, sagte Ulrich auf englisch. »[Wir gelten als jung ... Alte mögen keine besetzten Häuser. Sie legen keinen Wert auf Freiheit und Selbständigkeit. Sie brauchen ihre Archive, ihre Reinigungsgeräte, ihre Lehnsessel, richtiges Geld, überall Sensoren und Alarmanlagen, sämtlichen Komfort. Richtig alte Leute besetzen keine Häuser. Sie haben keinen Grund dazu.]« Ulrich setzte ein halbherziges anzügliches Grinsen auf. »[Einer der vielen Gründe, weshalb alte Leute nichts mehr empfinden…]«

»Hast du Eltern, Ulrich«

»[Jeder hat Eltern. Manchmal verlegen wir sie.]« Sie waren im dritten Stock angelangt, und er hob die fauchende Lampe und sah ihr ins Gesicht. Er schaute sehr ernst drein. »[Frag mich nicht nach meinen Eltern, und ich werd dich nicht nach deinen fragen.]«

»Meine sind tot.«

»[Wie schön für dich]«, sagte Ulrich und stieg ungeduldig zum nächsten Absatz hoch. »[Wenn ich dir das abnähme, würde ich dich bedauern.]«

Atemlos gelangten sie am obersten Absatz an. Sie schritten durch einen kalten Korridor mit kahlen, graffitibeschmierten Wänden. Die Graffitis waren sehr subversiv, säuberlich mit Schablonen gemalt und hochpolitisch. Das meiste war in englisch. KAUF DIR EINEN NEUEN WAGEN, DAS MACHT SEXY, verkündete eine Inschrift. STEIGERT DEN VERBRAUCH AN BODENSCHÄTZEN, UM KURZFRISTIGE BEDÜRFNISSE ZU BEFRIEDIGEN, lautete ein weiterer ominöser Spruch.

Ulrich öffnete ein altes Vorhängeschloss mit einem Metallschlüssel. Die Tür öffnete sich quietschend. Der dahinter befindliche Raum war dunkel und kalt und stank. Die Innenwände waren zum größten Teil eingerissen und durch Stoffdecken ersetzt worden, die an gespannten Seilen aufgehängt waren. Es roch nach Moder und Mäusen.

Ulrich schlug die Tür zu und legte den Riegel vor. »[Ist das nicht luxuriös?]« Seine Stimme hallte in dem stinkenden Gemäuer wider. »[Hier stört einen niemand! Ich rede nicht von privater Abgeschiedenheit. Ich will damit sagen, dass diese Räumlichkeiten jeglicher Überwachung unzugänglich sind.]«

»Kein Wunder, dass es hier so stinkt.«

»[Dagegen hab ich was.]« Ulrich entzündete ein halbes Dutzend Duftkerzen. Das Zimmer füllte sich mit dem aufdringlichen Geruch tropischer Früchte: Ananas, Mango. Maya bezweifelte, dass Ulrich jemals Ananas oder Mango gegessen hatte. Wahrscheinlich bewirkte der Mangel an unmittelbarer Erfahrung, dass ihm die Düfte noch exotischer erschienen.

Sie musterte das stinkende Zimmer im romantischen Kerzenschein. »Dafür, dass es hier keinen Strom gibt, hast du hier aber eine Menge elektronischer Geräte.«

»[Enteigneter Privatbesitz.]« Ulrich nickte. »[Zufällig teile ich diese Räumlichkeiten mit drei anderen Herren mit ganz ähnlich gelagertem Interesse. Wir haben festgestellt, dass ein Leben außerhalb des Gesetzes es notwendig macht, seine Fähigkeiten zu vereinen.]«

Er hängte die Laterne an eine von der Decke baumelnde Schnur und stupste sie sachte an. Schatten schwankten über die Wände. »[Wir wohnen hier nicht. Enteigneten Privatbesitz würden wir unter keinen Umständen in unserer Wohnung verwahren. Aufgrund der zeitbasierten Währungen, des Informantennetzwerks, der panoptischen Überwachungsmaßnahmen und anderer Methoden gerontokratischer Unterdrückung ist es schwer, die Sachen kommerziell zu verwerten. Daher benutzen ich und meine Genossen diese Räumlichkeiten als gemeinsames Lager. Hin und wieder schlafen wir hier auch mit einer Frau.]«

»Was für ein Saustall. Phantastisch. Darf ich ein Foto machen?«

»[Nein.]«

Sie schaute sich verwundert in dem Durcheinander um: Handtaschen, Schuhe, Sportgeräte, Recorder, auseinander genommene Laptops, haufenweise Touristenklamotten aus gestohlenen Koffern. »Dieser Raum ist ein richtiges Archiv. Hast du hier einen Touchscreen, der eine Passgeste erkennen und mich in einen Erinnerungspalast der sechziger Jahre bringen kann?«

»[Tut mir Leid, Schatz]«, sagte Ulrich, »[aber ich habe keine Ahnung, wovon du redest.]« Er näherte sich ihr mit ausgebreiteten Armen.

Sie küssten sich fieberhaft. Es wurde wärmer im Raum, aber nicht so warm, dass man gerne die Kleider abgeworfen hätte. »Wo können wir es tun?«

»[Dort drüben ist ein Schlafsack. Ich hab ihn einem Skifahrer geklaut, und er ist sehr warm. Groß genug für zwei.]«

»Okay«, sagte sie und löste sich aus seiner hartnäckigen Umklammerung. »Ich möchte, dass du es tust, und du weißt, dass ich es tun möchte. Klar? Aber ich weiß, dass du es dringender willst als ich. Deshalb bestimme ich die Regeln. Okay?«

Ulrich hob die Brauen. »[Regeln?]«

»Genau, Ulrich, Regeln. Regel Nummer eins: Du weißt nicht, wer ich bin oder woher ich komme. Und du wirst auch nicht versuchen, es herauszufinden.«

»[Oh, die Vorstellung, Regeln aufzustellen, gefällt mir, Schatz. Das macht bestimmt Spaß.]«

»Regel Nummer zwei: Du redest mit deinen verlotterten Freunden nicht über mich. Du redest mit niemandem über mich.«

»[Das ist ausgezeichnet, ich bin kein Informant. Das sind zwei Regeln, aber ...]« Ulrich stockte. »[Du weitest das begriffliche Territorium rasch aus.]«

»Regel Nummer drei: Ich werde solange in diesem Haus bleiben, bis du genug von mir hast, und du hast dafür zu sorgen, dass ich nicht erfriere, und musst darauf achten, dass ich esse.«

»[Wir sollten besser später über all diese Vorschläge reden]«, meinte Ulrich. »[Das klingt anspruchsvoll. Außerdem habe ich selbst unter den günstigsten Umständen niemals mehr als zwei Regeln gleichzeitig beachten können.]«

Sein Vorschlag hatte einiges für sich. Sie schlüpfte mit ihm zusammen in den Schlafsack. Sie zogen sich aus und umarmten sich. Erst streichelten und betasteten sie einander, was köstlich war, dann wurde es leidenschaftlich. Maya hatte den Eindruck, es dauere eine wundervolle Ewigkeit, doch in Wirklichkeit währte es bloß acht Minuten. Was ebenfalls in Ordnung war.

Als er gekommen war, setzte sie sich im Schlafsack auf. Der Schlafsack des Skifahrers war mit Webfolie gefüttert, und mittlerweile war es darin so heiß wie in einem Backofen. »Das war schön. Ich fühle mich sehr glücklich.«

»[Ich bin auch glücklich]«, erklärte Ulrich zuvorkommend. Er befand sich in der Phase postkoitaler Depression und war sichtlich bemüht, sich dem Einfluss der Hormone zu entziehen. Es war lange her, dass sie dies bei einem Mann beobachtet hatte, aber irgendwie kam es ihr rührend vertraut vor. Mit den Realitäten der männlichen Physiologie hatte sie sich schon vor sehr langer Zeit abgefunden. Sie hätte ihn gern noch weiter geküsst, aber wenn er ins Raster passte, würde er entweder ein Sandwich wollen oder gleich einschlafen.

»[Ich könnte uns etwas Leckeres zu essen holen«], sagte Ulrich mit roboterhafter Förmlichkeit. »[Möchtest du etwas?]«

»Ja, etwas Amorphes. Etwas Vernetztes und Tryptophanhaltiges.«

»[Wie bitte?]«

»Irgendwas, nur bloß kein Gemüse und kein totes Tier.«

»[Ist gut.]« Ulrich kleidete sich methodisch an. Er schaffte es, ihr aufmunternd zuzublinzeln. »[Ich hab’s gern, wenn ein Mädchen nichts weiter trägt als einen Übersetzer im Ohr. Dann scheint das Leben so voller Versprechen.]« Er ging hinaus. Sie hörte, wie er von draußen das Vorhängeschloss vorlegte, dann entfernten sich seine Schritte über den Korridor.

Die Vorstellung, in dieser Räuberhöhle eingesperrt zu werden, schreckte sie überhaupt nicht. Sie stand sogleich auf und begann, zwanghaft aufzuräumen. Die Unordnung machte sie wahnsinnig.

Als sie einen kleinen gestohlenen Fernseher mit Flachbildschirm entdeckte, hielt sie mit ihrem Wüten jäh inne. Richtige Fernseher mit funkübermittelten Daten, ohne Keyboard und mit einem jämmerlichen einseitigen Interface, das war schon seltsam. Sie hatte jahrelang kitschige Seltsamkeiten aus den gewaltigen, freakigen Müllhaufen der Fernsehkultur des zwanzigsten Jahrhunderts gesammelt, bis sie entdeckte, dass die CD-ROM- und Softwarenischen noch uriger waren.

Sie versuchte, den Fernseher einzuschalten, doch die Batterien fehlten. Nach kurzer Suche stellte sich heraus, dass in sämtlichen elektronischen Geräten die Batterien fehlten. Abgesehen natürlich von den frisch gestohlenen Geräten in ihrer Handtasche. Sie öffnete das Netzgerät und legte die Batterien in den Fernseher ein. Sie schaltete den Fernseher ein.

Eine deutsche Talkshow erschien auf dem Bildschirm. Der Moderator war ein Bernhardiner. Er hatte eine Schauspielerin eingeladen. Maya räumte systematisch auf, während sie mit einem Ohr die Sendung verfolgte.

»[Ich habe Probleme mit dem Lesen]«, gestand der Hund in fließendem Deutsch. Er hatte ein struppiges Fell, war aber sehr gut gekleidet. »[Das Sprechen ist etwas anderes. Das kann jeder Hund, wenn er nur die richtige Software hat. Das Lesen aber spielt sich auf einer völlig anderen semantischen Ebene ab. Meine Förderer haben sich alle Mühe mit mir gegeben - das wissen Sie ebensogut wie ich, Nadja. Aber ich möchte hier in aller Öffentlichkeit gestehen, dass das Lesen für die Postcaninen eine große Herausforderung darstellt.]«

»[Du Armer]«, sagte die Schauspielerin voller Mitgefühl. »[Aber wo liegt das Problem? Es heißt, wir leben in einer postliterarischen Epoche.]«

»[Wer das sagt, hat nichts begriffen]«, entgegnete der Hund sehr ernsthaft und würdevoll. »[Goethe. Rilke. Grass. Böll. Das sagt doch alles.]«

Maya war fasziniert von der Kleidung der Schauspielerin. Sie trug ein transparentes Militärkostüm, grünliche durchsichtige Kampfpyjamas und einen Fallschirmspringersweater aus Satin. Ihr Gesicht war wie aus Kamee geschnitten, und ihr Haar war wahrhaft ehrfurchtgebietend. Ihr Haar hätte einen Doktortitel im Fach Faserverarbeitung verdient gehabt.

»[Wir sind in dieser Epoche ganz auf uns allein gestellt]«, klagte die Schauspielerin. »[Wenn man sich mal vorstellt, was uns heutzutage auf dem Set alles zugemutet wird - diese seltsamen geistigen Räume, in die man die Leute steckt, um eine ordentliche Performance zu erzielen ... Und dann sind da noch diese widerlichen Netzfreaks, diese stinkenden Paparazzi ... Aber weißt du was, Aquinas: Du bist ein Hund. Ich weiß, dass du ein Hund bist. Das ist kein Geheimnis. Aber ehrlich - und das ist mein voller Ernst -, in deiner Sendung fühle ich mich so wohl wie nirgendwo sonst.]«

»[Das ist sehr freundlich von Ihnen]«, antwortete schwanzwedelnd der Hund. »[Das freut mich mehr, als ich sagen kann. Nadja, erzählen Sie uns ein wenig über diese Geschichte, die bei den Dreharbeiten mit Christian Mancuso passiert ist. Worum ging’s da eigentlich?]«

»[Also, Aquinas, ganz im Vertrauen]«, sagte die Schauspielerin. »[Ich würde das nicht jedem erzählen ... Aber es war so. Christian und ich sind beide in den Sechzigern, wir sind natürlich keine jungen Leute mehr. Wir waren beide mit diesem Projekt für die Hermes Kino Filmgesellschaft beschäftigt. Wir waren sechs Wochen miteinander auf dem Set. Wir verstanden uns wundervoll - ich hatte mich an seine Gesellschaft gewöhnt, weißt du, wenn wir vom Set kamen, haben wir uns entspannt, zusammen gegessen, über das Drehbuch geredet ... Und eines Abends nahm Christian mich in die Arme und küsste mich! Ich glaube, wir waren beide ziemlich überrascht. Aber es war sehr schön.]«

»[Natürlich]«, pflichtete der Hund ihr bei.

»[Und dann kamen wir beide überein, uns einer Hormonbehandlung zu unterziehen. Ich glaube, das war seine Idee.]«

Das Publikum spendete höflichen Applaus.

»[So war das. Wir machten gemeinsam eine Hormonbehandlung. Der Sex hat alles verändert. Das war schon eine erstaunlich intensive Erfahrung. Ich muss sagen, dass es mir auf lange Sicht gut getan hat. Es hat mich kreativ weitergebracht. Ich habe es genossen. Sogar sehr. Und Christian auch, das weiß ich.]« »[Woher wissen Sie das?]«, fragte der Hund.

»[Eine Frau weiß das eben ... Ich glaube, es war die stärkste erotische Erfahrung meines ganzen Lebens! Ich habe Dinge getan, die ich als junge Frau niemals getan hätte. Wenn man jung ist, bedeutet einem Sex zu viel. Man geht zu ernsthaft und verkrampft heran…]«

»[Berichten Sie weiter]«, meinte der Hund. »[Sie sollten uns ruhig mehr erzählen, solange Sie dazu aufgelegt sind.]«

»[Na ja, gewisse Dinge wie - also, wir haben gern Verkleiden gespielt. Im Bett.]« Sie lächelte strahlend. »[Ihm hat’s auch gefallen, es war für uns beide wunderbar. Eine Art von Rausch. Ein Hormonrausch. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du gern einen Blick in meine medizinische Akte werfen.]«

»[Verkleiden?]«, fragte der Hund skeptisch. »[Das war schon alles? Das klingt ziemlich unschuldig.]«

»[Aquinas, hör mir mal zu. Christian und ich sind beide vom Fach. Du hast ja keine Ahnung, wozu Profis fähig sind, wenn sie sich aufs Verkleiden verlegen.]«

Das Publikum lachte, offenbar auf Aufforderung.

»[Wann war das?]«, fragte der Hund.

»[Na ja]«, antwortete die Schauspielerin, »[vor etwa achtzehn Monaten - ich will nicht sagen, dass wir die Sache leid waren, aber wir waren sicherlich ruhiger geworden. Dann erfuhr Christian bei einer Routineuntersuchung, dass er Zysten in der Blase hatte. Das kam von den Hormonen. Christian beschloss, die Behandlung abzubrechen. Ich tat natürlich das gleiche. Und in dem Moment verlor unsere Beziehung an Schwung. Wir wurden ... irgendwie verlegen im Umgang miteinander. Wir lebten und schliefen nicht mehr zusammen.]«

»[Das ist bedauerlich]«, bemerkte der Hund wenig einfallsreich.

»[Mit dreißig mag man das so sehen.]« Die Schauspielerin zuckte die Achseln. »[Aber wenn man erst einmal sechzig ist, dann findet man sich mit den Tatsachen des Lebens ab.]« Dünner Applaus.

Die Schauspielerin straffte sich erregt. »[Ich verstehe mich noch immer gut mit ihm! Wirklich! Ich würde jederzeit wieder mit Christian Mancuso zusammenarbeiten. Bei welchem Projekt auch immer. Er ist ein guter Schauspieler! Ein wahrer Profi! Wegen unserer erotischen Affäre habe ich keinerlei Schuldgefühle. Sie hat uns beiden geholfen. In künstlerischer Hinsicht.]«

»[Würden Sie es wieder tun?]«

»[Also ... ja! Vielleicht ... Wahrscheinlich nicht. Nein, Aquinas. Ich will ganz offen sein. Nein, ich würde es nicht wieder tun.]«

Die Tür öffnete sich knarrend. Ulrich trat ein und rief etwas auf deutsch. Der Übersetzer zeigte sich überfordert. Das kleine Gerät vermochte sich nicht zu entscheiden, ob es Mayas Aufmerksamkeit auf Ulrich oder das Fernsehgeplapper lenken sollte, und verstummte daher.

Maya schaltete den Fernseher aus. Der Übersetzer schaltete sich mit dem sprichwörtlichen leisen Knacken wieder ein.

»[Ich hoffe, du magst chinesisches Essen]«, sagte Ulrich.

»Ich liebe die chinesische Küche.«

»[Das habe ich mir gedacht. Kleingehackte Bröckchen, die nach nichts aussehen. Genau das Richtige für eine Kalifornierin.]« Er reichte ihr einen Karton und Essstäbchen.

Sie setzten sich auf den kalten Boden und aßen. Ulrich blickte sich im Zimmer um. »[Du hast einiges umgestellt.]«

»Ich hab aufgeräumt.«

»[Du bist ein richtiger Schatz]«, meinte Ulrich, hingebungsvoll kauend.

»Wozu verwahrst du den ganzen Krempel? Du hättest das Zeug längst verkaufen sollen.«

»[So einfach ist das nicht. Man kann die Batterien verkaufen. Für Batterien ist auf dem Schwarzmarkt immer Bedarf. Alles andere ist zu gefährlich. Besser, man wartet ab, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.]«

»Offenbar wartest du schon eine ganze Weile. Das Zeug ist völlig verstaubt, außerdem leben Mäuse darin.«

Ulrich zuckte die Achseln. »[Wir haben uns überlegt, eine Katze anzuschaffen, aber wir kommen hier nicht häufig her.]«

»Weshalb stiehlst du überhaupt, wenn du nicht vorhast, deine Beute zu verkaufen?«

»[Oh, wir verkaufen sie!]«, beharrte er. »[Klar verkaufen wir sie! Ein kleiner Zusatzverdienst ist nie verkehrt.]« Er wedelte mit den Essstäbchen herum. »[Aber das ist nicht unser Hauptbeweggrund, verstehst du. Wir leisten einfach unseren Beitrag dazu, die gerontokratische Bourgeoisie zu ärgern.]«

»Klar«, meinte sie skeptisch.

»[Geld ist nicht alles im Leben. Gerade eben hatten wir Sex]«, erklärte Ulrich triumphierend. »[Weshalb redest du über Geld?]«

»Ich weiß nicht, mir war eben danach.«

»[Vielleicht hast du wirklich einen Grund, über Geld zu reden. Du bist eine Illegale. Ich aber bin europäischer Staatsbürger! Man gibt mir zu essen, man gibt mir Obdach und Erziehung, man unterhält mich sogar, und das alles kostenlos! Sollte ich mich freiwillig stellen, würde man sogar nützliche Beschäftigungen wie Unkraut jäten und den Wald aufräumen und anderen gesunden, öden Blödsinn für mich finden. Ich brauche nicht zu stehlen, um zu überleben. Ich bin ein Dieb, weil ich anders denke.]«

»Warum leistest du dann nicht unmittelbarer Widerstand, wenn du schon so wunderbar radikal bist?«

»[Ich rebelliere auf die Art, die mit einem Maximum an Erniedrigung und einem Minimum an Aufwand und Risiko einhergeht! Touristen zu bestehlen ist optimal.]«

Maya verspeiste das zerkleinerte chinesische Protein und musterte Ulrich von oben bis unten. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das ernst meinst, Ulrich. Ich glaube, du bist besessen davon, Touristen zu beklauen. Und ich glaube, du hortest dieses ganze Zeug, weil du dich von deinen wundervollen illegalen Trophäen nicht trennen kannst.«

Ulrich stocherte mit den Essstäbchen im Karton. Sein zarter milchweißer Jünglingshals überzog sich mit Röte. »[Scharfsinnig geschlossen, Liebling. Sowas Ähnliches hat auch der Motivationsberater in der Schule immer gesagt. Und jetzt sagst du es. Also, worauf willst du hinaus?]«

»Also, es gibt hier ein paar hübsche Sachen, aber nicht das, was ich bräuchte. Darauf will ich hinaus.«

Ulrich verschränkte die Arme. »[Und was brauchst du, kleine Maus?]«

»Bessere Schuhe«, zitierte sie. »Kontaktlinsen. Geldkarten. Perücken. Hautfärbemittel. Minimale Deutschkenntnisse. Einen Stadtplan. Etwas zu essen. Ein Bad. Ein hübsches warmes Bett.«

Ulrich zuckte zusammen. »[Du hast ein gutes Gedächtnis.]«

»Das für den Anfang«, sagte sie. »Außerdem käme mir ein gefälschter Ausweis sehr gelegen.«

»[Den Ausweis kannst du vergessen]«, knurrte er. »[Die Bullen haben das Fälschungsproblem längst gelöst. Leichter wäre es, den Mond zu fälschen.]«

»Aber du könntest diesen wertlosen Plunder verkaufen, und den Rest behalten wir.«

»Vielleicht. Schon möglich«, antwortete er auf englisch. »Aber du hast mir was vorgemacht. Du hättest mich in deine ehrgeizigen Pläne einweihen sollen, bevor wir ein Paar wurden.«

Sie schwieg. Es rührte sie, dass er sie als Paar bezeichnet hatte. Darin zeigte sich eine so reizende jugendliche Hingabe, dass es ihr beinahe Leid tat, ihn auszunutzen, obwohl er es ihr unglaublich leicht machte.

Sie aß methodisch. Ihr verbissenes Schweigen fraß sich in ihn hinein wie eine langsam reagierende Säure.

»[Also, ich wollte es sowieso verkaufen]«, sagte schließlich Ulrich, prahlerisch und nicht wahrheitsgemäß. »[Es gibt da ein paar Möglichkeiten. Gute Möglichkeiten. Aber leicht ist es nicht. Es ist riskant.]«

»Lass mich das Risiko tragen«, erwiderte sie und zerschmetterte ihn mit einem einzigen Schlag. »Weshalb solltest du ein Risiko eingehen? Das ist unter deiner Würde. Ich sehe dich in der Starrolle des geheimen Drahtziehers. Des wahnsinnigen Verbrechergenies. Hast du mal den alten Spielfilm ›Dr. Mabuse, der Spieler‹ gesehen?«

»[Was redest du denn da?]«

»Es ist ganz einfach, Ulrich. Ich mag das Risiko. Ich liebe das Risiko. Risiko ist mein Leben.«

»[Das ist wunderbar]«, sagte Ulrich. Er wirkte sehr niedergeschlagen.

 

Sie verbrachte zwei Tage in Munchen und fuhr mit ihrem gestohlenen U-Bahnticket umher; am besten gefiel ihr der Viktualienmarkt. Auf diesem alten Marktplatz waren in vorindustrieller Zeit einmal Lebensmittel, ›Viktualien‹, feilgeboten worden, jetzt aber war er ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche und Touristen, wo viele Bargeschäfte abgeschlossen wurden. Es wurden auch noch immer ein paar Lebensmittel verkauft, unter anderem die allgegenwärtigen Munchener ›Weißwürste‹, vor allem aber Touristentinneff und Straßenkleidung.

Die Straßenkleidung hatte es ihr angetan. Außerdem brauchte sie unbedingt richtige Kosmetika. Bislang hatte sie sich mit dem halb eingetrockneten Zeug aus Ulrichs gestohlenen Handtaschen beholfen - in einer war sogar eine hässliche Perücke gewesen -, doch sie wollte ihre eigenen Vorstellungen verwirklichen, mit den richtigen Farben, greller, bunter, fremdartiger. Auf dem Viktualienmarkt gab es Verkaufsbuden mit mysteriösen deutschen Kosmetika. Kosmetika gegen Bares. Lippenstift - mit lichtreflektierenden Farbpigmenten, Sehr modisch. Äußerst frivol! Radikales Lifting und Intensivpeeling. Der Kampf mit dem Spiegel. Äußerst feminin! Schönheitscocktail, die beruhigende Feuchtigkeitscreme. Revitalisierend! Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen! Die Eleganz der neuen Diva!

Für den Körper: Eau essentielle, le parfum. Das Parfüm duftete betörend. Zufällig ergatterte Maya eine Gratisprobe eines klassischen Parfums, das sie aus besonderem Anlass vor sechzig Jahren einmal angelegt hatte. Der Duft versetzte sie in einen solchen Zustand der Verzückung, dass sie die Handtasche fallenließ und beinahe zusammengebrochen wäre. Elixier des Lebens! Einiges fotografierte sie. Anderes stahl sie.

Am dritten Tag packte Ulrich Maya und einen mit sorgfältig ausgewählter Diebesbeute prall gefüllten Matchbeutel in einen gestohlenen Wagen. Sie ließen Munchen hinter sich und fuhren in die Außenbezirke von Stuttgart. Maya trug die Jacke, eine etwas zu enge Thermoskihose und schicke gestohlene Wanderstiefel. Sie hatte eine neue Perücke aufgesetzt, einen wirren, gelockten Haarschopf. Und dazu trug sie ein hübsches buntes Halstuch. Sonnenbrille. Grundierung, Rouge, Wimperntusche, falsche Augenwimpern, Lippenstift. Lackierte Finger- und Zehennägel, Fußwachs, Nährlotion und ein Duft, der sie Mia ein wenig näherbrachte. Wenn sie sich wieder ganz wie Mia fühlte, würde sie sich von alldem wieder lösen.

Es war ein kalter, regnerischer Tag. »[Ein Freund von mir hat den Wagen geklaut]«, erzählte Ulrich. »[Er hat sich am Bordrechner zu schaffen gemacht. Ich hätte natürlich auch einen Wagen mieten können, aber dann hab ich dran gedacht, wohin wir wollen und was wir transportieren. Ich mache mir Sorgen, dass man unseren Weg zurückverfolgen könnte, sollte man zufällig den Speicher überprüfen. Ein gestohlener und dummer Wagen ist für uns sicherer.]«

»Natürlich.« Er war ja so komisch. Sie hatte sich in kürzester Zeit an ihn gewöhnt. Der Sex mit Ulrich war vergleichbar mit dem Verlust ihrer Unschuld. Die gleiche milde Verachtung für den Mann und das gleiche Triumphgefühl, ihre Kindheit endgültig überwunden zu haben, hatte sie auch damals verspürt. Sex war wie schlafen, bloß besser für den Kreislauf und vergnüglicher. Sex sollte man haben, wenn man sich innerlich wie ein Trümmerfeld von Felsbrocken fühlte. Er half gegen die Einsamkeit, und hinterher fühlte man sich wohlig entspannt. Jedes Mal, wenn sie es miteinander trieben, stellte sich bei ihr das Gefühl ein, in ihrer Haut stecke mehr, als sie ahnte. Sie waren jetzt seit drei Tagen zusammen und hatten seitdem etwa zehnmal gebumst. Zehn Kletterhaken in einer Felswand, hoch über allem, was der Vergangenheit und Mia angehörte.

»[Ich wünschte, ich könnte die Automatik vollständig ausschalten und den Wagen von Hand steuern]«, meinte Ulrich, während er beobachtete, wie die alten Vororte von Munchen vorüberzogen. »[Das muss aufregend sein.]«

»Durchs Fahren von Hand sind mehr Leute umgekommen als im Krieg.«

»[Ach, ständig wird von den Todesraten geredet, als wenn Todesraten das einzige wären, worauf es im Leben ankommt ... Es wird dir bestimmt gefallen. Die Leute, die wir treffen, sind wahre Feinde der Politas.]«

Der Wagen fädelte sich auf die Autobahn ein und fuhr mit wahnsinniger Geschwindigkeit fast lautlos dahin. Die anderen europäischen Wagen waren stromlinienförmig und höllisch schnell und sahen aus wie angelutschte Bonbons. Manche Fahrer waren eingenickt oder lasen. »Hat die Politas denn richtige Feinde?«

»[Aber sicher doch! Viele! Unzählige! Ein breites Spektrum von Verweigerern und Dissidenten! Amische. Anarchisten. Andamaner. Australische Ureinwohner. Einige afghanische Stämme. Gewisse amerikanische Indianer. Und das sind bloß die, die mit ›A‹ anfangen!]«

»Prima«, meinte Maya.

»[Du darfst nicht glauben, die Leute duckten sich alle, bloß weil ihnen die Politas ein paar zusätzliche Lebensjahre zu bieten hat.]«

»Fünfzig oder sechzig Jahre. Und es werden immer mehr.«

»[Ein wundervolles Bestechungsgeld]«, räumte Ulrich ein. »[Aber auf der ganzen Welt gibt es Leute, die sich nicht korrumpieren lassen. Sie leben außerhalb des medizinischen Gesetzes. Außerhalb der Politas.]«

»Über die Amischen weiß ich Bescheid. Das sind keine Gesetzlosen. Die Leute bewundern sie. Sie beneiden sie um ihre Ernsthaftigkeit und Schlichtheit. Außerdem betreiben die Amischen noch richtige Landwirtschaft. Das finden die Leute rührend.«

Ulrich trug wie gewöhnlich sein Schafsfell. Er zupfte verärgert an einem kahlen Fleck am Ellbogen. »[Ja, die Amischen sind in Mode, aber das ist billig. Die Politas hat Popstars aus ihnen gemacht. Auf diese Weise versucht die Politas, alles Subversive zu integrieren. Sie stellt sie in ihrem Kulturzoo aus. Damit sie sich ihrer sogenannten Toleranz rühmen kann, während gleichzeitig der kulturellen Bedrohung ihrer Hegemonie die Spitze genommen wird.]«

Maya tippte sich ans Ohr. »Ich glaube, das Gerät hat alles übersetzt, aber es scheint mir nicht viel zu bedeuten.«

»[Es geht um die Freiheit! Um Mittel und Wege, sich seine Freiheit und individuelle Autonomie zu bewahren. Wer außerhalb des Gesetzes lebt, muss ein Gesetzloser werden.]«

Sie ließ sich das durch den Kopf gehen. »Vielleicht kannst du dir ein paar Jahre der Autonomie erstehlen. Die Vorsichtigen aber werden dich auf lange Sicht überleben.«

»[Das wird sich noch zeigen. Die Politas wurde für alte Menschen erschaffen. Das Regime selbst aber ist noch nicht so alt. Im Grunde setzt es sich zusammen aus einem Haufen panischer Tattergreise, die alles in Strickwolle hüllen wollen. Sie glauben, sie hätten ein tausendjähriges Reich begründet. Die Amischen sind schon seit vierhundert Jahren Amische. Warten wir mal ab, ob diese kläglichen Omas und Opas die Amischen überleben.]«

Am Horizont ragten die Hochhäuser von Stuttgart auf. Sie hatten vierhundert Stockwerke, bestanden aus geschuppter Gelatine und sahen aus wie Riesenfische. An der Spitze traten kleine weiße Fahnen aus reinem Wasserdampf aus. Sah man genauer hin, konnte man erkennen, dass die Wände der Häuser sachte atmeten. Falten werfend und funkelnd, ein und aus.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Stuttgart Indianapolis so ähnlich ist«, meinte Maya.

»[Warst du schon mal in Indianapolis?]«

»Mittels Telepräsenz.«

»[Ah, ja.]«

Sie betrachtete die Hochhäuser in der Ferne und seufzte. »Man sagt, Stuttgart sei die bedeutendste Kunstmetropole auf der ganzen Welt.«

»[Ja]«, meinte Ulrich versonnen, »[Stuttgart ist sehr künstlich.]«

Große grüne Hügel umgaben die Stadt. Die Hügel bestanden aus dem komprimierten Schutt des alten Stadtkerns. Stuttgart hatte unter den Seuchen der vierziger Jahre schwer zu leiden gehabt. Der größte Teil der Stadt war niedergebrannt, nachdem die Bevölkerung in Panik geflohen war. Die Rückkehrer hatten die verkohlten, ansteckenden Trümmer abgerissen und Stuttgart in den grellen und visionären fünfziger und sechziger Jahren vollständig neu aufgebaut. Die Architekten des neuen Stuttgart waren durch keinerlei Überreste der Vergangenheit behindert worden, daher krempelten sie in einem biomodernistischen Taumel die Ärmel hoch und versuchten, faszinierende Sinnbilder ihrer eigenen kulturellen Epoche zu erschaffen. Menschen neigen ein wenig zur Hysterie, wenn sie sich selbst zu beweisen suchen, dass sie zu Recht zu den Überlebenden gehören.

Der Wagen fuhr von der Autobahn ab. Der Nieselregen hatte aufgehört, und die blasse Wintersonne kam hervor. Die Hügel waren mit kahlen, jungen Walnussbäumen bestanden. An manchen Stellen ragten pittoreske Trümmerteile aus dem Erdboden hervor.

Sie parkten und stiegen aus. Ulrich gab dem Wagen Anweisung, umherzufahren und auf Befehl zurückzukommen. »[Auf der Straße ist es sicherer]«, meinte er und fädelte das Netzgerät auf eine Kordel, die er auf der Hemdinnenseite befestigt hatte. »[Wir wollen schließlich nicht unmittelbar neben diesen Leuten parken.]«

Sie stapften bergan, durch den jungen Wald. Sie kamen an zwei Männern in Mänteln aus braunen Lederflicken vorbei, mit dunklen Bärten, metallenen Halsbändern, Ohrringen. Die Männer saßen auf Klappstühlen unter einem großen Sonnenschirm, vor sich einen kleinen Korbtisch. Einer der Männer fotografierte systematisch die Passanten. Der andere sprach in einer Maya unbekannten Sprache in ein Handy. Er nickte und grinste beim Reden und wirbelte einen meterlangen Bergstock umher. Der Stock war hübsch poliert, schwer, sehr massiv. Er sah aus, als sei er schon häufiger gegen anderer Leute Köpfe eingesetzt worden.

Die beiden Wachposten nickten leicht, als Maya und Ulrich an ihnen vorüberstapften. Grüppchen von Eurobürgern bahnten sich einen Weg zwischen den Bäumen einher, vermischt mit großen Trauben von Fremden, die sie mit verlegenem Gelächter begrüßten.

Auf der anderen Seite des Hügels gelangten sie zu einer Lichtung. Auf dem Hang waren große, schwarze Zelte verteilt, Lagerfeuer qualmten, und überall standen mit allerlei Waren und Ramsch überhäufte Klapptische herum. Dutzende von Gebrauchtwagen nahmen mit Seilen abgeteilte Parkplätze ein;

davor feilschten lautstark Gruppen bärtiger Männer mit Perlen im Ohrläppchen, paillettenverzierten Hüten und silbernen Halsketten. Dunkeläugige Frauen in bunt gestreiften Röcken, mit Zöpfen, Ohrringen und silbernen Fußspangen schlenderten durchs Lager. Erstaunlich viele Kinder tollten umher.

Ulrich wirkte angespannt und lächelte starr. Zahlreiche Deutsche schlenderten an den Tischen vorbei, überwiegend junge Leute, doch die Fremden waren weit in der Überzahl.

Diese Leute waren wirklich außergewöhnlich. Maya blickte in Gesichter, wie sie sie seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gesichter aus einer anderen Zeit. Krähenfüße, Altersflecken, ein Netzwerk von Falten. Ergraute Frauen, auf eine Art und Weise erschlafft, wie es eigentlich nicht mehr hätte vorkommen sollen. Patriarchische alte Männer in barbarischem Putz, deren Gesten stolz und sogar bedrohlich wirkten.

Und die Kinder - haufenweise lärmende kleine Kinder. So viele Kinder an einem Ort zu sehen, war ausgesprochen ungewöhnlich. Und so viele Kinder aus einer einzigen ethnischen Gruppe an einem Ort versammelt zu sehen, war eine beispiellose Erfahrung.

»Was sind das für Leute?«, fragte Maya.

»[Das sind tsiganes.]«

»Was?«

»[Sie selbst bezeichnen sich als Roma.]«

Maya tippte sich ans Ohr. »Das Wort hat der Übersetzer auch nicht verstanden.«

Ulrich überlegte. »Das sind Zigeuner«, sagte er auf englisch. »Das ist ein großes Sammellager für europäische Zigeuner.«

»Wow. So viele unbehandelte Leute auf einem Fleck habe ich noch nie gesehen. Ich wusste ja gar nicht, dass es noch so viele Zigeuner gibt auf der Welt.«

Ulrich wechselte wieder ins Deutsche. »[Zigeuner sind gar nicht so selten. Man bemerkt sie bloß nicht. Die Roma haben ihre eigene Art des Umherreisens. Außerdem wissen sie, wie man sich versteckt. Diese Leute sind schon seit achthundert Jahren Ausgestoßene.]«

»Weshalb haben sich die Zigeuner mittlerweile nicht angepasst?«

»[Das ist eine interessante Frage]«, meinte Ulrich erfreut. »[Das habe ich mich auch schon häufiger gefragt. Wenn ich ein Zigeuner werden könnte, wüsste ich die Antwort, aber einen Gajo nehmen sie nicht bei sich auf. Wir sind nämlich beide Gajos, weißt du. Du bist Amerikanerin, und ich bin Deutscher, aber für diese Leute sind wir beide Gajos. Sie sind Nomaden, Ausgestoßene, Räuber, Taschendiebe, Betrüger, Anarchisten und dreckiges Lumpenproletariat, das weder Lebensverlängerung noch Geburtenkontrolle praktiziert!]« Ulrich musterte sie mit besitzergreifender Genugtuung, dann machte sein Lächeln tiefer Besorgnis Platz. »[Trotzdem sind all diese wunderbaren Eigenschaften noch längst kein Beweis dafür, dass es sich um romantische, wundervolle Menschen handelt.]«

»Oh.«

»[Wir wollen diesen Leuten Diebesgut verkaufen]«, rief Ulrich ihr in Erinnerung. »[Sie werden versuchen, uns übers Ohr zu hauen.]«

Drei Roma mit einem Lamm kamen an ihnen vorbei. Sogleich bildete sich ein Auflauf gaffender Gajos. Maya vermochte den drängelnden Leuten nicht über die Schulter zu blicken, hörte aber das angstvolle Blöken des Lamms und das Aufstöhnen der Menge, gefolgt von lauten Jubelrufen und schockiertem Seufzen.

»Die bringen das Tier ja um«, sagte sie.

»[Ja, das tun sie. Und dann häuten sie es ab, nehmen es aus, stecken den Kadaver auf einen Spieß und braten ihn über einem Feuer.]«

»Wozu?«

Ulrich lächelte. »[Weil Lammbraten hervorragend schmeckt. Ein bisschen Lammfleisch würde dir auch nicht schaden.]« Er kniff die Augen zusammen. »[Wenn du das Tier isst, dann macht es dir nicht mehr so viel aus, dass du ein schmutziges Vergnügen bei seiner Schlachtung empfunden hast. Die Leute werden gut dafür bezahlen, ein Tier zu essen, bei dessen Tod sie zugegen waren.]«

Am Fuße eines nahen Hügels bot ein Zigeuner akrobatische Vorführungen auf einem Motorrad dar. Das alte, unglaublich gefährliche Gefährt hatte keinen Autopiloten. Der benzinbetriebene Motor erzeugte mit seinen Verbrennungskammern ein ohrenbetäubendes Getöse und spuckte giftige blaue Qualmwolken aus.

Der Zigeuner stellte sich auf den Sitz, vollführte einen Handstand auf dem Lenker, fuhr knatternd bergauf und bergab, raste eine Rampe entlang und setzte über ein Metallfass hinweg. Er trug Stiefel, eine mit Pailletten besetzte Lederjacke und keinen Helm.

Schließlich sprang er behende von der Maschine herunter, breitete die Arme aus und vollführte auf dem feuchten, von Reifenspuren durchpflügten Erdboden einen flotten kleinen Jig.

Die Gajos waren verblüfft von der Tollkühnheit des Mannes. Sie spendeten frenetischen Applaus. Einige bewarfen ihn mit dünnen, kleinen Glitzerscheiben. Ein junger Roma klaubte sie eifrig aus dem abgestorbenen Wintergras, während der Held seine barbarische Maschine davonschob.

»Womit haben sie ihn beworfen?«

»[Mit Münzen. Mit Silbermünzen. Die Zigeuner sind Silberschmiede. Will man ernsthaft mit ihnen ins Geschäft kommen, muss man ihnen Silbermünzen anbieten. Dass sie Münzen verwenden, stürzt die Finanzbeamten in tiefe Verwirrung.]«

»Ein Schwarzmarkt, der auf altem Metallgeld basiert«, meinte Maya. »Das ist klasse.« Sie horchte dem Klang des Wortes nach. »Klasse. Super.«

»[Ja, wir werden unser lästiges Diebesgut heute gegen Silbermünzen eintauschen. Münzen lassen sich leichter verstecken, lagern und transportieren.]«

»Bekommen wir echte Silbermünzen? Ich meine, historische europäische Währung?«

»Mal abwarten. Sollte irgendein Zigeuner versuchen, uns die Taschen zu leeren oder den Kopf einzuschlagen, dann sind die Münzen wahrscheinlich echt. Ansonsten handelt es sich um wertlose Fälschungen aus Blei.«

»Du zeichnest ein ziemlich negatives Bild von den Roma.«

»[Negativ? Wieso denn negativ?]« Ulrich zuckte die Achseln. »[Sie haben nie einen Krieg erklärt. Sie haben nie ein Pogrom veranstaltet. Sie haben nie andere Menschen versklavt. Sie haben weder Götter noch Könige, noch eine Regierung. Sie sind ihre eigenen Herren. Daher verachten sie uns und rauben uns aus und verhöhnen unsere Gesetze. Sie sind ein fremdes Volk und stehen wahrhaft außerhalb der Gesellschaft. Ich bin ein Dieb, und du bist eine Illegale, aber im Vergleich mit ihnen sind wir verdorbene Kinder der Politas, bloße Amateure.]« Er seufzte. »[Ich mag die Roma und bewundere sie sogar, aber für sie bin ich bloß irgendein verrückter Gajo.]«

Die Zigeuner verkauften Papierblumen, Wäscheklammern, Teppichklopfer, Besen, Matten aus Kokosfaser, Steppdecken, Gebrauchtkleidung, Gebrauchtreifen, Autositze. Auf einigen Tischen waren Glücksbringer, Parfums auf pflanzlicher Basis und seltsame Tinkturen ausgebreitet. Die Zigeuner hingen offenbar sehr an ihren alten Autos und Lastern; die geräumigen bunten Wohnwagen waren mit Plaketten gespickt. Es wurden sogar ein paar Schafe ausgestellt, säuberlich geschoren und gestriegelt wie Museumsstücke, auch einige Pferde mit Glöckchen am Zaumzeug, die aussahen, als würden sie sogar noch zu Arbeiten herangezogen.

Überall wurde eifrig gefeilscht, einhergehend mit viel Gefuchtel und Bartgestreichel, doch nur wenige Waren wechselten tatsächlich den Besitzer. Die hinter den Tischen postierten Frauen machten zudem nicht den Eindruck, sie nähmen den Kleinhandel ernst. »Ulrich, das ist wirklich interessant. Aber das ist nicht die eigentliche wirtschaftliche Aktivität.«

»[Was erwartest du denn? Das sind keine effizienten, fleißigen Zigeuner. Zigeuner, die effizient und fleißig werden, bleiben keine Zigeuner.]«

»Ich finde es unglaublich, dass sie sich keiner lebensverlängernden Behandlung unterziehen. Sie lassen sich noch nicht einmal untersuchen, hab ich Recht? Warum nicht? Weshalb ziehen sie es vor, auf diese Weise zu leben und zu sterben? Was treibt sie an?«

»[Du bist sehr neugierig, Schatz.]« Ulrich verschränkte die fellumhüllten Arme vor der Brust. »[Also gut, ich erklär’s dir. Vor fünfzig Jahren gab es in ganz Europa Zigeunerpogrome. Die Leute glaubten, die schmutzigen Zigeuner verbreiteten die Pest. Es hieß, die Zigeuner verstießen gegen die Quarantänebestimmungen. Daher griffen die Leute, stinknormale zivilisierte Europäer, zu Beilen, Schaufeln, Ketten und Eisenstäben, rannten in die Romaghettos und Romalager, verprügelten die Romas, quälten und vergewaltigten sie und steckten ihre Unterkünfte in Brand.]«

Maya war wie vor den Kopf geschlagen. »Ja, das war eine schreckliche Zeit. Damals gab es alle möglichen Verirrungen…«

»[Das waren keine Verirrungen!]«, erklärte Ulrich triumphierend. »[Der Rassismus ist tief verwurzelt. Andere Menschen zu verachten und ihnen den Tod zu wünschen - das ist integraler Bestandteil der menschlichen Psyche. Das muss man niemandem erst beibringen. Die Menschen warten bloß auf eine Gelegenheit, es auszuleben.]«

Er zuckte die Achseln. »[Willst du die Wahrheit über die Zigeuner hören? Das hier ist Europa, und wir nähern uns dem Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Leute, die heute an der Macht sind, haben auch schon vor sechzig Jahren gelebt, in der Zeit der Seuchen und der Zigeunerpogrome. Heute bringen sie keine Zigeuner mehr um. Nein, wenn sie die Zigeuner heute überhaupt zur Kenntnis nehmen, verhalten sie sich wie oberflächliche Romantiker und affektierte Snobs, die ein feudales Relikt hegen und pflegen. Würde eine neue Seuche auftreten, könnte es jederzeit wieder zu Pogromen kommen.]«

»Das klingt grausam.«

»[Grausam, aber es stimmt. Die Roma haben wahrscheinlich tatsächlich die Pest übertragen. Das ist das Komische dabei, Maya. Und weißt du, was noch komischer ist? Wären die Roma nicht selbst eingefleischte rassistische Chauvinisten, hätten wir den letzten Zigeuner schon vor Jahrhunderten assimiliert.]«

»Du bist wirklich grässlich, Ulrich. Willst du mich schockieren? Es wird keine Seuchen mehr geben. Die Zeit der Seuchen ist vorbei. Wir haben alle Seuchen ausgemerzt.«

Ulrich schnaubte. »[Lass dir nicht von mir die Laune verderben, Schatz. Du wolltest herkommen, nicht ich. Du hast doch die Liste mit den Sachen? Dann schau doch mal, ob sie dir was verhökern.«

Maya entfernte sich. Sie nahm ihren Mut zusammen und näherte sich einer Zigeunerin, die hinter einem Tisch saß. Die Frau trug ein gemustertes Kopftuch und rauchte eine kurze Tonpfeife.

»Hallo. Sprechen Sie englisch?«

»Ein wenig.«

»Ich habe ein paar Sachen, die nützlich für Reisende sind. Ich würde sie Ihnen gern verkaufen.«

Die Frau überlegte. »Gib mir deine Hand.« Sie beugte sich vor, besah sich eingehend Mayas Handfläche, dann lehnte sie sich auf dem leinwandbespannten Klappstuhl wieder zurück. Sie stieß eine Rauchwolke aus. »Du bist von der Polizei.«

»Ich bin nicht von der Polizei, Ma’am.«

Die Frau musterte Maya von oben bis unten. »Okay, vielleicht weißt du nicht, dass du von der Polizei bist. Aber du bist ein Bulle.«

»Ich bin keine Polizistin.«

Die Frau nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete mit dem Stiel auf Maya. »Du bist kein junges Mädchen. Du kleidest dich wie ein junges Mädchen, aber das ist Täuschung. Du kannst vielleicht den Kerl dort drüben zum Narren halten, mich aber nicht. Hau ab und lass dich hier nicht wieder sehen!«

Maya entfernte sich eilig. Sie war verwirrt. Sie hielt Ausschau nach einem Händler, der kein Zigeuner war.

Sie entdeckte eine junge Deutsche mit modisch frisiertem rötlichem Haar, wulstigen Lippen und einem großen Sortiment an Gebrauchtkleidung. Hier rechnete sie sich bessere Chancen aus.

»Hallo. Sprichst du englisch?«

»Aber sicher.«

»Ich würde dir gern etwas verkaufen. Klamotten und andere Sachen.«

Die Frau nickte bedächtig. »Das ist eine hübsche Jacke. Tres chic.«

»Danke.«

Die Frau starrte sie nach Art der Deutschen unverhohlen an. Ihre Brauen bildeten zwei makellose Bögen, und sie hatte lange, geschwungene Wimpern. »Du lebst in Munchen, nicht wahr? Ich habe diese Jacke am Viktualienmarkt gesehen. Du warst zweimal in meinem Laden und hast dir Klamotten angeschaut.«

»Tatsächlich?«, sagte Maya. Ihr sank der Mut. »Ich lebe in Munchen, hier bin ich bloß auf der Durchreise.«

»Amerikanerin?«

»Ja.«

»Aus Kalifornien?«

»Ja.«

»Los Angeles?«

»Bay Area.«

»San Francisco, hätte ich mir denken können. Dort stellt man solche Polymere her. Weißt du, diese Jacke hätte man binnen ein paar Stunden auch in Stuttgart anfertigen können. Und zwar besser.«

Ulrich trat hinzu. Die Frau schaute zu ihm hoch. »Ciao, Jimmy.«

»Ciao, Therese.«

Sie unterhielten sich auf deutsch. »[Deine neue Freundin?]«

»[Ja.]«

»[Sie ist sehr hübsch.]«

»[Das finde ich auch.]«

»[Versuchst du, neue Ware loszuschlagen?]«

»[Keineswegs, Schatz]«, antwortete Ulrich eilig. »[In Munchen würde ich nie was verhökern, ich will doch keine Bekannten mit reinziehen. Sie weiß es nicht besser, daher bin ich hergekommen, um die Sache zu Ende zu bringen. Ist ja nichts passiert. In Ordnung?]«

»Sie hat dich ›Jimmy‹ genannt«, sagte Maya.

»Manchmal reagiere ich auf den Namen«, antwortete Ulrich auf englisch.

Therese lachte und wandte sich auf englisch an Maya. »Armes kleines Würstchen! Liebst du deinen neuen Freund? Unser Jimmy ist ein wahrer Tausendsassa. Ein wahrer Schatz.«

Ulrich runzelte die Stirn. »Sie hat einen kleinen Fehler gemacht, das ist alles.«

»Ich liebe ihn nicht«, sagte Maya laut. Sie nahm die Sonnenbrille ab. »Ich brauche bloß ein paar Sachen.«

»Was denn?«

»Kontaktlinsen. Silbergeld. Perücken. Stadtpläne. Etwas zu essen. Ein Bad. Ein hübsches warmes Bett. Und ich möchte ein wenig Deutsch lernen, damit ich nicht mehr wie eine Idiotin herumlaufe.«

»Sie ist eine Illegale«, sagte Ulrich und legte die Hand um Mayas Oberarm. »Die Kleine ist heiß.«

Therese musterte sie beide. »Was habt ihr denn zu verkaufen?«

Ulrich zögerte. »Gib ihr die Liste«, meinte er schließlich. Therese besah sich die Liste. »Ich kann das Zeug losschlagen. Falls es in gutem Zustand ist. Wo ist es?«

»Im Kofferraum meines Wagens.«

Therese wirkte überrascht. »[Jimmy, du hast einen Wagen?]« »[Eine Leihgabe von Herrn Schrottplatz.]«

»[Du hast ja hübsche Freunde.]«

Ulrich wandte sich mit säuerlichem Lächeln an Maya. »[Bei der Aufzählung von Feinden der herrschenden Ordnung eben hab ich vergessen, die Trödelhändler zu erwähnen.]«

»[Zwanzig große Silberstücke]«, meinte Therese gelangweilt.

»[Dreißig.]«

»[Fünfundzwanzig.]«

»[Siebenundzwanzig.]«

»[Geh und hol das Zeug. Zeig mir die Ware.]«

»Komm mit«, sagte Ulrich und zupfte Maya am Arm.

»Lass die Amerikanerin mal einen Moment in Ruhe«, sagte Therese, »ich möchte mich ein bisschen auf englisch unterhalten.«

Ulrich überlegte kurz. »Mach keine Dummheiten«, sagte er zu Maya und ging.

Therese musterte Maya kühl und abschätzend. »Magst du nette Jungs?«

»Sie haben ihre Vorzüge, schätze ich.«

»Also, das ist kein netter Junge.«

Maya lächelte. »Das weiß ich.«

»Wann bist du nach Munchen gekommen? Wann hat er dich aufgelesen?«

»Vor drei Tagen.«

»Was, erst vor drei Tagen, und ihr seid schon in einem Zigeunerlager und verhökert Hehlerware? Du musst hübsche Klamotten wirklich sehr mögen«, sagte Therese. »Wie heißt du?«

»Maya.«

»Weshalb bist du in Munchen? Wer ist hinter dir her? Die Bullen?«

»Schon möglich.« Sie zögerte, dann beschloss sie, das Wagnis einzugehen. »Ich glaube, vor allem Leute aus dem Medizinbusiness.«

»Medizinbusiness? Und was ist mit deinen Eltern?«

»Nein, meine Eltern sind bestimmt nicht hinter mir her.«

»Also«, sagte Therese mit weltmännischer Selbstsicherheit, »die Leute aus dem Medizinbusiness kannst du vergessen. Die stellen niemals Nachforschungen an, weil sie wissen, dass man sich irgendwann eh wieder bei ihnen meldet. Und die Bullen - also, solange die Eltern keinen Druck machen, lassen sich die Munchener Bullen wegen einer Ausreißerin nicht aus der Ruhe bringen.«

»Das freut mich zu hören.«

»Schlaf unter Brücken. Iss Brezeln. Dann kommst du schon klar. Und deinen Freund solltest du sausen lassen. Das ist ein fieser Typ. Eines Tages werden ihm die Bullen den Schädel einschlagen und in seinem Hirn rühren, als wär’s Haferschleim. Und ich werde ihm bestimmt keine Träne nachweinen.«

»Er hat mir von den europäischen Radikalen erzählt.«

»Munchen ist kein gutes Pflaster für dieses Thema, meine Liebe«, sagte Therese trocken. »Wie sieht eigentlich dein Haar aus, wenn du keine Perücke trägst?«

Maya nahm Halstuch und Perücke ab und legte sie auf den Tisch.

»Zieh die Jacke aus und dreh dich mal um«, sagte Therese.

Maya schälte sich aus der Jacke und drehte sich langsam auf der Stelle.

»Du hast einen interessanten Knochenbau. Gehst du oft schwimmen?«

»Ja, das stimmt«, sagte Maya. »Ich bin in letzter Zeit viel geschwommen.«

»Ich glaube, ein Mädchen wie dich könnte ich gebrauchen. Ich bin nicht so schlimm. Kannst dich ruhig in der Stadt nach mir erkundigen, jeder wird dir sagen, Therese ist in Ordnung.«

»Bietest du mir einen Job an?«

»Einen Job könnte man es nennen«, antwortete Therese. »Es geht um Mode, um Kleidung, um die Modebranche. Du weißt, worum es geht, nicht wahr? Du bekommst von mir Klamotten und einen Schlafplatz.«

»Ich brauche wirklich einen Job«, sagte Maya. Auf einmal brach sie in Tränen aus. »Tut mir Leid«, sagte sie und wischte sich über die Wangen. »Es ist komisch, in letzter Zeit fügt sich alles. Aber bitte gib mir den Job, ich brauche einen Ort, an den ich mich zurückziehen und wo ich wieder zu mir kommen kann.«

Therese war gerührt. »Komm her und setz dich.«

Maya ging um den Tisch herum und nahm gehorsam auf Thereses Klappstuhl Platz. »Ich beruhige mich schon wieder, normalerweise bin ich nicht so, und ich werde auch bestimmt hart arbeiten.«

»Beruhig dich, Mädchen, hör auf zu plärren. Erzähl mir was von dir. Wie alt bist du?«

»Ich glaube, ich bin zwei Wochen alt.«

Therese seufzte. »Wann hast du zum letzten Mal richtig gegessen?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

Therese bückte sich und wühlte unter dem Tisch. Mit einer Tüte voller Regierungskekse und einer Mineralwasserflasche richtete sie sich wieder auf. »Hier. Iss das. Trink. Und vergiss nicht, wenn du mir auch nur eine Stecknadel klaust, werfe ich dich raus.« Sie blickte hangabwärts. »Welche Freude. Da kommt dein Freund zurück.«

Maya probierte die Kekse. Sie schmeckten wundervoll. Sie steckte sich eine ganze Handvoll in den Mund und mampfte wie ein Hamster.

Ulrich näherte sich schnaufend, mit gerötetem Gesicht, und warf den Matchbeutel auf den Tisch. »Lass uns übers Geschäft reden.«

»Prima«, meinte Therese. »[Übrigens, ich hab dein Mädel gerade für meinen Laden angeheuert.]«

»[Was?]« Ulrich lachte. »[Du machst doch Witze, oder? Sie kann sich ja nicht mal mit den Kunden unterhalten.]«

»[Ich brauche keine weitere Verkäuferin, ich brauche ein Model.]«

»[Therese, das ist wirklich kurzsichtig und kontraproduktiv von dir. Ich muss sagen, ich bin enttäuscht. Dass du mir das aus reiner Bosheit antust]«, sagte Ulrich. »[Ich dachte, du wärst über unseren kleinen Streit längst hinweg.]«

»[Ich und boshaft? Niemals! Die Kleine ist hübsch, sie kann nichts ausplaudern, und sie hat einen ausgewachsenen Vogel. Sie ist das perfekte Model.]«

»Du solltest dieser Frau nicht trauen«, wandte Ulrich sich auf englisch an Maya. »Sie hält dich für verrückt.«

»Das hast du auch gesagt«, entgegnete Maya kauend. Sie trank gluckernd ein paar Schlucke Mineralwasser. »Es ist ein Job, und ich bin eine Illegale. Das ist eine prima Gelegenheit für mich. Natürlich will ich sie ergreifen. Was hast du denn erwartet?«

Ulrich errötete. »Ich habe dir jeden Wunsch erfüllt. Ich habe alle deine Regeln eingehalten. Du bist undankbar.«

Maya zuckte die Achseln. »Jimmy, am Marienplatz gibt es drei Millionen Mädchen. Such dir eine andere. Ich komme allein zurecht.«

Ulrich riss den Beutel vom Tisch und warf ihn sich über die Schulter. »[Wenn du meinst, du würdest gesellschaftlich aufsteigen, bloß weil du in dem dämlichen kleinen Laden dieser Kuh arbeitest, dann täuschst du dich. Wenn du gehen willst, dann geh doch! Aber glaub ja nicht, du könntest wieder angekrochen kommen und um ein Leben in Freiheit betteln!]«

»Ihr Laden ist geheizt«, erklärte Maya.

Ulrich wandte sich heftig ab und schlurfte davon.

Lange Zeit schwiegen sie. »Mädchen, du bist ein richtig kalter Fisch«, sagte Therese schließlich mit einem Unterton von Bewunderung.