12
Ein lautes Summen riss mich aus dem Schlaf. Jemand hatte geklingelt. Alex nahm den Arm von meinen Schultern, stand vom Sofa auf und ging zur Tür. »Keine Angst – das sind nur Jack und Sara«, sagte er.
Ich hatte zusammengerollt auf der Couch gelegen; jetzt richtete ich mich auf, kickte die Decke weg und strich mir das Haar aus dem Gesicht. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne erhellten den Raum. Ich überlegte, wie lange ich wohl geschlafen hatte.
Dann hörte ich Jacks Stimme im Flur. Ich stand auf. Ich hatte ein ungutes Gefühl.
Er kam herein, dicht gefolgt von Alex und Sara. Jack nahm mich in den Arm und drückte mich an sich. »Alles okay?«, flüsterte er in mein Haar.
Ich nickte nur.
»Was habt ihr herausgefunden?«, fragte Alex, während er die Jalousien herabließ. Dann betätigte er einen Schalter und eine Wandlampe tauchte den Raum in warmes orangefarbenes Licht. Sara setzte sich neben mich auf die Couch; Jack hockte sich auf die Armlehne.
»Alles in Ordnung – war nur Fehlalarm«, sagte Jack. »Es muss ein Fehler in der Elektroanlage gewesen sein, denn die Sicherheitssysteme zeigen keine besonderen Vorkommnisse an. Wir haben die Aufzeichnungen sämtlicher Überwachungskameras überprüft und nirgends war etwas Ungewöhnliches zu sehen.«
»Zumindest wissen wir jetzt, dass alles noch funktioniert«, meinte Alex.
»Ja, stimmt.« Jack blickte mich an. »Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Lila, du bist nicht in Gefahr. Wir haben ihre Spur wiedergefunden – sie sind über die Grenze nach Mexiko gefahren.«
Ich schaute Alex an. Hieß das, dass er mich wieder allein lassen durfte?
»Wenn ihr wisst, wo sie sind, warum verhaftet ihr sie dann nicht?«, fragte ich.
»Das ist nicht so einfach«, antwortete Alex.
Oh Mann, wo war denn das Problem? Eine ganze Eliteeinheit durchtrainierter Muskelprotze versuchte seit Jahren erfolglos, Mums Mörder zu fangen, und jetzt erklärten sie mir, dass sie nicht mal in der Lage waren, diese anderen mysteriösen Verbrecher aufzuhalten. Allmählich kamen mir ernsthafte Zweifel, dass ihre militärische Ausbildung so gut war, wie sie behaupteten.
»Hör mal, Alex, kann Lila über Nacht hierbleiben?«, fragte Jack. »Ich muss das Fenster in ihrem Zimmer reparieren lassen.«
Ich schaute Jack mit dümmlichem Grinsen an. Er starrte leicht gereizt zurück.
»Wie hast du denn das geschafft?«, wollte er wissen.
»Ich, äh, also …«
»Kein Problem«, warf Alex ein. »Ich meine, natürlich kann Lila bei mir übernachten. Ich bringe sie dann morgen Früh zurück.«
Ich warf ihm unter halb gesenkten Augenlidern einen Blick zu, dankbar, dass er mich vor dem peinlichen Verhör gerettet hatte. Vielleicht ahnte er, dass ich meinem Bruder ungern erläutern wollte, dass ich das Fenster nur aus Eifersucht eingeschlagen hatte.
Jack stand auf und winkte Alex in den Flur.
Sara lächelte mich an. »Jack sagt, du warst direkt vor dem Gebäude, als der Alarm losging. Du hast bestimmt einen ganz schönen Schreck bekommen.«
Ich sah die Szene wieder vor mir, fühlte förmlich, wie mich Alex’ Gewicht auf den Straßenbelag presste. Und dann meine erste Fahrt auf dem Motorrad. »Ja, das kann man wohl sagen. War ziemlich aufregend.«
»Das ist bisher noch nie passiert. Du hättest erst mal die Reaktionen der Leute im Gebäude sehen sollen!«
»Wirklich? Aber niemand kam heraus, um nachzuschauen, was eigentlich los war.«
»Die Türen wurden automatisch am ganzen Gebäude verriegelt. Keiner von uns konnte raus.«
»Dann bin ich froh, dass ich draußen war«, sagte ich. Und dachte: Wenn Rachel nur ein paar Minuten langsamer gewesen wäre, hätte ich sie nie kennengelernt. Dann wäre ich nicht davongelaufen. Allerdings hätte ich auch nicht herausgefunden, dass ich bewacht wurde, und hätte nicht bei Alex übernachten dürfen. Spielte das überhaupt noch eine Rolle? Es war doch sonnenklar, dass zwischen Alex und Rachel etwas lief.
Sara betrachtete mich mit besorgter Miene. Mein Lächeln geriet zu einer Grimasse.
»Keine Angst, die Einheit hat alles im Griff. Du bist hier in Sicherheit, bis du wieder nach London zurückfliegst.«
Ich biss die Zähne zusammen. Bis du nach London zurückfliegst. Diese Erinnerung wäre wirklich nicht nötig gewesen.
Jack kam wieder herein und küsste mich auf den Scheitel. »Sara und ich fahren jetzt zum Camp zurück. Wir sehen uns dann morgen.«
Bevor ich etwas sagen konnte, sagte Sara: »Alex hat morgen Geburtstag, hast du das vergessen?« Sie wandte sich an Alex: »Was wird aus der Party? Bleibt es dabei?«
Alex zuckte die Schultern. »Habe ich denn eine Wahl?«
Sara lachte. »Nein! Aber vorher gehen wir zusammen essen. Nur wir vier.«
Wenigstens nicht fünf! Bei einem Doppeldate mit Rachel hätte ich für nichts garantieren können. Da wäre mehr als nur ein Fenster zu Bruch gegangen. Viel zu gefährlich für einen Raum, in dem es Gabeln gab. Und Messer.
Alex begleitete sie zur Haustür. Ich hörte, wie er den Alarm einschaltete.
»Na gut, so weit ist alles okay. Ab ins Bett mit dir.«
»Nein, ich schlafe auf dem Sofa«, protestierte ich.
»Und wenn ich dich hintragen muss – du schläfst im Bett.«
Das klang wunderbar. Schade nur, dass er nicht das meinte, was ich mir darunter vorstellte. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, mich so lange zu weigern, bis er mich tatsächlich auf den Armen ins Schlafzimmer trug. Aber das wäre dann doch zu kindisch gewesen. Es war viel würdevoller, selbst zu gehen.
Im Schlafzimmer öffnete Alex den Schrank. Ich betrachtete mich in dem zimmerhohen Spiegel. Ich hatte Kratzer und Schürfwunden an den Knien, das Haar hing mir in Strähnen über die Schultern. Unter meinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Ich fühlte mich, als hätte ich den längsten Tag meines Lebens hinter mir.
Alex warf mir ein T-Shirt zu. »Hier – das kannst du als Nachthemd benutzen. Solange du es nicht auch noch klaust.«
»Ich … ich hab dir nichts geklaut!«, stotterte ich wenig überzeugend.
»War nur ein Scherz. Du kannst es behalten, wenn du willst«, antwortete er lachend.
Ich wandte mich ab, damit er nicht sah, dass ich knallrot anlief.
Er ließ die Jalousien herunter. Dann nahm er mich in die Arme. »Schlaf gut«, sagte er leise und küsste mich aufs Haar.
Immer nur aufs Haar.