9. KAPITEL

Mutter verspricht weitere schockierende

Enthüllungen über Priscilla Jaynes Leben

Nashville Tattler

 ast du diesen Mist gelesen?“ Wütend stürmte Hank auf die Bühne und hielt Nell die Zeitung unter die Nase. „Schockierende Enthüllungen, dass ich nicht lache! Gegen diese vermaledeite alte Schachtel muss etwas unternommen werden!“

Nell nahm die Zeitung und überflog den Artikel. „Jodeen scheint nicht wirklich irgendwelche Geheimnisse zu offenbaren“, murmelte sie, als sie fertig war. „So ist das bei diesen Schundblättern doch immer, oder nicht?“

Hank schnaubte. „Als ob es da irgendetwas zu enthüllen gäbe! Kann man da denn trotzdem nichts machen?“

„Was denn? Willst du ihr einen Killer auf den Hals hetzen?“

Er tat, als dächte er darüber nach. „Keine schlechte Idee.“ Als Nell ihn entsetzt ansah, grinste er schief. „Nein, natürlich nicht. Aber warum zum Teufel unternimmt P.J. denn nichts?“

Nell sah ihn an. „Wie ist deine Mutter denn so?“

„Meine?“ Er lachte. „Die ist toll.“

„Sie hielt dich für einzigartig und sagte immer, dass du alles erreichen kannst, wenn du nur willst?“

„Genau so. Das ist meine Mama.“

„Jodeen hat ihre Tochter meistens ignoriert oder ihr unter die Nase gerieben, was für eine Last sie doch sei, bis dann der Tag kam, an dem Peej Anstalten machte, die Gelddruckmaschine zu werden, an der Jodeen sich bedienen könnte.“

Hank runzelte die Stirn. „So sehe ich das auch.“

„Aber glaubst du nicht, dass du trotzdem einen Großteil deines Lebens damit verbracht hättest, zu hoffen, dass deine Mutter sich irgendwie in die Art von Mensch verwandelt, von dem du gerne großgezogen worden wärst?“

„Zum Teufel, nei…“ Doch dann hielt er inne und dachte nach. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“

„Eine Freundin von mir ist Krankenschwester in der Notaufnahme. Sie sieht jede Menge misshandelte Kinder, mit gebrochenen Knochen, deren Röntgenaufnahmen dann oft noch weitere, bereits verheilte Brüche zeigen – zu viele, als dass sie von Unfällen stammen könnten. Und immer wieder leugnen all diese Kinder, dass ihre Eltern etwas mit den Verletzungen zu tun hätten. Es ist ein eingebauter Abwehrmechanismus, weil die Wahrheit zu schrecklich ist, um sie zuzugeben.“

„Mist.“

„Ja.“ Nell schüttelte den Kopf. „Wir können nichts daran ändern, dass P.J. Pech bei der Verteilung ihrer Eltern hatte, und ich glaube, sie wäre auch nicht allzu begeistert, wenn sie wüsste, dass wir darüber reden. Willst du mir stattdessen bei einem Song helfen, an dem ich gerade arbeite? Ich habe ihn schon etliche Male am Klavier gespielt, aber ich würde gern hören, wie er auf der Geige klingt.“

„Sicher doch.“ O Mann, diese Frau war toll! Sie war klug und witzig und talentiert – und er mochte wetten, dass sie sich warm und weich und fantastisch anfühlte, falls er es jemals schaffen sollte, näher an sie heranzukommen.

Aber sie schwärmte wohl für Eddie, diesen Idioten, der einer Frau wie Nell in einer Million Jahren nicht gerecht werden könnte. Vorausgesetzt, er bekäme überhaupt die Chance dazu, denn dafür müsste dieser Dummkopf sich auch einmal für weniger oberflächliche Dinge interessieren. Allerdings ähnelte Nell den jungen Dingern mit doppelt so viel Brustumfang wie IQ so wenig, dass das nicht sehr wahrscheinlich war.

Allerdings musste Hank zugeben, dass sein Bandkollege, der seine Hose offenbar nicht länger als vier oder fünf Stunden anbehalten konnte, immerhin nicht vorgab, anders zu sein, als er nun einmal war. Er war offen und aufrichtig und hielt auch mit seinen Schwächen nicht hinter dem Berg.

Vielleicht sollte ich mir eine Scheibe davon abschneiden, dachte Hank. Denn er wusste verdammt gut, dass Eddie, würde er sich auch nur im Mindesten für Nell interessieren, auch dies nicht verheimlichen würde. Er würde es sie wissen lassen.

Doch darüber wollte er jetzt lieber nicht weiter nachdenken. Er nahm seine Geige auf.

„Warte noch.“ Nell legte sanft ihre Hand auf seine, als er das Instrument unters Kinn klemmte und den Bogen hob. „Spiel hier doch bitte lieber ein Ges.“

Er beugte sich vor, um zu sehen, wohin sie auf dem Notenblatt zeigte. „Meinst du da?“

„Nein, daneben. Siehst du?“

Ein frischer, flüchtiger Duft kitzelte seine Nase. Doch anstatt ihr ein Kompliment zu machen oder ihr zu sagen, was für weiche Haut sie doch habe oder wie sehr er ihre Gegenwart genoss, nickte er nur und spielte ihren neuen Song.

Und fluchte insgeheim darüber, dass er solch ein Angsthase war.

Jared atmete tief aus, straffte die Schultern und kletterte über die beinahe leiterähnlichen Treppenstufen von hinten auf die Bühne. Er war so angespannt, dass es ihm vorkam, als würde er bei einer falschen Bewegung in tausend kleine Mosaikteile zersplittern. Das war verrückt! Konnte ein einziger kleiner Kuss Gefühle freisetzen, die fünfzehn Jahre lang unterdrückt worden waren?

Das war doch nicht möglich!

Aber so war es. Er konnte P.J. noch immer schmecken, er spürte noch immer seine Handflächen kribbeln, und seine Finger würden sich nur zu gern wieder in ihren straffen Hintern graben.

Doch er vertraute nur noch seinem Intellekt und nicht mehr seinen Emotionen. Vor fünfzehn Jahren waren seine Gefühle mit ihm durchgegangen, und als Resultat hatte er eine kurze, schreckliche Zeit lang gedacht, er hätte seinen eigenen Vater getötet. Als sein Leben sich durch Toris und Johns Fürsorge später allmählich wieder stabilisierte, hatte er geschworen, sich nie wieder von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Denn er hatte ja gesehen, wohin ihn das brachte. Also hörte er auf, spontan zu reagieren, im Affekt zu handeln. Je stärker seine Gefühle waren, desto mehr hielt er sich unter Kontrolle. Wenn das zur Folge hatte, dass ein Teil von ihm durch die dauerhafte Anstrengung, nicht spontan zu reagieren, erschöpft war, so war das ein vergleichsweise kleiner Preis, den er zu zahlen hatte. Tatsächlich war es so, dass er nicht wusste, was passieren würde, wenn er seinen Gefühlen freien Lauf lassen würde.

Und gerade das machte seine Reaktion auf P.J. umso schockierender. Seine sonst so eiserne Kontrolle hatte sich vorhin bei ihr in Luft aufgelöst.

Es war schon schlimm genug, dass er sich durch ihre Bemerkung über sein angeblich so perfektes Leben hatte provozieren lassen! In der kurzen Zeit seit ihrer erneuten Begegnung hatte sie es wiederholt geschafft, ihn schneller und heftiger auf die Palme zu treiben als irgendjemand sonst. Doch hatte er sich jedes Mal einigermaßen zügig wieder in den Griff bekommen.

Bis heute. Bis zu ihrem Kuss.

Verdammter Mist! Ein Kuss war ein Kuss war ein Kuss – oder zumindest hatte er das bisher immer geglaubt. Küsse waren schön und führten zu Aktivitäten, die sogar noch schöner waren. Aber ehrlich gesagt, waren sie doch mehr oder weniger immer dasselbe.

Nicht so P.J.s Kuss. Ungewollt stöhnte er auf. Es war, als hätte die Berührung ihrer Lippen seinen Verstand ausgelöscht.

Jared würde sich weiterhin so verhalten, als wäre nichts geschehen. Er würde P.J. bis zum Soundcheck im Auge behalten und mit ihr plaudern, wie er es angekündigt hatte. Er würde reden und lächeln und alles ganz zwanglos und freundschaftlich halten. Er würde die Hände in den Hosentaschen lassen und auf keinen Fall ihre Lippen betrachten. Und danach würde er im Tourbus mit ihr zusammen nach Los Angeles fahren.

Von dort aus könnte er dann endlich nach Denver zurückkehren, wo sein Leben in Grenzen verlief, die er unter Kontrolle hatte.

Als er die riesige Lautsprecheranlage auf der Bühne umrundet hatte, sah er, dass P.J. noch nicht da war. Gut. Er hatte das auch nicht erwartet, denn er war absichtlich früher gekommen.

Hank und Nell waren anscheinend sogar noch früher hergekommen. Sie saßen auf der linken Seite der Bühne, und Hank spielte einige Takte eines Liedes auf der Geige, bis Nell unterbrach, sich Notizen machte und ihn dann zum Weitermachen aufforderte.

Verdammt. Nell war ein lieber Mensch, aber Hank gehörte nicht unbedingt zu den Personen, mit denen er viel Zeit verbringen wollte.

Aber das waren nun mal die Bedingungen. Wie hatte der alte Philosoph Mick Jagger schon gesungen: You can’t always get what you want. Du kannst nicht immer kriegen, was du willst. Jared verscheuchte seinen Frust durch langes, tiefes Ausatmen, zwang sich zu einem fröhlichen Gesichtsausdruck, schob die Hände in die Taschen und spazierte über die Bühne.

Hank entdeckte ihn zuerst, und das feine Lächeln um seine Mundwinkel verschwand. „Ach du Schreck.“ Er nahm die Geige herunter und bedachte Jared mit seinem üblichen Was-zum-Teufel-hast-du-in-meinem-Territori-um-zu-suchen-Blick. Dann drehte er sich zu Nell. „Gibst du mir bitte mal die Zeitung, Neil?“

Sie reichte ihm eine Zeitung, die aussah wie die Ausgabe eines Revolverblatts, und Hank drückte es Jared in die Hand. „Hier. Warum machen Sie sich zur Abwechslung nicht mal nützlich und unternehmen etwas dagegen?“

„Hank“, versuchte Nell ihn zu beruhigen.

Jared blickte auf das Titelblatt und fluchte, als er die Schlagzeile las. Dann wandte er sich kurz ab, um den ganzen Artikel zu lesen.

Als er fertig war, warf er die Zeitung nicht zu Boden und trampelte darauf herum oder zog Streichhölzer hervor, um sie anzuzünden, so wie er es am liebsten getan hätte. Stattdessen gab er sie Nell zurück. „Himmel, wie ich diese Frau hasse“, murmelte er, ohne den Blick vom Nashville Tattler mit seiner schreienden Schlagzeile zu nehmen. „Sie war vor fünfzehn Jahren schon ein hinterhältiges Biest und hat sich seitdem wohl kein bisschen geändert.“

„Sie kennen P.J.s Mutter?“, erkundigte sich Neil.

Er war überrascht. Hatte er das tatsächlich laut gesagt? Was soll’s. Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich Sorgen zu machen, wer von seiner Vergangenheit erfahren könnte. „Wir sind uns nie begegnet, aber ich weiß, dass sie eine Lügnerin ist und eine lausige Mutter. Diese Geschichte, P.J. sei mit dreizehn von zu Hause fortgelaufen, ist totaler Schwachsinn. Ihre Mutter hatte sie rausgeworfen.“

„Und woher wollen ausgerechnet Sie das wissen?“, fragte Hank misstrauisch nach.

„Weil er damals mit mir auf der Straße gelebt hat“, erklang P.J.s Stimme hinter ihnen.

Verdammt. Jared drehte sich zu ihr um. Er hätte viel darum gegeben, wenn sie diesen Teil des Gesprächs nicht mit angehört hätte. Doch nun war die Katze aus dem Sack.

„Ja, genau“, spöttelte Hank. „Unser Mister 100-Dollar-T-Shirt! Erzähl doch keine Märchen, P.J.!“

Jared reichte es allmählich. „Was ist los mit Ihnen? Glauben Sie etwa, schlechte Eltern gibt es nur in armen Familien? Neben meinem Vater hätte P.J.s Mutter glatt als Mutter Teresa durchgehen können.“

„Das glaubst auch nur du“, schnaubte P.J. „Meine Mutter hätte reglos daneben gestanden, als dein Vater den Brieföffner ins Herz gerammt bekam.“

Oh Gott! Sie konnte nicht fassen, dass sie darüber auch noch Witze riss! Und dennoch lag etwas sehr Befreiendes darin, es endlich auszusprechen, nachdem sie sich jahrelang eingeredet hatte, alles würde gut werden, wenn sie nur fest genug daran glaubte. Tatsache war, dass ihre Mutter niemals die sein würde, die P.J. sich ihr Leben lang erträumt hatte. Und während sie noch nicht annähernd so weit war, diese Erkenntnis mit dem Rest der Welt zu teilen, konnte sie es zumindest vor diesen Menschen hier zugeben. Sie waren schließlich ihre Freunde.

Nun ja, zumindest zwei von ihnen waren es.

Jared blickte kühl auf sie herab. „Hätte mein Vater überlebt, hätte deine Mutter ihr Haupt in Demut vor ihm neigen müssen, denn im Vergleich zu ihm war sie nur mittelmäßig abscheulich.“ Nun zeigte sich ein feines Schmunzeln in seinen Mundwinkeln.

P.J. sah die entsetzten Gesichter von Nell und Hank und konnte sich ebenfalls ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie und Jared mochten keine Freunde im herkömmlichen Sinne sein, doch ihre gemeinsame Zeit in Denver hatte ein Band zwischen ihnen geknüpft, das niemals reißen würde, sosehr sie es auch dehnten. Und wenn sie ihn nach dem morgigen Tag niemals wiedersehen würde, so wären sie durch ihre gemeinsamen Erlebnisse als Teenager dennoch für immer miteinander verbunden. Zusammen hatten sie Dinge überstanden, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen konnten.

Jared richtete einen gleichmütigen Blick auf Hank. „Tun Sie mir bitte einen Gefallen und hören Sie auf, irgendwelehe Vermutungen über mich anzustellen. Sie haben nicht die geringste Ahnung.“

P.J. merkte, wie Hank sich versteifte, und stellte sich vorsichtshalber zwischen die beiden.

Jared legte seine Hände auf ihre Schultern und fuhr über ihren Kopf hinweg fort: „Aber da ich nichts anderes im Sinn habe, als Ihnen den Tag zu versüßen, gebe ich hiermit bekannt, dass ich verschwinde, sobald wir in L.A. angekommen sind.“

„Und das keinen Moment zu früh“, brummte Hank. Doch der Blick, mit dem er Jared bedachte, war weitaus nachdenklicher als sein übliches abfälliges Starren.

P.J. dagegen fühlte sich irgendwie kribbelig. Unzufrieden. „Wo ist Eddie?“, wollte sie wissen und erschrak selbst über ihren gereizten Tonfall.

„Hier bin ich, Goldkehlchen.“

Er stand mit einer jungen blonden Frau im Arm am Bühnenrand, die aussah, als wäre sie noch minderjährig. „Wir warten“, rief P.J. ungeduldig.

„Ich komme ja schon.“ Er drückte die Blondine fest an sich, ließ sie dann los und schlenderte auf die Bühne.

P.J. drehte sich zu Hank. „Und die Band?“

„Die meisten sind noch hinten“, antwortete er. „Ich sag ihnen Bescheid, dass es losgeht.“ Er verschwand hinter die Lautsprecher und rief die Treppe hinunter in den höhlenartigen Gang, der hinter der Bühne lag. Männerstimmen antworteten, dann erklangen auf den Stufen Schritte.

„Gut“, sagte P.J., obwohl sich im Moment nichts gut anfühlte. „Ich weiß nicht, was mit euch ist, aber ich habe noch einige Dinge zu erledigen. Können wir anfangen? Ist Lenny am Mischpult?“

Aus dem dunklen Orchestergraben kam eine Zusage, und P.J. nickte. „Also gut. Legen wir los.“

Sie beobachtete, wie Jared quer über die Bühne zu dem Seitenflügel ging, in dem die Blondine stand, und bekam deshalb nicht mit, dass Hank mit ihr sprach. Sie drehte sich zu ihm um. „Wie bitte?“

„Spielen wir in gewohnter Reihenfolge? Ich weiß nicht, ob ich beim ersten Song das Banjo oder die Geige nehmen soll.“

„Oh.“ Sie musste eine Sekunde nachdenken, dann zuckte sie mit den Schultern. „Jaja, wie immer.“ Was auch immer das war.

„Also Banjo.“

Missmutig schüttelte sie den Kopf, während Hank sich anschickte, die Instrumente auszutauschen. Was war nur mit ihr los? Falls ihre Gereiztheit an den ständigen Ortswechseln lag, war das kein gutes Zeichen. Die Tour hatte doch gerade erst begonnen.

Nell schob etwas, das wie die Song-Liste aussah, unter ihr Klemmbrett und ging zur Bühnenmitte, wo die anderen Musiker sich allmählich auf ihrem Podest versammelten. Als alle da waren, drehte sie sich zu P.J. und nickte. „Wir können anfangen.“

„Okay, den ersten Song, bitte“, sagte sie. Irgendwie war sie heute nicht in der richtigen Stimmung und wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Die Band begann mit der ersten Nummer, als plötzlich oberhalb der Bühne ein kurzes, metallisches Quietschen ertönte. Die Musik brach ab, doch als nichts mehr zu hören war, nahmen die Musiker ihre Instrumente wieder auf. Noch ehe sie mit dem Lied beginnen konnten, ertönte das Geräusch erneut – ein kurzes, gellendes Kreischen, das so abrupt wieder aufhörte, wie es begonnen hatte.

Alle sahen nach oben. „Was, zum Teufel …“, rief jemand.

Dann gab es einen längeren schrillen Laut, und das Nächste, was P.J. wahrnahm, war Jared, der auf sie zurannte. „Runter von der Bühne!“, brüllte er, und während alle vor Schreck erstarrten, sprang er durch die Luft.

Mitten im Sprung schnappte er Nell und riss sie mit sich zu Boden, kurz bevor ein riesiger metallener Scheinwerfer mit der Geschwindigkeit eines Baseballs genau über die Stelle schwang, an der sie gerade gestanden hatte. Eines der Seile, an denen er befestigt war, war offenbar durchtrennt worden.

„Unten bleiben!“ Jared lag über Nell gebeugt, bereit, den Stoß des Scheinwerfers hinzunehmen, falls er zurückschwingen sollte.

Und tatsächlich befanden sie sich noch immer in seiner Bahn, als der Scheinwerfer den höchsten Punkt seiner Schwungkurve erreichte und wieder umkehrte. Möglicherweise hing er allerdings hoch genug, um die beiden nicht zu treffen, aber P.J. wollte nicht darauf wetten.

„Kann irgendjemand das Ding anhalten?“, brüllte sie und rannte selbst in seine Richtung.

Hank überholte sie, stellte sich dem Scheinwerfer in den Weg und fing ihn auf, bevor er Jared und Nell erreichte. P.J. hörte ihn aufstöhnen, als die heiße, metallene Fassung auf sein Zwerchfell schlug. Trotzdem schlang er die Arme darum und drückte ihn fest an seinen Körper. „Gütiger Himmel“, flüsterte er dann, ließ den Scheinwerfer los und fasste das Seil, mit dem er an dem Gerüst oberhalb der Bühne befestigt war. Auf seinen Oberarmen brannten rote Striemen.

„Das war heiß, oder?“, fragte P.J. besorgt nach.

Hank zuckte mit den Schultern, und P.J. schlug sich an den Kopf.

„Was für eine dumme Frage – natürlich war das heiß!“

Als Eddie kam, um zu helfen, drückte Hank ihm das Seil in die Hand und ging neben Jared und Nell in die Hocke. „Alles okay bei euch?“

„Mir geht’s gut“, erwiderte Jared, löste sich von Neil, blieb aber neben ihr auf den Knien und strich ihr behutsam über Kopf und Schultern. „Was ist mit Ihnen? Ist alles in Ordnung? Habe ich Sie verletzt?“

Nell stöhnte, rollte langsam herum und setzte sich auf. Blinzelnd sah sie von Hank zu Jared. „Was zum Teufel ist passiert?“

Der stämmige Inspizient kam atemlos herbeigeeilt. P.J. stellte sich zwischen ihn und Hank, als der Musiker ihn angriffslustig anstarrte. „Können Sie mir sagen, was hier passiert ist?“

„Die Sache tut mir schrecklich leid, Miss Morgan. Wir werden den Vorfall selbstverständlich untersuchen.“

„Das reicht mir nicht“, knurrte Hank. „Neil hätte ernsthaft verletzt werden können!“

„Mir ist aber nichts passiert“, sagte sie und kam mit Jareds Hilfe auf die Füße. Sie ging zu Hank und tätschelte seinen Arm. „Es geht mir gut. Ich bin ein bisschen zittrig, aber sonst ist alles in Ordnung. Gib ihm keine Schuld. Unfälle passieren nun mal.“

Dennoch breitete sich eine allgemeine Nervosität aus, die nicht nur daher rührte, dass sie mit dem Soundcheck warten mussten, bis die Bühnenarbeiter alle anderen Scheinwerfer überprüft hatten. Auch über ihrem Konzert später am Abend lag eine eigenartige, unruhige Stimmung. Als sie den letzten Ton gesungen hatte, wusste P.J., dass sie diesmal nicht ihre beste Vorstellung abgegeben hatte. Zum Glück schien das Publikum nichts weiter bemerkt zu haben.

Sie ahnte, dass das nicht allein am Unfall mit dem Scheinwerfer gelegen hatte, und fühlte sich seltsam verzagt und deprimiert, als sie sich nach dem Konzert in ihrer Garderobe abschminkte. Kurz darauf trat sie wieder in den breiten Korridor hinaus und freute sich, dass Nell auf sie gewartet hatte. Arm in Arm gingen die beiden Freundinnen über den kalten Linoleumboden, und ihre Schritte hallten von den Betonwänden zurück. Das gleißende Licht der Leuchtstoffröhren gab keinen Hinweis darauf, wie spät es schon war.

„Ich bin froh, wenn ich diese Stadt hinter mir gelassen habe“, sagte Neil.

„Ich auch.“ Doch irgendwie war sie noch nicht bereit, weiterzufahren, ganz gleich, wie sehr sie sich bisher auf L.A. gefreut hatte.

Hank stand neben dem Bus und rauchte, Jared war einige Meter entfernt.

„Was macht ihr hier draußen?“, erkundigte sich P.J., als sie und Nell näher kamen. Sie war überrascht, die beiden Männer zusammen zu sehen.

„Marvin ist nicht da“, entgegnete Jared, stieß sich vom Bus ab und gab dem Fahrzeug einen freundschaftlichen Klaps. „Der Bus ist abgeschlossen, was natürlich gut ist, wenn auch im Moment etwas lästig.“

„Wo kann er denn hingegangen sein? Normalerweise ist er doch da, wenn wir ihn brauchen.“

Jared zuckte mit den Schultern, und Hank rollte seine Zigarette zwischen den Fingern. „Interessantes Konzert heute Abend“, meinte er.

„Ja“, erwiderte P.J. düster. „Nicht gerade unser bestes.“

„Wenn ein Scheinwerfer aus heiterem Himmel wie eine Rakete auf dich zuschießt, kann das die Stimmung schon mal beeinträchtigen.“

Da kam Marvin angehastet. „Tut mir leid, Miss Morgan“, keuchte er. Sein schütteres, rötliches Haar stand in elektrisierten Büscheln ab. „Ein Jugendlicher sagte mir, im Büro sei ein Anruf von zu Hause für mich. Das muss ein Streich gewesen sein. Das Büro war geschlossen, und meine Frau hatte keine Ahnung, wovon ich sprach, als ich sie vom Handy aus anrief.“ Er schnitt eine Grimasse. „Ich hätte gleich daran denken können! Sonst ruft sie mich ja auch immer auf meinem Handy an.“

Jared horchte auf und streckte die Hand aus, um Marvin vom Aufschließen des Busses abzuhalten. Er deutete auf die Taschenlampe an Marvins Gürtel. „Kann ich mir die mal ausleihen?“

Zögernd reichte Marvin ihm die Lampe.

Jared leuchtete die Türen ab und legte sich dann auf den Boden, um auch unter den Bus zu sehen.

P.J. wurde nervös. Das sah überhaupt nicht gut aus.

„Was zum Teufel machen Sie da?“, bellte Hank. „Suchen Sie etwa nach einer Bombe oder so etwas?“

„Uns ist heute beinahe ein Scheinwerfer auf den Kopf gefallen“, erwiderte Jared ruhig. „Das war bestimmt ein Unfall, aber …“

„Sie haben recht“, unterbrach Hank und blickte zu Nell. „Wenn es um Sicherheit geht, kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Kann ich Ihnen helfen?“

Während der Fahrer erschrocken die Hände vor den Mund schlug, sagte Jared: „Ja, gehen Sie etwa zur Mitte des Busses und schauen Sie darunter nach, ob Sie etwas Ungewöhnliches sehen, wenn ich mit der Taschenlampe hinleuchte.“

Nell erzählte Marvin alles über den Unfall mit dem Scheinwerfer, während die Männer den Bus inspizierten. Einige Minuten später gab Jared dem Fahrer die Taschenlampe zurück. „Alles in Ordnung“, sagte er. „Sie können den Bus aufschließen.“

Marvin tat es, hielt jedoch inne, als er nach dem Aufschwingen der Türen seinen Fuß auf die erste Stufe der Einstiegstreppe setzte. „Was ist das?“

Jared schob sich an ihm vorbei und hob einen zerknitterten, braunen Umschlag auf, der offensichtlich unter der Tür hindurchgeschoben worden war. Er hielt ihn an den äußersten Ecken fest und marschierte bis zum kleinen Küchentisch. „Könnten Sie mal das Licht anmachen, Marvin?“

P.J. stand bereits neben ihm, als Jared ein Steakmesser aus der Schublade holte, doch als sie ihre Hand ausstreckte, wehrte er ab.

„Aber er ist an mich adressiert“, protestierte sie und deutete auf den Namen, der in Blockschrift auf den Umschlag geschrieben war.

„Ich weiß. Versuch aber bitte, ihn so wenig wie möglich zu berühren für den Fall, dass wir ihn der Polizei übergeben müssen.“

„Wer und was sind Sie eigentlich?“, verlangte Hank zu wissen, und erst jetzt merkte P.J. dass auch er und Nell in den Bus gestiegen waren. „Für den Handlanger einer Plattenfirma sind Sie verdammt wachsam.“

„Ich bin kein Angestellter von Wild Wind Records. Ich bin Mitinhaber der Ermittlungs- und Sicherheitsagentur Semper Fi Investigations, die Wild Wind für diesen Auftrag engagiert hat.“ Er schob die Klinge unter die zugeklebte Lasche des Umschlags.

„Semper Fi, soso. Dann waren Sie also bei den Marines?“

Jared nickte, während er sich darauf konzentrierte, den Umschlag unter möglichst wenig Berührung zu öffnen, und P.J. riss sich vom Anblick seiner Hände los und starrte ihn überrascht an.

„Warst du?“

„Ja. Nicht als Berufssoldat wie Rocket, aber ich habe vier Jahre gedient.“ Er schlitzte den Umschlag auf. Zu Hank gewandt, fügte er über die Schulter hinzu: „Semper Fi ist auf Ermittlungen und Personenschutz spezialisiert.“ Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Umschlag. „Dann wollen wir doch mal sehen, was wir da haben.“

Behutsam ließ er den Inhalt herausfallen, der sich als einzelne Seite aus einer Hochglanzzeitschrift entpuppte.

P.J. erkannte ihr Foto sofort wieder. Es war vor einigen Monaten für die Zeitschrift Country Connection aufgenommen worden. Einige Sekunde lang starrte sie es nur an.

„So eine Scheiße!“, knurrte Hank, und erst da begriff sie voller Entsetzen, was sie sah.

Jemand hatte zwei Löcher in ihre Augen hineingeschnitten. Und auf ihr Dekollete stand in Blockbuchstaben geschrieben:

WENN DICH DEIN AUGE ZUR SÜNDE
VERFÜHRT, SO REISS ES AUS.