5
Macmillan ging mit dem unterschriebenen Befehl weg, das Haus zu verbrennen, und Holly blieb auf dem Bordstein hocken. Ihr Hintern war taub von dem kalten Beton, aber die Glückspillen wirkten noch und unterdrückten jedwedes Verlangen, etwas anderes zu tun, als hier zu sitzen und vor sich hinzugrübeln.
Hätte man sie an guten Tagen gefragt, was sie sich von ihrem Leben wünschte, hätte sie geantwortet: Erfolg, einen College-Abschluss und einen netten Freund, der als Ehemann in Frage kam. Im Moment hätte sie sich mit einem Kissen und einem warmen Mantel zufriedengegeben.
Wenige Minuten später trafen noch mehr Streifenwagen mit blinkenden Lichtern ein. War wieder etwas passiert?
»Miss Carver.« Einer der Sanitäter, ein dünner Mann mit schütterem Haar, ging auf sie zu. »Mr.Elliot fragt nach Ihnen.«
»Dr.Elliot«, korrigierte sie automatisch. »Ben ist Professor.« Sein Fachgebiet war Fünfte-Welt-Makroökonomie, was sich für Holly nach Sojafrühstücksflocken oder einer Grunge-Band mit intellektuellen Ambitionen anhörte. Dennoch war Ben anscheinend brillant.
Der Sanitäter indessen schien nicht beeindruckt. »Kommen Sie bitte mit mir?«
Langsam und steifgliedrig erhob Holly sich. Die Temperatur fiel, und ein kalter feuchter Wind kam auf. Noch vor dem Morgen würde es Regen geben.
Der Mann drehte sich um. »Mr., äh, Dr. Elliot will sich nicht ins Krankenhaus bringen lassen. Wir hoffen, dass Sie ihn überreden können. Es wäre wirklich gut, wenn wir ihn über Nacht zur Beobachtung mitnehmen, wie es allgemein üblich ist.«
»Ich versuch’s, aber ich sage Ihnen gleich, dass er ziemlich stur sein kann.«
Ben saß auf einer Rolltrage, die Füße seitlich herunterbaumelnd. Die Trage stand auf dem Gehweg neben dem Krankenwagen, wo sie den anderen Helfern, die immer noch hin- und herliefen, nicht im Weg war. Sie hatten Ben eine dünne graue Erste-Hilfe-Decke um die Schultern gehängt und eine Flasche Wasser gegeben, die er in einer Hand hielt. Ein Schlauch verlief von seinem Arm zu einem Infusionsständer. Sein längliches Gesicht war blass, seine Miene jedoch fast wie immer. Er saß nicht mehr wie das Kaninchen vor der Schlange beziehungsweise vor dem Schleimmonster.
Holly blieb vor ihm stehen und rang sich eine Herzlichkeit ab, die sie nicht empfand. »Machst du den netten Rettungssanitätern das Leben schwer?«
Bens Augenwinkel kräuselten sich unter einem angedeuteten Lächeln. »Du siehst furchtbar aus. Und du stinkst.« Er schnupperte an seinem Ärmel. »Genau wie ich.«
Die milde Empörung, die sich in Holly regte, bestätigte ihr immerhin, dass sie noch lebte. »Da rettet man einen Kerl vor dem klebrigen Tod, und er meckert! Was ist aus dem sensiblen New-Age-Ben geworden? Seine DVD-Sammlung war unterirdisch, aber wenigstens hatte er Manieren!«
»Tut mir leid, den hat das Blubbermonster gefressen.« Ben strich sich mit einer Hand über das Gesicht. »Nein, ehrlich, entschuldige. Das war blöd von mir!«
Holly stemmte die Hände in ihre Hüften. »Na gut, vielleicht bin ich dir gnädig, weil du schließlich fast tot warst und so. Findest du nicht, du solltest ins Krankenhaus mitfahren?«
»Ich bin nicht verletzt, bloß dehydriert. Ich glaube, was immer das war, kam nicht mehr dazu, mich zu verspeisen. Gott sei Dank!« Er nahm ihre Hand. »So jämmerlich unangemessen es mir auch erscheint, danke zu sagen, dass du mir das Leben gerettet hast: Ich danke dir, Holly. Du hast mich heute Nacht gerettet. Eine Stunde später, und alles wäre vielleicht ganz anders ausgegangen.«
Dann zog er sich fröstelnd tiefer in die Wolldecke zurück. Die Geste erinnerte Holly an eine Schildkröte. »Ich will einfach nur nach Hause, meine Musik laut aufdrehen und bei voller Beleuchtung schlafen.«
Weil ihre Beine vor Erschöpfung zitterten, setzte Holly sich neben Ben. Die dünne Auflage schützte kaum vor dem harten Metallgestell der Trage. Sie nahm Bens Hand, die kalt und staubtrocken war.
»Würdest du dich denn nicht wohler fühlen, wenn Leute um dich herum sind?«, fragte sie.
Seine Finger zuckten und umfassten ihre schmerzlich fest. »Nein. Weißt du, oberflächlich scheint alles okay. Aber darunter … Es hilft mir nicht, wenn ich vernünftig sein muss. Ich würde bloß auf der Stelle treten. Ich brauche Ruhe, um alles zu verarbeiten.«
»Manchmal hat es sein Gutes, auf der Stelle zu treten. Es schont unsere Kräfte, bis wir stark genug sind, wieder vorwärtszuschreiten. Was hältst du von einem Kompromiss? Komm mit zu mir, wo ich auf dich aufpassen kann.«
Er riss die Augen weit auf und seine Hand zurück. »Machst du Witze? Dein Haus … dein Haus ist genauso wie das hier!«
»Nein, ist es nicht!«, konterte Holly entrüstet, fing sich aber gleich wieder, indem sie sich ermahnte, dass Ben gerade einiges durchgemacht hatte. »Mein Haus ist nett, freundlich, und es spricht nicht.«
Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Es ist unheimlich.«
»Es ist das Haus meiner Familie«, sagte sie noch leiser. »Es ähnelt dem Flanders-Haus kein bisschen.«
Nun sah er wieder zu ihr. »Meine Wohnung gehört mir, und sie ist normal, simple alte Trockenwände und Beton. Im Augenblick habe ich eine Menge für normalen, nichtmagischen Kram übrig, Holly. Was nicht menschlich oder menschengemacht ist, will ich nicht in meiner Nähe haben.«
Die Worte wären unnötig gewesen, denn allein sein Tonfall kam einem Hieb gegen Hollys Brust gleich. Sie fuhr zusammen.
»Entschuldige!«, ergänzte er rasch. »Das war schroff.«
»Und ehrlich.« Sie brachte ein Lächeln zustande und berührte sanft seine Schulter. »Für eine Nacht hattest du eben genug Außergewöhnliches.«
»Das kann man wohl sagen.«
Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, doch ihre drogenvernebelte Welt verschob sich. »Ich fände es trotzdem besser, wenn du mit ins Krankenhaus fährst, nur für heute Nacht, damit wir sicher sein können, dass alles okay ist.«
»Was soll schon sein? Verwandle ich mich in ein Schleimmonster, wenn ich die nächsten Stunden nicht unter Beobachtung stehe?«
»Nein, nein, so funktioniert das nicht!«, versicherte Holly ihm hastig.
»Oh Gott!« Ben hob kopfschüttelnd beide Hände. »Das wüsstest du, oder?«
Ja, weil ich eine von den Gruseligen bin. Ihre Magie war stets ein heikles Thema zwischen ihnen gewesen – heikel genug, dass sie die meisten ihrer Hexeninstrumente vor ihm versteckte. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, sie nach und nach hervorzuholen, um Ben schrittweise damit vertraut zu machen. Sie wollte, dass er diese Seite von ihr annahm. Doch irgendwie hatte sie bis heute nicht einmal eine der Göttinnenfiguren aufgestellt.
Ich bin feige. Bald mussten sie sich mit dem ganzen Hexenproblem befassen, aber nicht unbedingt jetzt – jedenfalls nicht heute Nacht.
»Willst du, dass ich mit zu dir komme?«, bot sie ihm an, weil der Krankenhausaufenthalt wohl endgültig vom Tisch war.
»Nein.« Er wühlte sich noch tiefer in die Decke. »Wie gesagt, ich will am liebsten allein sein.«
Es mochte egoistisch sein, und sie spräche es auch niemals aus, doch sie war nicht einmal unfroh, dass ihr seine miese Stimmung erspart blieb. »Dann pass auf dich auf!«, ermahnte sie ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ruf mich an, wenn du zu Hause bist – das heißt, natürlich nur, wenn du willst. Ich melde mich später bei dir.«
»Danke«, murmelte er, ohne aufzusehen.
Holly rutschte von der Trage, musste einen Augenblick warten, bis sie ihr Gleichgewicht fand, und ging.
Ben brauchte Ruhe. Etwas anderes konnte sie ihm nicht geben, egal, wie falsch es sich anfühlte, ihn allein zu lassen. Alles schien aus dem Gleichgewicht. Ihre Wiedervereinigung hatte etwas irritierend Schales gehabt, wie ein süßes Brötchen, in das man hineinbiss und feststellte, dass es in der Mitte noch nicht durch war. Mist!
Bei dem Vergleich fiel ihr ein, dass ihr Abendessen schon eine ganze Weile zurücklag. Hungrig und innerlich leer schlurfte sie den Gehweg entlang. In der Menge um das Haus herum war neue Unruhe ausgebrochen, doch Holly war egal, worum es ging.
Sie bemerkte, dass Alessandros Wagen nicht mehr dort stand. Als sie zu Ben gegangen war, hatte sie ihn noch gesehen, also musste Alessandro in der Zwischenzeit weggefahren sein. Er hätte sich gern verabschieden dürfen! Sein sang- und klangloses Verschwinden machte sie mürrisch. Schließlich waren Ben und Alessandro die beiden Gründe, weshalb sie noch hier war. Was offenbar keinen von ihnen interessierte. Ebenso gut hätte sie sich längst klammheimlich verziehen können.
Und es wurde Zeit, zu einem Abschluss zu kommen und nach Hause zu fahren. Sie suchte Raglan und bekam ihr restliches Geld. Teils war ihr nicht wohl dabei, es anzunehmen. Nicht dass sie sich ihren Lohn nicht doppelt verdient hätte, aber ihr Schuldomat kreischte, sie hätte weder mehr als die Hälfte der Opfer noch Raglans Investition gerettet.
Als sie Raglan stehen ließ, telefonierte dieser mit seinem Handy und schimpfte auf seinen Versicherungsvertreter ein. Wie es sich anhörte, würden sie sich zoffen, bis Raglans Akku leer war. Seine polternden, panischen Beschimpfungen zerrten an Hollys Nerven, also eilte sie lieber davon. Raglans Wut richtete sich gar nicht gegen sie, aber ihr Gefühl, versagt zu haben, reichte aus, dass sich ihr jeder Kraftausdruck mitten ins Herz bohrte.
Gierig atmete sie die klamme Nachtluft ein und ging ein Stück, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Dann sah sie Alessandro, der an der Seitenwand des Nachbarhauses lehnte und im Schatten beinahe unsichtbar war. Er hob eine Hand zum stummen Gruß. Das schwache Licht der Straßenlaternen gelangte bis zu seinem langen lockigen Haar und verlieh ihm einen zynisch anmutenden Heiligenschein.
Sein Anblick sorgte dafür, dass ihre verebbende Energie einen kleinen Schub bekam. Als sie ihn erreicht hatte, stemmte er sich von der Hausmauer ab.
»Was tust du hier?«, fragte Holly. »Ich dachte, du wärst schon weg. Wo ist dein Auto?«
»Ich habe es umgeparkt, in die Seitenstraße«, antwortete er. »Ich muss auch los, aber ich wollte vorher sehen, ob es dir gut geht.« Er trat einen Schritt auf sie zu und sah sie prüfend an.
Das war das erste Nette, was irgendjemand seit der entsetzlichen Geschichte in dem Haus zu ihr gesagt hatte. Und so bescheuert es war – sie wollte auf der Stelle losheulen.
»Du hast mir Angst eingejagt«, gab Alessandro zu und umfing ihr Gesicht mit beiden Händen.
Es war eine ziemlich altmodische Geste, vertraut und höflich zugleich. Prompt zog sich Hollys Bauch zusammen, in dem es wohlig warm wurde, denn sie erinnerte sich vage, wie er sie hochgehoben und an sich gedrückt hatte. Alessandro hatte sie in seinen Armen zum Krankenwagen getragen.
Seine Hände an ihren Wangen zu fühlen, tat gut. Vampirhaut war weich wie Seide, kühl wie Satin, und Alessandros Berührung war empfindsam, geübt. Sie wünschte sich seine Hände überall auf ihr, wo immer Haut war, die gestreichelt werden konnte, weil ein bisschen Kontakt nicht genügte. Das war das Schöne und Gefährliche an seiner Spezies: Vampire bewirkten stets, dass ihre Opfer ein kleines bisschen mehr wollten.
Holly holte tief Luft. »Ich bin okay.« Im Moment sogar ganz besonders okay.
»Gut.«
»Danke, dass du mich rausgebracht hast.«
»Jederzeit wieder.« Plötzlich beugte er sich vor und küsste sie mit seinen kühlen weichen Lippen auf die Stirn. Es war ein scheuer, ja, beinahe ein brüderlicher Kuss. Dennoch wich Holly zurück, denn das harmlose Streifen seiner Lippen hatte dieselbe Wirkung auf sie wie brennendes Verlangen.
Sofort ließ Alessandro sie los, senkte den Blick, fing sich jedoch gleich wieder und lächelte sie an. »Ein Glück, dass du da warst, Holly! Du solltest jetzt auch verschwinden. Fahr nach Hause, und ruh dich aus! Ist heute Nacht jemand bei dir? Ben vielleicht?«
Holly kniff die Augen zu. Sie wollte wahrlich nicht an Ben denken. »Nein, ich bin allein. Aber das ist in Ordnung«, versicherte sie und bemühte sich, gelassen zu klingen.
»Dann fahr jetzt, und sei vorsichtig! Lass niemanden rein! Du hast doch von den Campus-Morden gehört, nicht?«
»Wovon redest du? Ach, egal! Ich bin zu müde.«
»Holly, ich möchte, dass du mir zuhörst …«
Das war alles verkehrt. Ben hatte sie weggestoßen, und nun sagte Alessandro zu ihr, sie sollte verschwinden. Und sie fror, war müde und wollte nicht über den Tod nachdenken. Außerdem fühlte sie sich schon bei der Aussicht, allein nach Hause zu kommen, schrecklich einsam.
Wenigstens begriff Alessandro, dass sie Trost brauchte, und das war wohl das Beste, was sie heute Nacht von irgendjemandem erwarten durfte. Also schritt sie wieder in seine Arme und lehnte sich an seine feste Brust. Sie hatte wirklich gewollt, dass ihre Umarmung schwesterlich ausfiel, so wie seine Geste brüderlich gewesen war. Doch sie hörte, wie er überrascht Atem holte.
»Halt mich einfach einen Moment!«, bat sie ihn traurig. »Nur einen Moment, dann fahre ich nach Hause.«
Seine Finger tauchten in ihr Haar und stützten ihren Kopf im Nacken, als hielten sie etwas besonders Zerbrechliches und Kostbares. »Holly, bist du sicher, dass es dir gut geht? Soll ich dich nach Hause bringen?«
Sie antwortete nicht. Die Erlebnisse heute Nacht hatten ihr eine Wunde zugefügt, und erst jetzt, als ihr erstmals Mitgefühl angeboten wurde, ließ sie den Schmerz zu.
Alessandros Hand strich über ihren Hinterkopf, ihren Nacken und stark und sanft zugleich über ihre Schultern. Ihre angespannten Muskeln zitterten, wollten sich nicht entspannen. Sie hatte gedacht, dass sie Trost wollte, aber nun wollte Holly nur noch heulen. Alessandros Freundlichkeit verschlimmerte ihren Schmerz.
Er küsste sie auf den Kopf.
Hier und jetzt bot sich die Wärme, die er ihr gab, als der einzige Balsam für ihr Leiden an. Sie hob den Kopf und küsste ihn auf den Mund. Schnell und vorsichtig presste sie ihre Lippen auf seine. Sie fühlte, wie er erschauerte und sein Herz unvermittelt zu schlagen begann. Die Vibration ging ihr durch und durch und erhitzte Dinge, die sie tief in sich verbarg. Sein Mund war erstaunlich warm, fast menschlich heiß. Ihre Gesichter, Millimeter voneinander entfernt, verharrten beide.
Hollys Blut raste dem Sog seiner Männlichkeit entgegen. Sie zog sie an wie eine physische Kraft, als könnte sie in seine tödliche Kraft eintauchen und sich wohlig in sie hineinschmiegen. Eine köstliche Spannung verdrängte ihre Erschöpfung und weckte warme, ungekannte Neugier in ihr.
Sie lehnte sich ein wenig weiter an ihn und nahm nochmals seine Lippen ein. Zögernd bewegte er sich zurück, ehe er ihren sanften, verhaltenen Kuss erwiderte, ihm allerdings eine neue Note beifügte, die weit fordernder und verlockender war.
Alessandro schmeckte nach Lakritze, nein, nach Fenchelsamen. Manche Vampire kauten diesen ältesten aller Atemerfrischer gern. Der kühle, scharfe Geschmack kribbelte auf Hollys Zunge, und sie leckte sich die Lippen, um mehr davon zu bekommen. Dann schlang sie ihre Arme um Alessandros Nacken, so dass ihre Hände sich in seinem üppigen Haar verfingen. Er duftete nach Leder, Tabak und etwas Einzigartigem, das sie nicht zuordnen konnte: seinem Duft nach dem, was er war. Holly ertrank darin.
Seine Hände hielten sie fest, während sie den Kuss vertiefte. Ihre Zunge streifte die langen scharfen Kanten seiner Eckzähne. Mit bebenden Lippen erkundete sie die Konturen mit derselben Faszination, die Urmenschen empfunden haben mussten, als sie erstmals Feuer sahen.
Wieder umfingen seine Hände ihr Gesicht, und sein breiter starker Oberkörper presste sich an sie. Sie konnte die Muskeln fühlen, die sich im Rhythmus mit seiner Zunge und seinen Lippen bewegten. Sein ganzer Körper schien zu dem Kuss zu tanzen.
Alessandros Hand glitt ihre Rippen hinauf und über ihre Brust, bis er den Reißverschluss ihrer Jacke gefunden hatte. Langsam zog er ihn hinunter, was dem Geräusch der kleinen Metallzähnchen ein explosives, erotisches Gewicht verlieh. Ungefähr auf halbem Wege hielt er inne, und seine Hand schnellte zurück, als wäre er bei etwas Unerlaubtem ertappt worden.
Er hätte nicht aufhören dürfen! Holly lehnte sich gegen ihn. Ihre Brüste schmerzten. Mit dem Handrücken strich er sanft von ihrem Schlüsselbein über ihren Hals.
»Das ist es nicht, was ich mir für dich wünsche«, sagte er. Leider lagen seine Augen im Schatten.
Hollys Herz hämmerte. Hitze brodelte in ihr. Unsicher wich sie zurück, obwohl das bebende Verlangen tief in ihrem Bauch sich sträubte. Sie wollte diesen Todesengel, wie sie noch nie etwas gewollt hatte. All ihre Vorsicht hatte sie komplett vergessen, wie auch sämtliche Gründe, weshalb sie eine Grenze zwischen ihnen beiden ziehen musste.
Manchmal war sie schlicht zu blöd zum Leben. Aber ich will ihn!
Holly sog die kalte Pazifikluft ein und spürte den Wind auf ihren Wangen. Ich kann ihn nicht haben.
Der Kuss war weit über alles hinausgegangen, was sie geplant hatte. Sie hatte nicht erwartet, dass er mit solchem Elan reagierte, noch dazu war da mehr als Blutdurst in seinen Augen. Sie erkannte die verwirrte Hitze und Hoffnung eines ganz normalen Liebhabers darin. Wer weiß?
Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »So gern ich das hier auch täte, Holly, ich bin gefährlich. Und du hast ein gutes Leben. Du brauchst mich nicht – nicht so.«
»Ich …«, begann sie, verstummte jedoch gleich wieder, weil sie die Resignation in ihrer Stimme erkannte und nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Es tut mir leid.«
»Muss es nicht.« Plötzlich war er unruhig und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie blickte sich um, was dort los war, aber alles schien wie vorher. Was auch immer ihn beunruhigte, kam aus seinem Kopf. Zweifel? Bedauern? Verlegenheit?
Typisch Mann! Erst angestürmt kommen und dann fliehen! Anscheinend änderte Unsterblichkeit nichts an grundlegenden Geschlechtereigenarten. Was wiederum ein zweischneidiges Schwert wäre.
»Ich muss wirklich los«, erklärte er rasch und senkte den Blick. »Ehrlich! Es tut mir leid.«
»Kannst du mich vielleicht nach Hause fahren? Ich weiß nicht, ob ich fahren sollte.«
Was über sein Gesicht huschte, sah nach Panik aus, gefolgt von … Verlangen? »Mir ist klar, dass ich es dir selbst angeboten habe, aber frag bitte einen der Polizisten, ob er dich fährt. Das wäre sehr viel besser.«
»Warum? Warum kannst du mich nicht fahren?«
»Ich muss hier weg. Ich … ich bin ein Vampir, Holly! Du solltest nicht mit mir fahren. Nicht nachdem … Wir sehen uns!«
Das weiche Leder seines Ärmels glitt unter Hollys Hand hindurch. Reflexartig krümmten sich ihre Finger, konnten ihn aber nicht halten, als er zurücktrat und mit dem Schatten verschmolz. Einmal kurz sah Alessandro sich über die Schulter zu ihr um. Seine Augen fingen einen verirrten Lichtstrahl ein, der sie bernsteinbraun aufleuchten ließ, doch seine Miene war nicht zu lesen.
»Fahr nach Hause«, bat er, »jetzt!«
»Ja, okay. Ruf mich an!«, antwortete sie und klang total verloren.
Es war allerhöchste Zeit, dass dieser unterirdische Abend endete. Holly ging zu dem Haus, wo sie noch kurz den Polizisten – wie hieß er noch gleich … Macmillan? – fragen wollte, ob sie nicht mehr gebraucht würde. Flutlicht strahlte auf die Vorderveranda, so dass sie noch unheimlicher wirkte. Gelbes Absperrband verriegelte den Weg zur Veranda. Als sie sich der Absperrung näherte, kamen Sanitäter mit drei Bahren die Stufen hinunter, auf denen die vollständig abgedeckten Opfer lagen.
Tränen traten in Hollys Augen. Sie hatte gehört, dass der andere Professor Bill Gamble gewesen war. Er hatte es nicht geschafft. Er war einer von Bens besten Freunden und ein wirklich netter Kerl gewesen. Sechs Menschen waren hineingegangen, und Holly hatte nur drei gerettet. Sie machte sich entsetzliche Vorwürfe.
Überall wimmelte es von Polizisten, und sie sahen alle sehr gespannt aus. Merkwürdig. Es war ja nicht so, als gäbe es hier irgendetwas zu verhaften. Nachdem der Schleim sich aufgelöst hatte, gab es nicht einmal mehr viel zu gucken.
Macmillan kam gerade aus dem Haus und auf sie zu.
»Was ist hier los?«, fragte sie.
Er blieb stehen und wandte sich ihr sichtlich vorsichtig zu. »Das ist ein Tatort.«
Holly verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Ja, aber wen wollen Sie verhaften? Das Haus?«
Macmillan betrachtete sie. Er überlegte eindeutig, wie viel er ihr sagen durfte. »Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten.«
»Okay.«
So, wie er sie ansah, wollte er offenbar jede noch so kleine Regung mitbekommen. »Wir haben noch eine Leiche gefunden, und diese starb nicht wie die anderen.«
»Was?!«
»Sie kam anders zu Tode. Ermordet, aber nicht von einer Immobilie.«
Holly packte Macmillans Jackenärmel. »Wie kann es sein, dass ich sie nicht gesehen habe? Wo war sie?«
Er trat einen Schritt zurück und bedachte sie weiter mit seinem Röntgenblick. »Wo ist Ihr Freund – Alessandro Caravelli? Ich muss mit ihm sprechen.«
»Er ist weg.« Hollys Magen machte einen Satz. Alessandro hatte eine merkwürdige Andeutung wegen der Campus-Morde gemacht und sie beschworen, nach Hause zu fahren und ihre Türen zu verriegeln. Wusste er von der vierten Leiche?
Macmillan sah aus, als würde er vor lauter Autorität altern. »Wissen Sie, wohin er wollte?«
Holly schluckte ihren Schrecken hinunter. »Nein.«
Nicht nur hatte er die Leiche nicht erwähnt. Alessandro war auch noch vom Tatort geflüchtet, so dass sie nun seine Abwesenheit erklären durfte. Sie wollte ihm in den Hintern treten!
Stattdessen verschränkte sie wieder einmal ihre Arme und strengte sich an, Macmillan ins Gesicht zu sehen. »Das Gesetz räumt der übernatürlichen Bevölkerung nicht dieselben Rechte ein wie den Menschen. Die Verfahren sind ein schlechter Scherz. Selbst wenn ich wüsste, wohin er wollte, warum sollte ich ihn an Sie ausliefern?«
Er sah angewidert aus. »Weil, auch wenn wir die gesetzlichen Vorgaben außer Acht lassen, das letzte Opfer von einem Vampir getötet wurde.«
Diese Information traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. »Was soll das heißen?«
Seine Augen weiteten sich, und Holly erkannte einen Anflug von Wut. »Loyalität ist etwas sehr Schönes, aber wie viel wissen Sie eigentlich über Ihren reißzahnigen Show-Partner? Wo – was – isst er? Wo hält er sich normalerweise nachts auf? Wer sind seine anderen Freunde? Nur weil er wie ein aufrechter Vampir daherkommt, muss er noch lange nicht ungefährlich sein. Oder unschuldig.«
Macmillan trat näher, die Hände an seinen Hüften, sein Schlips Zentimeter vor Hollys Brust baumelnd. In dieser Haltung wurde seine Jacke an den Schultern gelüpft, so dass Holly die Riemen seines Waffenhalfters sah. Darin befand sich eine der neuesten Polizeiwaffen, die mit genug silberummantelter Munition bestückt war, um einen tobsüchtigen Werwolf zu stoppen. Leider klemmten die neuen Modelle häufig noch. Deshalb trugen die meisten Cops eine zweite, gewöhnliche Waffe bei sich.
Die Nacht war kühl genug, dass Holly deutlich die Körperwärme spürte, die von Macmillan abstrahlte. Er hatte vor Wut die Zähne zusammengebissen. »Also, warum verlässt Caravelli den Tatort eines Vampirmords?«
Ein Adrenalinschub vertrieb die restliche Wirkung der Glücksbringerpillen aus Hollys Kreislauf. Alessandro war gefährlich. Das hatte er selbst gesagt. Oh, Scheiße!
Nein! Sie weigerte sich, ihm das Schlimmste zu unterstellen. »Er ist ein netter Mann. Er hat mich heute Abend aus diesem Horrorhaus geschleppt.«
»Was nicht heißt, dass er nie hungrig wird.«
»Was nicht heißt, dass er ein Idiot ist, der sein Essen überall verstreut!«
»Wo ist er?«
Holly konnte nur mit Mühe verhindern, dass sie die Augen verdrehte. Das hier war lächerlich! »Sie sollten es mal mit ein bisschen schlichter Recherche versuchen, Detective!«
»Ach ja?« Macmillan zog seine Brauen hoch.
»Es ist allgemein bekannt, dass Alessandro eine Inkasso-Agentur betreibt. Seine Adresse steht in den Gelben Seiten. Vampire leben heutzutage nicht mehr in der Kanalisation. Sie arbeiten, und sie haben Telefon.«
Der Detective kniff die Lippen zusammen, und Holly wappnete sich für eine schnippische Retourkutsche. Die nicht kam, weil ein Uniformierter Macmillan zu sich winkte. Dieser sah sie streng an. »Sie warten hier! Ich komme gleich wieder. Wir sind noch nicht fertig!«
Er ging auf die Traube von Polizisten zu, die auf der Veranda stand. Holly kreuzte die Arme vor ihrem Bauch, denn dieser verkrampfte sich vor Angst. Macmillan hatte einen wunden Punkt getroffen: Abgesehen von ihrer Arbeitsbeziehung wusste sie so gut wie nichts über Alessandro.
Riesige eisige Tropfen klatschten Holly ins Gesicht. Es fing an, zu regnen.