25
Suki kam mich suchen. Ich hockte an einen Baumstamm gelehnt auf dem Boden, vielleicht seit einer Stunde, vielleicht auch länger. Über mir reckten sich die letzten Sonnenstrahlen wie lange schmale Finger zwischen den Ästen hindurch.
»Hier bist du also«, stellte Suki fest.
Ich richtete mich auf. »Ist Nate zurück?«, fragte ich.
»Noch nicht.«
Seufzend lehnte ich mich wieder an den Baumstamm. Bestimmt waren sie erschossen worden oder man hatte sie gefangen genommen. Ich schlug mir die Hände vor das Gesicht.
»Ihnen wird nichts passieren, Lila. Jack und Alex wissen genau, was sie tun. Komm mit, wir warten alle auf Nate.«
Ich rappelte mich hoch. Meine Beine waren steif vom langen Sitzen. Schweigend gingen wir zu den Picknicktischen zurück.
Die Lichtung lag jetzt im Schatten. Der Himmel hatte sich tiefblau verfärbt. Alle standen um den Tisch und starrten auf Nates schlaffe Gestalt. Es herrschte erwartungsvolles, geradezu angstvolles Schweigen. Sie kamen mir vor wie eine Familie, die sich am Bett eines erkrankten Verwandten versammelt hatte. Trotzdem lächelten mir alle freundlich entgegen. Ich spürte, dass ich vor Verlegenheit rot wurde. Es war erst ein paar Stunden her, dass ich mir einen telekinetischen Schlagabtausch mit Bill geliefert hatte, während Ryder Jack mit einer Pistole bedroht hatte. Und jetzt waren wir plötzlich alle Freunde? Großer Gott, was ging hier eigentlich ab? Vielleicht hatte ich dieses Ding, wie hieß es noch mal … Stockholmsyndrom? Wenn das Entführungsopfer ein positives emotionales Verhältnis zu seinen Entführern aufbaut? Manche Opfer verlieben sich sogar in den Entführer. Mein Blick glitt unwillkürlich zu Demos hinüber. Nein, das würde mir definitiv nicht passieren. Was um Himmels willen hatte sich meine Mutter bloß gedacht?
Ein paar Meter von den Tischen entfernt zögerte ich.
»Komm schon, wir beißen nicht«, raunte mir Suki zu.
Demos nickte mir kurz zu, dann wandte er sich wieder zu Nate um und beobachtete den bewusstlosen Jungen. Ich setzte mich neben Ryder auf das äußerste Ende der Bank. Die Minuten schlichen dahin; der Himmel wurde erst violett, dann immer dunkler, als hätte jemand schwarze Tinte darüber gesprüht.
Als sich mit dem letzten Tageslicht auch der letzte Hoffnungsschimmer in mir verflüchtigen wollte, zuckten Suki und Amber plötzlich zusammen. Amber hob den Kopf von Ryders Schulter; Suki trat schnell zum Tisch und legte einen Arm um Nate. Wir starrten gebannt auf sein Gesicht und warteten auf ein Lebenszeichen. Gleich darauf blinzelte er, richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Der benommene Ausdruck verschwand und plötzlich grinste er in die Runde.
»Sie haben es geschafft. Sie sind auf dem Weg hierher.«
Die Anspannung fiel von uns ab. Harvey drückte seine Zigarettenkippe aus und begann, sich eine neue Zigarette zu rollen. Amber stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und Ryder strich ihr über das Haar. Das geschah mit so viel Zärtlichkeit, dass ich von Sehnsucht nach Alex überwältigt wurde. Deshalb konzentrierte ich mich lieber wieder auf Nate, von dem ich unbedingt mehr erfahren wollte. Wo sie jetzt waren. Ob jemand verletzt wurde.
»Was ist passiert? Wie haben sie es geschafft? Wurde jemand verletzt?« Suki stellte die Fragen für mich.
»Nein, es geht ihnen prima. Alle sind wohlauf. Oder na ja, fast alle.« Sein Adamsapfel hüpfte aufgeregt. »Alicia ist einfach sauer. Sie ist nicht verletzt, hat nur ein paar Prellungen. Aber Thomas – dem geht es nicht so gut.«
Erst jetzt merkte ich, dass sich meine Finger in das Holz der Bank verkrallt hatten.
»Gehen wir«, sagte Demos abrupt und marschierte entschlossen davon.
Ohne ein einziges Wort sprangen alle auf und folgten ihm.
Nate und Suki gingen vor mir, ich beeilte mich, zu ihnen aufzuschließen. »Geht es Alex wirklich gut? Und meinem Bruder?«
Nate nickte. »Alles bestens.« Er grinste breit. »Es lief wie am Schnürchen. Sie kamen nicht mal ins Schwitzen – es war absolut cool.«
»Wie haben sie es geschafft?«
»Weiß nicht. Ich konnte ja nicht mit ins Gebäude und musste draußen warten. Sie gingen rein und zwanzig Minuten später kamen sie mit Alicia und Thomas wieder heraus. Alle stiegen ins Auto und fuhren los. Ich blieb eine Weile bei ihnen, dann kam ich hierher zurück.«
»Und was ist mit Rachel? Was haben sie mit ihr gemacht?«, wollte ich wissen.
Suki blieb wie angewurzelt stehen. »Oh mein Gott, Nate!«, rief sie.
Demos drehte sich um. »Was ist?«
»Rachel! Sie bringen Rachel hierher!«, erklärte ihm Suki.
Nate nickte verlegen. »Ja, tut mir leid, das hab ich ganz vergessen zu erzählen. Sie wollten Rachel nicht zurücklassen, weil sie sonst Alarm geschlagen hätte, deshalb haben sie sie mitgenommen. Sie mussten sie in den Kofferraum sperren.« Nate unterdrückte ein Kichern.
Ich konnte es nicht verhindern: Ich lachte laut los.
Demos dachte über die neue Entwicklung nach. »Nate, kannst du noch mal zurückgehen?«
Nate ließ die Schultern sinken. »Ich weiß nicht so recht. Bin total müde.«
Demos schaute ihn prüfend an, dann nickte er. »Okay, das kann ich gut verstehen.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gut gemacht, Junge.«
»Vielleicht kann ich es später noch mal versuchen?«
»Vielleicht.« Demos nickte noch einmal und ging schnell weiter, wobei er sein Handy aus der Tasche zog und eine Nummer wählte.
Ich fragte mich, ob er Alex anrief und ob er mich dann auch mal kurz mit ihm sprechen lassen würde, aber Demos war bereits außer Hörweite. Ich gesellte mich wieder zu Suki und Nate.
»Macht es dich sehr müde, wenn du dich teleportierst?«, erkundigte ich mich.
Nate nickte. »Das ist, als würdest du mit Lichtgeschwindigkeit laufen. Echt geil, aber es kostet Kraft.«
Wir schafften es gerade noch mit der letzten Gondel nach unten. Viel später hätte Nate nicht kommen dürfen.
Unterwegs stellte ich mich genau auf die Stelle, an der mich Alex geküsst hatte, schloss die Augen und träumte davon, wie sein Daumen meine Lippen liebkost hatte. Wie sich seine Lippen angefühlt hatten, als sie meinen Mund berührten, wie er mich mit seinen samtblauen Augen angeschaut hatte. Ich atmete tief ein und spürte, dass der bohrende Schmerz unter meinen Rippen nachließ.
Die Erkenntnis traf mich wie eine Bombe. Alex liebte mich. Ich grinste über das ganze Gesicht.
Dann fiel mir ein, dass Alex mich hatte verlassen wollen. Er war gegangen, kurz bevor Demos aufgetaucht war. Nach einer letzten Bemerkung, die ich nicht ganz verstanden hatte – irgendetwas mit einem bestimmten Augenblick. Wie war das noch mal? Genau: »Als du die Treppe heruntergefallen bist, das war der Augenblick.« Der Augenblick? Was für ein Augenblick?
»Der Augenblick, als er sich in dich verliebte. Du bist vielleicht ein Häschen. Krieg dich endlich wieder ein. Man muss nun wirklich nicht Gedanken lesen können, um das zu kapieren.« Suki schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf.
Ich ließ mich auf die Bank sinken, die in der Mitte der Gondel stand. Also hatte mich Alex die ganze Zeit schon geliebt. Seit dem Augenblick, als wir uns wiedergesehen hatten? Während ich eifersüchtig auf Rachel war? Die ganze Zeit, die ich weit von ihm entfernt geschlafen hatte, in seinem Bett, ganz für mich allein? Ihm beim Essen gegenübergesessen, Teller zerschmettert, mich auf seinem Motorrad an ihn geklammert, ihn heimlich durch den Türspalt im Bad beobachtet hatte – all die Zeit war er schon in mich verliebt gewesen? Und diese ganze lange Zeit hatten wir verschwendet, während wir uns doch ununterbrochen hätten küssen können? Und er hatte bis zum letzten Augenblick gewartet, es mir zu sagen? Wenn ihn die Einheit nicht schon umgebracht hatte, würde ich es tun.
Das Grinsen kehrte auf mein Gesicht zurück. Ich war einfach glücklich. Dann dämmerte mir etwas anderes: Alex würde ganz bestimmt nicht mehr in die Einheit zurückkehren können. Er musste mit uns gehen. Juhu!
»Alles in Ordnung bei dir, Lila?«, erkundigte sich Nate.
Ich zuckte zusammen und blickte auf. »Äh, ja, warum?«
»Na, weil du nach Atem ringst und in die Luft boxt und grinst wie ein Mondkalb.«
»Lass sie. Sie ist einfach nur glücklich.«
Das kam von Amber. Sie lächelte und nickte mir zu. »Bleib so. Ist mal ’ne richtig nette Abwechslung.«
Ryder legte ihr von hinten die Arme um die Schultern und zwinkerte mir zu. Ich grinste unwillkürlich zurück. Am liebsten hätte ich die beiden umarmt. Sie waren verliebt. Ich liebte sie dafür, dass sie verliebt waren. Die Welt war einfach wunderbar und Rachel lag wie ein Paket verschnürt im Kofferraum und Alex würde gleich zu mir zurückkehren und überhaupt: Er liebte mich. Und ich …
»Okay, Demos, ich glaube, du musst mir mal kurz helfen«, rief Suki über die Schulter.
Ich schnitt ihr eine Grimasse.
»Lila, fahr deine Gedanken mal ein paar Hundert Dezibel herunter. Ich höre nicht mal mehr mich selbst, geschweige denn das, was alle anderen hier denken. Er liebt dich. Du liebst ihn. Super. Und bevor du jetzt auch noch zu singen anfängst, was Bienchen und Apfelblüten so miteinander treiben, sollten wir gemeinsam über ein paar ernstere Dinge nachdenken.«
»Wie wär’s mit Jack? Denk doch mal an Jack.« Nate grinste mir boshaft zu.
Jack? Ich wollte nicht an Jack denken. Es freute mich, dass er in Sicherheit war, aber wenn ich mir das Wiedersehen mit Alex vorstellte, stand Jack nicht auf der Bühne. Sondern irgendwo hinter der Szenerie, mit dem Rücken zu uns.
»Genau. Das ist das Letzte, was Jack mit ansehen möchte.«
Das brachte mich wieder in die Realität zurück. »Was? Wieso?«
»Jack. Du hast Recht, wenn du dir Sorgen machst«, fuhr Nate fort. »Er war richtig sauer auf Alex.«
Oje. »Was hat er gedacht?«
»Was er gedacht hat?«, wiederholte Nate. »Keine Ahnung, ich kann keine Gedanken hören, aber ich hab gehört, was er gesagt hat!«
Damit hatte Nate meine volle Aufmerksamkeit. Er hatte eine Hand in die Hüfte gestützt, der andere Arm hing lässig über Sukis Schulter.
»Wann? Was ist passiert?« Mit weit aufgerissenen Augen schaute ich zu ihnen auf.
»Jack und Alex hatten einen gigantischen Streit wegen dir.«
»Wegen mir?«
»Genau.« Er kicherte. »Das war echt Hardcore, Mann.«
»Was … was hat Jack gesagt?«
»Er fing an mit: ›Kumpel, was soll das mit meiner Schwester?‹ Und Alex sagte: ›Ich liebe sie.‹ Und Jack: ›Vergiss es, Mann!‹ Aber Alex drehte sich nur um und sagte: ›So ist es eben. Basta‹, und das war’s dann. Weißt du, irgendwie kann ich sogar verstehen, warum du auf ihn abfährst. Der Typ ist wirklich super.« Nate verdrehte genüsslich die Augen.
»Äh. Okaaayyy. Danke.«
»Nate, du bist einfach unglaublich.« Suki rammte ihm den Ellbogen in die Rippen. Sie grinste mich an. »Ich wette mit dir, er ist ständig hinter den heißen Jungs von der Einheit her, statt sich um die nützlichen Burschen zu kümmern.«
»Bin ich nicht.«
»Bist du doch.«
»Du doch auch.«
Sie führten sich auf wie streitende Gören.
»Ich doch nicht.« Suki zog einen Schmollmund. »Nur er.«
»Lila«, sagte Nate plötzlich wieder ernst. »Hast du meinen Dad gesehen? Geht’s ihm gut?«
Unwillkürlich warf ich Suki einen Blick zu; hoffentlich verriet sie mich nicht. »Ja, ihm geht’s gut.« Dabei dachte ich an Keys blutverschmiertes Gesicht. »Aber er macht sich große Sorgen um dich.« Mir fiel wieder ein, dass Alex ihm versprochen hatte, Nate vor der Einheit zu beschützen und von Demos wegzuholen. Sah nicht so aus, als würde Alex dieses Versprechen halten können. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Nate von Demos und seinen Leuten wegwollte. Ich fragte ihn leise: »Warum bist du überhaupt weggelaufen?«
»Ich bin nicht weggelaufen. Schließlich bin ich alt genug, um selber zu entscheiden, was ich tun will.«
Okay, das verstand ich nur zu gut. Wie hätte ausgerechnet ich jemanden ausschimpfen können, der von zu Hause ausgerissen war?
»Und überhaupt«, fuhr Nate fort, »ist das hier viel besser als alles, was die Schule zu bieten hat. Hier ist alles cool, ich kämpfe gegen die Bösen …«
Merkte er denn nicht, dass sie ihn nur ausnutzten? Er war schließlich noch ein Kind.
»Tun wir doch gar nicht, Lila.« Suki schaute mich mit gerunzelter Stirn an. »Und er ist kein Kind mehr. Er ist so alt wie du und ich. Und wir haben unsere Entscheidung auch selbst getroffen, oder nicht? Willst du nicht für das kämpfen, woran du glaubst?«
Ich würde um Alex kämpfen. Das stand fest. Und für Jack.
»Na bitte«, sagte Suki.
»Aber das ist was anderes. Jack und Alex sind meine Familie. Das hier, das ist doch für dich nichts Persönliches, Suki.«
»Wie kommst du denn darauf? Für mich könnte es gar nicht persönlicher sein! Leute wie ich werden verfolgt, eingesperrt, ermordet. Demos will deine Mutter rächen, aber es geht auch um uns alle. Nehmen wir mal an, die Einheit würde dich in die Finger kriegen, würdest du dann nicht auch gerne wissen, dass wir hier für dich kämpfen und dich zu befreien versuchen?«
Ich fand keine Zeit mehr für eine Antwort. Die Gondel war in der Talstation angekommen und ich blickte mich verwirrt um. Wir waren wieder in der Wirklichkeit gelandet.
Wir folgten Demos hinaus zum Parkplatz. Inzwischen war es völlig dunkel geworden. In der Ferne glommen die Lichter von Palm Springs wie phosphoreszierende Glühwürmchen.
»Wohin gehen wir denn?«
Suki lachte. »Zum Batmobil.«