28
Ich hielt den Atem an. Jack hatte immer noch den Finger am Abzug der Pistole, aber jetzt sah ich erste Zweifel in seinen Augen. Vielleicht war es auch einfach nur blanke Mordlust. Doch dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um, stapfte zum Kofferraum des Autos und öffnete ihn. Schritte knirschten auf dem Kies. Die anderen hatten sich im Halbkreis hinter Demos aufgestellt. Auch Ryder war wieder da.
Alex zog mich an sich und ich lächelte beruhigend zu ihm auf. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine tiefe Falte. Die Kummerfalte schien sich zu bilden, sobald er auch nur in meiner Nähe war.
»Nimm die Pfoten weg!«
In mir krampfte sich etwas zusammen, als ich die Stimme erkannte.
»Glaubst du wirklich, du kommst damit durch?« Rachels Stimme brach, als sie ihr Willkommenskomitee sah.
Sie trug eine weiße Bluse und einen knielangen schwarzen Rock – aber nur einen Schuh, was ihren Versuch, stolz und aufrecht zu gehen, reichlich komisch aussehen ließ. Ihre Hände waren vor dem Körper gefesselt; ihre blonden Haare waren zerzaust und mehrere Strähnen hatten sich aus den Klammern gelöst. Sie sah zwar immer noch umwerfend aus, aber eben wie jemand, der gerade aus dem Wäschetrockner kam.
Als sie mich bemerkte, machte sie eine verächtliche Kopfbewegung. »Ist die Göre das wirklich wert, Alex?«
Alex lachte leise und trat ihr in den Weg. »Im Moment hast du zwei Möglichkeiten, Rachel.« Seine Stimme klang gelassen und samtweich. »Erstens: Du kannst mir und Jack die Wahrheit über die Einheit erzählen. Oder zweitens: Wir übergeben dich an Demos hier und du erzählst ihm die Wahrheit über die Einheit.« Er beugte sich zu ihr und flüsterte nicht sehr leise in ihr Ohr: »Aber ich glaube nicht, dass er dich so höflich behandeln wird wie ich.«
Dann trat er zur Seite, damit sie Demos sehen konnte. Demos lächelte ihr zu. Selbst mir schickte dieses Lächeln einen kalten Schauder über den Rücken. In Rachels Augen spiegelte sich Angst. Ihre Stimme klang dennoch ruhig und verführerisch. Ich hätte sie am liebsten sofort Demos vor die Füße geworfen.
»Du kennst doch die Wahrheit, Alex. Was die Psy dir weismachen wollen, ist nichts als Lüge. Die Einheit wird sie ausschalten – das weißt du so gut wie ich.« Sie drehte den Kopf zu Jack. »Dieser Typ hat schließlich deine Mutter umgelegt, verdammt!«
»Nein, hat er nicht!« Ich hätte mich beinahe auf sie gestürzt. »Die Special Ops hat meine Mutter ermordet. Und dein Vater und sein Unternehmen standen dahinter. Du hast Jack und Alex die ganze Zeit belogen. Gib es endlich zu! Erzähl ihnen, was deine wunderbare Einheit so alles macht! Was der wahre Grund dafür ist, dass ihr Demos und seine Leute jagt! Und wozu eure Experimente dienen!«
Rachels Mund blieb vor Überraschung offen stehen, dann klappte sie ihn schnell wieder zu. »Jack, deine schwachsinnige Schwester redet nichts als Unsinn!«, kreischte sie. »Wahrscheinlich haben sie ihr eine Gehirnwäsche verpasst oder sie sonst wie manipuliert!«
»Sie haben mich nicht manipuliert. Du bist es, die Lügen über Leute wie mich verbreitet!« Ich baute mich vor ihr auf. Sie schnappte nach Luft. Plötzlich wurde mir klar, dass ich die Katze aus dem Sack gelassen hatte. Ich hatte mich verraten.
Rachel starrte mich mit schmalen Augen an. »Du bist eine von ihnen!«, rief sie verblüfft und drehte sich zu Jack um. »Das muss dich doch schier umgehauen haben!« Sie schnaubte verächtlich.
Es spielte keine Rolle, dass sie jetzt über mich Bescheid wusste. Ryder konnte die Information später wieder löschen.
Ich trat noch näher an Rachel heran. »Sag ihnen, was die Einheit wirklich macht.« Zum ersten Mal sah ich Furcht in ihrem Gesicht. »Sag ihnen, wozu ihr all die Wissenschaftler und Forscher braucht, Rachel. Gib endlich zu, dass die Einheit meine Mutter ermordet hat, nur weil sie die Wahrheit herausgefunden hatte.«
Alle erstarrten, als ein leises Klicken zu hören war. Jack hielt die entsicherte Pistole an Rachels Kopf. Ich wich unwillkürlich zurück; Alex legte den Arm um meine Hüfte und zog mich zu sich.
»Stimmt das?« Jacks Stimme klang kalt und hart wie Stahl.
Rachel stand regungslos da.
»Stimmt das?« Jacks Finger legte sich auf den Auslöser. »Du hast mich ausgebildet, Rachel. Du weißt, dass ich dazu fähig bin.«
Sie wurde leichenblass. »Ja, Jack, ich habe dich ausgebildet, ich habe dich gedrillt! Ich habe dich zu einem Killer gemacht! Hast du wirklich nie darüber nachgedacht, warum wir ausgerechnet dich und Alex rekrutiert haben? Was ist schon Besonderes an euch? Hast du dich nie gewundert, warum wir euch zu Teamleitern machten? Warum wir zwei blutjunge Burschen über all die erfahrenen Männer stellten?« Sie lachte schrill auf. Meine Hand krampfte sich um Alex’ Arm. »Wir wollten euch in unserer Nähe haben – und ihr Narren seid darauf hereingefallen!« Sie warf den Kopf zurück und lachte durchdringend.
Ich drängte mich eng an Alex. Sein Körper wirkte starr, als hätten sich sämtliche Muskeln verkrampft. Niemand konnte so schnell reagieren, wie Jack die Pistole gegen Rachels Stirn rammte. Ihr Gelächter brach abrupt ab und sie taumelte einen Schritt zurück. Ihre Augen fuhren gehetzt herum, als suchte sie nach einem Retter. Niemand trat vor.
Dann richtete sie den Blick wieder auf Jack. Ihre Miene wurde kalt und berechnend. »Wenn du das tust«, sagte sie leise, »wirst du nie erfahren, was wirklich mit deiner Mutter geschah.«
In diesem Augenblick stöhnte Suki so laut auf, dass ich glaubte, eine Kugel hätte sie getroffen. »Nein. Oh nein! Oh mein Gott.« Sie sackte in die Knie und beugte sich vornüber.
»Was ist?«, fragte Ryder entsetzt und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Sie ist … sie ist gar nicht tot …«, flüsterte Suki. Sie hob den Kopf und schaute Jack und mich an. »Sie … ist nicht tot …«
Jack ließ die Pistole sinken und starrte Suki entgeistert an. »Was?«
»Ich hab’s gesehen, ich meine, gehört. Eure Mutter lebt. Sie wird gefangen gehalten. Wie Thomas.«
Es wurde totenstill. Plötzlich wurde ich von einer Welle von Emotionen überrollt. Tief aus meinem Innern stieg eine ungeheure Wut auf. Mit einem Schrei stürzte ich mich auf Rachel, aber Alex riss mich zurück. Ich wehrte mich wie eine Löwin. Ich wollte, dass Rachel mehr sagte. Ich wollte in ihren Kopf wie Suki, wollte alles herausfinden, was sie wusste. Meine Mutter lebte! Dann plötzlich verließ mich alle Energie. Ich wäre kraftlos zusammengebrochen, wenn Alex mich nicht festgehalten hätte. Stumm schaute ich Jack an. Er richtete die Pistole auf Rachels Stirn.
»Tu’s nicht!«, schrie Demos.
»Jack!«, brüllte Alex fast gleichzeitig.
»Demos! Sie kommen!«
Wir wirbelten herum. Amber klammerte sich an Ryders Arm. »Ich kann sie spüren!«
Demos sah Alicia fragend an. Ihre Augen wurden ausdruckslos und leer, doch plötzlich leuchteten sie auf. »Ja, ich kann etwas hören. Es sind viele. Sie sind nicht mehr weit entfernt.«
»Verdammt!«, fluchte Demos. »Wir müssen verschwinden. Bringt Rachel ins Mobil. Harvey, Bill – kommt her!«
Zwei Gestalten tauchten von beiden Seiten des Autos aus der Dunkelheit auf und liefen auf uns zu.
»Rachel bleibt bei uns. Ich bin noch nicht fertig mit ihr!« Jack hatte sie am Arm gepackt. Aber Ryder hatte ihren anderen Arm ergriffen. Sie starrten sich feindselig an. Rachel blickte wie gehetzt zwischen ihnen hin und her. Offensichtlich wusste sie nicht, welches Schicksal das schlimmere wäre.
»Du kannst sie ausfragen, wenn das hier vorbei ist«, sagte Demos und baute sich vor Jack auf. »Vorerst bleibt sie bei uns. Ihr könnt uns folgen.«
»Komm schon, Jack«, sagte Alex und packte ihn am Arm.
Widerwillig ließ Jack Rachel los. Ryder zerrte sie zum Mobil, wobei sie wild um sich trat und schrie. Ziemlich unsanft stieß er sie in das Fahrzeug.
Alex rannte zum Auto und zog mich mit sich.
Wir hatten höchstens zehn Meter zurückgelegt, als Suki aufschrie. »Zu spät! Wir schaffen es nicht mehr! Sie sind zu schnell!«
Sie deutete auf etwas in der Ferne. Scheinwerfer durchschnitten die Nacht. Alex fluchte leise.
»Wir müssen bleiben und uns den Weg frei kämpfen.« Demos’ Stimme war ruhig. Er stand so still wie ein Joshuabaum, während er die Entfernung zu den auf und ab hüpfenden Lichtstrahlen am Horizont abschätzte.
»Wie viele sind es, Alicia?«
»Kann ich nicht genau erkennen. Jedenfalls mehr als ein Dutzend. Vielleicht fünfzehn.«
Demos drehte sich um. »Suki?«
Sie schloss ein paar Sekunden lang die Augen. »Ja, stimmt ungefähr. Zwei Autos. Alle sind bewaffnet.«
»Wir müssen weg!«, rief Ryder.
»Nein – wir haben nicht genug Zeit«, antwortete Demos. »Wir können nicht vor ihnen fliehen. Sie würden uns schon nach ein paar Kilometern stellen. Wenn wir bleiben, sind wir im Vorteil. Wir können gegen sie kämpfen – oder sie zumindest außer Gefecht setzen, damit sie uns nicht mehr verfolgen können.«
Ryder sprang vom Mobil herunter. »Gut, aber dann sollten wir sie aufhalten, bevor sie in Schussnähe kommen.«
Demos wandte sich wieder an Alicia. »Sag mir, wer welche Waffen hat.«
»Ihr müsst zuerst die Beifahrer eliminieren«, warf Alex ein. »Sie haben Waffen, mit denen sie euch ausschalten können.«
In mir zog sich etwas zusammen, als ich mich an die grausamen Kopfschmerzen erinnerte.
»Die anderen haben normale Schusswaffen«, fuhr Alex fort.
»Lila, gib Ryder und Amber die Pistolen zurück«, bat Demos.
Dieses Mal zögerte ich nicht. Die eine Pistole ließ ich samt Magazin zu Ryder fliegen und die andere zu Amber.
Alex schob mich zu Jack hinüber. »Jack, bring Lila zum Auto. Bring sie hier raus. Wir halten die Einheit auf.«
Ich wirbelte herum. Alex prüfte gerade seine Pistole. »Kommt nicht infrage. Ich bleibe. Ich kann auch kämpfen!«
Jack unterbrach mich sofort. »Ausgeschlossen. Du kommst mit mir. Los, gehen wir!«
»Nein, ich bleibe hier bei den anderen.« Ich warf einen Blick auf die Gruppe, die sich eng um Demos geschart hatte.
Alex starrte mich wütend an. Ich hörte ihn mit den Zähnen knirschen, aber ich reckte die Schultern und starrte genauso wütend zurück. Ich würde mich nicht einfach in ein Auto packen und wegbringen lassen. Schon gar nicht, wenn er hierblieb.
Alex fixierte die herannahenden Scheinwerfer. Wir hatten höchstens noch eine halbe Minute, bis sie in Schussweite kamen. Keine Zeit, um abzuhauen.
»Du bleibst immer hinter mir!«, knurrte Alex. »Und du hältst dich raus!«
Statt zu fluchen, spuckte Jack auf den Boden.
»Lila.« Demos stand plötzlich neben mir. »Ich brauche dich. Du musst Harvey und Bill unterstützen. Ihr müsst den ersten Wagen ausschalten. Kannst du das?«
Ein Auto ausschalten? Sollte ich es etwa umkippen? Ich schluckte. »Ich werde es versuchen.«
»Gut. Alex und Jack – konzentriert euch auf die Männer, die aussteigen. Bevor sie ihre Waffen einsetzen können. Wir haben nicht genug Kämpfer, deshalb wollen wir sie nur daran hindern, uns zu verfolgen. Also: die Autos ausschalten und so viele Männer wie möglich kampfunfähig machen. Und dann nichts wie weg.«
Im selben Moment hüpften die Scheinwerfer des ersten Autos über die niedrige Kuppe der Straße und rasten auf uns zu. Wir hatten keine Zeit mehr, über Demos’ Taktik zu diskutieren.
»Demos – jetzt!«, schrie Alicia.
Demos wirbelte herum und blickte den heranrasenden Autos entgegen. Es waren Panzer. Oder so was wie Panzer. Humvees, gewaltige Fahrzeuge aus mehreren Tonnen Stahl.
Alex schob sich vor mich; fast hätte ich gelacht, so sinnlos erschien mir die Geste. Nichts konnte diese Dinger aufhalten, keine Kugel, keine Gedankenkraft und schon gar kein Mensch. Wir hatten zu lange gezögert.
Aber Alex zuckte nicht mit der Wimper. Er stand einfach nur da, die Pistole erhoben und schaute in die gleißenden Scheinwerferstrahlen. Dann feuerte er. Unmittelbar danach platzte ein Reifen.
»Komm schon, Lila. Wirf ihn um«, sagte Alex durch zusammengebissene Zähne, als der Humvee kurz nach links schleuderte, sich aber sofort wieder fing und noch schneller auf uns zugerast kam.
Ich konzentrierte mich so sehr wie nie zuvor in meinem Leben. Der Humvee kam jetzt um die letzte Wegbiegung. Er war nur noch hundert Meter entfernt. Ich richtete den Blick auf die Reifen. Ich stellte mir vor, dass sie sich vom Boden hoben. Nichts geschah. Was zum Henker machten Harvey und Bill?
»Los, schmeiß ihn um!« Alex feuerte wieder. Die Kugel prallte vom Panzer des Humvee ab. Selbst ein Luftgewehr hätte an einer Betonwand mehr Spuren hinterlassen.
Aus dem Augenwinkel sah ich Jack, aus dessen Pistole immer wieder blaue Blitze schossen. Trotz meiner wachsenden Panik konzentrierte ich mich wieder auf den Humvee. Und dann, als wäre der Koloss nur aus Pappmaschee, hob er plötzlich mit zwei Rädern vom Boden ab und scherte nach links aus. Ich konnte spüren, wie sich die Verbindung zwischen ihm und mir spannte wie ein Gummiband. In meinen Gedanken schlang ich mir das Band ums Handgelenk und ruckte noch einmal kräftig daran. Der Humvee prallte auf den Boden, kam ins Schleudern, kippte plötzlich mit dem Heck in die Luft und überschlug sich. Mit metallischem Kreischen rutschte er über das Dach des zweiten Humvee, der ihm dicht gefolgt war, und krachte auf den Boden zurück, so laut, dass ich mir die Ohren zuhielt. Ein Hagelsturm aus Dreck, Kieseln, Sand und Ästen prasselte vom Himmel herab.
»Oh. Mein. Gott.«
»Heilige Madonna.« Alex starrte mich mit offenem Mund an.
Ich musste ein paarmal heftig schlucken, während ich entgeistert auf das Gemetzel schaute, das ich angerichtet hatte. Im Inneren des demolierten Humvee regte sich nichts. War wirklich ich das gewesen?
»Los, geht schon!«, bellte Demos. »Ins Auto, fahrt los, wir geben euch Deckung!«
Der zweite Humvee war von der Straße abgekommen und um hundertachtzig Grad herumgeschleudert worden. Die Türen flogen auf und Männer in Sturmtruppkleidung sprangen heraus. Sie rannten auf uns zu, die Waffen schussbereit erhoben.
»Hinter das Auto!«, befahl Alex. Er legte mir die Hand auf den Nacken, drückte mich nieder und schob mich gebückt vor sich her zum Wagen. Jack folgte dichtauf.
Ich zitterte und warf einen schnellen Blick über die Schulter. Ryder deckte die anderen, die sich in das Wohnmobil flüchteten. Demos hatte sich mitten auf die Straße gestellt, ein menschlicher Schutzschild zwischen den Angreifern und uns. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es ihm gelang, die Männer aufzuhalten. Aber ich hatte keine Ahnung, wie weit seine Kraft reichte und wie viele Männer er gleichzeitig in Schach halten konnte.
Alex stieß mich neben der Beifahrertür zu Boden und warf sich neben mich. Er griff nach oben und öffnete die Tür. Ich spähte über die Kühlerhaube: Einer der Soldaten stürmte auf uns zu, eine Art Kanone von der Größe einer Bazooka in der Hand. Ich konzentrierte mich auf die Waffe, riss sie ihm aus den Händen und ließ sie in einen der Joshuabäume krachen. Der Baum stürzte um. Der Mann warf sich auf den Boden.
Plötzlich ertönte ein durchdringender Schrei. Ich fuhr zusammen und blickte in die Richtung, aus der er gekommen war.
Ryder lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Demos stand ungefähr zehn Meter vor ihm und hatte ihm den Rücken zugewandt. Unbeirrt blickte er nach vorn. Warum drehte er sich nicht um – wollte er nicht wissen, was mit Ryder geschehen war? Ich rappelte mich auf die Knie, um Ryder beizustehen, aber Alex hielt mich am Arm fest.
»Du kannst ihm nicht helfen«, sagte er, schob den Kopf über die Kante des Autodachs und feuerte mehrmals.
Demos hatte sich immer noch nicht von der Stelle gerührt. Dann wurde mir klar, dass er sich nicht bewegen konnte, weil er fünf Männer in der Starre hielt. Irgendjemand musste ihnen die Waffen und Autoschlüssel abnehmen. Warum half denn niemand?
Ich schaute zum Mobil hinüber. Amber stand schreiend in der Tür; Harvey hielt sie von hinten mit beiden Armen fest, als müsste er sie vor einem Sprung in den Abgrund bewahren. Langsam zog er sie in das Fahrzeug zurück, aber sie wehrte sich verzweifelt mit Händen und Füßen.
Jemand musste eingreifen! Aber bevor ich mich von Alex losreißen konnte, war Jack aufgesprungen.
»Gib mir Deckung!«, schrie er über die Schulter.
Deckung? Ich schaute Alex fragend an. Alex fluchte, dann feuerte er einen Kugelhagel in die Dunkelheit. Jack kam bei Ryder an und wälzte ihn auf den Rücken. Ryders Kopf rollte kraftlos zur Seite; ein dünner Blutfaden rann über sein Kinn. Eisige Kälte breitete sich in mir aus.
Ich schaute zu der Stelle hinüber, auf die Alex zielte. Vier Männer liefen gebückt auf uns zu, wobei sie auf Demos und Jack feuerten. Einer ging mit einem Schmerzensschrei zu Boden. Alex musste nachladen. Ich fokussierte meine Kraft auf den ersten der Männer. Er schoss in unsere Richtung; über uns zersplitterte die Windschutzscheibe.
Alex drückte meinen Kopf tief nach unten. »Bleib in Deckung!«, befahl er.
Wieder eröffnete er das Feuer. Kugeln schlugen neben uns ein. Jack stand immer noch ungeschützt im Freien. Jeden Moment konnte er getroffen werden.
Vorsichtig schob ich den Kopf über die Kühlerhaube und konzentrierte mich wieder auf den vordersten Angreifer. Ich riss ihm die Waffe genau in dem Moment aus der Hand, als er auf den Auslöser drückte. Die Kugel pfiff durch die Luft. Mit einem dumpfen Geräusch schlug sie im Boden ein. Aber der Boden war doch ausgetrocknet und steinhart! Als mir klar wurde, was das dumpfe Geräusch bedeuten musste, wurde mir schlecht. Ich drehte den Kopf. Ich hatte mich nicht getäuscht.
Jack stand noch. Aber er schaute mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Mir war, als wäre die Kugel direkt in mein Herz gedrungen. Jack presste die Hand auf das T-Shirt knapp oberhalb des Gürtels. Zwischen den Fingern quoll es dunkel hervor.
»Jack!«, schrie ich außer mir vor Angst und sprang auf, um zu ihm zu laufen.
Aber Alex riss mich zurück. Er legte den Arm wie einen Schraubstock um meine Hüfte und presste mich so hart an sich, dass ich mich kaum noch wehren konnte. Hilflos und schier ohnmächtig vor Wut kickte ich um mich, musste voll Entsetzen mit ansehen, wie Jack auf die Knie fiel und mit ausgebreiteten Armen nach vorn kippte.
»Nein, nein, nein!« Ich schrie und weinte und schlug auf Alex ein, um mich aus seinem Griff zu befreien.
»Lila, hör auf! Du wirst sterben, wenn du jetzt hinausläufst!«
Eine Kugel flog haarscharf an meinem Kopf vorbei und schlug neben meinem Fuß in den Boden ein. Alex rollte sich herum und ging auf die Knie, wobei er mich mit einem Bein auf den Boden presste. Über die Motorhaube feuerte er auf die beiden übrigen Männer. Tränen rannen mir über das Gesicht, als ich hilflos zu Jack hinüberstarrte, der reglos dalag. Eine Blutlache breitete sich neben ihm aus und versickerte im Sand.
»Verdammt! Immer noch zwei dort drüben!«, brüllte Alex Demos zu. »Und es kommen noch mehr! Wir haben keine Chance!«
Ich hob den Kopf. Noch ein Scheinwerferpaar kam über die Straßenkuppe.
»Geht! Bringt euch in Sicherheit!«, schrie Demos zurück. »Ich halte sie auf, solange ich kann!«
»Nein!«, schrie ich wieder. »Wir lassen Jack nicht im Stich!«
Alex zog mich zu sich herum und nahm mein Gesicht in seine Hände. Er schaute mich ernst an. »Jacks Überlebenschance ist viel größer, wenn wir ihn hierlassen, Lila. Wir können nicht zu ihm, ohne selbst erschossen zu werden. Außerdem können wir ihm hier draußen nicht helfen! Er hat eine viel bessere Chance, wenn sie ihn mit zum Camp nehmen.«
Ich hatte kein Wort von dem begriffen, was er mir gesagt hatte. Jack hatte die Augen geöffnet und schaute mich an. Für einen kurzen Moment war ich erleichtert, doch schon gewann wieder die Panik die Oberhand. Ich konnte ihn nicht hier liegen lassen! Jack hob langsam den Arm; er hielt immer noch die Pistole, schob sie in Position, bis er zielen konnte. Seine Lippen formten »Geht!«, dann erhob er sich auf die Ellbogen und feuerte.
»Mach die Tür auf!«, schrie Alex über den Lärm.
»W-was?«, stotterte ich, die Augen auf Jack gerichtet.
»Mach die Tür auf!«, wiederholte er. »Ich kann sie nicht erreichen.«
Ich öffnete sie blindlings. Und wurde plötzlich hochgerissen und wie ein Sack auf den Beifahrersitz geworfen.
»Kopf runter, schnell!«, schrie Alex.
Ich gehorchte instinktiv, rollte mich wie ein Embryo zusammen und versuchte, mich auf dem Sitz so klein wie möglich zu machen. Eine Kugel schoss pfeifend heran und schlug in die Seitenwand des Autos ein. Alex rammte den Rückwärtsgang hinein und jagte den Wagen mit aufheulendem Motor auf die Straße. Ich stemmte mich gegen das Armaturenbrett und schaute zu der dunklen Gestalt zurück, die von allen verlassen auf dem Boden lag. Mein Bruder. Dort lag Jack! Ich sah, wie er die Pistole fallen und den Kopf wieder auf den Boden sinken ließ. Alex drückte meinen Kopf tief runter. Tränen schossen mir in die Augen, während ein Kugelhagel in unser Fahrzeug einschlug.
Wir schlitterten über die Straße. Alex hatte die Scheinwerfer nicht eingeschaltet und wir jagten durch die Schwärze der Nacht. Wir rasten auf den Parkeingang zu, in entgegengesetzter Richtung zum dritten Humvee, der in diesem Augenblick über die Straßenkuppe heranbretterte. Ich wünschte, Demos würde sich endlich bewegen. Im selben Moment fuhr das Wohnmobil los und Demos sprang ins Fahrzeug. Die Männer, die er in Starre versetzt hatte, bewegten sich wieder und begannen, in alle Richtungen zu feuern. Zwei von ihnen rannten zu Jack hinüber; einer kickte die Pistole weg, der andere rollte ihn auf den Rücken.
Alex griff nach meiner Hand. »Lila. Schau mich an. Schau mich an!«, schrie er.
Ich zwang mich, den Kopf wieder nach vorn zu drehen. Sein Blick brannte sich wie Feuer in meine Augen. »Schau nicht zurück. Schau immer nur mich an. Alles wird wieder gut. Vertrau mir.«