5. KAPITEL
Priscilla Jane bei Kneipenauftritten
im Westen der USA gesichtet
– Modern Twang Weekly –
A ls der Mann seinen Briefkasten öffnete und dort einen großen braunen Umschlag vom Ausschnittdienst fand, den er vor Kurzem beauftragt hatte, Zeitungsartikel über eine bestimmte Person für ihn zu sammeln, kam sein Gesichtsausdruck einem Lächeln so nahe, wie schon seit Langem nicht mehr. „Dem Herrn sei Dank“, murmelte er und kehrte den Fußweg zu seinem Haus flinker als gewöhnlich zurück. Er freute sich schon darauf, Neuigkeiten über Priscilla Jayne zu lesen, denn er bewunderte sie sehr.
Nun, das stimmte nicht ganz. Ihr neuer Song, der in letzter Zeit so häufig im Radio gespielt wurde, gefiel ihm beispielsweise überhaupt nicht. Und doch … „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“, deklamierte er voller Inbrunst, „auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt.“ Dieser Vers aus dem zweiten Buch Mose war eine der relevantesten Textstellen der Bibel, und offenbar hatte Priscilla Jayne ihre Bedeutung verstanden. Damit unterschied sie sich von Millionen anderen Frauen im heutigen Zeitalter der Unmoral.
Seine eigene Tochter hatte es nicht geschafft, ihrem Vater den nötigen Respekt zu erweisen!
Doch schnell schüttelte er den Kopf. Nein. Darüber wollte er nicht nachdenken.
Nicht jetzt. Nicht heute.
Er betrat sein bescheidenes Haus und ging direkt ins Esszimmer, wo er zur Abwehr neugieriger Blicke und der heißen Sonne die Vorhänge zuzog. Allerdings war es nun zu dunkel, und die Deckenlampe gab nicht genug Licht ab. Doch er hatte mit zu viel Spannung auf diese Artikel gewartet, als dass ihm jetzt auch nur ein Wort entgehen durfte.
Also holte er die Stehlampe aus dem Wohnzimmer dazu und steckte das Kabel in eine Steckdose.
Mit zufriedenem Nicken ging er noch einmal in die Küche, um sich ein Glas Eistee einzuschenken, war aber zu ungeduldig, um es wie gewohnt am Küchentisch zu trinken. Er nahm das Glas mit ins Esszimmer, stellte es auf eine Papierserviette, die er exakt in die Mitte des Esstischs platziert hatte, und schlitzte den Umschlag auf. Dann schüttelte er den Inhalt auf den makellos sauberen Tisch, schichtete die Zeitungsausschnitte ordentlich aufeinander, nahm einen Schluck Tee und stellte das Glas genau am selben Punkt wieder ab, von dem er es genommen hatte. Sein Herz klopfte vor Aufregung schneller, als er nach dem ersten Artikel griff.
Nachdem er ihn gelesen hatte, beschleunigte sich sein Puls aus einem anderen Grund: Priscilla Jayne hatte ihre Mutter als Managerin entlassen?
Das entsprach nicht dem Vierten Gebot. Es entsprach auf keinen Fall dem Verhalten einer guten Tochter.
Trotzdem stand es dort schwarz auf weiß, allerdings in einer Ausgabe der Sensationspresse. Vielleicht hatten sie die Wahrheit absichtlich verdreht, um mehr Umsatz zu machen. Aus diesem Grund wurden solche Zeitungsverlage ja auch ständig verklagt. Er nahm den nächsten Artikel zur Hand.
Wenige Minuten später hatte er den gesamten Stapel durchgearbeitet. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und legte eine geballte Faust neben den sorgfältig zusammengeschobenen Papierstapel. Was war aus all den vorbildlichen Anschauungen geworden, die Priscilla Jayne vor einigen Monaten in ihrem Interview mit Country Music Television geäußert hatte? Sie hatte so ganz anders gewirkt als die normalen Frauen von heute – weitaus moralischer und reiner. Das genaue Gegenteil seiner Tochter Mary! Er hatte die Sängerin sofort hoch geschätzt.
Nun allerdings war sie offenbar weit davon entfernt, ihre Mutter zu ehren. Während sich ihm die Fingernägel in die Handfläche bohrten, starrte er auf die verblichene Tapete an der Wand gegenüber, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Das war nicht recht. Eine Sünde.
„Herzlichen Dank und Gute Nacht, Klamath Falls! Sie waren ein großartiges Publikum!“ P.J. trat vom Mikrofon zurück, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und griff nach ihrer Wasserflasche. Die Meute auf der Tanzfläche und an den umstehenden Tischen brüllte vor Begeisterung, und P.J. lachte glücklich. Sie hatte an sieben aufeinanderfolgenden Abenden gespielt, doch als die Bühnenbeleuchtung allmählich ausging, spürte sie ihre Erschöpfung. Sie bedankte sich bei der Band, mit der sie heute spontan aufgetreten war, und verließ die Bühne.
Morgen würde sie in Portland, Oregon, ihre eigene Band treffen. Mit der Anreise und dem Soundcheck, den sie für den Nachmittag in der Arena vereinbart hatte, sowie dem Konzert selbst würde es ein langer und anstrengender Tag werden. Aber das war morgen. Heute wollte sie nur noch an ihr Bett im Crater Lake Inn denken.
Der Gedanke an ihr Zimmer munterte sie auf, und sie warf einen triumphierenden Blick in Jareds Richtung. Vermutlich sah er sie überhaupt nicht, denn er saß ganz hinten im Lokal, die Füße auf dem Tisch, die Arme über der Brust verschränkt und seinen neuen, schiefergrauen Resistol tief ins Gesicht gezogen. Aber das machte nichts. Wenn er auch von ihrem Triumph hier nichts mitbekam, würde er ihn spätestens im Hotel bemerken, wo sie das allerletzte freie Zimmer ergattert hatte. Wie der Angestellte am Empfang ihr mitgeteilt hatte, war die wunderschöne, aus Holz und Naturstein erbaute Pension bereits seit Monaten ausgebucht. P.J. hatte ihr Zimmer nur zufällig aufgrund einer kurzfristigen Stornierung erhalten.
Sie durchquerte die Bar, stieß die Tür auf und zog sich auf dem Weg zum Auto einen Pulli über. Inzwischen hatte sie sich auf die kühlen bis kalten Nächte im pazifischen Nordwesten der USA eingestellt. Sie beschleunigte ihre Schritte, drückte den Türöffner am Autoschlüssel und hörte das leise Ploppen der sich entriegelnden Schlösser.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren: Die Welt, wie wir sie kannten, ist seit heute Abend eine andere“, hörte sie plötzlich Jareds Stimme hinter sich. „Priscilla Jayne hat mich nicht aus der Bar werfen lassen!“
Es sagte durchaus etwas über ihren wochenlangen Wettkampf aus, dass sie beim Klang seiner Stimme nicht einmal zusammenzuckte. Da sie sich heute als Siegerin fühlte – sie hatten bisher relativ ausgewogen gepunktet –, schenkte sie ihm ihr schönstes Lächeln.
„Angesichts der Tatsache, dass du den Rest der Nacht frierend in deinem Auto verbringen wirst, hielt ich es für fair, dir wenigstens ein bisschen Komfort zuzugestehen.“
„Das war ja auch wirklich das Mindeste.“ Er musterte sie. „Du bist ganz schön zufrieden mit dir, wie?“
„O ja, das bin ich.“ Sie tanzte ausgelassen ein paar Schritte, bevor sie die Fahrertür öffnete und in den Wagen stieg. Während sie den Motor anließ, fuhr sie die Scheibe herunter, streckte dann den Arm durchs Fenster und kniff Jared gutmütig ins Kinn. Seine Bartstoppeln pieksten ihr in die Fingerspitzen, und hastig zog sie die Hand zurück. Sie räusperte sich.
Dann grinste sie ihn frech an. „Wir sehen uns morgen, Schnucki.“
Sie hatte nichts anderes vor, als den Rest der Nacht in ihrem Bett zu verbringen. Und es wäre absolut sinnlos, sich morgens heimlich aus dem Hotel zu schleichen – Jared wusste schließlich genau, wohin die Fahrt ging. Sie würde ihn am nächsten Tag bestimmt früher oder später sehen.
Doch sie hatte schon seit Stunden nichts mehr gegessen, und als der Hunger sie kurz nach Betreten ihres Zimmers noch einmal auf den Korridor trieb, um dort den Snack-Automaten zu plündern, dachte sie nicht eine Sekunde daran, einen Blick auf den Fußboden zu werfen. Sie merkte nur, dass sie mit dem Schienbein gegen etwas Hartes stieß, hörte ein Grunzen und stolperte mit Schwung über irgendetwas, das mitten vor ihrer Tür lag. Sie landete auf Händen und Knien auf dem Korridorteppich und sah sich verwundert um.
Ihre nackten Füße waren an Jared hängen geblieben. Auf allen vieren kroch sie vorwärts, um Abstand zu gewinnen, drehte sich dann um, setzte sich auf die Fersen und knuffte ihn mit ausgestrecktem Arm in die Schulter. „Was machst du denn hier? Ich hätte mir den Hals brechen können!“
Jared rieb die Stelle, auf die sie ihn geschlagen hatte, blickte sie aus müden Augen an und gähnte. „Tja, also, eigentlich habe ich geschlafen, bevor du versucht hast, mir die Rippen zu brechen.“ Er lag seitlich, den Kopf auf einem Oberarm abgelegt, streckte nun die andere Hand aus und fasste P.J. am Oberschenkel, knapp über dem Kniegelenk.
„Du schläfst im Korridor – wie ein Penner im Hauseingang?“ Sie befreite ihr Bein aus seinem Griff. „Sag mal, tickst du noch ganz richtig?“
„Wahrscheinlich nicht. Aber falls du beim Herfahren das Schild gelesen hast, weißt du, dass wir uns in über zweitausend Meter Höhe befinden. Nur jemand, der vollkommen irre ist, würde bei höchstens fünf Grad draußen schlafen, wenn es hier drinnen einen warmen Korridor gibt. Ganz zu schweigen von ausreichend Platz, um sich auszustrecken.“ Er stützte sich auf dem Ellenbogen ab und musterte interessiert ihre Beine, ihre ausgeblichenen roten Boxershorts, ihr Trägerhemdehen und dann ihr frisch geschrubbtes Gesicht. P.J. wurde bewusst, wie schrecklich sie aussehen musste. „Und wer wird mich hier nachts um halb drei schon sehen?“, fragte er lakonisch. „Ich habe mir den Wecker so gestellt, dass ich weg bin, bevor die meisten Gäste aufstehen.“
„Die meisten, ja. Aber es muss nur einer früher aufstehen, der dich dann erwischt.“
„Und wenn schon. Dann sage ich einfach, meine Frau hat mich rausgeworfen. Glaub mir, Süße: Wenn es ein Mann ist, wird er das schlucken. Der Kerl, der Logik und Vernunft im weiblichen Hirn vermutet, ist noch nicht geboren worden.“
Sie warf ihm einen Blick zu, der ihn auf der Stelle hätte niederstrecken müssen, doch leider konnten Blicke nicht wirklich töten. „Ich sollte dich noch mal treten, nur um in Übung zu bleiben.“
Jared griff hinter sie, fasste den Fuß, mit dem sie über ihn gestolpert war, und massierte ihren Spann. Sein Oberarm lag warm auf ihrem Bein, sein Griff war fest und knetete genau die richtigen Muskeln, und ihre Müdigkeit wirbelte fort wie Wasser durch den Ausguss. Doch als sein Daumen an der Stelle, wo sie auf den Fersen saß, ihren Po streifte, rückte sie von ihm ab.
Er zuckte mit den Schultern, zog die Hand zurück und kratzte sich den Bauch. „Du hast nur einen Tritt frei, Süße, und den hast du schon verbraucht.“ Dann lächelte er charmant. „Du hast ein schönes großes Zimmer. Warum lässt du mich nicht auf der Couch schlafen?“
„Ich habe keine Couch.“
„Dann auf dem Boden.“
„Träum weiter.“
„Komm schon, was könnte denn schlimmstenfalls passieren?“ Plötzlich war die Erschöpfung aus seinen graugrünen Augen verschwunden. „Hast du etwa Angst, ich könnte dich verführen?“
„Was?“ Erschrocken und mit einer gewissen Unruhe im Blick richtete sie sich auf die Knie. „Natürlich nicht!“ Das war ihr tatsächlich nicht in den Sinn gekommen, aber nachdem er diese Möglichkeit in Worte gefasst hatte, beschwor sie ein Bild herauf, das sich nicht mehr abschütteln ließ.
Er kam ebenfalls auf die Knie, wobei er sie natürlieh überragte, und alles, was sie im ersten Augenblick sah, war sein breiter Brustkorb, über den sich ein graues T-Shirt spannte. „Das glaube ich aber doch“, sagte er mit tiefer Stimme. „Ich denke, du hast Angst, dass ich versuchen könnte, dich zu küssen.“ Sein Blick wanderte von ihren Lippen zu ihren Brüsten und dann zu ihren nackten Beinen. „Oder vielleicht, dich zu berühren.“
„Das ist doch verrückt! Kein einziges Mal habe ich daran ged…“ Und das stimmte. Seit sie als Kind gelernt hatte, sich nicht an unerreichbare Träume zu klammern, waren weder ihre Gedanken noch ihre Fantasien weiter gegangen als bis zu einem unschuldigen Kuss mit geschlossenen Lippen. Doch nun betrachtete sie seinen Mund, seine Hände …
Sie sprang auf. „Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank! Los, hau ab. Diesen Mist höre ich mir nicht länger an.“ Sie drängte sich an ihm vorbei, während auch er aufstand, und versuchte, ihre Schlüsselkarte in die Tür zu schieben, was ihr vor Nervosität nicht sofort gelang.
Ihr war, als fühlte sie seine Finger über ihre Locken streichen, und als das Licht schließlich auf Grün sprang, stieß sie schnell die Tür auf, um von ihm wegzukommen. Doch als sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen wollte, sah sie, dass er seine Hand daran abstützte.
„Was ist denn los, Peej?“, fragte er sanft. „Ich habe doch nur gefragt, ob du dir über meine Absichten Sorgen machst. Ich habe nicht gesagt, dass diese Sorgen begründet sind. Ich bin Profi. Ich fange nie etwas mit Klientinnen an.“
„Ich bin nicht deine Klientin“, gab sie barsch zurück und hätte sich dafür ohrfeigen können. Er hatte sie nur auf den Arm genommen! Sie schämte sich, weil sie gedacht hatte, er würde einen Annäherungsversuch machen – und, schlimmer noch, weil sie darauf reagiert hatte. Sie reckte ihr Kinn nach oben und trat einen großen Schritt auf ihn zu, um ihm – und sich selbst – zu beweisen, dass er als billiger Romeo-Verschnitt sie nicht einschüchtern konnte. „Trotzdem ist das gut zu wissen. Ich dachte schon, du hättest jegliches Niveau verloren.“
„Auf keinen Fall“, murmelte er und lächelte.
Für einen kurzen Moment wanderte ihr Blick wieder zu seinen Lippen, doch sie rief sich sofort zur Ordnung. „Gute Nacht“, sagte sie streng.
Als sie diesmal zurücktrat und die Tür zuwarf, spürte sie keinen Widerstand. Mit rotem Gesicht und heftig klopfendem Herzen tapste sie ihn ihr Schlafzimmer und warf sich aufs Bett.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie endlich einschlafen konnte.
P.J. hat recht, dachte Jared acht Stunden später zum etwa hundertsten Male. Du hast tatsächlich nicht alle Tassen im Schrank. Er näherte sich Medford, Oregon, und starrte auf das Heck ihres Trucks, der vor ihm her fuhr. Dann wanderten seine Gedanken wieder zu der Szene vor ihrer Zimmertür, über die er seit halb drei Uhr früh nachgrübelte.
Es war doch so schon schlimm genug. Was zum Teufel hatte er sich dabei gedacht, auch noch Sex in dieses Durcheinander hineinzubringen?
Zu gern würde er behaupten, dass es zu ihrem Wettstreit der letzten Woche gehört hatte, bei dem sie sich gegenseitig hatten ausstechen wollen. Doch obwohl er P.J. gegenüber so getan hatte, als wäre es nichts weiter als eine gute Gelegenheit, um sie aufzuziehen, konnte er sich das selbst nicht einreden. Denn sie zu verunsichern und seine körperliche Nähe spüren zu lassen, war nicht das Ergebnis irgendeines genialen Plans gewesen. Er hatte sie nur kurz berührt, hatte sie in diesen abgetragenen Boxershorts und dem eng anliegenden Top gesehen, und sein Hirn hatte einen Kurzschluss bekommen. Da waren die Worte, die ihm durch den Kopf schwirrten, einfach aus seinem Mund gesprudelt.
Und dann war er auch noch so unverfroren gewesen zu behaupten, er sei ein Profi! Er konnte von Glück reden, wenn sie ihn nicht wegen sexueller Belästigung anzeigte.
Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Seine Professionalität war eine der, wenn nicht gar die wichtigste Sache in seinem Leben. Warum also setzte er alles, wofür er so hart gearbeitet hatte, für eine kleine Rangelei mit P.J. aufs Spiel?
Weil es sich zwar nett und spielerisch anfühlte, in Wahrheit jedoch seine Selbstachtung gefährdete. Und das zudem noch völlig unnötig – schon vor einer Woche hatte er gewusst, dass er ihr erst mit Beginn ihrer Konzerttournee persönlich gegenübertreten musste. Aber es war überraschend amüsant gewesen, mit ihr Kräfte zu messen. Sein Leben war schon viel zu lange viel zu ernst. Doch selbst wenn er sich so lebendig fühlte wie schon lange nicht mehr, war auch das nur eine Ausrede. Es gab nur zwei Dinge in seinem Leben, auf die er sich verlassen konnte: seine Familie und seine Arbeit. Die Auswahl war also nicht so groß, dass er es sich leisten konnte, auch nur eines davon zu gefährden.
Als er an seine Familie dachte, fiel ihm ein, dass er zu Hause ein großes Ereignis verpasst hatte. Froh darüber, für eine Weile die Gedanken beiseiteschieben zu können, die wie Geier durch sein Hirn kreisten, nahm er das Handy vom Beifahrersitz und wählte die Nummer seiner Schwester.
Es klingelte dreimal, bevor in Denver jemand abhob. „Hallo“, sagte Victoria, und ihre warme, vertraute Stimme war Balsam für seine Seele.
„Hallo, Tori.“
„Jared! Wie geht es dir? Hast du P.J. schon gesehen?“
„Es geht mir gut. Und ja, ich habe sie getroffen.“ Einige Male in den verschiedensten Situationen.
Sie lachte. „Na klar, dumme Frage. John hat mir ja gesagt, dass du sie begleitest – ich habe es nur eine Minute lang vergessen.“
„Ach, habe ich dich bei der Arbeit erwischt?“
„Ja. Ich probiere ein neues Design aus, deshalb war ich mit den Gedanken ganz woanders. Es wird ein griechischer Tempel, das ist mal eine nette Abwechslung. Obwohl ich mir noch nicht so recht vorstellen kann, welche Art von Puppen dazu passen.“ Sie lachte. „Genug von mir. Erzähl mir lieber von P.J.“
„Sie ist immer noch so wendig und schlagfertig wie früher. Abgesehen davon gibt es nicht viel zu erzählen.“
„Nicht viel zu erzählen? Jared Hamilton! Willst du damit etwa sagen, du hast nicht versucht, eure Freundschaft wieder aufleben zu lassen?“
Mist. Das war genau die Art von Gespräch, die er hatte vermeiden wollen. „Ich bin beruflich unterwegs, Victoria.“
„Was soll das denn bedeuten? P.J. war die beste Freundin, die du jemals hattest. Du wirst sie doch nicht im Ernst ebenso auf Distanz halten wollen wie alle anderen Menschen, abgesehen von mir und Rocket und den Kindern?“
„Himmel noch mal! Was habt ihr denn nur alle? Wie ich John schon sagte, waren wir tatsächlich eng befreundet, aber das ist doch ewig her. Und sie war es, die diese Freundschaft abgebrochen hat, nicht ich.“ Er bemerkte feine Risse in seiner sonst so glatten Fassade und mahnte sich zur Gelassenheit. Mit einem langen, tiefen Atemzug rief er sich das Bild der Rocky Mountains vor Augen. Er war ein Gletscher, kalt und undurchdringlich. Er verlor niemals die Kontrolle.
Er verspürte eine gewisse Befriedigung, als er nun mit gefasster und ruhiger Stimme sagen konnte: „Hör mal, ist Esme gerade in der Nähe? Ich rufe eigentlich ihretwegen an.“
„Ja, natürlich“, entgegnete sie mit so verständnisvoller Stimme, dass seine hart erkämpfte Gelassenheit für einen Moment wieder gefährdet war. „Warte einen Moment, ich hole sie.“
Er wurde in die Warteschleife gelegt und stellte sich vor, wie seine Schwester von ihrem Atelier unter dem Dach aus über die in jedem Zimmer installierte Gegensprechanlage ihre Tochter suchte.
Dann war er wieder verbunden und hörte die Stimme seiner Nichte. „Hallo, Onkel Jared!“
„Hallo, Affchen. Oder soll ich ‚große College-Absolventin‘ sagen? Meinen Glückwunsch! Tut mir leid, dass ich die Feier verpasst habe, aber das Geschenk ist unterwegs.“
„Das ist schön. Allerdings hast du überhaupt nichts verpasst.“ Dass sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens in England verbracht hatte, war ihrer Stimme immer noch anzumerken. „Ich konnte meinen College-Abschluss gar nicht machen.“
„Was?“ Er nahm für einen Moment die Augen von der Straße und starrte entsetzt auf sein Handy. „Was ist passiert?“
„Wie sich herausstellte, zählt mein Französischunterricht aus der Highschool nicht, um meine Pflichtjahre an Fremdsprachenunterricht abzudecken. Das konnten sie mir natürlich jetzt erst sagen! Tja, und nun muss ich in den Sommerferien einen Französischkurs belegen.“
„Das tut mir leid.“ Er wartete eine Sekunde, dann fügte er hinzu: „Dann musst du mir das Geschenk wohl zurückschicken.“
„Mistkerl!“ Sie lachte. „Keine Chance. Deine Geschenke sind immer total cool!“
„Dann absolvierst du diesen Sommer also einen Kurs. Klingt doch nett. Was machst du in der übrigen Zeit? Dich am Pool räkeln?“
„Das wäre schön. Nein, ich arbeite stundenweise bei Daddy.“
„Was? Er lässt dich bei Semper Fi herumwuseln?“ Jared ließ seine Stimme übertrieben schockiert klingen. „Ein Mädchen, das noch nicht mal einen College-Abschluss hat? Wie groß sind die Chancen, dass unser Geschäft noch läuft, wenn ich zurückkomme?“
„Ziemlich groß, wenn man bedenkt, dass die gute Gert mich unbewacht nichts ausführen lässt. Sollte sie nicht längst im Ruhestand sein? Sie ist doch bestimmt schon achtzig!“
„Sie ist vierundsiebzig. Und wie stellst du dir ihren Ruhestand vor? Soll sie etwa Zierdeckchen häkeln?“
„Du klingst genau wie sie.“ Esme lachte. „Und ich muss zugeben, die Frau arbeitet wie eine Maschine. Ich muss mich ganz schön anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten.“
„Ja, sie hält uns alle auf Trab“, stimmte Jared zu. „Hör zu, da vorne ist viel Verkehr, und ich glaube, es kommt eine Baustelle, also passe ich mal lieber wieder auf die Straße auf. Halt die Ohren steif, und wir sehen uns, wenn die Tournee durch Denver geht.“
„Mom hat uns für das Konzert schon Karten besorgt. Sie meint, ich hätte Priscilla Jayne schon mal gesehen, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ihre neue CD kann man jedenfalls gut hören.“
Jared grinste. „Na, dann werde ich deine geradezu überschäumende Begeisterung mal weitergeben.“
„Nein, das kam jetzt nicht so richtig heraus. Ich dachte immer, dass Countrymusic eher öde ist, mit diesen jaulenden Gitarren und so, aber bei ihr ist das ganz anders. Ihre Stimme gefällt mir gut, und die Songs erzählen tolle Geschichten. Ich freue mich schon, sie live auf der Bühne zu erleben.“
„Sie zieht eine tolle Show ab“, sagte er und dachte an ihre energiegeladenen Spontan-Konzerte in drei Bundesstaaten. „Ich werde mal sehen, ob ich Backstagepässe für euch bekomme.“
„Das wäre prima.“
Nachdem er aufgelegt hatte, versuchte Jared, an nichts anderes zu denken als an den immer dichter werdenden Verkehr.
Doch als die Straße wieder frei war, kreisten seine Gedanken automatisch wieder um das Thema, das ihn seit den frühen Morgenstunden nicht mehr losließ. Er kam sich vor wie ein Hamster im Laufrad, der sich abstrampelte, ohne an irgendein Ziel zu gelangen. Er musste damit aufhören!
Er war wirklich verdammt froh, dass endlich die Tournee begann. Sicher war es inmitten einer Menge von Leuten leichter, wieder in die Professionalität zurückzufinden und alle Auswirkungen der Zeit, die er allein mit P.J. oder mit ihrer Verfolgung verbracht hatte, zu vertreiben.