21. KAPITEL
Herzlichen Glückwunsch!
Platin für Priscilla Jaynes
zweites Album Watch Me Fly
– Country Billboard –
N ach dem Konzert am nächsten Abend lag P.J. gemeinsam mit Nell in ihrem Schlafraum und brummte: „Männer sind blöd.“ Sie starrte gegen die Decke, die sie um diese Uhrzeit jedoch nicht sehen konnte, während die Räder des Busses mit gleichmäßigem Wusch-Tump, Wusch-Tump über eine Brücke sausten. „Na ja, gut, vielleicht nicht blöd. Aber ganz schön anstrengend.“
Im anderen Bett raschelte es, als Nell sich zu ihr umdrehte. „Habt ihr euch gestritten, Jared und du?“
„Er hält irgendetwas zurück, Nell. Immer, wenn wir … du weißt schon … es tun.“ Was ist los? Wie alt bist du? Neun? „Also, wenn wir uns lieben … oder besser: wenn wir miteinander schlafen, dann versucht er immer, mich mit wahnsinnig berauschenden Orgasmen zu kontrollieren, während er sich selbst bis zum letztmöglichen Moment zurückhält. Und Gott bewahre, dass er sich gehen lässt, bevor er mich nicht wenigstens ein paarmal befriedigt hat.“ Sie rollte herum, knipste die kleine Nachttischlampe zwischen ihnen an und blinzelte, als es plötzlich hell wurde. „Ich weiß, das klingt bestimmt nicht so, als könnte ich mich beschweren. Wahrscheinlich hältst du mich für einen Jammerlappen.“
„Nein, nein, ich versteh schon. Berauschende Orgasmen sind nicht zu verachten, und einen Kerl, der sie dir zu Dutzenden verschafft, den sollte man sich warmhalten. Aber trotzdem: Wenn er Sex benutzt, um dich zu kontrollieren …“
„Genau.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Versteh mich nicht falsch: Jared ist nicht der Typ von Kontrollfreak, der mich einsperren will, damit ich nichts mehr allein mache oder so etwas. Eher ist es so, dass … Sein Vater war wirklich schrecklich. Er hat Jared wie Dreck behandelt. Eines Abends, als der alte Herr ihn wieder einmal runtergemacht hatte, da hat Jared ihn geschubst. Sein Vater fiel hin und verletzte sich am Kopf. Jared dachte, er hätte ihn ermordet, bekam Panik und floh. So landete er dann in Denver auf der Straße, wo wir uns kennenlernten. In jener Nacht wurde sein Vater tatsächlich ermordet – allerdings von jemand anderem, aber Jared dachte eben eine Weile, dass er es gewesen war.“
„Ach du Scheiße!“
„Ja. Und dass er eine Zeit lang als Hauptverdächtiger galt, war anscheinend das, woran alle Leute sich erinnerten, selbst nachdem der wahre Täter – oder besser: die wahre Täterin – gefasst worden war. Was wetten wir, dass jene Nacht das letzte Mal war, das Jared sich erlaubt hat, die Kontrolle zu verlieren?“
„Und was willst du nun tun?“
„Genau das ist die 1 – Million-Dollar-Frage.“ Sie rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Bist du jetzt zufrieden? Du hast gewonnen.
Du hast gewonnen.
Du hast gewonnen.
Immer wieder erklangen seine Worte in ihrem Kopf. Und sie taten immer wieder genau so weh wir beim ersten Mal. Sie hatte das Gefühl, nie wieder froh werden zu können, denn was sie für ihn empfand, hatte nichts mit Wettbewerb zu tun. Das war noch nie so gewesen und würde auch niemals so sein. Und verdammt – selbst wenn Jared nicht die gleichen Gefühle für sie hegte wie sie für ihn, so sollte er sie zumindest gut genug kennen, um das zu begreifen.
„Ich weiß es nicht. Aber ich muss mir etwas überlegen, und zwar bald. Denn so geht es nicht weiter.“
So geht es nicht weiter, dachte Jared am nächsten Tag. P.J. war ihm gegenüber höflich und freundlich, aber distanziert.
So distanziert, dass es ihn wahnsinnig machte!
Dabei sollte ihr Rückzug doch eine große Erleichterung für ihn sein. Er hatte schließlich schon immer gewusst, dass ihre gemeinsame Zeit nicht ewig dauern würde. Dennoch war es nicht Erleichterung, was er empfand.
Und was er empfand, schob er schnell beiseite. Es war zu beängstigend emotional, und außerdem hatte er dafür nun wirklich keine Zeit. „Marvin, könnten wir uns kurz unterhalten?“
Der Fahrer blickte von der Landkarte auf, die er am Küchentisch studierte. „Sicher, Mr. Hamilton.“
„Ich wünschte, Sie würden mich Jared nennen.“ Doch er wusste, dass es zwecklos war, denn er und P.J. hatten schon mehrmals angeboten, dass der Fahrer sie mit ihren Vornamen anreden sollte.
„Ich weiß. Es tut mir ja auch leid. Ich dachte, ich könnte es, aber da steckt wohl zu sehr die alte Schule in mir, schätze ich. Ich habe noch nie einen Arbeitgeber beim Vornamen genannt.“
„Ich bin zwar nicht Ihr Arbeitgeber, Marvin, aber egal. Das ist es nicht, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte.“ Er blickte zu Hank und Neil, die ein Stück entfernt auf der Bank saßen und gemeinsam ihren neuen Song ausschmückten, und reckte sein Kinn in Richtung Tür. „Können wir kurz rausgehen?“
Der Fahrer folgte ihm nach draußen, doch sobald sie die Stufen verlassen hatten, räusperte er sich nervös. „Bekomme ich Schwierigkeiten, Mr. Hamilton? Wegen dieses Unfalls?“
„Nein! Um Gottes willen! Sie haben hervorragend reagiert!“ Er öffnete das Gepäckfach, holte zwei Klappstühle hervor und stellte sie auf der Schattenseite des Busses auf. Es war furchtbar heiß und feucht, aber er wollte bei seinem Gespräch mit Marvin unter sich sein. „Bitte setzen Sie sich.“
Marvin hockte sich auf den Stuhlrand und umklammerte seine Knie.
Jared schüttelte den Kopf. „Entspannen Sie sich. Hören Sie, ich habe vom Sheriff gerade eine Nachricht bekommen wegen dieses verrückten Fahrers und wollte Ihnen die Wahl lassen.“
„Wie meinen Sie das ?“
„Ich glaube, Sie und ich haben sofort erkannt, dass es sich bei dem Fahrer um Luther Menks handelte.“
„Ja, Sir, genau das habe ich gedacht.“
„Der Sheriff musste das natürlich überprüfen, aber jetzt hat er es bestätigt. Dieser Menks ist wirklich ein Irrer, was bedeutet, dass etwas Ähnliches wieder passieren könnte. Damit sind auch Sie in Gefahr. Also möchte ich Ihnen die Wahl lassen, ob sie gehen oder bei uns bleiben. Dabei sollen Sie wissen, dass, wie auch immer Sie sich entscheiden, ich Ihnen die allerbeste Empfehlung ausstellen werde. Sie haben uns weit über Ihre Pflicht hinaus gedient und geholfen.“
Marvin setzte sich kerzengerade. „Oh, natürlich bleibe ich, Sir. Und wenn er so was wieder versucht, wird er im Graben landen, versprochen.“
„Ich bin froh, dass Sie bleiben. Sie arbeiten professionell und zuverlässig, und ich hätte Sie wirklich nur ungern gehen lassen.“
Der Fahrer strahlte vor Stolz. „Das ist mein Job, Sir.“
„Sie nehmen Ihre Arbeit absolut ernst.“ Jared zögerte und lächelte schief. „Wenn ich Sie jetzt nur noch dazu bringen könnte, mich beim Vornamen zu nennen …“
Nell saß im Bus am kleinen Küchentisch, die Füße auf den Stuhl gegenüber gelegt, ein kühles Bier und eine Schüssel Salzbrezeln neben sich, und arbeitete an den letzten Verbesserungen ihres neuen Songs. Sie kniff die Augen zusammen, um ihre handgeschriebenen Notizen zu entziffern, die sie in ihrer gestrigen Brainstorming-Session mit Hank zusammengetragen hatte.
„Halli-hallo.“
Sie blickte auf und sah Eddie am anderen Ende gegen den Tisch lehnen. Für einen kurzen Moment machte ihr Herz jenen Satz, den es sich bei seinem Auftauchen angewöhnt hatte.
Doch dann schien es sich daran zu erinnern, dass es keinen Grund mehr für diesen aufgeregten Hüpfer gab, und beruhigte sich wieder. Nell lächelte. „Selber Hallo.“
Er griff sich ein paar Brezeln, schob sie in den Mund und deutete auf das Notenblatt auf dem Tisch. „Arbeitest du immer noch an deinem Song?“
„Ja. Er ist fast fertig.“
„Wovon handelt er?“
Sie zögerte, denn seit dem Tag, als sie P.J.s Fanpost sortiert hatten, sah sie ihn in neuem Licht. Seither war er auch tatsächlich öfter bei der Gruppe und wirkte nicht mehr ganz so oberflächlich. Dann zuckte sie mit den Schultern und verriet es ihm. „Es geht um einen treulosen Weiberhelden.“
„Hm. Ein Mistkerl, also.“
„Nein, nur ahnungslos und nicht besonders schlau.“
Eddie schnappte sich den nächstbesten Stuhl, drehte ihn herum, stellte seinen Stiefel auf den Sitz und stützte sich mit dem Ellbogen auf das erhöhte Knie. Dann beehrte er sie mit seinem kühnsten Eddie-Spezialblick – einer unwiderstehlichen Kombination aus Verdammt, bist du heiß!, Ich weiß, was du brauchst! und So eine wie dich hab ich noch nie getroffen! „So so“, murmelte er. „Wie ich neulich feststellen musste, bist du ja eine richtig heiße Braut. Das ist mir früher nie aufgefallen.“
Nell starrte ihn einen Augenblick mit offenem Mund an. Dann sagte sie: „Tja, äh, danke.“ Sie schluckte. „Und dir steht dein Hut heute ganz besonders gut.“ Sie schaffte es mit Müh und Not, bei dieser absurden Konversation nicht laut loszulachen.
„Was meinst du – willst du irgendwann mal mit mir ausgehen?“
Einen kurzen triumphalen Moment lang sang die Versuchung sirenengleich ein Lied. Nun gut, es war abgeschmackt. Aber sie hatte ein gefühltes halbes Leben lang für diesen Kerl geschwärmt und fand es nur verständlich und sicher verzeihlich, wenn sie ein paar befriedigende Sekunden lang die Möglichkeit auskostete, ihre törichten Träume verwirklichen zu können – so sie es denn wünschte.
Dann, so schnell, wie es gekommen war, verschwand dieses Gefühl des Triumphs auch wieder. Denn sie erkannte, dass sie es nicht wünschte. Nicht, wenn sie Hank hatte. Nicht einmal eine Einladung von George Clooney in dessen Villa am Corner See könnte sie in Versuchung führen, diese Beziehung zu gefährden. Und Eddie wäre nicht einmal annähernd an dritter Stelle.
Mit Hank fühlte sie sich klug und schön und außergewöhnlich, und sie hatte die feste Absicht, ihn zu halten. Diese Gewissheit war so fest in ihr verankert, dass sie keine Sekunde daran zweifelte, und ein wohliges Gefühl durchströmte sie, noch ehe ein sechster Sinn sie veranlasste, aufzusehen – und da stand er, Hank höchstpersönlich, im schmalen Mittelgang des Busses. Sie lächelte ihn an.
Er lächelte nicht zurück, und sie musste keine Hellseherin sein, um zu wissen, dass er sich ihrer Gewissheit nicht halb so sicher war wie sie. Konsterniert starrte er auf sie und Eddie.
Sie löste den Blick von ihm und wandte sich wieder an den Gitarristen. „Ich fühle mich außerordentlich geschmeichelt, Eddie, aber nein, danke. Du bist ein netter Kerl, aber ich bin mit Hank zusammen.“
Er zuckte mit den Schultern. „Na schön. Ich dachte nur, ich frage einfach mal.“ Er richtete sich auf, stellte seinen Fuß wieder auf den Boden und schob die Hände in die Taschen. „Tja, ich muss dann los. Wir sehen uns später, ja?“
„Ja, beim Soundcheck.“ Sie sah ihm nach, wie er den Bus verließ, und blickte dann auf Hank, der zu ihr kam.
Er setzte sich neben sie auf einen Stuhl und sah sie einen Augenblick lang nur an. Danach stieß er hörbar langsam die Luft aus. „Er scheint den Korb ja gut verkraftet zu haben.“
„Meinst du?“ Sie lachte. „Wetten, dass er gerade schon wieder dabei ist, die nächste Frau anzubaggern?“
„Ich hätte mich nicht so leicht geschlagen gegeben.“
Sein Blick ging ihr durch und durch. „Ich weiß.“
„Wir sind also zusammen?“
„Ja.“
„Gut. Für einen kurzen Moment habe ich nämlich gedacht, ich wäre schon wieder Geschichte – wo doch dein lang ersehntes Traumschiff gerade bei dir andocken wollte und so.“
„Ich gebe zu, es war tatsächlich sehr schmeichelhaft nach all der Zeit, die ich mich nach ihm verzehrt habe. Aber du bist es, den ich liebe.“
Er sah ihr fest in die Augen. „Wirklich?“ Dann legte er einen Arm um ihre Schultern und lehnte seine Stirn gegen ihre. „Bist du sicher?“
„Ich war mir in meinem ganzen Leben noch nie bei irgendetwas so sicher.“
„Das ist gut. Denn ich liebe dich mehr, als ich mir je vorstellen konnte, dass man überhaupt lieben kann.“ Er küsste sie.
Als sie sich wieder voneinander lösten, mussten beide heftig schnaufen. „Verdammt! Wer fand eigentlich, dass dieser Tourbus eine gute Idee ist?“ Hank sah kurz zu seiner Schlafkoje hinüber und schüttelte den Kopf. „Kein Platz, keine Privatsphäre.“ Dann hellte sein Blick sich auf. „Aber eines sag ich dir: In der nächsten Stadt, in der wir zwei Auftritte haben, erledigst du am besten alles, was zu tun ist, am ersten Tag. Denn danach werden wir zwei uns in ein Hotelzimmer zurückziehen – und erst rauskommen, wenn ich meinen Hintern wieder auf die Bühne schwingen muss.“
P.J. studierte Jareds Profil, während sie zur Konzertarena gingen, wo er noch einmal die Sicherheitsvorkehrungen überprüfen wollte. Er sah sich aufmerksam um und blickte wachsam zu den Parkplätzen, zu den Menschen um sie herum … überallhin, nur nicht zu ihr. Sie bekam schon fast Magenschmerzen, denn, verdammt noch mal, immer, wenn sie ihn ansah, wollte sie sich einerseits in seinen Armen vergraben, weil sie sich dort sicher fühlte, andererseits verspürte sie den Wunsch, ihn unaufhörlich zu ohrfeigen, weil er ein solcher Idiot war. Dieses Gefühl der Zerrissenheit wurde bald unerträglich.
Sie konnte das nicht mehr. Sie konnte nicht ständig in nächster Nähe zu einem Mann sein, der sich weigerte, einen Stolperstein zu erkennen, über den er schon etliche Male gefallen war, geschweige denn, darüber zu reden. „Ich brauche Abstand von dir“, hörte sie sich selbst sagen. Es kam aus dem Nichts, ungeplant und ungeprobt, aber es war die Wahrheit.
„Mach dich nicht lächerlich“, entgegnete er, sah sie kurz an und widmete sich dann wieder den Aktivitäten, die am Lieferanteneingang vor sich gingen.
Seine herablassende Haltung gab ihr den Rest. Sie blieb abrupt stehen. „Wer, zum Teufel, bist du eigentlich, dass du glaubst, mich lächerlich nennen zu dürfen?“, fragte sie erbost und packte ihn am Arm, damit er ebenfalls stehen blieb. Sie hasste den Anklang von Hysterie in ihrer Stimme, aber sie konnte nun auch nichts mehr dagegen tun. Und im Grunde war es ihr egal. Dann verlor sie eben die Beherrschung – und wenn schon! Im Gegensatz zu gewissen anderen Personen dachte sie nämlich nicht, dass die Welt unterging, sobald man sich mal gehen ließ und die Kontrolle verlor. „Ich bin nicht diejenige, die lieber wie ein verdammter Roboter herumläuft, anstatt mal ein paar echte Gefühle zu zeigen! Du bist derjenige, der lächerlich ist, Jared, und ich kann dich wirklich keine Sekunde länger ertragen!“ Sie stellte sich auf Zehenspitzen, als wollte sie ihm so nahe wie möglich sein, um ihn auf ihre nicht vorhandenen Hörner zu spießen. „Ich brauche Abstand, ichbraucheabstand, ICH BRAUCHE ABSTAND!“
Das letzte Wort brüllte sie fast, und er starrte sie an, als wäre sie in eine Wolke giftiger Dämpfe gehüllt. „Okay, okay“, meinte er beschwichtigend, fasste sie sanft an den Oberarmen und schob sie einen halben Schritt zurück. „Aber es ist nicht sicher für dich, allein herumzulaufen. Ich bringe dich zu Neil, dann kannst du eine Weile bei ihr bleiben, während ich hier weiter alles überprüfe.“
„Sofort!“ Sie fürchtete, wenn sie nicht bald Abstand zwischen sich und Jared brachte, dass sie etwas tun würde, das nie wieder rückgängig gemacht werden konnte.
Als sie Nell schließlich aufspürten, kam sie sich allerdings bereits ein wenig lächerlich vor. Trotzdem nickte sie Jared bestätigend zu.
„Wir sehen uns später“, sagte er und sah sie mit offensichtlichem Unbehagen an. „Rühr dich nicht vom Fleck.“
„Das ist wohl kaum möglich“, meinte Neil, und als er sie fragend musterte, fügte sie hinzu: „Ich muss vor dem Soundcheck noch tausend Sachen erledigen. Wir bleiben aber im Gebäude.“
„Also gut.“ Jared sah wieder zu P.J. „Pass auf dich auf, ja?“ Er war schon im Begriff, davonzustapfen, als er sich abrupt umdrehte und noch einmal zu ihr hinging. „Himmel, Peej“, murmelte er, legte eine Hand um ihren Nacken, beugte sich vor und küsste sie.
Der Kuss war kurz, hart und voller Frustration. Nachdem er sich wieder von ihr gelöst hatte, sah er sie einen Moment an, fluchte verhalten, ließ sie los und marschierte davon.
P.J. sah ihm nach, bis Nell ein ergriffenes „Puh!“ ausstieß. Da drehte sie sich um und sah, wie ihre Freundin sich grinsend Luft zufächelte.
„Ich wette, Versöhnungssex mit diesem Mann ist den ganzen Mist davor beinahe wert.“
„Es ist alles so verkorkst, Neil.“
„Ich weiß. Ich sehe doch, wie unglücklich du bist.“ Sie nahm P.J. tröstend in die Arme und drückte sie. „Es tut mir leid, Peej. Männer sind manchmal Idioten – das ist traurig, aber wahr. Aber jetzt bist du bei Tante Neil, und alles ist erst einmal wieder gut. Na, komm!“
Nell auf ihrer Runde als Tourmanagerin zu begleiten, half P.J. tatsächlich, auf andere Gedanken zu kommen. Neils Wärme und Fürsorge konnten ihr Unglück zwar nicht vertreiben, aber immerhin auf ein erträgliches Niveau bringen. Und als sie schließlich den breiten, hallenden Gang hinuntergingen, der zu den Garderoben führte, hatte sie tatsächlich auch schon ein- oder zweimal gelacht.
In dem Moment, da sie die Tür ihrer Garderobe passierten, fiel ihr plötzlich etwas ein, das sie schon längst hatte tun wollen. „Oh, Mist! Das Oberteil!“ Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und blieb stehen. „Ich muss hier schnell noch was erledigen.“
„Was denn? Warum?“ Nell sah sich um, als könnte sie so erkennen, was P.J. meinte. Doch es gab nichts weiter zu sehen als einen Handwerker mit Werkzeuggürtel, der fünfzehn Meter hinter ihnen im Gang vor einer Steckdose kniete und den Frauen keinerlei Beachtung schenkte.
„Ich muss vor dem Soundcheck noch ein anderes Oberteil anziehen. An meiner silbernen Bluse hat sich eine Naht gelöst, und bei all dem Trubel habe ich ganz vergessen, sie zu nähen. Ich habe noch dieses rote Bustier in meiner Garderobe, das ich in L.A. gekauft habe. Bei genauerer Betrachtung fand ich es dann doch zu gewagt für den Alltagsgebrauch, aber für einen Auftritt wäre es vielleicht okay. Wenn ich während des Soundchecks ausprobiere, wie ich mich darin fühle, weiß ich, ob es tatsächlich konzerttauglich ist. Besser, ich merke das vorher, als wenn Tausende von Menschen um mich herum sind.“ Sie merkte, dass sie ins Schwafeln geriet, und schüttelte den Kopf. „Hör zu, ich brauche nur fünf Minuten. Höchstens zehn, wenn es nicht da ist, wo ich vermute.“
Nell sah auf die Uhr. „Tut mir leid, Peej, aber ich bin in etwa fünf Minuten mit jemandem an der Abendkasse verabredet wegen der Karten, die dieser örtliche Radiosender verlost hat, und brauche etwa fünf Minuten, um dorthin zu kommen. Wir können gleich danach wieder herkommen, okay?“
„Nein. Das heißt, ja, geh du nur. Ich bleibe einfach hier in der Garderobe, bis du zurückkommst, dann habe ich Zeit, noch ein paar Sachen zu sortieren.“
„Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn ich dich jetzt allein lasse. Jared hat gesagt, du sollst bei mir bleiben.“
„Das schon, aber ich glaube auch nicht, dass er will, dass ich nach draußen zur Abendkasse mitkomme.“ Sie griff nach Neils Hand und drückte sie. „Ich könnte jetzt wirklich ein bisschen Zeit gebrauchen, um einen klaren Kopf zu kriegen. In letzter Zeit habe ich nicht viel geregelt bekommen. Und wenn das mit dem Bustier nicht klappt, muss ich mir überlegen, was ich sonst anziehen könnte.“
„Also gut. Aber ich lasse dich nicht in die Garderobe, ohne vorher nachzusehen, ob dort alles in Ordnung ist.“
„Gute Idee.“
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie sicher waren, dass das Zimmer leer und ungefährlich war. Widerstrebend ging Nell zur Tür. „Ich komme wieder, sobald ich kann. Und ich warne dich jetzt schon: Falls mir Jared über den Weg läuft, werde ich ihn sofort zu dir schicken.“
Na toll, dachte P.J., nickte aber. „Einverstanden.“ Sie scheuchte ihre Freundin mit der Hand fort. „Jetzt geh schon und kümmere dich um die Karten. Ich verspreche, dass ich keinen Fuß vor die Tür setzen werde, bis du wieder hier bist.“
„Ja, wehe!“ Mit einem letzten besorgten Blick verließ Nell den Raum und zog die Tür fest hinter sich zu.
P.J. hatte sich gerade umgedreht, um einen Stapel Kleidung durchzusehen, den sie eine Weile früher aus dem Bus hierhergebracht hatte, als es an die Tür klopfte. Lachend durchquerte sie den Raum. „Neil, komm schon, es geht mir gut“, sagte sie und öffnete die Tür. „Du kommst wirklich zu spät, wenn du jetzt nicht …“
Ein Mann stürzte ins Zimmer und presste ihr eine Hand auf den Mund. Durch seinen Schwung stolperten beide tiefer in den Raum, und er trat mit dem Fuß die Tür hinter sich zu.
Im ersten Moment verschwamm der Raum vor Angst vor P.J.s Augen. Ihr Pulsschlag rauschte in ihren Ohren. Der einzige Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, war: Was will dieser Elektriker von mir?
Doch der Mann, der ihr den Mund zuhielt und mit der anderen Hand fest ihren Arm umklammerte, war natürlich kein Handwerker. Sobald sie die Angst, auf der Stelle einen Herzinfarkt zu bekommen oder – fast genauso schlimm – sich in die Hose zu machen, verloren hatte, konnte P.J. sein Gesicht erkennen. Es war die lebende Ausführung des Phantombilds und des Schwarz-Weiß-Fotos, nur dass Luther Menks Augen in Wirklichkeit noch viel wahnsinniger aussahen als auf den Bildern, ja, vor Fanatismus geradezu brannten.
Bei ihrem Anblick raste P.J.s Herz noch schneller.
„Ich habe dir jede Möglichkeit gegeben“, sagte er, nahm die Hand von ihrem Mund und rieb sie hektisch an seinem Hosenbein ab, als wollte er irgendeine unsichtbare Substanz entfernen. Gleichzeitig lockerte er den Griff um ihren Arm. „Wenn du dir nur die Mühe gemacht hättest, wenigstens einen meiner Briefe zu lesen, dann wäre das hier nicht nötig. Alles, worum ich gebeten habe, war, dass du deine Mutter ehrst – auch wenn sich mittlerweile gezeigt hat, dass du dazu noch andere, gleichermaßen unverzeihliche Sünden begangen hast.“ Er hörte nicht auf, seine Hand an der dunkelblauen Baumwollhose abzuwischen, während sich gleichzeitig Speichel in seinen Mundwinkeln sammelte.
P.J. lief es eiskalt den Rücken hinunter – ein Phänomen, das sie bisher als Erfindung eines Menschen mit übermäßigem Hang zum Drama abgetan hatte. Jetzt aber empfand sie diese Redewendung noch als Untertreibung, denn sie hatte das Gefühl, bis tief ins Mark erfroren zu sein.
Doch es blieb keine Zeit, dieses Gefühl weiter zu analysieren. „Ich habe Ihre Briefe nicht bekommen.“
„Was?“ Luther Menks schien irritiert.
Er war zwar alt genug, ihr Vater zu sein, aber er war größer und kräftiger als sie und versperrte ihr den Weg zur Tür. Sie versuchte, unbemerkt einen Schritt zur Seite zu machen.
„Es tut mir schrecklich leid“, plapperte sie weiter, „aber ich habe keinen einzigen Brief von Ihnen erhalten. Ich bekomme jede Woche Hunderte von Briefen, die zuerst an meinen Fanclub weitergeleitet werden. Ich fürchte, es dauert oft Monate, bevor ich die Briefe zu Gesicht bekommen, und selbst dann sind es nur einige auserwählte.“ Sie trat einen weiteren Schritt zur Seite.
„Du hättest die Briefe lesen müssen“, brummte er. „Ich dachte, du wärst ein reines, rechtschaffenes M…“
„Ja, das hätte ich.“ P.J. wusste, dass es gefährlich war, ihn zu unterbrechen, aber es schien ihr ein vertretbares Risiko angesichts der Alternative, dass er wieder anfing, sich in seine moralinsauren Anschuldigen hineinzusteigern. „Und ich möchte mich dafür entschuldigen, dass die Briefe diesen komplizierten Weg nehmen. Diese ganze Sache mit dem Ruhm ist ziemlich neu für mich, und wir müssen noch ausprobieren, wie wir am besten damit umgehen und alles organisieren.“ Da er noch immer seine Hand an der Hose abzuwischen versuchte, fragte sie ihn: „Würden Sie gern Ihre Hände waschen, Sir?“
Er hielt mitten in der Bewegung inne und starrte sie an. „Wie bitte?“
„Sie scheinen irgendetwas an der Hand zu haben, und hier gibt es ein Waschbecken, falls Sie das benutzen möchten.“ Sie deutete auf die Tür des kleinen Badezimmers an der hinteren Seite des Raumes.
Als er sich abwandte, um in die angezeigte Richtung zu sehen, stürzte P.J. zur Tür. Dies war ihre beste Chance, ihre einzige Chance, und sie rannte, als wären ihr Höllenhunde auf den Fersen, was in ihren Augen auch nicht allzu weit von der Realität entfernt war. Sie hörte Menks hinter sich aufbrüllen, sah sich aber nicht um. Keuchend erreichte sie die Tür und war bereits zwei Schritte im Korridor, als sie spürte, wie sie an ihrem Pferdeschwanz zurückgerissen wurde.
Es fühlte sich an, als würden ihr die Haarwurzeln aus der Kopfhaut gerissen. Automatisch griff sie nach hinten, packte seine Hand und versuchte zunächst, seine Finger zu lösen, dann hielt sie sie einfach nur fest, um den Druck zu mindern.
„Fass mich nicht an mit deinen Hurenhänden!“ Er ließ ihre Haare los und drehte sie gleichzeitig mit der anderen Hand, die ihre Schulter festhielt, herum, wobei sie mit der Wange gegen den noch angewinkelten Ellbogen seines erhobenen Armes knallte.
Plötzlich tanzten ihr schwarze Sterne vor Augen, und sie stolperte einige Schritte zurück, bis sie gegen die Wand stieß.
„Das ist deine Schuld“, herrschte er sie an und verfrachtete sie halb ziehend, halb schiebend wieder in ihre Garderobe. „Du bist so klein, dass du dich schneller gedreht hast, als ich erwartet hatte.“
Na, toll, schieben Sie ruhig alle Schuld auf Ihr Opfer, dachte P.J. benommen, hielt aber klugerweise den Mund. Sie sah erneut diese schwarzen Punkte, als er sie mit voller Wucht auf einen Holzstuhl schubste, sodass ihr Kopf nach hinten flog. Einen Moment lang befürchtete sie, ihr würde schlecht werden.
Als sich in ihrem Kopf schließlich nichts mehr drehte, merkte sie, dass Menks ihr die Knöchel mit ihrem Gürtel zusammengebunden hatte.
„Undankbare Tochter, liederliche Dirne“, murmelte er, brachte ihre Hände vor ihrem Körper zusammen, wickelte ihr schmales, indianisches Halstuch darum und verknotete die Enden, wobei die angenähten Perlen in zynischem Kontrast zur Situation lustig klimperten.
„Verruchtes Weibsbild. Ich dachte, du wärst rein, aber du hast mit diesem Mann Unzucht getrieben.“ Seine Augen glühten vor Selbstgerechtigkeit. „Aber ich weiß genau, was ich zu tun habe, kleine Missy.“ Er griff zu seinem Werkzeuggürtel und zog eine lange Schere heraus.
P.J. dachte, ihr müsse das Herz stehen bleiben. Mein Gott, er war verrückt! Und mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach Jared.
Luther Menks riss ihr das Haarband vom Pferdeschwanz. „Du wirst keinen Mann mehr mit deinen teuflischen, weiblichen Reizen verführen können, nachdem ich dir deine lockige Pracht genommen habe.“
„Mein Haar? Sie wollen mir die Haare abschneiden?“ Wut und Entsetzen rangen in ihr, während sie ihm dabei zusah, wie er die Schere auf- und zuschnappen ließ und gleichzeitig noch immer seine andere Hand an der Hose abwischte. Wut gewann. „Für wen halten Sie sich eigentlieh? Ich bin keine Hure, und Sie wissen rein gar nichts über meine Beziehung zu meiner Mutter.“ Warum rieb er sich nur andauernd die Hand an seinem Hosenbein ab? Dieser Mann war zu unheimlich, um es in Worte fassen zu können.
„Ich kenne dich. Ich kenne Mädchen deiner Art.“ Es sammelte sich noch mehr Speichel in seinen Mundwinkeln. „Ich dachte, du wärst ein reines, rechtschaffenes Mädchen, ein Vorbild für unsere Jugend, zu dem sie aufblicken kann. Es mangelte dir an Führung, doch das habe ich entschuldigt, weil du von unmoralischen Menschen umgeben bist. Doch du bist wie ein verfaulter Apfel, außen saftig, im Inneren aber verdorben.“ Er beugte sich vor, bis seine Augen mit diesem irren Blick nur wenige Zentimeter von ihren entfernt waren. „Denkst du, ich kenne dich nicht? Denkst du, du bist über jegliches Urteil erhaben? Ich weiß, was du tust, und für deine Sünden musst du bezahlen. Du hast es versäumt, mit deinem Leben ein gutes Beispiel zu setzen. Nun werde ich dafür sorgen, dass du es zumindest mit deinem Tod tust.“
Er wollte sie umbringen? O Gott, sie sehnte sich nicht nur nach Jared, sie brauchte ihn – dringend! Warum hatte sie es nur dazu kommen lassen, dass sie so weit voneinander entfernt waren? Plötzlich war ihr Stolz nicht mehr von Bedeutung. Es ist doch vollkommen egal, oh er manchmal ein Idiot ist. Ich werde sterben und habe ihm niemals gesagt, dass ich ihn liebe.
Doch auch darüber konnte sie im Moment nicht weiter nachdenken. „Damit werden Sie nicht durchkommen“, flüsterte sie, die Stimme noch rauer als sonst.
Das schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. Er starrte sie weiterhin mit kühl taxierenden Augen an. „Das Recht ist auf meiner Seite“, sprach er ernst. „Denn siehe, du bist Delila, die gefährliche Verführerin, die Schlange, die Hure von Babylon. Frauen wie du erstarrten in Sodom und Gomorrha zu Salzsäulen. Sie wurde vor Jerichos Mauern gesteinigt.“ Für einen kurzen Augenblick kehrte Vernunft in seinen Blick zurück. „Und was könntest du schon tun, um mich aufzuhalten? Schreien?“ Er imitierte ihre leicht heisere Sprechstimme. „Na, los. Niemand wird dich hören.“ Dann hob er eine Haarsträhne hoch, setzte die Schere an und schnitt sie ab.
P.J. erstarrte vor Schock, und ihre Unterlippe begann zu zittern. Aber dieser Mistkerl sollte sie auf keinen Fall weinen sehen! Und falls er gedacht hatte, dass sie hier einfach sitzen blieb und das alles still über sich ergehen ließe, so war er noch verrückter, als sie bisher angenommen hatte.
Sie sah ihn herausfordernd an. „Ich wette, Sie haben mich noch nie singen hören!“ Denn jeder, der sie im Konzert gehört hatte, wusste, dass ihre Singstimme bis in die letzte Reihe einer Arena mit dreißigtausend Plätzen dringen konnte.
Menks, der gerade eine weitere Haarsträhne zwischen die Scherenblätter gelegt hatte, hielt inne. „Dein Stolz interessiert mich nicht. Dass du dich in einem Moment wie diesem so angeberisch gebärdest, beweist nur, dass du den Tod wahrhaftig verdient hast.“
Nicht, wenn ich auch noch ein Wörtchen mitreden kann, Idiot. Und da sie dachte, dass sie ohnehin nichts weiter zu verlieren hatte, setzte sie an, um das gesamte Gebäude zusammenzuschreien.