28

Das Flanders-Haus war nicht mehr tot.

Wie Tage zuvor schon einmal stand Holly an der Pforte, eine Hand auf dem Pfosten. Alessandros Mantel strich ihr über die Seite. Mürrisch starrte das Haus sie unter seinen Giebeln heraus an, die Veranda um sich herumgewickelt wie abweisend verschränkte Arme. Genau wie vorher.

Doch nicht alles war unverändert. Von einem Birnbaum baumelte ein Streifen Absperrband der Polizei, der Rasen war von Dutzenden schwerer Stiefel zu Matsch zertreten worden, und Hollys Phantasien über Alessandro waren Wirklichkeit geworden. Bedenke, was du dir wünschst, denn es könnte in Erfüllung gehen!

Gift kribbelte in ihren Adern, ein unterschwelliger konstanter Drang. Sie gierte nach Alessandros Berührung – maßlos. Ihm nahe zu sein genügte kaum, um das Sehnen zu bändigen. Einzig purer Trotz zwang Holly, sich zu konzentrieren. Dieser und ihr Widerwillen gegen dieses Haus.

Es war kein Flüstern zu hören, keine Stimmen; dennoch spürte sie deutlich den Missmut des Hauses. Nein, es war nicht mehr tot. Etwas oder jemand hatte es wiedererweckt.

Was auch das orangefarbene Licht aus den oberen Fenstern bewies.

Den nächsten Hinweis erhielten sie durch einen Angstschrei und den Krach zersplitternden Holzes.

Alessandro machte eine Hockwende über die Pforte und zog im Laufen sein Schwert. Holly folgte ihm dicht auf den Fersen und sprang in zwei Schritten die Veranda hinauf.

»Abgeschlossen!«, stellte Alessandro fest.

»Zur Seite!«, wies Holly ihn an.

Nachdem sie wusste, dass die Energie unter dem Haus lag, war es ein Leichtes, sie mit ihrer neuerdings unblockierten Kraft anzuzapfen. Nur ein Tropfen, ein kurzes Drehen und Schnippen mit dem Zauber, und … die Tür flog aus den Angeln. Vor Schreck machte Alessandro einen Satz zurück.

Okay, diesen Trick musst du dir für besondere Anlässe merken.

Alessandro warf ihr einen staunenden Blick zu, ehe er durch das rauchende Loch in der Mauer stürmte. Holly trat ein bisschen langsamer ein, öffnete ihre Sinne und überprüfte das Bewusstsein des Hauses. Die Explosion hatte es verletzt, weshalb es sich zunächst bis in seine Fundamente zurückzog. Sobald es sich wieder erholt hatte, wäre sein Zorn beachtlich.

Eine schwache Stimme säuselte ihr durch den Kopf, ein mattes Rascheln aus den steinernen verfallenen Grundmauern. Du schon wieder?

Diesmal verfügst du nicht über Dämonenkräfte, die dir helfen, Bauschutt!

Nein, erwiderte das Haus, das beleidigt klang. Dieser gibt nichts von seiner Kraft ab.

Dieser?, fragte Holly sich erschrocken.

Alessandro war schon auf dem Weg nach oben, sein Schwert in der Hand. An genau der Stelle, an der er jetzt war, hatten sie Bens Rucksack gefunden. Und dort drüben befand sich das Zimmer, in dem der schwarze Schleim sie fast getötet hätte. Die Abdeckplane lag noch auf dem Treppenabsatz, nur dass jetzt jeder Knick und jede Falte von orangefarbenem Lichtschein erhellt wurde.

Das Licht kam aus einem der kleineren Schlafzimmer im hinteren Teil, pulsierend wie eine satanische Disco. Auf dem Boden lagen die Überreste von etwas, das wie schmelzendes Tomatenaspik aussah.

»Oh, Göttin!«, hauchte Holly, die sich die Nase zuhielt. Bei dem beißenden Gestank traten ihr die Tränen in die Augen. »Hat das geschrien?«

»Ein Fehlwandler«, murmelte Alessandro, hob sein Schwert und bewegte sich mit einem lautlosen, tödlichen Gleiten den Flur entlang. »Habe ich jemals erwähnt, wie sehr ich dieses Haus hasse?«

Holly wurde schlecht, als sie an dem rötlichen Brei vorbeiging.

Die Tür zu dem Schlafzimmer war schmal, so dass Alessandro den Rahmen vollständig ausfüllte und Holly die Sicht versperrte. Er musste sich halb seitlich drehen, um mitsamt dem Schwert hindurchzupassen. Holly folgte ihm. Sie hatte gerade genug Zeit, um zu erkennen, dass das Licht aus der Zimmerecke kam, als es sie auch schon blendete und von dem Mann davor nur Umrisse blieben. Dem Mann, der das Portal öffnete.

Wie Alessandro hatte auch er ein Breitschwert bei sich.

»Holly, zurück!«

Instinktiv warf sie sich zu Boden und rollte aus dem Weg, als der Mann sein Schwert in hohem Bogen schwang. Holly knallte gegen die Türecke und stieß sich den Ellbogenknochen am Rahmen. Wildes Kribbeln betäubte ihre Hand und nötigte sie, auf einer Hand und den Knien in den Flur zurückzukrabbeln.

Das laute Krachen von Stahl bescherte ihr eine Gänsehaut.Diesen Lärm verursachte eine Invasion von brutaler Kraft, die ohne Grund, geschweige denn Mitgefühl zuschlug. Es war der Klang endgültigen Todes.

Holly krabbelte in ein leeres Zimmer.

Der Fußboden vibrierte unter dem Gewicht der Duellierenden, die auf den alten Dielen sprangen und trampelten. Holly lugte vorsichtig aus dem Zimmer auf die Kampfszene. Sie hörte ein pfeifendes Ratschen und einen Knall, als eines der Schwerter in die Holzverkleidung hieb und sie in Stücke zerlegte. Das war es, was wir von draußen gehört haben.

Sie konnte sie sehen, zumindest Ausschnitte von ihnen, wie sie sich nahe der Zimmertür vor und zurück bewegten. Es war ein grober, erbitterter Kampf, in dem niemand Punkte in Eleganz machen konnte. Pure männliche Kraft, gewölbte Muskeln, gebleckte Zähne.

Der andere Mann war so groß wie Alessandro. Auf seinen nackten Armen rankten sich verschlungene blaue Tattoos. Sein schwarzes Haar hing ihm zum Zopf geflochten bis zu den Hüften und schwang bei jeder seiner Bewegungen schlangengleich mit. Er trug einen bronzenen Brustpanzer über zerlumpter roter Seide. Seine Haut war eingefallen, und in seinen Augen lag ein Glanz von Wahnsinn. Noch dazu schrie er in einer Sprache, die Holly nicht kannte. Wer ist der Kerl? Was sagt er?

Wieder schlugen die Schwerter krachend und metallisch kreischend zusammen. Im Reflex warf Holly sich nach hinten und hielt sich die Ohren zu. Auf dem Friedhof hatte sie mitgekämpft, aber hier stellte es sich ungleich heikler dar. Wie bekomme ich einen freien Schuss? Sie sind zu dicht beieinander!

Fast bot sich ihr eine Chance, als der Angreifer rückwärts aus dem Zimmer stolperte. Jetzt bemerkte sie, dass er ein dickes Buch in einer seiner großen Pranken hielt. Dann kippte er gegen die Wand, und schon stand Alessandro vor ihm, das Schwert zum tödlichen Schlag erhoben.

Er war einen winzigen Moment zu spät.

Sein Gegner wich dem Hieb mit einer Seitwärtsrolle aus. Sobald er wieder auf den Beinen war, rannte er in Richtung Treppe. Holly duckte sich zur Seite und fühlte den Luftzug, als er an ihr vorbeipreschte.

Alessandro blieb rutschend neben ihr stehen. »Ich muss ihm nach. Er sagt, dass er ein Wächter ist.«

»Das hat er gesagt?«

»Ja, und er hat das Buch.«

»Das Buch der Lügen?«

Alessandro schien erstaunt, dass sie den Titel kannte. »Ja, ruf Perry! Er muss ganz in der Nähe sein. Er soll dich zu Omara bringen.«

»Nein!« Das Gift in ihrem Körper brodelte auf und machte sie panisch, dass Alessandro sie verlassen könnte. »Tu das nicht! Geh nicht!« Verzweifelt bedeckte sie ihr Gesicht mit beiden Händen.

Alessandro schwieg.

»Entschuldige!« Sie sah zu ihm auf. »Da spricht das Gift. Natürlich musst du gehen.«

Er wirkte perplex, zugleich aber auch ungeduldig. »Verschwinde nach draußen, und warte! Halte dich außer Sichtweite! Du hast deine Magie, also passiert dir nichts, aber bleib dem Kampf fern!« Er zeigte auf das kleine Zimmer. »Und sieh zu, dass du von dem Portal wegkommst!«

Mit diesen Worten rannte Alessandro zur Treppe. Holly hielt den Atem an, als er sprang, seine Arme ausbreitete und mit wehendem Mantel über das Treppengeländer flog. Dann war er fort.

Entgeistert starrte sie dorthin, wo sie Alessandro eben noch gesehen hatte, bevor er seinem Gegner nachflog. Sie hatten das Buch gefunden, was großartig war, doch nun war sie allein.

Sie konnte fühlen, wie das Gift mit doppelter Intensität an ihren Nerven zerrte. Es war so viel einfacher, mit allem klarzukommen, solange Alessandro sich in der Nähe aufhielt.

Holly atmete tief ein und langsam wieder aus, während sie sich angestrengt einredete, dass dieses nagende Gefühl zu jemand anderem gehörte.

Als sie Perrys Nummer wählte, landete sie auf seiner Mailbox, wo sie eine Nachricht hinterließ. Der Empfang war grottenschlecht, was wahrscheinlich an dem Portal lag.

Alessandro hatte gesagt, dass sie das Haus verlassen sollte. Ja, er hatte es ihr befohlen. Ihre Füße drehten sich wie von selbst. Aber etwas verboten zu bekommen, war nun einmal der größte Anreiz schlechthin, es erst recht zu tun. Automatisch blickte sie in das verbotene Zimmer. Ich will das Portal sehen!

Nachdem der Wächter fort war, blieb nichts als ein Streifen orangefarbenen Lichts. Der Zauber war noch nicht vollständig gewesen, und nun brach das Portal zusammen. Dabei zuzusehen, könnte sie einiges Nützliche lehren, beispielsweise, wie sie selbst ein Portal schloss.

Alessandros Anweisung war klar gewesen, und sie trug sein Zeichen. Abermals wollten ihre Füße sie zur Treppe bringen. Der Drang fühlte sich wie ein klebriges Netz an, das sie vorwärtszog.

Weg von mir!

Sie versuchte, sich von der hartnäckigen Energie freizumachen, doch sie ließ sich nicht abwehren. Vielmehr schien sie ihren Griff um Holly noch zu verstärken. Kochende Wut machte ihre Konzentration zunichte, so dass sie sich noch tiefer in dem Netz verfing.

Weg! Von! Mir! Sie war sicherer gefangen denn je.

Also erstarrte sie, um der Falle nicht noch mehr Kraft zu verleihen. In kleinen Stößen rang sie nach Luft und bemühte sich, ihren Geist zu beruhigen. So darf ich nicht sein. Nein, das darf nicht sein!

Wut. Verzweiflung. Es war alles sinnlos. Stattdessen entdeckte sie den Geist ihres Willens, jenen flackernden Schatten, den die Markierung übrig ließ. Ich bin stark genug. Natürlich bin ich das! Ich bin die Ley-Linien entlanggewandert. Ich habe die Tür gesprengt.

Ungehorsam war schwieriger.

Egal! Mit all der Energie unter diesem Haus kann ich immer noch meine Magie benutzen.

In ihrem Kopf formte sie das Bild eines Messers und streckte ihre Sinne zu der wilden Erdkraft unter dem Haus aus. Sie wirbelte unter Hollys Berührung, brodelnd vor Leben.

Es war die Essenz der Natur, die Seele des Bodens unter ihr. Rebellisch, barbarisch, ungezähmt. Frei.

Sie nahm von der Kraft, um ihren Willen zu formen, zu verfeinern und zu stärken. Dann stellte sie sich das Messer mit Silberklinge zu Hause auf ihrer Kommode vor, das sie aus dem Kistenversteck unter ihrem Bett befreit hatte. Sie war es leid, ihre Instrumente zu verbergen, war es leid, sich dem Willen anderer zu beugen, auch derer, die sie liebte.

 

Mögen mir die Winde des Ostens Flügel verleihen.

Mögen mir die Feuer des Südens Leidenschaft geben.

Mögen mir die Meere des Westens Leben schenken.

Mögen mir die Steine des Nordens Stärke bringen.

Göttin und Gott, hört mein Gebet und macht mich frei!

 

Die kurze scharfe Klinge leuchtete wie Sternenlicht, die vertraute Form lag wohltuend in Hollys Hand. Sie brachte ihre geistige Ausgeglichenheit zurück.

Ja, sie kannte dieses Messer, wusste, wie sie es benutzen sollte. Es gehörte ihr.

Eine neue Gefasstheit dämpfte die Wirkung des Giftes, minderte die Macht des Vampirzeichens.

Das Messer war gerade.

Elegant.

Scharf geschliffen und echt.

Im Geiste nahm Holly es in die Hand und benutzte es, um ihren Willen zu befreien. Das Netz des Zeichens fiel ins Nichts, löste sich in fahles Licht auf, bevor es endgültig verpuffte.

Oh, Göttin! Hollys Magen entkrampfte sich, und zum ersten Mal, seit Mac auf ihrer Veranda aufgetaucht war, holte sie richtig tief Luft. Zu ihrer Überraschung brannten Tränen in ihren Augen, und sie zitterte vor Kummer und Erleichterung. Nun konnte sie gehen, wohin sie wollte, denn ihr Wille gehörte wieder ganz allein ihr.

Eigentlich hätte nicht einmal eine mächtige Hexe fähig sein dürfen, den Zauber des Giftes zu brechen. Holly war also mit einer raren Gabe gesegnet. Bebend vor Glück sank sie an die Wand. Danke!

Zeit, zu handeln! Langsam betrat sie das Zimmer und versuchte, alles zugleich zu erfassen. Von dem Portal war nur eine wirbelnde, kürbisfarbene Kugel in der Größe eines Gullydeckels übrig. Aus ihr sickerte Ektoplasma wie der Sabber aus einem Neufundländer. Im Zimmer roch es nach verbranntem Toast.

Dann hörte Holly das Schaben eines Schuhs hinter sich.

Sie drehte sich ruckartig um und blickte in die schattigen Winkel. Ein ängstlicher Schauer lief ihr über den Rücken, und sie verfluchte die Dämmerung, die sie kaum etwas erkennen ließ.

»Hallo, Holly.«

Die Worte, die Stimme waren zu bekannt. Während sie sich abermals umdrehte, schnürte ihr der Schreck den Brustkorb zu. Dieselbe Begrüßung hatte sie zu oft gehört, unter anderem als liebevolles Flüstern in der Dunkelheit.

Ben stand in der Tür, bewaffnet.

Hollys Kehle verengte sich, bis sie fast nicht mehr atmen konnte. »Was zum Hades machst du hier?«

»Mich sehr still verhalten und hoffen, dass die Monster mich nicht finden. Aber sieh einer an, du bist hier!«

»Rede!« Ihr Geduldsfaden zerriss wie nasses Papier. »Ich puste dir den Kopf weg, wenn du es nicht tust!«

Ben starrte sie trotzig an. »Ich habe eine Waffe – mit Silberkugeln.«

Darauf hob Holly nur ihre Hand und wackelte mit den Fingern. »Ich habe meine Waffe schon entsichert.«

»Hexe!«, raunte er, den Mund angewidert verzogen.

»Wieso bist du hier, Ben? Dieses Haus hat dich beinahe umgebracht.«

»Ich bin hier, weil die Wächter sich gegen mich verbündet haben. Sie haben mir mein Buch weggenommen. Das ist unfair, denn ich habe viel Geld dafür bezahlt!«

»Das Buch der Lügen? Du hast es gekauft?«, fragte Holly ungläubig. Ja, na klar, seine Familie besaß das nötige Kleingeld.

»Das habe ich, und die Wächter waren hinter dem Ding her – und hinter mir –, seit die Dämonin durch das Portal gekommen ist.« Er blickte auf die Waffe in seiner Hand. »Ich wollte den Wächter zwingen, es mir wiederzugeben, aber ich …«

Er brauchte den Satz nicht zu beenden. Holly wusste, dass Ben nie sonderlich mutig gewesen war. Im Leben würde er dem Wächter nicht entgegentreten.

Er seufzte. »Ich wollte mich hier verstecken. Das Haus kennt mich. Ich habe schon früher mit ihm verhandelt.«

»Verhandelt? Was hast du denn, das das Haus wollen könnte?«

Ben schwieg und nahm die Waffe herunter. Sein Gesichtsausdruck wirkte komisch, irgendwie verkniffen.

Dann begriff Holly. Ben war einer der Verbindungssponsoren, die das Flanders-Haus von Raglan gekauft hatten. Und das Haus braucht Leben.

»Die Studentenverbindung? Du hast die Leute hierhergeführt? Du … Warum zum …« Holly würgte, weil ihr die Luft wegblieb. »Warum?« Sie atmete angestrengt. »Was machst du denn, Ben?«

»Was ich tun muss.«

»Aber wieso?« Hollys Gedanken überschlugen sich, ehe sie sich einer nach dem anderen zu einem vollständigen Bild zusammenfügten. Der Schleim hatte ihm wider Erwarten nichts getan. Und Hollys Bücher über Dämonologie waren verschwunden. »Wie lange geht das schon?«

»Seit Jahren. Ich habe einiges gelesen. Und ich meine richtig gelesen, also recherchiert. Es gibt eine Menge promenschliche Gruppen, die einem gern helfen, wenn sie glauben, dass man nach einer Lösung für das Übernatürlichenproblem sucht. Leute mit Geld und Beziehungen.«

Angst und Misstrauen hatten hässliche Falten um seinen Mund herum gegraben, die Holly jedoch nie zuvor bemerkt hatte. Er hat mich die ganze Zeit verarscht. Ein wahrhaft talentierter Schauspieler!

Nun erwiderte er ihren Blick und schüttelte bedächtig den Kopf, als wäre sie eine besonders begriffsstutzige Studentin. »Verstehst du denn nicht? Die Burg ist die Antwort! Die Menschheit stand schon einmal vor demselben Problem. Damals bauten sie ein Gefängnis für die anderen, mit Wächtern, die dafür sorgen, dass Monster drinnenbleiben. Wenn ich etwas durch ein Portal auf die Erde rufe, kommen die Wächter und holen es zurück. Dabei nehmen sie gleich alle Nichtmenschlichen mit, die sie kriegen können. Ich müsste es nur lange genug machen, bis bloß noch Menschen übrig sind. Das ist so simpel wie die Müllabfuhr rufen.«

»Aber ich kapier’s nicht!«, entgegnete Holly verwirrt.

Ungeduldig klatschte Ben seine flache Hand gegen den Türrahmen. »Wie sollten Menschen allein Fairview säubern? Wir besitzen gar nicht die Macht dazu. Gegenüber den Übernatürlichen sind wir komplett verloren. Deshalb musste jemand einen Weg finden, wie wir Hilfe bekommen, und das habe ich getan.«

»Morde sind geschehen«, konterte Holly, »Blutrituale. Mädchen wurden getötet.«

»Jedes Geschäft hat seinen Preis. Die Fehlwandler haben bei diesem Teil mit Freuden assistiert.« Ben wandte sein Gesicht ab. »Obwohl ich es hätte selbst tun sollen. Eine oder zwei dieser Kreaturen waren ja noch zu bewältigen, aber sie haben ihre Freunde dazugerufen. Na ja, und da gerieten die Dinge etwas außer Kontrolle.«

»Was meinst du damit?«

»Die Fehlwandler haben ein Faible fürs Morden. Besser gesagt, sie sind süchtig danach. Sie hätten nie aus der Burg kommen dürfen.«

»Und du hast mit ihnen zusammengearbeitet? Du?!«

Ben bewegte sich vorwärts, doch Holly warf einen winzigen Magieschwall, um ihn zurückzuschleudern. Er riss die Augen weit auf, als würde ihm jetzt erst klar, dass sie gefährlich sein konnte.

Er richtete seine Waffe wieder nach vorn, doch das kümmerte Holly nicht mehr. »Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?«

Er machte sich gerade. Offenbar sprach er sich selbst Mut zu. »Sie waren nun einmal sehr entgegenkommend und wollten uns gern helfen, einen Dämon herzurufen. Das Beste aber war, dass ich wusste, sobald wir den Rufzauber vollständig hatten, musste ich mich nur noch zurücklehnen und abwarten, dass die Wächter sie mit dem Rest der Spukgestalten einsammeln.«

Er verzog seinen Mund zu einem verächtlichen Grinsen. »Und die Fehlwandler haben alles für eine Handvoll dieser Abzeichen getan. Als wären sie etwas Kostbares! Ich habe sie online gekauft, für nichts«, erzählte er schnaubend. »Na ja, vielleicht lockte sie auch bloß die Chance, wieder Menschen zu töten.«

Holly schluckte, denn ihr war schlecht. »Ist dir klar, was du angerichtet hast? Die Dämonin plündert bereits Seelen!« Sie versetzte ihm einen weiteren kleinen Stoß. »Du hast ganz großen Mist gebaut! Die Dämonin läuft frei herum, alles gerät außer Kontrolle, und das eben war der erste Wächter, den ich bis jetzt gesehen habe. Wo bleibt die Kavallerie, Ben? Wann kommen sie dich retten?«

Ben hob beide Hände, was allerdings keine Geste der Ergebung darstellte. Vielmehr wollte er Holly beschwichtigen. »Das wusste ich doch nicht! Wie sollte ich denn ahnen, dass nur so wenige Wächter kommen? Es hätten deutlich mehr sein müssen. Ich hatte mir das alles, nun, unkomplizierter vorgestellt.«

»So wie du dir unsere Beziehung unkomplizierter vorgestellt hattest?«

Nun schien er zerknirscht. »Tut mir leid, ehrlich. Du hast einmal gesagt, dass deine Magie gar nicht richtig funktioniert, und da dachte ich, du wärst so gut wie menschlich.«

»Aber dann hast du im Flanders-Haus gesehen, was ich kann.« Hollys Schlussfolgerung bedurfte keiner Bestätigung mehr.

»Ja, mir wurde klar, dass du eine von denen bist. Da wusste ich, dass ich dich nicht mehr retten kann – nicht, solange du nie deine Magie für unsere Seite einsetzen würdest.«

»Mich retten?« Sie schoss einen Energiestrahl ab, der Zentimeter vor seinen Füßen einschlug. »Ich habe versucht, dich vor dem Haus zu retten, dem du anscheinend schon deinen besten Freund, Bill Gamble, zu futtern gegeben hattest. Was wolltest du überhaupt hier?«

Ben blickte auf den Boden, wo eine schmale Rauchfahne aus dem verkohlten Holz aufstieg. »Die Idioten hatten dieses Mädchen direkt im Haus umgebracht und sie liegen gelassen, wo sie jeder finden konnte. Meine Fingerabdrücke waren hier in sämtlichen Zimmern. Ich musste dafür sorgen, dass ich nur als ein weiteres Opfer dastehe.«

»Nur ein weiteres Opfer. Also hast du dich im Schleim versteckt. Kein Wunder, dass du nicht ins Krankenhaus wolltest! Eine gründliche Untersuchung hätte bewiesen, dass du nie angegriffen worden bist. Tja, du hattest recht: Dein Trick hat uns alle getäuscht. Wir wären nie auf die Idee gekommen, dass du der Mörder bist.«

Ben sah entsetzt aus. »Nein, ich habe die Operation lediglich ermöglicht. Ich war der Organisator, aber ich habe niemanden umgebracht! Und vor allem würde ich mich nie mit der Magie einlassen.«

»Was ist mit Blendzaubern? Es gab sie hier in allen Ecken.«

»Dafür heuerte ich den Kerl an, der mir das Buch verkauft hat. Für ein paar Dollar macht er alles. Er hat alle Zauber übernommen, die ich brauchte.«

Holly rang nach Worten, überwältigt von Entsetzen. »Göttin, ich hasse dich!«

Ein Zittern ging durch das Haus, ruckelte es durch wie ein Erdbeben. Ben hob eine Hand, zeigte auf die Wand hinter Holly und glotzte verdattert hin. »Das Portal öffnet sich wieder!«

Holly trat zur Seite. Sie musste sich umdrehen, wollte Ben jedoch nicht den Rücken zuwenden. Was er sagte, stimmte. Das Portal wirbelte stärker, wurde breiter und heller, so dass das ganze Zimmer von einem gruseligen Halloween-Orange geflutet wurde. Vorsichtig streifte Holly die Öffnung mit ihrer Energie.

Die zaghafte Berührung brachte ihr genug Informationen, dass sie panische Angst bekam. »Es hat sich nie vollständig geschlossen. Etwas drängt von innen gegen die Öffnung.« Konnte es die Fehlwandler-Armee sein?

Holly bemühte sich, klar zu denken, statt sich der Panik zu ergeben, die in ihr aufstieg. »Wir verschwinden von hier!«

Solange sie auf Ben konzentriert gewesen war, hatte sie aufgehört, das Haus zu beobachten. Nun überprüfte sie es erneut mit ihren Sinnen. Nachdem sie die Vordertür gesprengt hatte, war es immer noch geschwächt, aber das Portal benutzte das Haus wie einen Strohhalm, mit dem es Energie aus den Ley-Linien unter dem Fundament sog. Einiges von der Kraft sickerte in die Mauern und kräftigte damit auch das Haus. Bald konnte es hier ziemlich übel werden.

»Treppe!«, schrie sie und sprang zur Tür.

Holly bewegte sich so schnell, dass ihre Füße kaum den Boden berührten. Sie stürmte in den Flur, halbblind vor Eile. Als Ben sie von hinten packte, knallte sie gegen die Wand.

»Was ist? Holly, was ist das?«

Holly hielt sich den Kopf und wünschte, es würde aufhören, darin zu schrillen. »Was? Wir haben keine Zeit …«

»Das!«

Sie blinzelte. Ein riesiges ballonartiges weißes Gebilde schwebte einer gigantischen Qualle gleich über dem Treppenabsatz. Für einen Moment war Hollys Staunen größer als ihr Fluchtinstinkt. »Ich glaube, das ist die Abdeckplane.«

»Wieso macht sie das?«

»Wenn ich raten soll, würde ich sagen, sie ist besessen.«

»Ach du Scheiße!«

»Wahrscheinlich erstickt sie uns, wenn wir zu fliehen versuchen.« Sie drückte Bens Arm und grinste ihn süßlich an. »Möchtest du, dass ich mich darum kümmere? Willst du, dass ich deinen undankbaren Arsch rette, bevor ich mir schnellstens überlege, wie ich verhindere, dass ganz Fairview bei lebendigem Leib gefressen wird?«

»Mach einfach was! Bitte!«

»Dann gib mir die Waffe!«

Nach kurzem Zögern tat er es.

Holly schob Ben beiseite und schenkte ihre volle Aufmerksamkeit der Abdeckplane. Wie zur Hölle wollte sie das in den Griff kriegen?

Mit einem Höllenfeuer.

 

Immerhin habe ich den Brandbefehl längst unterschrieben, nicht?

Es war nicht anders, als würde sie eine sehr große Kerze anzünden: ein Trick, den sie schon hunderte Male allein mit einem Fingerschnippen bewerkstelligt hatte. Als Erstes war die Plane dran, dann der Treppenläufer. Überall flogen alte Zeitungen herum, und mit all den Farben und Lösungsmitteln, die Raglan im Haus hatte herumstehen lassen, war der Rest ein Selbstläufer.

Holly schleuderte einen Großteil ihrer Magie vom Vorgarten aus ab, wo das Haus nicht an sie herankam. Die Kraft floss geschmeidig und elegant. Das Schwierigste für Holly war, die Schreie des Hauses aus ihrem Geist zu verbannen. Wahnsinnig und böse, wie es war, war es immer noch bei Bewusstsein.

Doch leider war Feuer die einzig sichere Methode, das halboffene Portal zu sprengen. Feuer störte den Energiefluss, war aber auch sehr auffällig. Deshalb wirkte Holly einen Blendzauber, der verbarg, dass hier ein Haus lichterloh brannte. Zugleich installierte sie Schutzzauber, um die Flammen unter Kontrolle zu halten. So bestand der einzige Hinweis auf das Feuer in leichtem Rauchgeruch, den Holly anscheinend nicht ganz abschirmen konnte. Wenn die Nachbarn morgen früh aufwachten, würden sie nur noch einen leeren Bauplatz und einen Haufen Asche sehen.

Ben stand stumm neben ihr. Offenbar hatte er jeden Ansporn verloren, sich zu bewegen. Er starrte einfach nur vor sich hin. Zumindest glaubte Holly das, bis sie bemerkte, dass er auf etwas weiter hinten in der Straße sah. Und auf einmal nahm sein Gesicht eine interessante Weißfärbung an.

Sie drehte sich um. Werwölfe.

Sie strömten in einem stillen pelzigen Schwarm die Straße entlang, dunkle Schatten, die nur hier und da von glühenden Jagdtieraugen durchbrochen wurden. Muskulöse Läufe arbeiteten, als sie mit einer fließenden Geschwindigkeit rannten, die etwas Albtraumhaftes hatte. Die Wölfe waren groß und schmal, ihre Beine fast zierlich. Ihre dicken Pelze waren zumeist grau, doch es gab auch einige schwarze und hellbraune, schokobraune und weiße. Sie alle hatten leuchtend rote Zungen und buschige Schwänze – nicht zu vergessen die gefährlich blitzenden weißen Zähne. Als sie Holly und Ben erreichten, blieben sie wie auf Kommando stehen, unheimlich lautlos. Einzig ihr hechelnder Atem bestätigte, dass sie mehr als ein Traum waren.

Einer von ihnen kam mit leise klackernden Krallen auf Holly zu. Ein grauer Werwolf. Ein Männchen. Es war nicht das größte Tier, aber eindeutig der Anführer. Er setzte sich und stellte die Ohren auf.

»Wir haben einen Gefangenen«, erklärte Holly.

Mit wölfischem Grinsen ließ Perry seine gelben Augen über Ben wandern.